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Als Amelius Goldenheart aus Amerika nach London zurückkehrt, bringt er einen idealistischen Glauben an das Gute im Menschen mit, der in der Alten Welt stets und stetig auf die Probe gestellt wird. Er, der wir ein Reformer fühlt, stürzt er sich in die dunkelsten Ecken der viktorianischen Gesellschaft, freundet sich mit den Ausgestoßenen der Gesellschaft an, setzt sich für die Gefallenen ein und wagt zu lieben, wo es die Konvention verbietet. Von den Salons der respektablen Gesellschaft bis hin zu den dunkelsten Gassen, in denen "gefallene Frauen" ums Überleben kämpfen, spinnt Collins eine provokante Geschichte, die jede heilige Kuh des viktorianischen Zeitalters in Frage stellt. Mit einer Mischung aus sozialem Kommentar, Mystery und Romantik liefert der Meister der Sensationsliteratur ein leidenschaftliches Plädoyer für Erlösung, zweite Chancen und die revolutionäre Kraft der bedingungslosen Güte.
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Seitenzahl: 581
Veröffentlichungsjahr: 2025
Welkes Laub
WILKIE COLLINS
Welkes Laub, W. Collins
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783988682635
Druck: Bookwire GmbH, Voltastr. 1, 60486 Frankfurt/M.
www.jazzybee-verlag.de
Erster Band.1
Vorgeschichte.1
Erstes Buch. Amelius bei den Sozialisten.20
Erstes Kapitel.20
Zweites Kapitel.24
Drittes Kapitel.31
Viertes Kapitel.35
Fünftes Kapitel.40
Zweites Buch.Amelius in London.45
Sechstes Kapitel.45
Siebtes Kapitel.59
Drittes Buch. Mrs. Farnabys Fuß. 65
Achtes Kapitel.65
Neuntes Kapitel.73
Zehntes Kapitel.82
Elftes Kapitel.87
Viertes Buch. Liebe und Geld.91
Zwölftes Kapitel.91
Zweiter Band.100
Erstes Kapitel.100
Zweites Kapitel.106
Drittes Kapitel.110
Viertes Kapitel.118
Fünftes Buch. Die verhängnisvolle Vorlesung.120
Fünftes Kapitel.120
Sechstes Kapitel.126
Siebtes Kapitel.132
Achtes Kapitel.140
Sechstes Buch. 150
Neuntes Kapitel.150
Zehntes Kapitel.155
Elftes Kapitel.161
Zwölftes Kapitel.167
Dreizehntes Kapitel.172
Vierzehntes Kapitel.182
Fünfzehntes Kapitel.188
Sechzehntes Kapitel.193
Dritter Band.201
Siebtes Buch.Schwindende Hoffnung. 201
Erstes Kapitel.201
Zweites Kapitel.209
Drittes Kapitel.215
Viertes Kapitel.222
Fünftes Kapitel.227
Sechstes Kapitel.235
Achtes Buch.Die Natur entscheidet.242
Siebtes Kapitel.242
Achtes Kapitel.250
Neuntes Kapitel.256
Zehntes Kapitel.260
Elftes Kapitel.265
Zwölftes Kapitel.273
Dreizehntes Kapitel.278
Vierzehntes Kapitel.281
Fünfzehntes Kapitel.288
Sechzehntes Kapitel.293
Siebzehntes Kapitel.299
Die unwiderstehlichen Einflüsse, welche zu gewissen Zeiten herrschende Gewalt über unsere armen Herzen gewinnen und den trüben, kurzen Lauf unseres Lebens gestalten, haben oft einen geheimnisvoll entlegenen Ursprung und finden ihren abschweifenden Weg zu uns durch Herzen und Leben Fremder.
Als der junge Mann, dessen schicksalsreichen Lebenslauf diese Blätter verfolgen wollen, seine erste Jacke trug und seinen ersten Reifen trieb, ward ein häusliches Missgeschick, das eine fremde Familie betraf, nichtsdestoweniger bestimmt, den äußersten Einfluss auf sein Glück zu üben und sein ganzes zukünftiges Leben zu gestalten.
Aus diesem Grunde muss der Geschichte ein Vorwort vorausgehen, um kurz zu berichten, was sich in der fremden Familie zutrug. Auf welchen Irrwegen das hier erzählte Ereignis dieser Geschichte auf die Hauptperson, als sie zum Mann heranreifte, von Einfluss wurde, das zu schildern soll Aufgabe dieser Blätter sein –– zu Land und zu See, bei Männern und Frauen, in hellen und in trüben Tagen wird sie es verfolgen, bis das Ende erreicht ist, und der Autor (so Gott will) die Feder ausspritzt.
Der alte Benjamin Ronald, seines Zeichens Papierhändler, hatte im reifen Alter von fünfzig Jahren ein junges Weib gefreit, und einige Gewohnheiten seines Junggesellendaseins mit in den heiligen Stand der Ehe hinübergenommen.
Als Junggeselle hatte er seinen, im Hauptgeschäftsteile Londons, der City, gelegenen Laden, ein Jahr wie das andere nur ungern verlassen, jetzt, da er verheiratet war, führte er dies einförmige Dasein weiter, nur mit dem Unterschied, dass ihm eine Frau dabei Gesellschaft leistete. "Fährst Du mit der Eisenbahn," pflegte er seiner Frau auseinanderzusetzen, "so bekommst Du Kopfschmerzen –– ich bekomme auch Kopfschmerzen; fährst Du auf der See, –– wirst Du krank ich werde auch krank. Wenn Du eine Luftveränderung wünschest, so findest Du in der City alle Sorten von Luft, und wenn Du gern die Schönheiten der Natur bewunderst, so geh' nach Finsbury-Square, das mit diesen Schönheiten der Natur trefflich und mannigfaltig ausgestattet ist. Sind wir in London, so geht es Dir gut (und mir auch); sind wir außerhalb Londons, so geht es Dir schlecht (und mir auch)." So sicher die Herbstsaison eintrat, so sicher widerstand Vater Ronald allen Reisewünschen seiner Frau mit ähnlichen Auseinandersetzungen. Ein Mann, der sich gewohnheitsmäßig hinter seine angeborene Hartnäckigkeit und Selbstsucht verschanzt, gilt den Meisten für eine außerordentliche Machtperson innerhalb seines häuslichen Kreises. Als eine sanfte und verständige Frau gab seine Gattin nach, und ihr Eheherr stand bei seiner Nachbarschaft in dem großartigen Ruf, seinen eigenen Willen zu haben.
Doch im Herbste 1856 kam die Vergeltung, welche früher oder später jeden Despotismus, in großen wie in kleinen Dingen, ereilt, über die eiserne Herrschaft des Vaters Ronald, und brachte dem Haustyrannen auf dem Schlachtfelde an seinem eigenen Herd eine empfindliche Niederlage bei.
Zwei Töchter waren dieser Ehe entsprossen. Die Ältere hatte ihren Vater tödlich beleidigt, indem sie eine törichte Ehe einging –– töricht in Bezug auf die Vermögensverhältnisse. Er hatte erklärt, dass sie sein Haus nie wieder betreten dürfe, und an dieser Erklärung unbarmherzig festgehalten. Und auch die jüngere, jetzt achtzehn Jahr alte Tochter sollte auf andere Weise eine Quelle der Unruhe für ihren Vater werden. Sie war die untätige Ursache der Revolution, welche die Herrschaft ihres Vaters umstürzte. Sie war seit einiger Zeit kränklich. Nachdem alle Mittel gütlicher Überredung erschöpft waren, riss ihrer Mutter die Geduld. Mrs. Ronald bestand darauf, ja, sie bestand mit Energie darauf, dass die Tochter an die See geschickt würde.
"Was geht das Dich an?" fragte Vater Ronald, der in Blick und Wesen seiner Frau wie sie zum ersten Mal in ihrem Leben bei dieser denkwürdigen Gelegenheit einen selbstständigen Willen verlauten ließ, ein Etwas entdeckte, das ihn in Bestürzung versetzte.
Einem Mann von feinerer Beobachtungsgabe würden die Kennzeichen außergewöhnlicher Angst und Unruhe, die sich deutlich in dem Gesicht der armen Frau ausprägten, nicht entgangen sein. Doch ihr Gatte bemerkte nur eine Veränderung, die ihn stutzig machte. "Lass Emma herkommen," sagte er; seine natürliche Schlauheit gab ihm den Gedanken ein, Mutter und Tochter einander gegenüberzustellen, um zu sehen, was sich daraus entwickeln würde. Emma erschien, ein kleines volles Mädchen mit großen blauen Augen, vollen, aufgeworfenen Lippen und glänzendem gelbblondem Haar; im Übrigen war sie kläglich blass, schlaff in ihren Bewegungen, lässig in ihrer Kleidung und verdrießlich in ihrem ganzen Wesen –– kurz, sie war krank, wie ihre Mutter behauptete, und ihr Vater jetzt sich sagen musste.
"Da siehst Du selbst," sagte Mrs. Ronald, "dass das Mädchen frische Luft braucht. Ich habe Ramsgate loben hören."
