Jeanne - Ursula Flacke - E-Book

Jeanne E-Book

Ursula Flacke

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Beschreibung

Mit gerade vierzehn Jahren hört Jeanne d'Arc zum ersten Mal Stimmen, hat sie Visionen. Engel und Heilige befehlen ihr, Frankreich von den Engländern zu befreien. Schon mit sechzehn Jahren verlässt sie daraufhin ihre Familie. Ihr Aufstieg ist legendär: Vom einfachen Bauernmädchen zur charismatischen Heeresführerin, bis zur zutiefst Gedemütigten, die schließlich mit kaum neunzehn Jahren als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.

In diesem historischen Roman bleibt man ganz nah an der Protagonistin - ihre Kompromisslosigkeit und Entschlossenheit wird junge Leserinnen mitreißen.

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Inhalt

CoverInhaltÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKarte - Frankreich zur Zeit Jeanne d’Arcs 1429Karte - Die Belagerung von Orléans 1429Historische PersonenIn Domrémy:In Burey-le-Petit:In der Zeit von Vaucouleurs:In der Zeit von Chinon:In der Zeit von Blois und OrléansIn der Zeit bis zur Festnahme in Compiègne:In der Zeit der Inhaftierung und von Rouen:VorspannDomrémy im Jahre des Herrn 1429Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23ChronikAus den AktenDanksagung

Über das Buch

Mit gerade vierzehn Jahren hört Jeanne d‘Arc zum ersten Mal Stimmen, hat sie Visionen. Engel und Heilige befehlen ihr, Frankreich von den Engländern zu befreien. Schon mit sechzehn Jahren verlässt sie daraufhin ihre Familie. Ihr Aufstieg ist legendär: Vom einfachen Bauernmädchen zur charismatischen Heeresführerin, bis zur zutiefst Gedemütigten, die schließlich mit kaum neunzehn Jahren als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. In diesem historischen Roman bleibt man ganz nah an der Protagonistin – ihre Kompromisslosigkeit und Entschlossenheit wird junge Leserinnen mitreißen.  

Über die Autorin

Ursula Flacke wurde in Lippstadt geboren. Mit fünfzehn war sie noch im Nonneninternat, etwas später schon in der ZDF-Hitparade. Sie hat acht Solokabaretts verfasst und im Fernsehen und Rundfunk an zahlreichen Serien und Programmen als Autorin und Moderatorin mitgearbeitet. Als Autorin ist sie fest im Carlsen-Programm etabliert und hat dort und in anderen Verlagen mehr als 22 Bücher veröffentlicht.

Ursula Flacke

Das kurze Lebender Jungfrau von Orleans

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Die Zitate wurden, soweit nicht anders angegeben, folgendem Titel entnommen: Georges und Andrée Duby: Die Prozesse der Jeanne d’Arc. Erschienen im Wagenbach Verlag, Berlin 1999. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Der Abdruck der Zitate erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Übersetzerin.

Copyright © 2013/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-4599-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

In Liebe für meinen Sohn Kristian und für alle, die auf dem oft sehr beschwerlichen Weg zu sich selbst sind.

Frankreich zur Zeit Jeanne d’Arcs 1429

Die Belagerung von Orléans 1429

Historische Personen

Alle Personen, die in diesem Roman vorkommen, sind historisch belegt. Die Wichtigsten von ihnen werden hier aufgeführt.

In Domrémy:

Jeanne d’Arc (auch bekannt als Jeannette d’Arc, Jeannette Darc, Jeannette Tarc)

Die Eltern Jeannes: Jacques d’Arc (Doyen von Domrémy) Dienstältester und Vorsteher der Gemeinde und Isabell Romée d’Arc

Die Brüder Jacques (Jacquemin) d’Arc, Jean d’Arc, Pierre d’Arc

Die Freundinnen Hauviette und Mengette

Der Onkel, ein Pfarrer von Sermaize

Die Tante Joanne Aubry

Jean Minet, Pfarrherr der Gemeinde

Der Verlobte Paul LeMaire aus Toul

In Burey-le-Petit:

Tante Jeanne und Durand Laxart

In der Zeit von Vaucouleurs:

Hauptmann Baudricourt von Vaucouleurs

Cathérine und Henri Le Royer

Jean de Nouillon, genannt Jean de Metz, Edelmann aus dem Languedoc

Bertrand de Poulangy, Schildknappe und Freund Baudricourts

Karl II. Herzog von Lothringen

Die Diener Julien und Jean de Honnecourt

Richard, ein Bogenschütze

Colet de Vienne, der Königliche Bote

Pfarrer Jean Fournier

In der Zeit von Chinon:

Dauphin Charles VII., der spätere König Charles VII.

Étienne de Vignolles, genannt La Hire

Gilles de Rais, auf den die Legende von Kinderschänder Blaubart zurückgeht

Graf Vendôme

Yolande von Aragón, Königin von Silzilien und Neapel, Schwiegermutter des Dauphins

Georges de la Trémoille, Großkammerherr des Königs

Regnault de Chartres, Kanzler, Erzbischof von Reims

Die Mutter des Dauphins, Isabeaux de Bavière

Louis de Coute, Page Minguet genannt und Page Raymond

Jean d’Alençon, Cousin des Dauphins, der auch le beau duc, der schöne Herzog genannt wird

Segain Segain, ein Dominikaner

Die Beichtväter des Dauphins Gérard Machet, Priester Jean Girard und Bruder Pierre l’Hermite

Heliote, die Tochter des berühmten Malers Hennes Polnoir aus Tours

Professoren der Theologie Pierre de Versailles und Jean Erault

Beichtvater Jean Pasquerel

Waffenmeister Jean d’Aulon

Herolde Guyenne und Ambleville

In der Zeit von Blois und Orléans

Rutebeuf, berühmter Satiriker und Schriftsteller

Der Bastard von Orléans – Jean de Dunois, außerehelicher Sohn von Herzog Louis de Valois

Jacques Boucher, Finanzverwalter und reichster Mann der Stadt, seine Frau Françoise und die achtjährige Tochter Charlotte

Die Hauptleute Gaucourt, Sieur de Gamache, Sainte- Sévère, Xaintrailles

Glasdale, englischer Kommandant

Talbot, englischer Feldherr

John Fastolf, englischer Ritter und Heerführer

In der Zeit bis zur Festnahme in Compiègne:

Perceval de Cagny, enger Freund von Alençon

Earl of Suffolk

Connétable de Richemont

Sieur D’Albret, Oberbefehlshaber

Pierre Cauchon, Bischof von Beauvais

Hauptmann Baretta, italienischer Soldat

Bettelmönch Richard, Minnoritenbruder

Poton de Chatray, Freund von La Hire

In der Zeit der Inhaftierung und von Rouen:

Jean de Luxemburg, seine Ehefrau Jeanne und die alte Demoiselle de Luxemburg

Pierre Cauchon, Bischof von Beauvais

Herzogin von Bedford

Richard Beauchamp, Earl of Warwick, treuer Offizier des Herzogs von Bedford, Statthalter

Bruder Martin Ladvenu

Jean Le Fèvre, Bischof von Demetriades,

Notar Guillaume Manchon, auch Protokollführer

Meister Jean de Châtillon

Bischof von Winchester und der Kardinal von England

Guillaume Erard, Magister der Theologie

Isembard de Pierre, Augustinermönch

Domrémy im Jahre des Herrn 1429, im neunzigsten Jahr des Krieges zwischen dem französischen Königreich und England

Jeanne schreckte hoch, jemand rüttelte an ihrer Schulter und riss sie aus dem Schlaf. Verwirrt blinzelte sie in flackerndes Kerzenlicht. Helle Flecken tanzten über die grob verputzten Wände ihrer Schlafkammer. Jetzt beugte sich der Vater über sie, die buschigen Brauen wölbten sich fast bis zu seinen Augen hinunter, das strohige Haar war noch ungekämmt.

»Du hast gesprochen, Jeannette! Du hast wieder im Traum rumgeplappert.« Unwirsch schüttelte er sie. »Bist du irre? Völlig übergeschnappt? Ein Bauernmädchen, das französische Truppen anführen will? Haben dir etwa teuflische Dämonen deinen Größenwahn eingeflößt?«

Jeannes Mutter, die neben ihm stand, fuhr ihm sanft über die Schulter. »Lass sie, Jacques, ich bitte dich! Sie hat geträumt. Es war doch nur ein Traum!«

»Steh endlich auf!«, donnerte er weiter. »Hörst du nicht? Die Kühe blöken! Es ist Zeit zum Melken. Oder willst du, dass ihre Euter platzen? Und die Schafe müssen auf die Weide. Die Lämmer und Böcke brauchen dich. Nicht die französischen Truppen der Armagnacs. Was für ein hirnrissiges Gerede. Ein Schwachsinn sondergleichen.« Wutentbrannt stapfte er aus der schmalen Schlafkammer.