Vater Ronald sah seine Tochter an. Für sie gab es eine Stelle der Schwäche in seinem Herzen. Es war nur ein kleines Fleckchen, aber es war vorhanden. Beweis: er begann in möglichst rauer Manier einzulenken.
"Nun, wir wollen sehen," sagte er.
"Wir haben keine Zeit zu verlieren," entgegnete Mrs. Ronald Hartnäckig. "Ich habe die Absicht, morgen mit ihr nach Ramsgate zu gehen.
Mr. Ronald blickte seine Frau an, wie ein Hund ein toll gewordenes Schaf, das auf ihn losrennt. "Du hast die Absicht?" wiederholte er. –– "Meiner Seel' –– sonst nichts!? Du hast die Absicht? Wo willst Du denn das Geld dazu hernehmen? Bitte, sage mir das!"
Mrs. Ronald vermied es, sich in Gegenwart ihrer Tochter in einen ehelichen Zwist verwickeln zu lassen. Sie nahm Emma beim Arm und führte sie zur Tür. Dort blieb sie stehen und sprach: "Ich habe Dir die Wahrheit gesagt, das Mädchen ist krank. Und ich wiederhole es Dir noch einmal, sie braucht Seeluft. Lass uns um Himmelswillen nicht zanken. Ich habe ohnehin genug Sorge." Damit schloss sie die Tür hinter sich und der Tochter und ließ ihren Herrn und Meister angesichts der Trümmer seiner gröblich beleidigten Autorität stehen.
Welche weiteren Fortschritte diese häusliche Revolte machte, nachdem die Kerzen im Schlafzimmer angezündet waren und das würdige Ehepaar die Nachtruhe suchte, ist selbstverständlich in Geheimnis gehüllt. Nur dies eine ist sicher: Am nächsten Morgen wurden die Koffer gepackt und eine Droschke vor die Haustür geholt. Mrs. Ronald nahm ihren Gatten bei Seite, um Abschied von ihm zu nehmen.
"Hoffentlich bin ich nicht zu schroff gewesen, um Emmas Fahrt nach der See durchzusetzen," sagte sie in sanftem, entschuldigendem Ton. "Ich ängstige mich um die Gesundheit unseres Kindes. Wenn ich Dich beleidigt habe, ohne es zu wollen, bei Gott! –– so sage mir ein Wort der Verzeihung, bevor ich gehe. Ich habe in Ehren danach gestrebt, Dir ein braves Weib zu sein. Und Du hast mir immer vertraut, nicht wahr? Und Du vertraust mir noch, ich weiß es bestimmt, Du vertraust mir noch!"
Sie ergriff seine herabhängende kalte Hand, und drückte sie warm; ihre Augen ruhten mit einer seltsamen Mischung von Angst und Furchtsamkeit auf ihm. Noch in ihren besten Jahren, hatte sie die persönlichen Reize, ein hübsches, ruhiges, feines Gesicht, und eine natürliche Anmut in Blick und Bewegungen, welche ihre Heirat mit einem Manne, der reichlich ihr Vater hätte sein können, zum Gegenstande ärgerlichen Erstaunens bei all' ihren Verehrern gemacht hatten, voll bewahrt. Unter der Erregung, welche sie jetzt beherrschte, wurden ihre Wangen feuerrot und ihre Augen glänzten, man konnte sie in diesem Augenblick für Emmas Schwester halten. Ihr Gemahl riss seine harten Augen in finsterem Erstaunen auf. "Wozu solch Aufhebens?" fragte er. "Ich verstehe Dich nicht." Mrs. Ronald fuhr bei diesen Worten zusammen, wie wenn er sie geschlagen hätte. Sie küsste ihn schweigend und stieg in die Droschke zu ihrer Tochter.
Für den Rest des Tages hatten die Leute im Geschäft des Papierhändlers böse Zeit mit ihrem Herrn. Irgendetwas hatte den alten Ronald in Harnisch gebracht. Er ließ heut Abend die Läden früher schließen als gewöhnlich. Anstatt in seinen Klub (in der Kneipe um die nächste Ecke) zu gehen, machte er eine lange Wanderung durch die bei Nacht ganz einsamen und leblosen Straßen der City. Der Grund seiner schlechten Laune lag nicht in ihm selbst, das Benehmen seiner Frau bei ihrer Abreise hatte ihn verstimmt. Er fluchte und schimpfte, dass sie sich das herausgenommen, während er wachend im Bett lag. "Verdammtes Weib! Was hat sie im Sinne?" Der Schmerzensschrei der Seele hat verschiedene Formen des Ausdrucks. Das war, wörtlich übertragen, der Schmerzensschrei von des alten Ronalds Seele.
Der nächste Morgen brachte ihm einen Brief aus Ramsgate.
"Ich schreibe sofort, um Dir unsere glückliche Ankunft zu melden. Wir haben in Albionplace ein komfortables Quartier gefunden, (wie Du aus der Adresse am Kopf dieses Briefes entnehmen kannst.) Ich danke Dir und auch Emma lässt Dir danken, dass Du so gut warst, uns reiche Mittel für unsere kleine Erholungsreise zu bewilligen. Es ist heute wunderschönes Wetter, die See ist ruhig, und die Lustboote sind draußen. Wir erwarten natürlich nicht, dass Du uns hier besuchen wirst. Wenn Du aber Deine Bedenken, London zu verlassen, aus irgendeinem Grunde überwinden solltest, so habe ich eine kleine Bitte. Benachrichtige mich vorher von Deinem Besuche, damit ich wenigstens die einfachsten Empfangsvorbereitungen treffen kann. Ich weiß, dass Du es nicht liebst, mit Briefen belästigt zu werden (außer im Geschäft) und deshalb werde ich nicht viel schreiben. Sei so gut und nimm inzwischen ausbleibende Nachrichten als gute Nachrichten auf. Hast Du ein paar Minuten Zeit übrig, so schreib' mir, bitte, und erzähle mir, wie es Dir im Geschäft geht. Emma sendet Dir ihre Grüße, denen –– denen ich die meinigen anschließe."
So lautete der Brief, und so schloss er.
"Sie brauchen sich nicht zu fürchten, dass ich mich ihretwegen beunruhige. Ruhige See und Lustboote! Quatsch und Blödsinn!" Das war der erste Eindruck, welchen Vater Ronald von dem Briefe seiner Frau hatte. Nach einer Weile sah er noch einmal hinein, runzelte die Stirn und überlegte. "Benachrichtige mich vorher von Deinem Besuch," wiederholte er vor sich hin, als läge in dieser Bitte eine Beleidigung für ihn. Er zog ein Fach seines Schreibpultes auf und legte den Brief hinein. Als das Geschäft für heute geschlossen war, ging er nach der Kneipe in seinen Klub, und benahm sich ganz außergewöhnlich unausstehlich gegen Jedermann.
Eine Woche verging. In der Zwischenzeit schrieb er seiner Frau einen kurzen Brief. "Ich befinde mich wohl, und der Laden geht, wie gewöhnlich." Ebenso schickte er ein oder zwei an Mrs. Ronald adressierte Briefe dieser nach. Er selbst erhielt keine Nachricht weiter aus Ramsgate. "Wahrscheinlich amüsieren sie sich sehr gut," dachte er. "Das Haus sieht seltsam aus ohne sie, ich will in den Klub gehen."
In dieser Nacht blieb er länger als sonst und trank auch mehr als sonst. Es war in ziemlich vorgerückter Morgenstunde, als er sein Haus aufschloss und die Treppe hinauf ins Schlafzimmer ging. Auf dem Toilettentisch lag ein Brief mit der Adresse: "An Mr. Ronald –– privatim." Es war nicht die Handschrift seiner Frau, sondern eine ihm gänzlich unbekannte. Die Buchstaben standen schief und der Umschlag trug keine Briefmarke. betrachtete ihn argwöhnisch von allen Seiten. Endlich öffnete er ihn und las die folgenden Zeilen:
Ein guter Freund rät Ihnen, ungesäumt nach Ihrer Frau zu sehen. Es passieren seltsame Dinge an der See. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, so fragen Sie Mrs. Turner, No. 1, Slainsrow, Ramsgate."
Keine Adresse, kein Datum, keine Unterschrift, ein anonymer Brief, der erste, welchen er in seinem langen Leben erhalten.