Die Bäuerin legte besorgt die Hand auf Jeannes erhitzte Stirn und seufzte. »Mein kleines Mädchen! Was soll nur werden? Wie willst du jemals einen Bräutigam finden. Bei solchen Trugbildern …«

»Maman, das sind keine Trugbilder. Und erst recht keine Dämonen!« Das Heu in der Matratze raschelte, als Jeanne sich aufsetzte. Mit großen Augen sah sie die Mutter an. »Ich sehe sie wirklich, die Heiligen.«

»Oui, ma petite. Im Traum!«, antwortete Isabell, die auch Romée gerufen wurde. So wie diejenigen, die nach Rom wanderten oder auf große Pilgerfahrt gingen. »Nur im Traum.« Es waren leise Worte, doch füllten sie die Schlafkammer ganz aus und hallten unwirklich nach.

Die Bäuerin senkte die Lider und drückte Jeannes Hand fest an ihre Lippen. Jetzt war es still. Nur dumpfes Stimmengewirr der Brüder drang von oben aus ihrer Schlafkammer zu ihnen herunter. Es roch brenzlig, das Brennholz im Kamin neben dem Hoffenster war wohl entzündet worden. Jeanne schluckte. Der beißende Geruch brannte ihr in der Kehle.

»Und außerdem: Einen Bräutigam … will ich nicht«, fügte sie noch leiser hinzu. »Ich will rein bleiben, will nicht von derben Händen angefasst werden. Maman, es ist eine unerträgliche Vorstellung für mich, dass ein Mannsbild meine nackte Haut berühren will!«

»Jeannette! Ich bitte dich, hör auf! Im Namen des Herrn!«, flehte ihre Mutter. Das Licht der Kerze aus Rindertalg spiegelte sich in ihren tränennassen Augen. »Ich weiß, du hast bis spät in der Nacht das Kleid für Madame Bertrand bestickt. Aber jetzt steh auf! Ich werde dir Milch erhitzen. Für den Getreidebrei …«

»Jeannette! Wo bleibst du denn?«, hallte die verärgerte Stimme von Bauer d’Arc zu ihnen herüber.

»Kümmere dich bitte um das Vieh!« Die Bäuerin blickte zur Kammertür, derbe Tritte polterten die steile Holztreppe herunter. »Pierre muss doch den Stall ausmisten. Und Jean Furchen in die verwüsteten Felder ziehen.«

»Und Jacquemin?« Jeanne verzog das Gesicht, als sie Knötchen aus den Haarsträhnen kämmte, um neue Zöpfe zu flechten. »Warum kommt er nicht und hilft uns nach dem letzten Überfall?«

»Noch schaffen wir es allein.« Die Bäuerin versuchte zu lächeln. Sie wirkte erschöpft. Fein verästelte Lebenslinien durchzogen die Haut unter den Augen. Die hellen Wimpern flatterten, als sie versuchte, die Tränen wegzudrücken. Verschämt wischte sie sich über die Wangen. »Lass deinen Bruder bei seiner Familie. Vergiss nicht, er hat auch schon Kinder.«

Jeanne schlüpfte schnell in ihr langes Leinenkleid, in die Wollstrümpfe und zu großen Holzschuhe, die an der Spitze mit getrockneten Gräsern ausgestopft waren.

In der Bauernküche hockten Pierre und Jean mit Bauer d’Arc am langen Esstisch und löffelten Getreidebrei aus einer Holzschüssel. Im Herd flackerte ein offenes Feuer, darüber hing von der Decke herab eine schwere Kette, in die ein geschmiedeter Eisentopf eingehakt war.

»Na, Schwesterlein?« Pierre grinste breit. »Wolltest du wieder Soldat spielen? Ich schnitze nachher ein Holzschwert, dann kannst du schon mal üben.«

»Wir stellen dir auch ’ne Strohpuppe auf.« Ihr großer Bruder Jean nickte ihr spöttisch zu, dunkle Haare hingen ihm zottelig in die Stirn. »Mit ’ner verbeulten Blechschüssel auf dem Kopf. Als Helm. Das ist dann der Engländer.«

»Ja, grandios!« Pierres Stimme kiekste, er verlor gerade die hohe Stimme seiner Kinderjahre »Der Engländer hat ja sowieso nur Stroh im Kopf.«

»Und dann schwingst du dich – allez hopp – auf unseren alten Gaul und metzelst die feindlichen Angreifer nieder.« Jean schüttelte seine struppigen Haare und reckte gewichtig den Kopf, als wäre er Befehlshaber eines Soldatentrupps. Dann ließ er die Fingerspitzen über die Tischplatte tanzen, um das Trappeln eines Pferdes nachzuahmen und brüllte: »À l’attaque! À l’attaque!«

»Ruhe jetzt!« Bauer d’Arc schlug so deftig mit der Faust auf den Eichentisch, dass es krachte. »Ein für allemal: Ich will von diesem Unsinn nichts mehr hören! Habt ihr verstanden?«

Der Wind wehte frisch, als Jeanne vor das Haus trat. Draußen war es noch düster. Spärlicher Lichtschein fiel aus dem Küchenfenster und verfing sich an den überstehenden Dachschindeln des Halbgiebels, der sich an der Gartenseite niedersenkte.

Es roch nach dem frischen Holz der aufgestapelten Scheite, nach Dung und warmer Erde. Jeanne sog den Duft tief ein, den der Morgentau zum Leben erweckt hatte. Sie liebte diesen Geruch, auch den herben der Ginstersträuche. So, wie die raue und spröde Hügellandschaft um Domrémy mit ihren Eichen, Uferbirken und Pappeln. Und genauso, wie diese Erde, die der böige Wind auslaugte und zerbröselte. Und wie ihr Heimatland am Flussbett der Meuse, die sich im Sommer oft träge durch die Niederung schlängelte, im Frühjahr aber mit dem Schmelzwasser der Berge über die Ufer trat und knorrige Äste, Gestrüpp und Weideland gurgelnd mit sich riss.

»Mein himmlischer Vater, ich danke dir!« Mit glänzenden Augen schaute sie hinüber zum Gotteshaus. »Ich danke dir so sehr, dass ich hier geboren bin.«

Das Grundstück ihrer Familie stieß gleich an die Einfriedung der Pfarrkirche. Gräulich hob sie sich mit ihrem Glockenturm vor dem Himmel ab, der sich jetzt ganz allmählich bläulich und türkis verfärbte.

Jeanne lief mit dem Holzeimer hinüber zum Stall. Das trübe Licht der Stalllaterne fiel auf halb eingetrocknete Kuhfladen, über denen fette Fliegen surrten. Sie hockte sich auf einen Schemel und stellte den Holzkübel unter eine der Kühe, die bereits ungeduldig mit den breiten Vorderklauen scharrten. Dann griff sie nach den Zitzen, schloss Daumen und Zeigefinger zu einem Ring und die übrigen Finger nacheinander zu einer Faust, um die Milch aus dem prall gefüllten Euter zu drücken. Ein deftiger Strahl zischte in den leeren Holzeimer, kleine Tropfen spritzten hoch. Der frische Geruch von warmer Kuhmilch zog ihr in die Nase. Jeanne betrachtete die frische Milch in dem Bottich, auf der sich nach jedem zischenden Strahl kleine Blasenberge wölbten, die dann allmählich wieder in sich zusammensackten.

Das Königreich Frankreich von den Engländern befreien! Jeannes Hände zitterten. Es war ein seltsames Gefühl, das jedesmal in ihr aufwallte, wenn dieser Gedanke sich in ihr verfing: Aufwühlend und unwirklich. Drängend und verwirrend. Viel zu verwirrend.

Noch immer hielt sie der Traum dieser Nacht wie betäubt, sie fühlte sich wie unter einer Glasglocke gefangen. Noch immer sah sie den Himmel, der aschgrau verhüllt war und von silbernen Lichtpfeilen aufgerissen wurde. Tausende von Schwertspitzen tanzten einem unsichtbaren Ziel entgegen. Die Geräusche erloschen, die Schwerter lösten sich auf und wurden eins mit dem trüben Grau. Dann riss der Dunst auf. Und da war es wieder: Dieses Licht von unerklärlicher Schönheit. Und die wundersame Stimme: »Jeanne! Gib ihnen den Glauben zurück. Und den Willen, unbesiegbar zu sein. Nimm das Banner und …« An dieser Stelle hatte der Vater sie geweckt.

Das französische Königshaus zum Sieg führen? Was für ein wahnwitziger Gedanke! Sie sollte die königstreuen Truppen der Armagnacs gegen die Burgunder führen, die sich mit den verhassten Engländern verbündet hatten? Jeanne schüttelte wieder ungläubig den Kopf.