Sein harter Kopf war von den in Massen genossenen Spirituosen nicht im Mindesten angegriffen. Er setzte sich auf das Bett und faltete den Brief mechanisch auseinander und zusammen. Die Bezugnahme auf Mrs. Turner machte nicht den mindesten Eindruck auf ihn; keine Person dieses Namens, verbreitet wie er war, stand zufällig auf der Liste seiner Freunde oder Kunden. Er würde den Brief verächtlich bei Seite geworfen haben, wenn nicht ein Umstand gewesen wäre. Ihm fiel das unbegreifliche Benehmen seiner Frau bei ihrer Abreise ein, und deshalb gewann der anonyme Warner eine gewisse Bedeutung in seinen Gedanken Er ging in die Hinterstube hinab an sein Schreibpult, holte den Brief seiner Frau aus seinem Fache und las ihn bedächtig durch. "Ha!" sagte er und hielt inne, als er an die Stelle kam, wo sie ihn bat, in dem unwahrscheinlichen Falle seiner Fahrt nach Ramsgate, sie vorher zu benachrichtigen. Er erinnerte sich der eigentümlichen und hartnäckigen Art, mit der seine Frau sein Vertrauen zu ihr betont hatte, er rief sich ihre nervösen, ängstlichen Blicke, ihre tiefe Röte, ihre jähe Erregung, und dann ihr plötzliches Schweigen und ihre plötzliche Flucht in die Droschke ins Gedächtnis. Genährt von diesen verwirrenden Einflüssen, begann der ihm angeborene Argwohn langsam Feuer zu fangen. Sie mochte ja unschuldig sein, da sie ihn bat, sie zu benachrichtigen, ehe er sie an der See besuchte, sie mochte ängstlich sein, sonst nicht die nötigen Vorbereitungen für seine Bequemlichkeit treffen zu können. Doch nein, er glaubte es nicht, er glaubte es nicht. Es schien, als falle sein runzliges, durchfurchtes Gesicht ganz allmählich mehr und mehr zusammen. Er sah um viele Jahre älter aus, als er wirklich war, wie er so an dem Pult saß und grübelte, ihm dicht gegenüber die flackernde Kerze. Der anonyme Brief lag vor ihm, Seite an Seite mit dem seiner Frau. Mit einer plötzlichen Bewegung erhob er das graue Haupt, ballte die Fäuste und presste das giftige, warnende Schreiben zusammen, als sei es ein lebendiges fühlendes Wesen.
"Wer Du auch bist," sagte er, "ich will Deinem Rat folgen."
Er machte in dieser Nacht nicht einmal den Versuch, zu Bett zu gehen. Seine Pfeife half ihm über die unbehaglichen traurigen Stunden hinweg. Ein oder zwei Mal dachte er an seine Tochter. Weshalb war ihre Mutter so besorgt um sie gewesen? Weshalb hatte ihre Mutter sie nach Ramsgate gebracht? Vielleicht nur als Vorwand, ja –– vielleicht nur als Vorwand! Mehr um etwas zu tun als aus irgendeinem anderen Grunde, packte er einen Reisesack mit einigen notwendigen Sachen. Sobald sich das Gesinde hören ließ, bestellte er sich eine Tasse starken Kaffee. Inzwischen wurde es Zeit, dass er sich selbst wie gewöhnlich beim Öffnen des Ladens zeigen musste. Zu seinem Erstaunen sah er, dass an Stelle des Ladendieners sein Kommis die Läden öffnete.
"Was soll das heißen?" fragte er. "Wo ist Farnaby?"
Der Kommis sah seinen Chef an und hielt erschrocken inne, einen Laden in den Händen.
"Großer Gott! Was ist mit Ihnen geschehen?" rief er. Sind Sie krank?"
Der alte Ronald wiederholte ärgerlich seine Frage: "Wo ist Farnaby?"
"Ich weiß es nicht," war die Antwort.
"Sie wissen es nicht? Sind Sie oben in seiner Kammer gewesen?"
"Ja."
"Nun?"
"Nun, er ist nicht in seiner Kammer. Und, noch mehr, sein Bett ist in der vergangenen Nacht nicht berührt worden. Farnaby ist fort, Herr, Niemand weiß, wohin."
Der alte Ronald ließ sich schwer in den nächsten Stuhl fallen. Dieser zweite geheimnisvolle Vorfall in Verbindung mit dem Geheimnis des anonymen Briefes, brachte ihn in Verwirrung. Doch seine geschäftlichen Instinkte arbeiteten noch in guter Ordnung. Er gab dem Kommis seine Schlüssel.
"Holen Sie das kleine Kassabuch," sagte er, "und sehen Sie nach, ob das Geld stimmt."
Der Kommis nahm die Schlüssel mit Protest. "Das ist nicht die richtige Lösung des Rätsels," bemerkte er.
"Tun Sie, wie ich Ihnen sage."
Der Kommis zog die Kasse unter dem Zahltisch hervor, zählte die bis zum Schluss des Geschäfts am vergangenen Abend eingegangenen Pfunde, Schillinge und Pence; verglich das Resultat mit dem kleinen Kassabuch, und antwortete: "Stimmt bis auf den Pfennig."
Soweit zufriedengestellt, machte sich der alte Ronald mit dem Beistand seines Untergebenen daran, der spekulative Seite des Ereignisses näher zu treten. Aus Ihren Reden schließe ich, dass Sie argwöhnen, weshalb Farnaby meinen Dienst verlassen hat. Sprechen Sie."
"Sie wissen, dass ich John Farnaby nie habe leiden können," begann der Kommis. "Ein fleißiger junger Mann, und ein geschickter junger Mann –– das gebe ich Ihnen zu. Und doch trotz alledem ein schlechter Diener. Falsch, Mr. Ronald, falsch bis ins Mark seiner Knochen."
Mr. Ronalds Geduld begann zu schwinden. "Kommen Sie auf Tatsachen," murrte er. "Weshalb ist Farnaby ohne einer Seele ein Wort zu sagen, gegangen? Wissen Sie das?"
"Ich weiß nicht mehr wie Sie," antwortete der Kommis kalt. Geraten Sie nur nicht in Zorn. Ich habe einige Tatsachen anzuführen, wenn Sie mir nur Zeit lassen. Überlegen Sie sich diese und welche Bedeutung sie haben. Vor drei Tagen fehlte es mir an Briefmarken und ich ging auf die Post. Farnaby stand an dem Schalter, wo die Postanweisungen ausgezahlt werden. Zehn oder zwölf Leute mit Briefen, Anweisungen etc. standen zwischen uns. Ich hielt mich still hinter ihm und blickte ihm über die Schulter. Da sah ich, wie ihm der Beamte das Geld für seine Anweisung auszahlte. Fünf Pfund in Gold, sie lagen abgezählt auf dem Brett, und eine Banknote, die er in der Hand zerknitterte. Ich weiß nicht, wie hoch sie war, nur das weiß ich, es war eine Banknote. Nun fragen Sie sich selbst, wie ein Ladendiener mit zwanzig Schilling in der Woche (und nebenbei einer Mutter, die wäscht, und einem Vater, der trinkt) zu einem Korrespondenten kommt, der ihm eine Anweisung auf fünf Sovereigns, und eine Banknote, Wert unbekannt, sendet. Vielleicht hat er sich insgeheim aufs Wetten gelegt. Sehr schön! In diesem Falle beweist die Postsendung, dass er einen guten Schlag gemacht hat. Und wenn er einen guten Schlag gemacht hat, –– warum in aller Welt verlässt er seine Stelle wie ein Dieb in der Nacht? Er ist kein Sklave, er ist nicht einmal Lehrling. Wenn er glaubt sich verbessern zu können, hat er nicht die Spur von Ursache, es als Geheimnis zu behandeln, dass er Ihren Dienst verlassen will. Ich glaube nicht, dass die Geschichte ein Zufall ist. Da steckt etwas andres dahinter. Jetzt kommt aber die Frage: Was sollen wir tun?"
Mr. Ronald, der mit gesenktem Haupte zuhörte, ohne seinerseits ein Wort dreinzureden, gab eine merkwürdige Antwort: "Es ruhen lassen," sagte er. Es bis morgen ruhen lassen."
"Warum?" fragte der Kommis vorlaut.
Mr. Ronald gab eine fernere merkwürdige Antwort. "Weil ich für heute die Stadt verlassen muss. Sehen Sie nach dem Geschäft. Einer von den Leuten des Eisenhändlers drüben kann Ihnen heut Abend die Läden schließen helfen. Wenn Jemand nach mir fragt, so sagen Sie, dass ich morgen wieder hier bin." Mit diesen Befehlen sah er, ohne sich um den Eindruck zu kümmern, den er auf seinen Kommis machte, nach der Uhr, und verließ den Laden.
Die Glocke, welche anzeigte, dass in fünf Minuten der Zug nach Ramsgate abgelassen würde, war eben angeschlagen worden.
Während die anderen Reisenden auf den Perron eilten, standen zwei Leute ruhig bei Seite, als ob sie sich noch nicht entschlossen hätten, ihre Plätze in dem Zuge einzunehmen. Die eine war ein aufgeweckter junger Mann in einfachem Arbeitsanzuge, der durch blühende Farbe, lebhafte, dunkle Augen und volles, lockiges schwarzes Haar auffiel, die andere ein schmutzig gekleidetes Frauenzimmer in mittleren Jahren, groß und stark, verschmitzt und finster. Der aufgeweckte junge Mann benutzte das unsympathische Frauenzimmer, mit dem er sich zusammengetan hatte, als Schirm, um hinter ihr weg die dem Zuge zueilenden Passagiere beobachten zu können. Als die Glocke angeschlagen wurde, sah das Frauenzimmer ihrem Begleiter mit einer plötzlichen Wendung ins Gesicht, und deutete auf die Bahnhofsuhr.
"Wollen Sie mit dem Einsteigen warten bis der Zug fort ist?" fragte sie.
Der junge Mann runzelte ungeduldig die Stirn. "Ich erwarte Jemand, auf dessen Erscheinen ich sicher rechne. Wenn dieser Jemand mit diesem Zuge fährt, so werden auch wir es tun. Fährt er nicht, so bleiben auch wir hier und warten auf den nächsten Zug, und wenn es nötig sein sollte, bis zur Nacht."
Die Frau heftete ihre kleinen, finsteren grauen Augen auf den Mann, während er sprach. "Sieh' mal an!" brach sie dann aus. Ich muss wissen, was daraus werden soll. Sie sind mir fremd, junger Herr, und haben mir jedenfalls Namen und Adresse falsch angegeben. Doch das tut nichts. Falsche Namen hört unsereins häufiger als die richtigen. Aber hören Sie! Ich tue keinen Schritt weiter, ehe ich nicht die Hälfte des Geldes und mein Billett für die Hin- und Rückfahrt in der Hand habe."
"Halten Sie den Mund!" unterbrach sie der Mann flüsternd. Es ist Alles in Ordnung. Ich hole die Billetts."
Während er sprach, blickte er auf einen älteren Reisenden, der mit gesenktem Haupt, in Gedanken versunken, und ohne Jemand zu bemerken, vorbeieilte. Dieser Reisende war Mr. Ronald. Der junge Mann, welcher ihn sofort erkannt hatte, war sein flüchtiger Ladendiener, John Farnaby. Als er mit den Billetts zurückkehrte, packte der Ladendiener seine widerstrebende Reisegefährtin beim Arm und zerrte sie über den Perron nach dem Zuge.
"Das Geld?" flüsterte sie, während sie Platz nahmen. Er drückte ihr einen in ein Stück Papier gewickelten Gegenstand in die Hand. Sie öffnete das Papier, überzeugte sich, dass die Summe richtig war und lehnte sich in die Ecke zurück, um zu schlafen. Der Zug ging ab. Der alte Ronald fuhr zweiter Klasse und unbemerkt begleiteten ihn sein Ladendiener und dessen Gefährtin in der dritten.
Es war noch früh am Nachmittag, als Mr. Ronald die nächste Straße hinabging, welche von der Höhe der South-Eastern Eisenbahnstation nach dem Hafen von Ramsgate führt. Er fragte den ersten Policeman, auf den er traf, nach dem Wege, wendete sich links, und hatte bald die Klippe erreicht, auf welcher die Häuser von Albionplace liegen. Farnaby folgte ihm in angemessener Entfernung, und hinter diesem ging das Frauenzimmer.
Gegenüber dem Absteigequartier seiner Gattin angelangt, blieb Mr. Ronald stehen, teils um Atem zu schöpfen, teils sich zu sammeln. Er fühlte, dass seine Gedanken andere wurden, als er zu den Fenstern hinaufsah, und sein Ausflug bekam plötzlich in seinen Augen einen verächtlichen Anstrich. Er schämte sich beinahe über sich selbst. Nach zwanzig Jahren friedfertiger Ehe konnte er an seiner Frau zweifeln, und zwar auf Antrieb eines Fremden, dessen Namen er nicht einmal kannte. "Wenn sie jetzt auf den Balkon träte, und mich hier stehen sähe," dachte er bei sich, "ich würde als ausgemachter Narr dastehen." Und als er den Türklopfer in die Höhe hob, fühlte er sich beinah geneigt, ihn still fallen zu lassen und nach London zurückzukehren. Doch nein! Es war zu spät. Das Dienstmädchen hing seinen Vogelbauer im Hausflur auf und hatte ihn bemerkt.
"Wohnt hier Mrs. Ronald?" fragte er.
Das Mädchen zog die Augenbrauen in die Höhe, öffnete den Mund, starrte ihn in sprachloser Verwirrung an, und verschwand in der Küche. Diese seltsame Aufnahme seiner Frage brachte ihn ganz aus dem Häuschen. Er klopfte mit der lächerlichen Heftigkeit eines Menschen, der seinen Ärger an dem ersten besten Gegenstand auslässt. Die Hauswirtin öffnete die Tür und blickte ihn mit ernstem, schweigendem Staunen an.
"Wohnt hier Mrs. Ronald?" wiederholte er.
Die Hauswirtin antwortete mit einer gewissen Anstrengung, wie Jemand, der sich seine Worte genau überlegt hat, bevor er sie über die Lippen lässt.
"Mrs. Ronald hat hier Zimmer gemietet. Aber sie hat dieselben noch nicht bezogen."
"Noch nicht bezogen?" Diese Worte befremdeten ihn, als wären sie in fremder Zunge gesprochen worden. Er stand stumpfsinnig schweigend an der Türschwelle. Sein Ärger war verschwunden, eine Alles überwältigende Furcht legte sich schwer auf sein Herz. Die Hauswirtin sah ihn an und murmelte vor sich hin: "Ganz wie ich vermutete; hier ist etwas nicht in Ordnung."
"Vielleicht habe ich mich nicht genau genug ausgedrückt, Sir," fuhr sie mit ernster Höflichkeit fort. Mrs. Ronald erzählte mir, dass sie sich mit Bekannten in Ramsgate aufhielte. Sie wollte in mein Haus ziehen, wenn ihre Freunde abgereist wären, doch diese hatten den Termin noch nicht festgesetzt. Sie fragt hier immer nach Briefen. Auch war sie heute ganz früh hier, um die Miete für die zweite Woche zu bezahlen. Ich fragte, wann sie einziehen wollte. Sie wusste es noch nicht, ihre Freunde hatten sich, so verstand ich sie, noch nicht entschlossen. Ich muss gestehen, mir kam das etwas sonderbar vor. Wollen Sie eine Bestellung hinterlassen?"
Er sammelte sich soweit, um sprechen zu können. "Wissen Sie, wo ihre Bekannten wohnen?"
Die Hauswirtin schüttelte den Kopf. "Nein, ich weiß es nicht. Ich wollte Mrs. Ronald die Mühe ersparen, immer hierher zu laufen, und bot ihr an, Briefe und Karten in ihre gegenwärtige Wohnung zu schicken. Doch sie lehnte das ab, und hat mir ihre Adresse niemals gesagt. Wollen Sie nicht ein wenig hereinkommen und ausruhen, mein Herr? Oder wollen Sie nicht Ihre Karte hinterlassen?"
"Ich danke Ihnen, Madame! Es ist nicht nötig. Guten Morgen."
Die Wirtin sah ihm nach, wie er die Stufen zur Straße hinabstieg. "Das ist ihr Mann, Peggy," sagte sie zu dem Dienstmädchen, das neugierig hinter ihr stand. Der arme, alte Mann! Und die Frau sah doch so anständig und ehrbar aus!"
Mr. Ronald schritt mechanisch bis zum Ende der Häuserreihe, und sah dort See und Himmel weit und endlos vor sich. Auf dem Wege, der sich um den Rand der Klippe zog, waren einige Bänke angebracht. Er setzte sich, völlig zerschlagen und hilflos, nieder.
Auf der Neige des Lebens dehnt die Entbehrung der gewohnten Nahrung ihren schwächenden Einfluss sehr schnell vom Körper auf den Geist aus. Mr. Ronald hatte seit der vergangenen Nacht außer einer Tasse Kaffee Nichts genossen. Seine Gedanken begannen sich zu verwirren –– er war weder bekümmert, noch entsetzt, noch unglücklich. Anstatt an die jüngsten Ereignisse zu denken, erinnerte er sich der Tage seiner Jugend, in denen er Cricket gespielt hatte. Besonders eine Partie stand hell vor seinem Gedächtnis, bei der ihm ein Ball mit voller Wucht an den Kopf geflogen war.
"Genau dasselbe Gefühl!" sagte er sinnverloren, den Hut vom Kopf nehmend und die Hand an die Stirn drückend. "Betäubt und schwindlig –– genau dasselbe Gefühl!"
Er lehnte sich zurück gegen die Bank, heftete die Augen auf die See, und überdachte langsam und schlaff, was ihm widerfahren. Farnaby und das Frauenzimmer, welche ihm beständig gefolgt waren, lauerten an der Ecke, wo sie ihn genau beobachten konnten.