Ihr Heimatdorf Domrémy lag am Rande Lothringens und grenzte unmittelbar an Feindesland. Auch hier häuften sich kriegerische Überfälle burgundischer Söldnertruppen. Wie oft schon hatten die Sturmglocken der Dorfkirche geläutet und sie zur Flucht beschworen. Wie oft war bei der Rückkehr das Dorf von Freischärlern ausgeplündert, so manches Haus zerstört und die Felder verwüstet. Oder die Roggenähren hatten lichterloh gebrannt, eine lodernde Feuerfront, die gierig nach Nahrung suchte. Zurück war dann nur schwarze Erde geblieben. Und wie oft war Vieh, das wegen des überhasteten Aufbruchs nicht fortgetrieben werden konnte, erbeutet oder geschlachtet worden. Abgestochene Schweine oder Ziegenkadaver lagen dann in ihren blutigen Eingeweiden. Die besten Fleischbrocken waren herausgeschnitten und als Proviant fortgeschleppt. Und jedesmal heulten Wölfe auf, gleich neben dem Dorf, in den dunklen Gassen, hinter den Ställen. Sie witterten das frische Blut und schlugen unbarmherzig Beute. Diese Wölfe, die auch die Schrecken der Gegend waren. Obwohl der Bürgermeister ein hohes Kopfgeld für jeden erlegten ausgewachsenen Wolf oder Wolfsjungen zahlte, schien sich die Meute rapide zu vermehren.

Kriegszeiten schienen wie dafür geschaffen, um Beute zu machen. Wie auch bei den Freischärlerbanden. Die standen im Sold der Engländer und waren gefürchtete Marodeure, die das Land durchstreiften. Abtrünnige Ritter, Söldner und Abenteurer, die sich von demjenigen Kriegsherrn bezahlen ließen, der die meisten Silbermünzen in ihre Hand zählte. Menschliche Wolfsrudel, die selbst armselige Dörfer überfielen und ausplünderten.

Nach jedem Überfall half Jeanne, schwer verletzte Männer zu versorgen, die zur Verteidigung des Dorfes zurückgeblieben waren, ihre klaffenden Wunden zu säubern und sie mit Kräutern und Heilsalben zu bestreichen.

Jeanne betete um Frieden. Beim Hüten des Weideviehs, beim Kneten des Brotteigs, beim Ausnehmen der Bachforelle. Kniete nieder beim ersten Läuten der Kirchenglocken. Drüben, auf den bewaldeten Anhöhen, von wo aus im bläulichen Dunst ferne Hügelketten zu erkennen waren. Oder beim Beerensammeln in der schattigen Schlucht bei der Quelle von Sankt Thierbault und hoch oben in der Marienkapelle.

Sie sprach das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis, wie es Maman sie gelehrt hatte. Oder den Gruß des Erzengels Gabriel, mit dem er der Jungfrau Maria verkündete, sie würde den Messias empfangen: »Gegrüßet seist du, Maria …«

Jeanne bat Gott inständig um Gnade für die Menschen, wenn sie bei den Bäuerinnen im Kirchenschiff auf den Fersen sitzend betete. So war es Brauch, während die Männer an den Kirchwänden standen. Auch lauschte sie gebannt den Predigten von Hochwürden Jean Minet, dem Pfarrherrn der Gemeinde, einem ältlichen Diener Gottes mit rötlichen Wangen, der wohl auch ein gutes Glas Wein nicht verschmähte und dem sie hin und wieder Kuchen backte, damit er pünktlich die Kirchenglocken läutete.

In der Predigt letzter Woche hatte Jean Minet darüber gesprochen, dass viele erkoren sind, aber nur wenige auserwählt. Dass der Weg breit ist, der zur Verdammnis führt. Aber der Weg zum Leben schmal. Und dass nur wenige ihn finden …

Jeanne hockte noch immer auf ihrem Melkschemel und die Finger glitten wie von selbst ineinander, falteten sich zum Gebet, als sie in ihren liebsten Tagtraum versank: Plötzlich war sie da gewesen, diese wundersame Stimme. Vier Jahre war das jetzt her. Ganz plötzlich, zur Osterzeit. Drüben beim Gemüsegarten, gleich hinter dem Bauernhaus. Als die Frühlingssonne hoch am Firmament stand und sie im ›Ave Maria‹ versunken war, geschwächt vom vielen Fasten.

Erst war da ein unwirkliches Sirren gewesen. Leise, tastend, wie die Flügel eines Windhauchs. Es war von der Dorfkirche her gekommen: erst sanft, betäubend süß. Dann eindringlicher. Fordernder.

Verwirrt hatte Jeanne hochgeschaut und war erschrocken zurückgewichen, als sie bemerkte, dass die Stimme aus einem strahlenden Lichtkreis kam. Aus einem erhabenen Licht, das nicht von dieser Welt sein konnte: Kein Sonnenstrahl würde jemals die Kraft haben, diese überirdische Wärme in sich zu tragen. Kein Feuer könnte jemals so viel glühende Liebe verbreiten.

Zuerst hatte Jeanne Angst gehabt, hatte nicht gewusst, ob sie in einem verworrenen Tagtraum versunken war. Oder ob sich vielleicht sogar Dämonen in trügerischem Gewand ihrer bemächtigen wollten. Aber die Lichtstimme hatte sie beruhigt und ihr gesagt, sie sollte nur gut und brav sein, alles diente ihrer Vorbereitung … der Vorbereitung …1

Aufgewühlt war sie in die Dorfkirche gelaufen und hatte sich vor der Holzstatue der heiligen Margareta niedergekniet. Damals. Vor vier Jahren. Verängstigt und doch im tiefen Gottvertrauen.

»Ich weiß, ich bin nur ein Bauernmädchen, kann nicht lesen, nicht schreiben. Ich kann nur drei Gebete, die Maman mich gelehrt hat. Aber ich will Gott ganz nahe sein, im reinsten Licht leben. Ich flehe dich an, hilf mir dabei!« Ihre Hände, die sie zum Gebet gefaltet hatte, zitterten. »Heilige Margareta. Du hast die Schlange besiegt, auch ich will bereu’n und jeglicher Versuchung widerstehen. Ich sehne mich so sehr nach diesem göttlichen Licht. Ich will rein sein. In allem. Jungfräulich rein. So, wie du selbst gelebt hast.«2

Jeanne hatte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten können. Sie weinte, als wollte sie sich reinwaschen. Von allem, das ihr auf der Seele brannte. Bis ein unbekanntes Gefühl der Freiheit und Leichtigkeit sie umfing.

In den letzten vier Jahren kamen die Stimmen immer öfter. Aus dieser Lichtquelle, die eine so tiefe Liebe ausstrahlte, dass Jeanne manchmal glaubte, die Besinnung verlieren zu müssen. Und dann gaben sie sich zu erkennen: die Heilige Margareta, die Heilige Katharina und der Erzengel Michael, der mit seinem feurigen Schwert den Teufelsdrachen besiegt hatte. Michael, der Engel der Apokalypse …

Jeanne erschrak, als ihr ein dreckverklebter Kuhschwanz durchs Gesicht wedelte. Sie hockte noch immer auf dem Melkschemel im Stall, die Tagträume zerstoben mit einem Schlag. Ihr Bruder Pierre fuchtelte mit einem abgeschnittenen Schwanz, der mit Hanffasern an einen Zweig gebunden war, vor ihrer Nase hin und her. Blitzartig schlug sie ihm die Rute aus der Hand.

»Na, Schwesterchen?«, kiekste Pierre. Er stand jetzt breitbeinig neben ihr, stemmte die Fäuste in die Hüften und grinste breit. »Was sagen denn heute deine Stimmen? Wie wird das Wetter? Gibt es ein fettes Wildschwein zu jagen? Springen die Karpfen allein in die Netze?«

Jeanne griff nach dem Kuheuter, zielte mit einer Zitze und spritzte ihm einen Milchstrahl mitten ins Gesicht. Kichernd rannte sie davon, während Pierre hinter ihr herjagte.

»Pass nur auf!«, rief er, während er sich mit einem Lappen durchs Gesicht wischte. »Wenn du so weitermachst, wirst du eines Tages noch als Hexe verbrannt.«

»Gott ist bei mir. Was sollte mir da schon geschehen?« Jeanne lachte laut auf, als ihr Bruder auf sie zusprang und sie burschikos umklammerte.

»Dir kann eine Menge geschehen!«, raunte Pierre ihr plötzlich zu, als sie ihn mit einem kräftigen Stoß in einen Heuhaufen schleudern wollte. »Pass auf, Papa ist auf dem Weg zur Scheune.«

Sofort ließ Jeanne los, rannte auf den gefüllten Milcheimer zu, umfasste den Griff und schleppte ihn in die hintere Küche, wo gebuttert wurde. Die Nachbarn kauften oder tauschten hier für ein paar Sous Esswaren, Schafsmilch wurde in Trögen gerührt und für Käse angedickt.

Nachdem sie die Küche gewischt hatte, trieb sie die Kühe, Schafe und Pferde, die sie vor dem letzten feindlichen Überfall in die Wälder gejagt und wieder eingefangen hatten auf die Tieflandweide, die östlich des Dorfes am Ufer des Flusses lag. Die Familien von Domrémy, die Vieh in ihren Ställen hatten, bildeten eine Gemeinschaft und übernahmen abwechselnd die Aufsicht über die Tiere. An diesem Tag war Bauer d’Arc an der Reihe, der die Aufgabe an Jeanne weitergab.

Bauer d’Arc war heute als ›Doyen‹, als Ältester und Vorsteher des Dorfes damit beschäftigt, Handwerksleute zu unterweisen. In der Außenwand der Dorfkapelle klaffte ein großes Loch. Die Kirche war bei der letzten kriegerischen Attacke eingerammt worden und wurde jetzt mit Mörtel und Bruchsteinen neu hochgemauert. Auch das Dach musste teilweise neu gedeckt werden. Nur gut, dass die Stützpfeiler, der Altar und die Heiligenfiguren nicht zu Schaden gekommen waren.