Der Himmel erglänzte in wolkenlosem Blau, die sonnige See kräuselte sich unter einer frischen Brise aus Westen. Vom Ufer klangen die hellen Stimmen spielender Kinder, die lauten Rufe eseltreibender Burschen, die entfernten Töne walzerspielender Blechinstrumente, und die zarte Musik der leichten Wellen, die sich am Strande brachen, in anmutigem Zusammenklang herauf durch die erquickende Luft. Auf der nächsten Bank erzählte ein alter, schmutziger Bootsmann einem alten, stumpfsinnigen Badegast eine Geschichte. Die Worte desselben fanden ihren Weg ebenso zu Ronalds Ohr, wie die anderen Töne rings in der Luft. "Ja, das da drüben sind die Goodwin Sandbänke, dort, wo das Feuerschiff liegt. Und dort der Dampfer, der ein Schiff in den Hafen schleppt, das ist der Ramsgate-Tug. Wissen Sie, was ich schon möchte? Ich möchte den Ramsgate-Tug in die Luft fliegen sehen. Warum? Ich will Ihnen sagen, warum. Ich gehöre nach Broadstairs, ich gehöre nicht nach Ramsgate. Gut. Ich bummle hier herum, wie Sie sehen, und habe keinen Kupferdreier in der Tasche. Was treibe ich für ein Handwerk? Ich treibe gar kein Handwerk, ich bin bei einem Boote. Das Boot verfault in Broadstairs, weil es nichts zu tun hat. Und warum das Alles? Alles von wegen des Tug. Der Tug hat uns das Brot vom Munde weggenommen, mir und meinen Kameraden. Hören Sie zu, ich will Ihnen erzählen, wie's kam. Was fing ein Schiff an, in den guten alten Zeiten, wenn es auf die Sandbänke von Goodwin lief? Es ging beim Sturm in Stücken, und bei schönem Wetter sog es sich langsam voll und ging unter. Ich komme schon auf die Sache. Was taten wir damals (in den guten, alten Zeiten, müssen Sie wissen), wenn wir ein Schiff in Nöten sahen? Heraus mit unserm Boot, hohe See –– niedrige See, einerlei, heraus mit unserem Boot! Und wir retteten das Leben der Mannschaft, meinen Sie, Sir? Gewiss, natürlich, die Rettung der Mannschaft war ein Teil unserer Arbeit, dafür wurde uns nichts bezahlt. Wir retteten die Schiffsladung, Herr, und bekamen dafür Bergegeld! Hunderte von Pfunden, sag' ich Ihnen, wurden gesetzlich unter uns verteilt. Oh weh, diese Zeiten sind vorüber. Ein Haufen Duckmäuser tat sich zusammen und baute einen Schleppdampfer. Wenn jetzt ein Schiff auf den Sand läuft, geht bei Tag wie bei Nacht der Dampfer hinaus, bringt es heil in den Hafen und stiehlt uns das Brot vom Munde. 's ist eine Schande, sag' ich Ihnen, eine Schande!"
Die letzten Worte von des Bootsmanns Leidensgeschichte schlugen leiser, immer leiser und leiser an Mr. Ronalds Ohr –– er vernahm sie nicht mehr, er sah die See nicht mehr, er spürte den Wind nicht, der ihn umwehte. Plötzlich wurde er aufgerüttelt wie aus tiefem Schlaf. Neben ihm stand der Mann aus Broadstairs und schüttelte ihn am Kragen.
"Lustig, Mann! Was ist Ihnen?" Auf der anderen Seite stand eine mitleidige Dame und bot ihm ihr Riechfläschchen an. "Oh, mein Schreck, Sir, Sie waren ohnmächtig!"
Er stolperte auf die Füße, und dankte, noch immer nicht bei vollem Bewusstsein der Dame. Der Mann aus Broadstairs nahm sich –– mit dem Nebengedanken an ein Bergegeld –– des menschlichen Wrackes an, und schleppte dasselbe zum nächsten Wirtshaus.
"Ein tüchtiger Bissen und ein Glas Brandywasser," meinte der wackere Samariter des neunzehnten Jahrhunderts, "das ist's, was Sie brauchen. Ich habe selbst einen wütenden Hunger und will Ihnen Gesellschaft leisten."
Mr. Ronald ließ Alles willenlos mit sich geschehen, und gehorchte, als wäre er der Hund des Bootsmanns und habe dessen Pfiff gehört.
Er kam erst wieder zu sich, als Speise und Trank ihren belebenden Einfluss auf ihn geltend gemacht hatten. Dann stand er auf und blickte mit ungläubigem Erstaunen auf den Genossen seiner Mahlzeit. Der Mann aus Broadstairs öffnete seine fettigen Lippen, verstummte aber, als plötzlich zwischen Mr. Ronalds Daumen und Zeigefinger eine Goldmünze zum Vorschein kam.
"Reden Sie nicht, bezahlen Sie die Rechnung, und bringen Sie mir den Rest hinaus."
Als der Bootsmann hinauskam, fand er ihn auf und abgehend, in die Lektüre eines Briefes vertieft, und dann mit sich selbst redend. "Hilf Himmel! Habe ich meine fünf Sinne verloren? Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll." Er sah noch einmal in den Brief: "Wenn Sie mir nicht glauben wollen, so fragen Sie Mrs. Turner, Nr. 1. Slains-row," sagte er und wandte sich zu dem Bootsmann. Führen Sie mich direkt dorthin, und behalten Sie das Geld für sich."
Die Dankbarkeit des Bootsmannes war offenbar größer, als dass er ihr hätte Worte leihen können. Er klopfte vergnügt auf seine Tasche und das war Alles. Er führte seinen Schützling dem Lande zu, erst bergab, dann bergauf und wandte sich dann dem äußersten Osten der Stadt zu.
Farnaby, welcher immer noch mitsamt dem Frauenzimmer folgte, hielt inne, als sich der Bootsmann nach Osten wendete, und sah nach dem Namen der Straße hinauf. "Ich weiß, was ich zu tun habe," sagte er, "ich kenne seine Absicht. Vorwärts. Wir wollen ihm auf einem anderen Wege zuvorkommen."
Mr. Ronald kam mit seinem Führer in eine Straße mit kleinen, ärmlichen Häusern, die vorn und hinten von ebensolchen Gärten umgeben waren. Die Fenster der Hinterfront gingen auf Felder und Dünen hinaus, welche zu beiden Seiten die Straße nach Broadstairs einfassten. Es war eine einsame, verlorene Gegend. Der Führer blieb stehen und fragte mit neugieriger Ehrerbietung: "Welche Nummer, Sir?" Mr. Ronald hatte sich inzwischen genügend gesammelt, um der Hilfe entbehren zu können. "Ich finde mich schon zurecht," sagte er. "Sie können mich verlassen."
Der Bootsmann zögerte einen Augenblick. Mr. Ronald blickte ihn an. Der Bootsmann war verdrießlich darüber, dass ihn sein Schleppschiff verließ.
"Sind Sie dessen auch sicher, dass Sie mich nicht mehr brauchen?" fragte er.
"Ganz sicher," entgegnete Mr. Ronald.
Der Mann aus Broadstairs zog sich zurück, in seinem Bergegeld Trost suchend und findend.
Nr. 1 lag am äußersten Ende der Häuserreihe. Als Mr. Ronald die Glocke zog, hatten die Spione bereits Posto gefasst. Das Frauenzimmer stand auf der Straße und beobachtete die Tür, Farnaby war nicht sichtbar, sondern kauerte hinter dem niedrigen hölzernen Staket des Gartens hinter der Front und hielt von dort das Haus im Auge.
Ein schläfrig aussehender Mann in Hemdsärmeln öffnete die Tür. "Ob Mrs. Turner zu Haus ist?" wiederholte er die Frage. "Ja, sie ist zu Hause, doch sie ist sehr beschäftigt, und kann Niemand empfangen. Was wünschen Sie?"
Mr. Ronald hatte nicht die mindeste Lust, Entschuldigungen anzunehmen oder Fragen zu beantworten.
"Ich muss Mrs. Turner sofort in wichtigen Geschäften sprechen," sagte er bestimmt.
Ton und Wesen verfehlten ihren Eindruck auf den schläfrigen Mann nicht. "Ihr Name?" fragte er. Mr. Ronald wollte seinen Namen nicht genannt wissen.
"Richten Sie nur meine Botschaft aus," widerte er, ich werde Mrs. Turner nicht länger als eine Minute in Anspruch nehmen."
Der Mann zögerte und öffnete dann die Tür zu dem in der Front liegenden Empfangszimmer. Eine ältliche Frau lag fest schlafend auf einem kleinen, zerrissenen Sofa. Der schläfrige Mann führte deshalb Mr. Ronald in das hintere Empfangszimmer. Dies war leer.
"Warten Sie gefälligst hier," sagte er, und entfernte sich, seine Botschaft auszurichten.
Das Zimmer, in welchem sich Herr Ronald befand, war äußerst kläglich möbliert. Durch das offene Fenster erblickte man den kleinen Hintergarten, der unter langen Reihen zum Trocknen aufgehängter Wäsche fast verschwand. Ein Haufen schmutziger Karten und etwas Nähzeug waren auf dem kleinen unbedeckten Tisch verstreut. Eine billige amerikanische Uhr tickte mit ernstem, stetigem Eifer auf dem Kaminsims. Die Luft war mit Zwiebelgeruch erfüllt, und eine bierbefleckte, zerrissene Zeitung lag auf dem Fußboden. Das ganze Zimmer machte einen unbehaglichen Eindruck, der Mr. Ronald peinlich anmutete. Ihn fröstelte und er setzte sich auf einen der wackligen Stühle. Langsam schlich Minute auf Minute dahin. Er hörte über sich das Geräusch von Fußtritten, dann ging eine Tür, dann rauschte das Kleid einer Frau auf der Treppe. Einen Moment später legte sich eine Hand auf die Türklinke des Zimmers. Er stand auf, Mrs. Turners Erscheinen erwartend. Die Tür öffnete sich, und er fand sich im Angesicht seiner Frau.