Die Frühlingssonne hatte längst die Himmelsmitte überschritten, als Jeanne aufs Feld hinauslief, um ihrem älteren Bruder Jean bei der Arbeit zu helfen. Sie blinzelte hoch ins Sonnenlicht und atmete tief durch. Seltsam, dachte sie. Dieses Licht war grell. Die Augen schmerzten, wenn der Blick die Sonne berührte. Und doch strahlte die Scheibe am kristallenen Himmelsgewölbe nichts weiter aus als Licht und Wärme. Das Licht aber, in dem sich die Heiligen zeigten, war getragen von tiefster Liebe, Geborgenheit und Urvertrauen.

Aber sie durfte nicht mehr darüber sprechen! Die Stimmen hatten es ihr aufgetragen. Es war zu viel Unverständnis da, das könnte ihre Mission behindern. Aber was war genau ihre göttliche Mission? Wie sollte sie es überhaupt anstellen, die französischen Truppen gegen die Engländer zu führen?

Nachdenklich lief Jeanne ihrem Bruder entgegen, der auf dem Feld schon ungeduldig auf sie wartete.

»Nun mach schon!«, drängte Jean leicht angesäuert und wischte sich mit dem Ärmel Schweiß aus dem verdreckten Gesicht. »Dass ihr Mädchen euch ständig ablenken lasst und wie verträumte Schafe herumglotzt.«

»Und dass ihr Burschen ständig herumblöken müsst, wie engstirnige Schafsböcke!«, antwortete Jeanne ungerührt.

Sie griff nach den Zügeln des Ackergauls und führte das Zugpferd, während Jean den Pflug hielt, der lange Furchen in das Feld trieb. Die Aussaat für Rüben und Lauch, Mangold und Kohl stand an, und sie hofften auf eine ertragreiche Ernte, auch für die Wintermonate.

Jeannes Gedanken flogen zu ihren Freundinnen Hauviette und Mengette, die sie sicherlich bei den Näharbeiten am Abend treffen würde. Sie freute sich auf die beiden, obwohl sie sich immer mehr voneinander entfernten. Ganz allmählich. So wie ein Ast, der sich verzweigte. Die beiden verstanden so wenig von dem, was Jeanne berührte. Sie konnten nicht begreifen, warum sie stiller wurde und sich zurückzog.

»Das sieht aber gar nicht gut aus«, brummte Jean plötzlich und schaute zum Horizont, wo düstere Wolken aufzogen. »Sacré, das Wetter versaut uns wieder die ganze Feldarbeit!«

Jeanne stemmte die Hände in die Hüften. »Und ich werde dir auch gleich den Tag versauen, wenn du nicht mit deinem gotteslästerlichen Fluchen aufhörst!«

»Ist ja schon gut, ma petite!« Jean grinste, als Jeanne sich keine Handbreit rührte, um den Ackergaul weiter zu führen. Sie stand regungslos da, breitbeinig, mit verschränkten Armen und starrte ihn herausfordernd an. Böiger Wind fuhr ihr in die dunkelblonden Zöpfe, löste Strähnchen, die ihr ins Gesicht flatterten und verfing sich in dem ärmlichen Leinenkleid.

›Sacré‹ war Gotteslästerei. Und das passte ihr nicht. Genauso wenig, wie das Wort ›Goddams‹.So wurden die Engländer genannt, weil es hieß, dass sie ständig Gott verfluchten. Da ging ihr das abgewandelte ›Goddons‹ schon eher über die Lippen. Es kam wohl von ›Godonds‹, dem geschwänzten Teufel, der am Hintern einen Schweif trug.

»Na, was ist?« Ihre Worte klangen gereizt. Ungeduldig. Immer mehr Haarsträhnen umtanzten ihr Gesicht.

»Nun mach keine Zicken! Ein Unwetter zieht auf!«, blaffte Jean sie an. Ungeduldig zerrte er an dem Pflug.

»Nein!« Jeanne blieb regungslos. Den Kopf herausfordernd vorgereckt. »Schwöre erst, dass du nicht mehr gotteslästerlich fluchst!«

»Nimm den Gaul an den Zügeln!«, brüllte Jean sie an. »Wir müssen fertig werden, bevor es schüttet.«

»Nein!« Jeannes verschränkte Arme schienen miteinander verwachsen. Böiger Wind zerrte an ihrem Rock. »Erst du!«

Er verdrehte entnervt die Augen. Krallte die Finger in das Holz. »Ich verspreche es dir! Keine Flüche mehr, die Gott verhöhnen.«

»Ehrlich?« Sie hielt den Kopf schief und wartete.

»Ganz ehrlich!« Das Gesicht ihres Bruders lief rot an. »Und jetzt nimm verdammt noch mal die Zügel und zieh ab mit dem Gaul.«

»Nicht bevor du schwörst.« Jeanne blickte gespielt gelangweilt zum Wolkenhimmel hoch.

»Ich schwöre …« Ihr Bruder streckte drei Finger hoch und verzog das Gesicht, als wollte er sagen: Dieses kleine Biest! Die mit ihrem Dickschädel! Sie weiß ganz genau, wie sie ihren Willen durchsetzen kann! »Ich schwöre, nicht mehr gotteslästerlich zu fluchen!«

»Na, geht doch. Und? War das so schwer?« Jeanne lächelte zufrieden, nahm die Zügel des Kleppers in die Hand und schnalzte mit der Zunge. »Dann mal weiter! Allez hopp, mein alter Knabe. Die Strecke ist nicht mehr weit. Du hast es bald geschafft.«

Der Wind wurde immer heftiger, düstere Wolken hatten sich wie Ungeheuer zusammengeballt. In der Ferne zuckten erste Blitze über das Land. Der Donner grollte wie das drohende Knurren eines Wachhundes zu ihnen herüber.

»Na, da kommt ja mächtig was auf uns zu.« Pierre wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn und klopfte dem hin und her tänzelnden Pferd beruhigend auf die Flanken. »Ich werde den Gaul besser in den Stall bringen, er fängt schon an zu scheuen.«

Jeanne blieb allein am Rande des Feldes zurück. Der Wind frischte noch böiger auf und fegte jetzt durch ihre Haarsträhnen. Die dunklen Wolkenballen trieben immer näher, es pfiff und rauschte. Gackernde Hühner zwängten sich mit flatternden Flügelschlägen in ihren Stall, zwei Katzen huschten durch einen Türspalt in eins der Fachwerkhäuser.

»Jeannette, wo bleibst du denn? Siehst du nicht die dunklen Wolken? Dieses finstere Teufelswerk? Wer weiß schon, wer das wieder heraufbeschworen hat!«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »Es wird bestimmt wie aus Eimern schütten. Und dieses Feuer aus den Wolken, es könnte dich treffen …«

»Gleich, Maman!« Jeanne lächelte. Es war doch Gott, der mit ihnen sprach! So hatte es ihr eigener Onkel, der Pfarrer von Sermaize beim letzten Besuch aus der Bibel vorgelesen. Und hatte Papa nicht auch einen Donnerkeil im Feld gefunden, der vor Blitzschlag schützen sollte?

Nachdenklich schaute Jeanne einem Krähenschwarm nach, der Schutz im naheliegenden Eichenwald suchte, in diesem alten Forst, dem Bois de Chesnu, den man mied, weil dort Rudel von Ebern und Wölfen hausten. Und dem man nachsagte, dass dunkle Mächte dort ihr Unwesen trieben.

Woher wussten die Tiere nur, dass Gefahr drohte?, dachte Jeanne. Dass sie fliehen mussten vor nahendem Unglück? Woher trugen sie dieses Gefühl in sich, dass sich da etwas zusammenbraute? Warum war nicht auch den Menschen diese Vorahnung gegeben? Oder waren sie taub geworden und hatten ihre Ohren verschlossen?

Nur der Adler hoch oben am Himmel verfiel nicht in Angst und Panik, sondern zog ruhig seine Kreise. Jeanne lächelte. Er machte sich den Sturm zunutze, um höher aufzusteigen. Er breitete seine Schwingen aus und wurde in die Höhe getragen. Jeanne sog die Luft tief ein: Flügel wie Adler bekommen! Die Gefahr als Herausforderung annehmen und dem Firmament entgegenstürmen! So wollte sie sein und sich nicht wie ein verängstigtes Huhn im Unterschlupf mit Hennen und Glucken zusammenrotten und verstecken!

»Jeannette, wo bleibst du bloß? Siehst du denn nicht …« Die Worte der Mutter wurden vom aufpeitschenden Wind zerpflückt und davongetragen.

»Ich komme ja schon!« Jeanne lachte, als die ersten Regentropfen auf ihre Haut klatschen. Und schon prasselten sie herunter, als wäre eine Schleuse geöffnet worden. Sie schloss die Augen und genoss es, wie das warme Wasser ihr geflochtenes Haar durchnässte, über die erhitzten Wangen lief, den Nacken hinunter. Wie das Leinenkleid allmählich tropfnass wurde, bis es an ihrem Körper klebte. Für ein paar Atemzüge fühlte sie sich ganz eins mit der Schöpfung. Dann rannte sie los, stürmte ausgelassen auf ihre Mutter zu und fiel ihr in die Arme.

Die Mutter fuhr ihrer Tochter über das klitschnasse Haar. »Jetzt komm, meine kleine Jeannette. Du musst dich umziehen, damit du dich nicht erkältest.«

Nebeldunst stieg aus den Feldern. Noch immer nieselte es vom Himmel, aber die Gewitterwolken hatten sich verzogen. Jeanne öffnete das Portal der Dorfkapelle und betrat den Kirchenraum. Wo die Außenwand des niedrigen Seitenschiffes frisch hochgemauert war, überzog eine feine Mörtelschicht den Steinboden. Der Altar war mit einer Leinenplane abgedeckt, das Jesuskreuz wurde wohl in der Sakristei verwahrt. Nur die bunt bemalte Marienstatue und die Holzfigur der Heiligen Margareta waren schon sauber gewischt, sogar eine Kerze aus Rindertalg war entzündet worden.

Mit der Kuppe ihres Zeigefingers fuhr Jeanne über den Rand des Taufbeckens aus Marmor. Auch hier war kein Körnchen Staub zu finden. Das Becken war allerdings leer, das Weihwasser vorsorglich herausgeschöpft, damit es nicht von Mörtelstaub verunreinigt werden konnte.

Jeanne kniete sich vor die Statue der Heiligen nieder. Hochwürden Jean Minet, Pfarrherr der Gemeinde, hatte ihr den Namen übersetzt und seine Bedeutung erklärt: Margareta war die schimmernde Perle – rein und weiß durch ihre Jungfräulichkeit. Genauso rein, wie Jeanne geschworen hatte zu leben.

Sie faltete die Hände und versank im Gebet. Geräusche, die draußen von der Straße kamen, verblassten und drangen nicht mehr zu ihr vor.

Plötzlich war es ihr, als würden die Umrisse der Statue zerfließen, die Grenzen verschwimmen. Ein unwirkliches Licht strömte aus dem Inneren, umhüllte Jeannes Körper, durchdrang sie und machte sie schwebend leicht. Wieder hörte sie diese Stimme. Zärtlich, aber drängend. Gütig, aber fordernd. Leise, aber sie erfüllte ihre Seele, als müsste ihr Herz zerspringen: Dass es allmählich an der Zeit wäre, zu handeln! Dass sie zu Baudricourt gehen solle, dem Stadthauptmann von Vaucouleurs, dass sie später ein gewaltiges Heer anführen solle, um Orléans zu befreien und die Engländer zurückzuschlagen! Dass es ihre Mission wäre, den Dauphin nach Reims zu führen, um ihn dort zum König krönen zu lassen!3

Jeanne lauschte. Regungslos. Wie in Trance. Ihr Körper glich einer Metallfeder, die bis zum äußersten Anschlag gespannt war.

»Aber ich bin doch nur ein einfaches Bauernmädchen. Ich weiß nichts vom Krieg«, sagte Jeanne mit zaghafter Stimme. Sie spürte, wie ihre Haut vibrierte, durchdrungen von dieser aufwühlenden Energie. Trotzdem fühlte sie sich geborgen, so nah bei Gott und den Heiligen. »Wie soll ich denn mit den Männern der großen Welt umgehen? Ich verstehe doch nichts von Kriegsführung!«

»Natürlich verstehst du nichts von Kriegsführung!« Es war ihr Vater, der in ihre Gedanken platzte. Er betrat gerade mit Bauarbeitern den Kirchenraum, um das Mauerwerk von innen zu verputzen. Jeanne sprang erschrocken auf, senkte den Kopf und glättete verlegen ihr Leinenkleid. Das Hochgefühl, das ihren Körper ergriffen hatte, schwand innerhalb eines Wimpernschlags.

Mit ein paar ausladenden Schritten war Bauer Jacques bei ihr. »Jeannette, ich warne dich!«, zischte er ihr zu. »Hör auf! Hör auf mit deinen Spinnereien. Oder willst du dich an Gott versündigen?«

Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Die dunklen Augen hatte er wütend zusammengekniffen, die buschigen Augenbrauen gingen fast ineinander über. Mit einer verärgerten Handbewegung klatschte er auf eine der runden Kirchensäulen und stapfte auf die Steinwand zu, wo die Arbeiter schon warteten.

Jeanne knickste vor dem Standbild der Heiligen Margareta, die jetzt regungslos stand wie immer. Dann huschte sie mit hochgezogenen Schultern aus der Dorfkirche, lief über den matschigen Vorplatz hinüber zur kleinen Treppe, die zu ihrem Garten führte und dann ins Bauernhaus.

»Maman?«, rief sie, noch immer verwirrt. Sie krampfte die Hände zusammen, damit ihre zitternden Finger Ruhe fanden. »Maman, ich bin zurück!«

Als es dämmerte, und Beerensträucher und Felsenbirnen allmählich mit ihren Schatten verschmolzen, trafen sich die Dorfleute bei den Eltern von Hauviette, Jeannes Freundin. Wie üblich wurden in der Bauernstube Neuigkeiten über das Kriegsgeschehen ausgetauscht und hitzige Debatten geführt. Die Frauen hockten an Spinnrädern, die Männer strickten wollene Kappen, oder sie ließen bei einem Krug Gerstenbier einfach nur den Tag ausklingen.

Als Jeanne die Stube betrat, saßen schon zwei der Bauersfrauen an ihren Spindeln und schwatzten; neben ihnen lag ein Haufen geschorener Schafswolle, die sie zu Fäden verspinnen wollten. Im Kamin loderte ein helles Feuer und verbreitete wohlige Wärme.

Hauviette hockte am Holztisch nahe dem Kerzenleuchter und hatte ein Leinentuch vor sich liegen, das sie umsäumte, damit es nicht ausfransen konnte.

»He, Jeannette!« Hauviette winkte ihr zu und plapperte los: »Ich habe dir hier einen Platz freigehalten. Kommst du? Das war ja’n Wetter, was? Der Sturm hat bei den Pellegrins ein Brett vom Stalldach gerissen. Das bisschen Stroh, das die noch hatten, ist klitschnass geworden. Ganz schöner Mist, was? Und ich hab heute früh am Eichenwald frische Kräuter gesammelt. Ich sag dir: dicke Bündel voll. Die hängen zum Trocknen in der Küche. Ihr könnt auch welche abhaben. Aber reingetraut habe ich mich nicht … in den Wald. Und der Hund von Départs hat Junge bekommen. Fünf kleine verschmuste Welpen. Die sehen so was von süß aus. Und …«

»Moment«, unterbrach Jeanne und lachte. »Langsam. Eins nach dem anderen. Wir haben ja den ganzen Abend Zeit.«

Jeanne setzte sich zu ihr und breitete das Kleid von Madame Bertrand aus, das sie besticken wollte.

»Wie geht es eigentlich deinem Bruder Jaquemin«, fragte Hauviette, während sie das Ende eines dünnen Wollfadens anleckte und durch ein Nadelöhr fädelte. »Übrigens, ein hübscher Kerl.«

»Er fühlt sich glücklich in der Ehe. Ich glaube, ich werde bald schon wieder Tante.« Jeanne lächelte und strich den Stoff glatt. Prüfend betrachtete sie das naturfarbene Oberteil des Kleides, das schon mit hellen Wollfäden bestickt war. Jetzt griff sie nach einem Faden, den sie mit den Schalen der Zwiebel gelbbraun gefärbt hatte und fädelte ihn ein, während Hauviette vertraulich die neuesten Gerüchte ausplauderte.

Jeanne bekam öfters Aufträge, Wäsche oder Kleider zu verzieren, da sie sich feinste Muster ausdachte und äußerst geschickt mit der Nadel umging.4 Gerne hätte sie auch Stoffe gefärbt, aber das war ein niedriges Handwerk, bei dem mit stinkenden und gärenden Substanzen hantiert werden musste. Der nächste Färber für Woll- und Leinenstoffe war erst im Norden an den Toren von Vaucouleurs zu finden. Das war eine Garnisonsstadt, die auch bei Rechtsstreitigkeiten für sie zuständig war: für Domrémy und Greux, die eine Gemeinde bildeten.

Wenn es doch keinen Krieg geben würde, dachte Jeanne. Dann könnte sie sich bestimmt einmal Stickereien der Burgunder anschauen, die es in diesem Handwerk zu Meisterleistungen gebracht hatten. Es hieß, sie verwirkten sogar Goldfäden und wussten mit Seidengarn schimmernde Kunstwerke zu erschafften. Aber Seide war kostbar, viel zu teuer für Domrémy, selbst für das Messgewand von Hochwürden Jean Minet. Ihr Vater war als Dorfältester zwar ein angesehener Mann, aber reich waren sie nicht. Und für so einen Luxus würde er nicht den kleinsten Sous verschwenden.