John Farnaby, der an dem Gartenzaun postiert war, erhob plötzlich den Kopf, und blickte nach dem offenen Fenster des Hinterzimmers. Er überlegte einen Augenblick und eilte dann zu seinem weiblichen Spießgesellen auf der Straße.
"Sie müssen nach dem hintern Garten kommen, vorwärts!" rief er ihr zu.
"Wie lange soll ich denn noch in diesem verdammten Nest herumstehen?" fragte das Frauenzimmer mürrisch.
"So lange, als es mir beliebt, wenn Sie mit der anderen Hälfte des Geldes nach London zurückzukehren wünschen," erwiderte er und zeigte ihr dabei das Geld. Sie folgte ihm, ohne weiter ein Wort zu verlieren.
An dem Zaun angekommen, zeigte Farnaby nach dem Fenster, und der Tür des Hintergartens, welche halb offenstand. "Sprechen Sie leise," flüsterte er. "Hören Sie Stimmen im Hause?"
"Ich kann nicht verstehen, wovon sie sprechen, wenn Sie das wissen wollen."
"Das verstehe ich auch nicht. Nun hören Sie zu. Ich habe Gründe, näher an jenes Fenster zu treten. Kauern Sie hier am Zaune nieder, so dass man Sie vom Hause aus nicht sehen kann. Wenn Sie Lärm hören, so können Sie sicher sein, dass man mich entdeckt hat. In diesem Falle fahren Sie mit dem nächsten Zuge nach London zurück und treffen mich morgen Nachmittag um zwei Uhr. Wenn alles still bleibt, so warten Sie hier bis ich wiederkomme."
Er stützte die Hand auf den niedrigen Zaun und sprang darüber hinweg. Die im Garten zum Trocknen aufgehängte Wäsche gewährte ihm ein vortreffliches Versteck, falls Jemand aus dem Fenster sehen sollte und er benutzte dies mit großer Schlauheit. Der Aschenkasten lag dicht am Hause, in einem rechten Winkel zu dem Fenster des Empfangszimmers. Hinter diesen war er sicher, falls nicht Jemand den Pfad betrat, welcher die Gärten auf beiden Fronten des Hauses verband. Dieser Gefahr setzte er sich aus, wartete und horchte.
Die erste Stimme, welche an sein Ohr schlug, war die von Mrs. Ronald. Sie sprach mit einer Festigkeit des Tones, die ihn in Erstaunen setzte.
"Höre mich zu Ende, Benjamin," sagte sie. "Ich habe dasselbe Recht, dies zu verlangen, wie mein Gatte, und ich verlange es. Wenn ich nur den Ruf unseres beklagenswerten Kindes zu retten gehabt hätte, so wärest Du im Recht mir zu zürnen, dass ich Dir das Unglück, welches uns betroffen hat, verheimlichte –– "
Hier unterbrach sie die strenge Stimme ihres Mannes: "Unglück? Sage Schande, erdrückende Schande!"
Mrs. Ronald beachtete die Unterbrechung nicht. Ernst und ruhig fuhr sie fort.
"Nein, ich hatte noch etwas Schwierigeres durchzuführen," sprach sie. "Ich musste sie retten, wider ihren Willen vor dem Elenden retten, der diese Schmach über uns gebracht hat. Er hat völlig mit kaltem Blut gehandelt; es liegt in seinem Interesse, sie zu heiraten, und er hat von Anfang bis zu Ende uns zu dieser Heirat zu zwingen gesucht. Um Gottes willen, sprich nicht laut! Sie befindet sich in dem Zimmer über uns, wenn sie Dich hört, ist es ihr Tod. Glaube nicht, dass ich ins Blaue hineinrede, ich habe seine Briefe an sie gelesen, und das Dienstmädchen hat mir alles gestanden Und was hat mir diese gestanden! Emma ist sein Opfer an Leib und Seele. Ich weiß es. Ich weiß es, dass sie ihm von hier das Geld (mein Geld) geschickt hat. Ich weiß, dass ihn der Bediente (auf ihren Antrieb) telegraphisch von der Geburt des Kindes benachrichtigt hat. Oh Benjamin, fluche dem armen, hilflosen Kinde nicht, ein so süßes kleines Geschöpf! Denk' nicht daran, denk nicht daran! Zeig mir den Brief, der Dich hergeführt hat, ich muss diesen Brief sehen. Oh, ich will Dir sagen, wer ihn geschrieben hat. Er hat ihn geschrieben. Nur in seinem Interesse, er hat stets sein Interesse im Auge. Begreifst Du das nicht? Wenn es mir glückte, diese Schmach, dies Elend vor aller Welt geheim zu halten, wenn ich Emma unter dem Vorwande ihrer angegriffenen Gesundheit nach einem entlegenen Ort schaffen könnte, dann wäre seine Hoffnung, Dein Eidam zu werden, vereitelt; dann könnte er nicht in Dein Geschäft aufgenommen werden. Ja! er, der gemeine Landstreicher, der die Fensterläden schließt, er erhebt seine Augen dazu, Dein Teilhaber zu werden und Dir nach Deinem Tode im Geschäft zu folgen! Liegt nicht seine Absicht beim Schreiben dieses Briefes jetzt so klar vor Dir, wie der Himmel über uns? Er spekuliert einzig darauf, Dich in Wallung zu bringen, den Skandal einer Entdeckung herbeizuführen, und dann unsere Zustimmung zu der Heirat als einzigen Ausweg zu erzwingen. Tat ich Unrecht, ein Opfer zu bringen, ehe ich unser Kind, unser Fleisch und Blut, für's ganze Leben an einen solchen Mann gefesselt werden ließ? Sicherlich verstehst Du jetzt meine Empfindungen und verzeihst mir. Wie konnte ich Dir die Wahrheit mitteilen, ehe ich London verließ, da ich Dich so genau kenne! Wie konnte ich erwarten, dass Du die Geduld haben würdest, Dich zu verstecken, einen falschen Namen anzunehmen, all die entwürdigenden Schritte zu tun, welche geschehen mussten, wenn wir diesen Mann von Emma fernhalten wollten? Nein! Ich weiß nicht mehr davon, wie Du, wo sich Farnaby jetzt aufhält. Horch, die Türglocke geht. Der Arzt pflegt um diese Zeit zu kommen. Ich weiß nicht, auf mein heiliges Ehrenwort, ich weiß nicht, wo sich Farnaby befindet. Oh, sei still, sei still, der Arzt geht die Treppe hinauf, er soll Dich nicht hören!"
Bis hierher war es ihr gelungen, ihren Gatten zu beruhigen. Doch die Wut, welche sie in dem Bestreben, sich selbst zu rechtfertigen, unschuldigerweise in ihm entflammt hatte, durchbrach jetzt alle Schranken.
"Du lügst!" schrie er rasend. "Wenn Du überhaupt etwas von der Geschichte weißt, so weißt Du auch wo Farnaby ist. Ich will ihn töten, und wenn ich tausendmal an den Galgen komme! Wo ist er? Wo ist er?"
Ein Schrei aus den oberen Zimmern brachte ihn zum Schweigen, bevor Mrs. Ronald sprechen konnte. Seine Tochter hatte ihn vernommen, hatte seine Stimme erkannt.
Ein Schreckensschrei der Mutter antwortete dem Schrei von oben, dann hörte man wie eine Tür schnell aufgerissen und zugeworfen wurde. Ein augenblickliches Stillschweigen folgte. Darauf ertönte die Stimme von Mrs. Ronald aus dem oberen Stock. Sie rief nach der Hebamme, welche im Vorderzimmer eingeschlafen war. Diese antwortete von der Tür aus mit mürrischen Worten. Dann folgte eine weitere Pause des Schweigens, die von einer anderen Stimme, der Stimme eines Fremden, unterbrochen wurde, welche sich ganz nahe vom Fenster her vernehmen ließ.
"Folgen Sie mir sofort nach oben, Sir," sagte die Stimme kurz angebunden. "Als der ärztliche Beirat Ihrer Tochter, erkläre ich Ihnen kurz und gut, dass Sie sie sehr ernstlich erschreckt haben. Ich übernehme in ihrer kritischen Lage keine Verantwortung für ihr Leben, wenn Sie nicht wenigstens versuchen, Ihren Missgriff wieder gut zu machen. Mögen Sie es gern tun oder nicht; beschwichtigen Sie sie mit gütigen Worten, sagen Sie ihr, dass Sie ihr verziehen haben. Nein, nein! Ich habe mit Ihren Familiennöten nichts zu tun, ich habe lediglich an meine Kranke zu denken. Es ist mir ganz gleichgültig, was sie von Ihnen will, Sie müssen ihr jetzt nachgeben. Wenn sie Krämpfe bekommt, muss sie sterben, und Sie haben ihren Tod auf dem Gewissen."