»Übrigens …!«, unterbrauch Hauviette ihre Gedanken und lächelte verschwörerisch. »Wie findest du eigentlich Géraldin?«

»Du meinst den Bauernsohn von den d’Épinales?« Jeanne blickte hoch zu ihrer Freundin, die leicht errötete.

Hauviette nickte verschämt. »Sieht er nicht hübsch aus mit seinem dunklen Haar? Wenn er mich mit seinen großen braunen Augen ansieht, wird mir immer ganz komisch.«

»Mir auch. Dann denke ich immer an Pauline«, antwortete Jeanne trocken und stach mit der Nähnadel in den Leinenstoff.

»Pauline?« Hauviette schob irritiert die Oberlippe hoch.

Jeanne nickte ernsthaft. »Ja! Unsere allerbeste Milchkuh. Die hat auch so einen Blick.«

Hauviette klatschte ihr kokett auf den Handrücken. »Dass du mich immer so foppen musst!«

»Verstehst du denn nicht?« Jeanne wurde ernst, ihre Stimme leise. Anklagend. Mit durchdringendem Blick sah sie ihre Freundin an. »Er ist ein Burgunder! Der einzige Burgunder hier im Ort. Ein Verräter!«

»Aber er ist der Sohn von den d’Épinales, ein netter Kerl!«

»Ein netter Kerl? Von mir aus können sie ihm den Kopf abschlagen.« Jeanne starrte hasserfüllt zu den Männern hinüber, die drüben am Tisch hockten und bei einem Krug Gerstenbier über Politik debattierten. Und wo dieser Géraldin stand und gerade einen Bierkrug zum Mund führte.

Hauviette schaute sie erschrocken an. »Den Kopf abschlagen?«

»Vorausgesetzt natürlich, dass es Gott gefallen würde!« Jeanne umklammerte Hauviettes Hand so fest, dass ihre Freundin schmerzhaft aufstöhnte. »Verstehst du denn nicht? Ein Burgunder! Einer, der dem französischen Königreich in den Rücken fällt!«5

Jeanne schaute zu den jungen Burschen, die im Abstand zu Géraldin miteinander tuschelten. Einige hatten blutige Schrunden an den Lippen, andere blaue Flecken im Gesicht. Sicherlich war es wieder zu Schlägereien mit den Jungen aus Maxey gekommen, dem Dorf, das gleich auf der anderen Seite des Flusses lag und das die feindlichen Burgunder unterstützte. Wie oft schon hatte Jeanne Wunden versorgt und Beulen gekühlt, Schrammen gesäubert und verstauchte Gelenke mit Tinkturen aus Rosmarin, Salbei und Beinwell eingerieben. Immer dann, wenn die Burschen ihre aufgestaute Wut in blutigen Raufereien herausließen und stolz mit Verletzungen heimkehrten, als wären es Kriegstrophäen, Zeichen eines siegreichen Kampfes.

Hauviette zog ihre Hand aus der Umklammerung, schüttelte verständnislos den Kopf und plapperte weiter. »Jetzt aber mal ehrlich: Gefällt dir keiner von den Burschen da hinten? Maurice zum Beispiel. Der schielt zwar ein bisschen, aber beim Küssen schließt man doch sowieso die Augen.«

Die blonde Mengette zwängte sich gerade kichernd neben sie auf den Schemel: »Außerdem ist es nachts in der Kammer sowieso stockdunkel.«

»Aber vielleicht küsst er ja richtig gut!« Hauviette prustete hinter vorgehaltener Hand los. »Jeder hat doch so seine Talente, heißt es …«

»Und wenn nicht?« Mengette umarmte die Freundin, um nicht vom Hocker zu kippen.

»Leider kriegt man das erst in der Ehe mit.« Hauviette gluckste auf. »Und dann hat man so ’nen Liebestrottel, der nichts auf die Reihe kriegt! «

»Nur so als Ratschlag«, raunte Mengette ihr zu. »Wenn er Gelüste hat und es dir nicht passt, heiz’ ihm einfach kräftig ein. Dann ist es schneller vorbei!«

»Und? Was ist mit dir, Jeannette? Ist da keiner für dich dabei?« Hauviettes Wangen waren gerötet. Mit einer knappen Kopfbewegung wies sie zu den Burschen, die wohl über sie tuschelten.

»Nicht jeder ist für die Ehe geboren«, meinte Jeanne vorsichtig. Sie hatte sich fest vorgenommen, in Domrémy über ihre innersten Sehnsüchte und über die Zwiegespräche mit den Heiligen zu schweigen, wie es ihr die Lichtstimmen wieder ans Herz gelegt hatten. Zu oft erntete sie Unverständnis oder Gelächter. Auch von Hauviette wurde sie verspottet, wenn sie sich vom geschwätzigen Spiel der Mädchen zurückzog, um ein Gebet zu sprechen. Aber vor allem durfte der Vater nicht noch mehr in Rage gebracht werden!

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Pascal, der Dorfschmied stürmte ins Zimmer. »Sie nähern sich Orléans!«, rief er gehetzt und schnappte nach Luft. »Bald haben die feindlichen Truppen ihre Posten vor der Stadt aufgestellt. Orléans! Das Tor zum Süden, der Schutzschild. Wenn Orleáns fällt, dann sind wir alle verloren!«

»Um Himmels willen! Die Kinder …«, riefen die Bauersfrauen.

»Wann? Wo stehen sie genau?«

»Diese verfluchten Goddams!«

»Diese Teufelsbrut!«

Wütende Stimmen schwirrten durcheinander, darunter mischte sich verzweifeltes Jammern, empörte Ausrufe platzten in den Tumult. Jeannes Herz pochte so heftig, dass es fast schmerzte. Sie glaubte, aufspringen zu müssen, um davonzulaufen. Hinüber zur Waldkapelle. Drüben an der tiefen Schlucht. Um in der Stille wieder zu sich zu finden. In der Zwiesprache mit den Heiligen. Um vielleicht von den Lichtstimmen Anweisungen zu erhalten, was in ihrer Macht stand zu tun. In der Macht eines Bauernmädchens, das nichts wusste von Kriegstaktik und Attacken, von Heeresführung und Schwertkampf.

Bruder François war dem Dorfschmied gefolgt. Ein Bettelmönch mit wettergegerbtem Gesicht und zotteligem Vollbart, in brauner Wollkutte mit Schulterkragen. Die Kapuze fiel ihm in die Stirn, seine nackten Füße steckten in ärmlichen Sandalen. Schon öfters hatte er in Domrémy Station gemacht und wurde jetzt mit unterdrücktem Stimmengemurmel begrüßt.

Jemand rückte ihm einen Stuhl zurecht, ein anderer schnitt für ihn eine dicke Scheibe vom Brotlaib ab. Der Dorfschmied drückte dem Prediger ein Stück Holzkohle in die Hand, schob Bierkrüge zur Seite und wischte mit einem Lappen den Tisch trocken. »Malt eine Landkarte auf, Frère François. Malt auf, was Ihr wisst, damit wir einschätzen können, was auf uns zukommt!«

»Und bringt noch einen Kerzenleuchter, damit der Bruder besser sehen kann!«, rief Bauer d’Arc. Er räusperte sich, um die Erregung in seiner Stimme zu verbergen.

Dicht gedrängt beugten sich Bauersleute über die Tischplatte, Schulter an Schulter, mit wirren Haaren und zotteligen Bärten, vernarbten Gesichtern und speckig glänzenden Nasen. Das Kerzenlicht warf zitternde Lichtkreise über die schwarzen Linien, Windungen und Punkte, die der Wanderprediger auf das Holz malte.

»Diese Stadt hier ist Orléans«, sagte der Bettelmönch mit verängstigter Stimme, als spürte er den heißen Atem des Leibhaftigen im Nacken. »Da oben, hinter dem Meer, das ist England. Und dieses Gebiet in Nordfrankreich, das haben sie besetzt.«

»Und da im Osten hausen die Burgunder.« Der Dorfschmied grunzte verächtlich. »Diese Verräter, die sich auf die Seite der Feinde geschlagen haben und den Goddams in den Arsch gekrochen sind.«

Jeanne horchte peinlichst genau auf das, was der Wanderprediger zu berichten hatte.

»Das hier ist die Loire, ein breiter Fluss, an dem die Stadt liegt«, fuhr Frère François flüsternd fort. »Die Bürger von Orléans sind bereit, ihre Stadt zu verteidigen. Bis zum Äußersten. Aber was können sie gegen Artillerie und die gefährlichen Langbogenschützen der Engländer schon ausrichten?«

Der Dorfschmied rieb sich über seine rote Knollennase und zuckte hilflos mit den Schultern, Bauer d’Arc stand wie versteinert.

»Die englischen Soldaten werden inzwischen sogar trocken in Zelten untergebracht und müssen nicht mehr im Schlamm und Morast kampieren«, raunte der Mönch und beugte sich tiefer über die Zeichnung, sodass ihm der Kapuzenschatten tief ins Gesicht fiel. Nur seine Augen blitzten auf. »Die harren aus, haben Nachschub an Verpflegung und warten ab. Warten einfach nur ab mit der Belagerung. Um die Stadt auszuhungern. Und dann, ganz plötzlich, blasen sie zur Attacke …«

Für einen kurzen Moment wurde es still. Jeanne spürte, wie ihre Hände anfingen zu zittern. Hauviette hatte die Augen ungläubig aufgerissen und starrte zu den Männern hinüber, Mengette kaute verwirrt auf einem Wollfaden herum.