So sprach der Arzt, während Mr. Ronalds Unterbrechungsversuche immer schwächer wurden. Das Gespräch endete mit dessen völliger Unterwerfung. Zunächst hörte man die sich entfernenden Schritte der Männer. Darauf folgte wieder eine Pause des Schweigens, eine lange Pause, die von der aus den oberen Räumen herabrufenden Mrs. Ronald unterbrochen wurde.
"Tragen Sie das Kind in das Hinterzimmer, Amme, und warten Sie, bis ich hinunterkomme. Es ist dort kühler um diese Tageszeit."
Das Jammern eines Kindes und die brummelnden Trostversuche der Amme waren die nächsten Töne, welche Farnaby in seinem Versteck erreichten. Die Amme räsonierte ärgerlich vor sich hin, dass sie aus dem Schlaf gestört worden war.
"Wenn man die ganze Nacht auf den Beinen gewesen ist, will der Mensch seine Ruhe haben. In diesem Hause kommt aber keine Seele zur Ruhe. Mein Kopf ist so schwer wie Blei und in allen meinen Gliedern sitzt das Reißen."
Nicht lange, und erneutes Schweigen verkündete, dass es ihr gelungen war das Kind einzuschläfern Farnaby vergaß zum ersten Mal die Gebote der Vorsicht. Mit feuerrotem, hoch erregtem Gesicht schlich er näher an das Fenster, voll fieberhaften Eifers das Kommende erwartend. Nach kurzer Zeit ließ sich ein neuer Ton vernehmen. Der Ton tiefen Atmens, welcher ihm bewies, dass die müde Hebamme ebenfalls wieder eingeschlafen war. Die Fensterbank war seinen Händen erreichbar. Er wartete, bis das schwere Atmen in Schnarchen überging. Dann zog er sich an der Fensterbank in die Höhe und schaute in das Zimmer.
Die Amme war in einem Armstuhl fest entschlafen, und ebenso fest schlummernd lag das Kind auf ihrem Schoo.
Leise ließ er sich wieder auf den Boden sinken. Er zog die Schuhe aus, steckte sie in die Tasche und schlich die zwei oder drei Stufen hinauf, welche zu der halb offenen Tür nach dem Garten führten. Auf dem Flur angelangt, hörte er sie im ersten Stockwerk reden. Sie waren offenbar noch in ihre Familiensorgen vertieft; er hatte nur noch das Dienstmädchen zu fürchten. Lautes Wasserplätschern in der Küche belehrte ihn, dass dieses mit Waschen beschäftigt war. Langsam und leise öffnete er die Tür des Gartenzimmers, und schlüpfte an den Lehnstuhl der Wärterin.
Eine ihrer Hände lag noch auf dem Kinde. Es war ernste Gefahr vorhanden, sie zu erwecken, wenn er seine Geistesgegenwart verlor und sich überstürzte. Er schielte nach der amerikanischen Uhr auf dem Kaminsims. Das Resultat beruhigte ihn; es war noch nicht so spät, als er gefürchtet hatte. Er kniete, um einen festen Stützpunkt zu haben, neben der Amme nieder. Mit äußerster Vorsicht schob er seine Hände unter das Kind, mit äußerster Vorsicht zog er dasselbe von der Amme weg; langsam, ganz langsam sank ihre Hand auf den Schoß, eine Bewegung, die den leichtesten Schlaf nicht gestört haben würde. Damit war Alles getan. Er nahm das ruhig weiter schlummernde Kind auf den linken Arm, und bekam so die rechte Hand frei, die Tür zu schließen. Auf den Stufen zum Garten angelangt, flog ein leichtes Zucken über das Gesicht des Kindes, das zarte kleine Geschöpf zitterte, als es den vollen Hauch der freien Luft fühlte. Er zog leise einen Zipfel des wollenen Tuches, in das es gehüllt war, über des Kindes Gesicht, und es blieb so ruhig in seinem Arm, als läge es noch auf dem Schoß der Amme.
Eine Minute später war er am Zaun. Das Frauenzimmer stand auf, ihn zu empfangen, und zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus London flog ein Lächeln über ihr Gesicht.
"Haben Sie das Kind gekriegt?" sagte sie. "Ei, Sie sind ein Scharfer!"
"Nehmen Sie es, schnell!" erwiderte er aufgeregt. "Wir haben keinen Augenblick Zeit zu verlieren."
Er machte nur einen kurzen Aufenthalt, um seine Schuh anzuziehen, und wendete sich dann dem inneren Teil der Stadt zu. Von dem ersten Menschen, dem er begegnete, ließ er sich den Weg nach der Bahnstation zeigen. Sie lag ganz in der Nähe. Fünf Minuten später war das Frauenzimmer mit dem Kinde im Zuge nach London in Sicherheit.
"Hier ist die andere Hälfte des Geldes," sagte er, und reichte es ihr durch das Coupéfenster hinein.
Das Weib betrachtete das Kind in ihren Armen mit zweifelndem Stirnrunzeln. "Das ist ganz schön so lange es reicht," meinte sie. Aber was wird nachher?"
"Natürlich werde ich Sie aufsuchen," erwiderte er.
Sie blickte ihn scharf an, und gab dem ganzen Wert, welchen sie auf diese Versicherung legte, in vier Worten Ausdruck: "Natürlich werden Sie das!"
Der Zug ging ab. Als er die Halle verlassen hatte, blickte ihm Farnaby mit ungeheuchelter Erleichterung nach. "So!" dachte er bei sich. "Emmas Ruf ist nun rein genug! Wenn wir verheiratet sind, darf sich uns kein vor der Ehe geborenes Kind in den Weg stellen."
Bevor er den Bahnhof verließ, machte er in der Restauration Halt, und trank ein Glas Grog. "Ich muss mich stärken für die Dinge, die da kommen sollen," dachte er. Was kommen würde –– nachdem er das Kind aus dem Wege geräumt hatte –– das hatte er sich auf der Fahrt nach Ramsgate allseitig überlegt. Emmas zukünftiger Gemahl," hatte er sich gesagt, "ist natürlich die erste Person, nach der sie verlangen wird, wenn das ganze Haus durch das Verschwinden des Kindes in Aufruhr gebracht worden ist. Wenn in dem alten Ronald noch ein Funke von Vaterliebe steckt, muss er ihr danach gestatten, dass sie mich heiratet."
Indem er seine Lage von diesem Gesichtspunkt aus betrachtete, schlug er wieder den Weg nach Slains-Row ein, und zog die Hausglocke wie ein Besucher, der nicht die mindeste Ursache hat, sich zu verbergen.
Der Haushalt war ohne Zweifel durch das Verschwinden des Kindes in die äußerste Unordnung geraten. Weder Diener noch Herrschaft hörten auf das Glockenzeichen. Farnaby fügte sich mit vollkommenster Ruhe ins Warten. Es gibt Gelegenheiten, wo ein hübscher Bursche verpflichtet ist. seine persönlichen Vorzüge ins hellste Licht zu sehen. Er zog seinen Taschenkamm hervor und ordnete seine Bartkoteletten mit flinker, geschickter Hand. Nach einer Weile ließen sich nahende Fußtritte auf dem Flur hören. Farnaby steckte den Kamm ein und knöpfte sich schnell den Rock zu. Nun kann's losgehen!" sagte er, als sich endlich die Tür öffnete.
Sechzehn Jahre später, als Mr. Ronald jene unglückselige Entdeckung in Ramsgate gemacht –– also im Jahre 1872 –– lief der Dampfer Aquila aus dem Hafen von New York nach Liverpool aus.
Es war im September. In die Passagierliste des Aquila waren verhältnismäßig wenig Namen eingetragen; in der Herbstsaison ist abgesehen von den Frachtgütern die Überfahrt von Amerika nach England für die Schiffseigner wenig einträglich. Der Hauptstrom der Passagiere geht um jene Jahreszeit gerade den entgegengesetzten Weg. Die Amerikaner kehren aus Europa in die Heimat zurück, und viele Touristen haben die Überfahrt verschoben, bis die starke Augusthitze in den Vereinigten Staaten nachgelassen hat und der köstliche indianische Sommer sie willkommen heißt. Die Passagiere des Aquila verfügten auf ihrer Heimreise über eine Fülle von Raum, und auf der trefflich besetzten Mittagstafel winkten Jedermann die feinsten Bissen.