»Wie lange kann Orléans das denn durchhalten?« Ein krächzender Alter auf der Ofenbank hatte das ausgesprochen, was wohl alle dachten.

»Dann sind die Tage gezählt!«

»Wenn Orléans fällt, ist der Weg in den Süden frei.«

»Uns sitzt der Teufel im Nacken«, war wieder die brüchig zitternde Stimme des Alten zu hören.

Bauer d’Arc nickte. Seine Gesichtszüge wirkten eingefallen. Müde. Erschöpft. Er starrte zu Boden. Die grobschlächtigen Hände hingen wie überflüssige Gliedmaßen an ihm hinunter.

Immer mehr Dorfbewohner drängten in die Stube, noch verdreckt von der Arbeit, aufgeschreckt und verwirrt. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Franziskanermönch Neues von der Kriegsfront wusste. Und vom Elend im Land.

»Die Not gebiert die allerschlimmsten Auswüchse.« Frère François ächzte, mit den Fingern zwirbelte er an den bauschigen Bartspitzen herum. »Wie eine vergiftete, wuchernde Geschwulst greift sie um sich. Wieder wird von … nun ja, von Menschenfresserei berichtet. Ausgehungerte locken Flüchtlinge und versprengte Söldner in weite Höhlen tief unter die Erde, die sie sich als Verstecke vor dem Krieg gegraben haben und dann …« Kraftlos ließ er die Hände sinken.

Selbst die hartgesottenen Bauern wurden blass und starrten den Mönch fassungslos an, die Weiber hockten da, mit betroffenen Gesichtern und bekreuzigten sich.

»In Paris sollen über hunderttausend Menschen an Hunger und Seuchen gestorben sein«, sagte jemand leise.

»Die Wölfe kommen dort bis vor die Tore«, wimmerte ein anderer.

»Und was das Elend nicht mit sich reißt, wird der verdammte Krieg unter sich begraben«, meinte ein Dritter.

»Sollten das die Zeichen sein?«, krächzte wieder der Alte auf der Ofenbank und pochte mit seinem Krückstock taktmäßig auf die Holzdielen. »Die göttlichen Zeichen, die uns gegeben werden sollen?«

»Die Zeichen …« Bruder François riss erschrocken die blassblauen Augen weit auf und streckte die knochigen Hände empor, als wollte er sich selbst als Opfergabe darbieten: »Höret! Höret zu, meine geliebten Brüder und Schwestern! Es steht geschrieben: Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen …«

»Die Weissagung des Johannes! Der Weltuntergang!«, jammerte jemand mit schluchzender Stimme. »Hochwürden Jean Minet hat erst kürzlich davon aus der Bibel vorgelesen. Die Apokalypse ist nah …«

Ein Weib schrie auf, warf sich zu Füßen des Bettelmönchs und küsste den Mantelsaum des Predigers. Ein schmuddeliger Junge umklammerte fest die Beine des Dorfschmieds und fing leise an zu weinen.

Frère François war wie entrückt. »… Und es erschien ein anderes Zeichen, und siehe: Ein großer, roter Drache erschien. Mit sieben Häuptern und zehn Hörnern. Und auf seinen Häuptern hatte er sieben Kronen. Und sein Schwanz zog den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde …«, heulte der Prediger jetzt. »Lasset uns beten …«

Die Dorfbewohner stammelten Hilferufe, murmelten Bitten an die Heilige Jungfrau oder starrten einfach nur zu Boden.

Jeanne schaute den Menschen nachdenklich zu. Wie lange lebten sie schon in Angst vor kriegerischen Überfällen! Sie dachte an den letzten Überfall, als die Sturmglocken die Menschen aus dem Schlaf gerissen hatten. Als es wieder mit weinenden Kindern auf dem Arm und brüllendem Vieh an den Stricken durch Sturm und Regen, durch Schlamm und Matsch auf das verfallene Kastell zugegangen war. Auf das Château-de-l’Ile, das auf der Insel mitten in der Meuse lag und von zwei Armen des Flusses umflutet wurde. Wie oft schon waren sie durch das tiefe Wasser gewatet, auf Pferden hinübergeritten oder hatten mit Booten übergesetzt, um dort im Schatten der kalten Gemäuer Schutz vor den Grausamkeiten des Krieges zu finden!

Jede Nacht standen Wachen auf dem Kirchturm, sofort bereit, die schwere Glocke zu läuten, falls sich räuberische Banden oder Söldnertruppen näherten oder der Himmel von der Feuersglut brennender Dörfer rot widerstrahlte. Wie oft hatten sie aufgehorcht, ob sich von irgendwoher Waffengeklirr näherte und ob das Angriffsgeheul von Freischärlern durch die Nacht hallte. Und doch waren die bisherigen Attacken wohl nur ein Vorgeplänkel auf das unfassbare Grauen, das noch folgen würde und zum Greifen nah schien …

Jeanne betrachtete die Männer des Dorfes. Sie standen bei dem Bettelmönch, der Schwarzbrot in einen Weinbecher tunkte, zermürbt von den langen Nachtwachen, dem Umpflügen abgebrannter Felder, dem Ausbessern und Hochziehen zerstörter Fachwerkhäuser, gebeugt von der Trauer um die Liebsten, deren Leben der Krieg mit sich genommen hatte.

Neben dem auflodernden Kamin drängten sich verängstigt ein paar Weiber auf Holzbänken, in zerschlissenen Leinenkleidern, die grauen Kopftücher tief in die Stirn gezogen. Einige hielten plärrende Säuglinge schützend an sich gedrückt, andere murmelten Gebete. Dunkle Rosenkranzperlen glitten durch zitternde Finger, als könnte mit ihnen das Weltenelend einfach weggebetet werden. Ein altes Weib umklammerte ein kleines Holzkreuz und wischte mit dem Rocksaum über ihre geröteten Augen.

»Wenn ich doch ein Mann wäre«, war die leise Stimme von Jeannes Mutter zu hören.

»Ja, was denn? Und dann?« Pascal, der Dorfschmied plusterte sich auf, seine Knollennase war rot angelaufen. »Was würdest du dann tun, Weib?«

»Aber … da ist ja noch … die Prophezeiung.« Die Worte des Wanderpredigers waren zögerlich ausgesprochen. Wie hoch gewirbelte Federn schwebten sie durch die Stube. Trotzdem hatte sie jeder gehört. Augenblicklich wurde es still. Das Klackern des Rosenkranzes verstummte, sogar die Säuglinge hörten auf zu plärren. Niemand regte sich. Die Bewohner von Domrémy schauten Frère François an, als warteten sie auf sein erlösendes Wort.

»Ihr … Ihr meint die Weissagung über die Jungfrau?«, fragte der Dorfschmied endlich und wischte sich die rußigen Hände an der speckigen Lederschürze ab.

Der Mönch nickte. »Eine Jungfrau vom Eichenwald soll das französische Königreich retten. So heißt es doch in der Prophezeiung von Merlin. Und es gibt wohl niemanden im Land, der diese alte Weissagung nicht kennt.«

Bauer d’Arc warf seiner Tochter einen warnenden Blick zu. Hastig und durchdringend. Die buschigen Brauen warfen Schatten auf seine tiefhängenden Lider. Nur das Malmen des Kiefergelenks verriet seine Anspannung. Jeanne hielt den Blick gesenkt, als wäre sie ganz in die Stickerei vertieft. Aber ihr Innerstes war aufgewühlt wie selten: Sie reden! Sie reden vom drohenden Weltuntergang und der Apokalypse. Sie beten! Sie beten um göttliche Hilfe, dass die Heiligen des Himmels das Schicksal Frankreichs wenden mögen. Und sie klagen! Sie beklagen das Unheil, klagen über ihre missliche Lage. Suhlen sich in Klagen über die Ungerechtigkeiten der Welt. Und der Dauphin? Der künftige König Frankreichs? Was macht er? Er wartet! Zurückgezogen in seinem Schloss in Chinon wartet er. Er wartet nur ab! Warum handelt niemand? Warum in Gottes Namen handelt niemand!

Bei Sonnenaufgang hatte sich das Firmament aufgeklart und erstrahlte kristallen. Die kühle Morgenluft war wie reingewaschen. Der Wind strich sanft über die Felder. Die Dorfbewohner waren längst wieder bei der Arbeit. Gemüsezwiebeln mussten in die Erde, Kühe waren zu melken, niedergerissene Zäune auszubessern, Schweine und Hühner zu füttern. Der gestrige Abend schien fast vergessen. Die Erinnerung blieb zurück wie ein lästiger Albtraum, ein klammes Gefühl, das noch an ihnen haftete und sich langsam verlor. Der Wanderprediger hatte sich vorbeiziehenden Händlern angeschlossen, das Leben ging weiter. Wer wusste schon, ob der Bettelmönch nicht ein Schwarzmaler war, hieß es. Ein Wichtigtuer und Aufschneider. Und außerdem: Die englisch-burgundischen Truppen würden sicherlich nicht den Osten Frankreichs mit Domrémy überrennen. Ihr Ziel war der Süden, die Provence. Und natürlich Reims, um dort den eigenen Herrscher, den jungen Henry zum König über England und Frankreich zu krönen. Und die Burgunder? Vielleicht würden sie endlich kriegsmüde die Waffen strecken. Wer wusste das schon.

Als Jeanne die Milchkühe und Schafe auf die Viehweide trieb, war das Gras noch feucht vom Morgentau, der Trampelpfad runter zum kleinen Fluss Meuse matschig durchtränkt. Sie war von einer seltsamen Unruhe erfasst. Warum sprachen die Stimmen jetzt nicht mit ihr? Wo war dieses göttliche Licht, in dem sie sich so aufgehoben fühlte? Wie sollte sie sich auf zukünftige Ereignisse vorbereiten, wenn kein Heiliger ihr sagte, was zu tun war!

Sie lauschte, blickte sich ungeduldig um, suchte nach Erscheinungen, nach lichthellen Flecken, schaute immer wieder zum Dorf zurück: Wo konnte sie eine Antwort auf ihre Fragen finden? Nichts regte sich. Der Kirchturm überragte die strohbedeckten Fachwerkhäuser und Schuppen, die Viehställe und die Schmiede. Alles lag ruhig.

Jeanne trieb die bulligen Kühe ungeduldig mit einem Stecken an. Die Tiere stockten immer wieder und streckten die Mäuler nach jungem Gras aus. Sie war froh, dass auf den zotteligen Hütehund Verlass war, der kläffend die Schafe zusammenhielt, Ausreißern hinterherjagte und sie zur Herde zurückscheuchte, während sie in Gedanken davonflog. Warum nur blieben die Lichterscheinungen in letzter Zeit hinter der Wahrnehmung verborgen? Sollten ihre Heiligen sie etwa wieder verlassen haben? Oder waren sie tatsächlich nur Einbildungen gewesen? Wunschgebilde und Verirrungen ihrer Vorstellungskraft?

Auf der Viehweide trieb sie die Milchkühe die kleine Böschung hoch, die vom Fluss nicht so matschig aufgeweicht war. Die Meuse schlängelte sich in ausladenden Windungen durch das Land. Wolken spiegelten sich im träge dahinfließenden Wasser, das von türkisblauem Himmelslicht durchtränkt war, nur durchbrochen von quirligen Strömungswellen an den Ufersteinen.

Jeanne zögerte kurz, dann rannte sie los. Auf die kleine Waldkirche der ›Lieben Frau von Bermont‹ zu. Dabei hatte sie die strenge Anweisung, das Vieh nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Nur ganz kurz wollte sie in der Kapelle Zuflucht suchen! Nur ganz kurz. Sie rannte und rannte, bis die kleine Kirche vor ihr lag. Die Eichenholztür knarrte, als Jeanne sie öffnete. Dann ließ sie sich vor dem kleinen Marienaltar auf die Knie fallen und hob bittend den Kopf. Frühlingslicht fiel durch ein schmales Fenster auf die liebgewonnene Statue mit dem tiefblauen Sternenmantel, der Goldkrone auf dem Haupt und dem göttlichen Kind in den Armen. Jeanne brannten Tränen in den Augen. Die Farben flossen ineinander, die Umrisse verschwammen. Und dann war es endlich wieder da, dieses blendende Licht, aus dem die Stimme zu ihr sprach …6

Als Jeanne zurück zur Viehherde lief, fühlte sie sich aufgeladen von göttlicher Tatkraft und aufgewühlt von den Anweisungen, die sie von den Heiligen erhalten hatte. Endlich war sie nicht mehr zur Untätigkeit verurteilt! Trotzdem flammte das schlechte Gewissen in ihr auf: Hatte vielleicht doch ein Wolf eine Ziege gerissen? Oder hatten versprengte Söldner Kühe davongetrieben, ohne dass sie hätte Alarm geben können? Aber die Schafe rupften immer noch ihr Gras. Die Kühe glotzten mit blödem Blick zu ihr herüber und zermalmten zwischen ihren gelben Zähnen frische Gräser und Klee.

Jeanne hockte sich auf einen Baumstumpf, inmitten von gelbblättrigem Hahnenfuß und Lichtnelken und versuchte zu verinnerlichen, was ihr aufgetragen worden war: Sie sollte sich auf den Weg zur Garnisonstadt Vaucouleurs machen, zum Hauptmann Baudricourt, der auch für Domrémy Verantwortung trug. Von ihm würde sie eine Eskorte erhalten, die sie zum Dauphin, dem zukünftigen König bringen sollte!

Jeanne schloss die Augen. Die Worte tanzten durch ihre Gedanken, flatterten aufgeschreckt hoch, überschlugen sich. Wieder und immer wieder. Es war so unvorstellbar, welche Aufgabe der Himmelsvater ihr übertragen, in ihre Hände gelegt hatte! Von Chinon aus, dem Schloss des Dauphins, würde sie dann mit den Truppen das belagerte Orléans befreien und den Dauphin nach Reims zur Krönung führen …

Der Geruch von feuchtem Hundefell und dampfenden Kuhfladen zog ihr in die Nase und im gleichen Moment fröstelte sie. Der ganze Körper schien in Aufruhr: Sie zählte doch erst siebzehn Lenze! Sie war nur ein Bauernmädchen, viel zu unerfahren für Baudricourt, diesen mächtigen Befehlshaber. Er war ein Bär von einem Mann, wie der Vater berichtet hatte. Erst vor kurzer Zeit hatte Bauer d’Arc bei ihm wegen Rechtstreitigkeiten aus Domrémy vorgesprochen.

Wie sollte sie es nur anstellen, dass dieser Kriegsstratege ihr eine Schutztruppe mit nach Chinon gab? Zum königlichen Schloss?

Jeanne betrachtete grünschillernde Fliegen, die über Schafskot surrten und ließ den Blick von der Anhöhe hinüber zur alten Buche schweifen, die weiter unten beim Dorf stand. Unter den weitausladenden Ästen saßen die Bauersleute oft und erzählten sich Heiligengeschichten. Wie viele Jahrhunderte diese Buche wohl zählen mochte? In der sogar Elfen wohnen sollten und der deshalb Feenbaum genannt wurde? Ihre Tante Jeanne Aubry hatte geschworen, die Wesen gesehen zu haben, als sie vom heilenden Quellwasser trank, wie es schon die Ahnen zu tun pflegten. Besonders im Hochsommer könnte man flirrende Gestalten im Schatten der dicken Äste tanzen sehen, sagte sie. Dort, wo die Alten den Kindern zuraunten, tief unter der Erde würde eine Heilquelle aus den Brüsten der uralten Mutter entspringen. Und die Elfen, die Wächter der Quelle seien die Hüter dieses Geschenks.7 Manchmal, an Festtagen, hängte die Dorfjugend Blumengirlanden in das grünblättrige Geäst, Opfergaben für die Elfengeschöpfe. Ein Brauch aus alten Zeiten.

Jeanne atmete tief durch. Wie unbeschwert sie noch vor ein paar Jahren diesen uralten Baum umtanzt hatten. Und was für hübsche Blumenkränze sie geflochten hatte! Dort an der Quelle, wo Dorfpfarrer Jean Minet aus der Heiligen Schrift vorlas und über Wundertaten, Gottesglauben und Visionen predigte. Und dass der Glauben Berge versetzen kann …

»Der Glaube kann Berge versetzen«, wiederholte sie noch einmal leise und nickte. Sie wollte wie der Adler sein, der seine weit ausladenden Schwingen ausbreitete und dem Sturm trotzte, sich ihn zunutze machte, um aufzusteigen in unerreichte Höhen! Mit Hilfe der Himmlischen Kräfte würde sie das schier Unmögliche möglich werden lassen. Aber dafür musste sie ihr Heimatdorf verlassen, die Kirche, die Eltern, Jean, Pierre, Hauviette …

An einem graublassen Tag blickte Jeanne aus dem Kammerfenster hinaus auf die weiten Wiesen und hinüber zum hügeligen Hinterland mit dem Bois de Chesnu, dem düsteren Eichenwald, der sich in der Ferne erhob. Draußen regnete es, im Kamin loderte ein wärmendes Feuer. Es roch nach würziger Fischsuppe und frisch gebackenem Krustenbrot. Hier war sie aufgehoben, im Schoß der Familie, an der Seite starker Männer, die ihr Schutz boten. Hier war sie in der Dorfgemeinschaft verwurzelt, hier hatte sie Freunde und Verwandte …

Und doch musste sie all das Vertraute hinter sich lassen, loslassen für eine ungewisse Zukunft, denn die Stimmen kamen jetzt öfter, und drängten, es wäre an der Zeit, zu handeln. Drängten, Jeanne müsse Domrémy hinter sich lassen. Drängten, sie solle sich auf den Weg nach Vaucouleurs machen, zum Hauptmann Baudricourt.