Der Wind war günstig, das Wetter schön. Heiterkeit und guter Humor herrschten auf dem Schiff vom Bug zum Stern. Der höfliche Kapitän machte an der Kajütentafel die Honneurs, mit der Miene eines Gentlemans, der seine Freunde bei sich sieht. Der hübsche Doktor promenierte Arm in Arm mit einzelnen Damen, die sich von den ersten gastrischen Misshelligkeiten der Seereise rasch erholten, auf dem Deck. Der ausgezeichnete Schiffsingenieur, der in seinen Mußestunden bis in die Fingerspitzen musikalisch war, spielte in seiner Kajüte die Geige, und ließ sich von dem jungen Apollo dieser Atlantic-Linie, des Stewards Mate, auf der Flöte begleiten. Nur ein einziges Mal, am dritten Morgen der Reise, wurde die Harmonie an Bord des Aquila durch einen vorübergehenden Missklang gestört, den ein unerwarteter Zuwachs der Passagierzahl in Gestalt eines verirrten Vogels veranlasste. Es war nur ein müder kleiner Landvogel, vom Wind, wie erfahrene Leute behaupteten, aus seiner Richtung getrieben; er setzte sich auf eine Raa, um von seinem langen Fluge auszuruhen.
Kaum hatte man das Tierchen entdeckt, als auch schon die unstillbare echt angelsächsische Jagdwut auf Vögel, vom majestätischen Adler bis zum gemeinen Sperling, in ihrer ganzen Raserei losbrach. Die Mannschaft lief aufs Deck, die Passagiere stürzten in ihre Kajüten, gierig, die erste Flinte zu erfassen und den ersten Schuss zu haben. Ein alter Bootsmann des Aquila hatte das beneidenswerte Glück, dass ihm zuerst eine Vernichtungswaffe in die Hand fiel. Er legte an und hatte schon den Finger am Abzug, als er plötzlich von einem der Passagiere, einem jungen, schlanken, sonnverbrannten behänden Mann gepackt wurde, der ihm die Flinte wegriss, sie ins Blaue hinein abfeuerte und sich dann wütend wieder zu dem Bootsmann wandte. "Du Elender! Willst Du den armen, müden Vogel töten, der auf Deine Gastfreundschaft baut und nur bittet, ihm einige Ruhe zu gönnen? Das kleine harmlose Tierchen ist ein Geschöpf Gottes, wie Du. Ich schäme mich über Dich, ich bin entsetzt vor Dir, auf Dein Gesicht ist der Vogelmörder geschrieben, ich hasse Deinen Anblick!"
Der Bootsmann, ein dicker wohlgenährter, schlichter Mann, gleich langsam von Körper wie von Geist, hörte diese außergewöhnliche Zurechtweisung mit starrem Staunen an, und seinem weit geöffneten Munde entströmte der Tabakssaft in kleinen braunen Bächen. Als der stürmische junge Mann innehielt, nicht aus Mangel an Worten, sondern lediglich aus Atemnot, wendete sich der Bootsmann ab und sagte mit wahrhaft römischer Kürze zu den Zuschauern der Szene: "Meine Herren, dieser junge Mann ist verrückt!"
Die Stimme des Kapitäns hemmte den allgemeinen Ausbruch des Gelächters. "Lasst's gut sein, Bootsmann, Niemand soll den Vogel schießen, und für Sie, Sir, habe ich hinzuzufügen, dass Sie Ihre humanen Empfindungen ebenso wirksam in weniger heftiger Sprache hätten ausdrücken können."
So angeredet, geriet der stürmische junge Mann in einen anderen Paroxysmus der Aufregung.
"Sie haben vollkommen Recht, Sir! Ich verdiene jedes Wort, das Sie mir gesagt haben, ich habe mich schmachvoll benommen!" Er lief hinter dem Bootsmann her und packte ihn bei beiden Händen. "Ich bitte Sie um Verzeihung, ich bitte Sie von ganzem Herzen um Verzeihung. Es wäre mir ganz recht geschehen, wenn Sie mich nach der Sprache, die ich gegen Sie führte, über Bord geworfen hätten. Bitte, entschuldigen Sie mein lebhaftes Temperament. Oh bitte, verzeihen Sie mir. Was sagen Sie? Lass das Vergangene vergangen sein?! Das ist eine prächtige Manier, das Ding beizulegen. Sie sind ein braver Kerl. Wenn ich Ihnen jemals auch nur den kleinsten Dienst leisten kann, hier ist meine Karte und meine Londoner Adresse, so sagen Sie es mir, ich rechne darauf, dass Sie es mir sagen." Er lief in stürmischer Eile zum Kapitän. Ich habe die Geschichte mit dem Bootsmann in Ordnung gebracht, Sir. Er verzeiht mir, er ist mir nicht böse. Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen, dass Sie einen so guten Christen auf Ihrem Schiff haben. Ich wollte, ich gliche ihm! Entschuldigen Sie mich, meine Damen und Herren, dass ich diese Verwirrung angerichtet habe. Es soll nicht wieder vorkommen, das verspreche ich Ihnen."
Die männlichen Passagiere blickten einander an, und schienen mit der Ansicht des Bootsmanns hinsichtlich ihres jungen Begleiters, übereinzustimmen. Die Damen dagegen rührte seine offenkundige Unschuld, und sein hübsches, rotes, frisches Gesicht, und sie behaupteten, dass er vollkommen in seinem Recht war, den armen Vogel zu retten, und dass es um den schwächeren Teil des Menschengeschlechts sehr viel besser bestellt sein würde, wenn die Männer diesem Jüngling ähnlicher wären. Während diese verschiedenen Meinungen energisch verfochten wurden, rief die Frühstücksglocke die Passagiere vom Deck. Nur zwei blieben zurück. Der eine war der stürmische junge Mann, der andere ein Reisender in mittlerem Alter mit grau gesprenkeltem Bart und durchdringenden Augen, der jene Vorgänge still beobachtet hatte, und nun die Gelegenheit ergriff, sich bei dem Helden des Augenblicks selbst einzuführen.
Wollen Sie nicht zum Frühstück gehen?" fragte er.
"Nein, Sir. Die Leute, unter welchen ich aufgewachsen bin, essen nicht in Zwischenräumen von drei bis vier Stunden den ganzen Tag hindurch."
"Entschuldigen Sie wohl," fuhr der Andere fort, wenn ich gern erfahren möchte, unter welchen Leuten Sie aufgewachsen sind? Mein Name ist Hethcote und ich habe früher einmal mit einer Anstalt in Verbindung gestanden, die sich der Kindererziehung widmet. Aus meinen Beobachtungen von heut Morgen schließe ich, dass Sie nach keinem der heutzutage anerkannten und verbreiteten Systeme erzogen sind. Habe ich Recht?"
Die Züge des aufgeregten jungen Mannes nahmen einen resignierten Ausdruck an und er antwortete mit einer Formel, als sage er eine Lektion auf:
"Ich heiße Claude Amelius Goldenheart. Einundzwanzig Jahre alt, Sohn und einziges Kind des verstorbenen Claude Goldenheart von Shedfield-Heath, Buckinghamshire, England. Ich bin erzogen bei den urchristlichen Sozialisten der Gemeinde Tadmor, Staat Illinois. Ich habe ein Einkommen von jährlich Fünfhundert geerbt. Und jetzt gehe ich mit Bewilligung der Gemeinde nach London, um die Welt kennen zu lernen."
Mr. Hethcote nahm diese sprudelnd fließenden Mitteilungen mit einigem Zweifel darüber entgegen, ob er das Opfer eines plumpen Scherzes geworden, oder auf Wahrheit beruhende Tatsachen gehört habe. Claude Amelius Goldenheart bemerkte, dass er einen ungünstigen Eindruck gemacht hatte, und beeilte sich, dies auszugleichen.
"Entschuldigen Sie mich, Sir," sagte er. Ich erlaube mir keinen Scherz mit Ihnen, wie Sie anzunehmen scheinen. Man hat uns in unserer Gemeinde gelehrt, gegen Jedermann höflich zu sein. Die Wahrheit ist, dass ich etwas Sonderbares in meinem Wesen haben muss, ich weiß freilich nicht was, wodurch alle Leute, die ich unterwegs treffe, zur Neugierde gereizt werden. Sie wissen, dass der Weg von Illinois nach New-York ziemlich weit ist, und dass neugierige Reisende nicht eben selten sind. Wenn man ein und dasselbe immer und immer wieder erzählen muss, kommt man mit einer Formel am besten weg. Ich habe mir eine solche zurechtgemacht und stelle sie ehrerbietigst Jedermann zur Verfügung, der mich kennen zu lernen wünscht. Sind Sie zufrieden, mein Herr? Nun gut, so reichen Sie mir die Hand."
Mr. Hethcote schüttelte ihm mehr als befriedigt die Hand. Es war ihm unmöglich, den glänzenden, ehrlichen braunen Augen, der einfachen, herzlichen, gewinnenden Manier des jungen Mannes mit der praktischen Formel und dem seltsamen Namen zu widerstehen. "Kommen Sie, Mr. Goldenheart," sagte er, und führte ihn zu einer Bank, "wir wollen uns gemütlich hinsetzen und etwas plaudern."
"Wie Sie wollen, Sir, doch nennen Sie mich nicht Mr. Goldenheart."
"Warum denn nicht?"
"Nun, es klingt so förmlich. Und außerdem, Sie sind alt genug, mein Vater sein zu können; es ist meine Pflicht, Sie Herr zu nennen, wie wir in Tadmor unsere Ältesten anreden. Ich habe alle meine Freunde in der Gemeinde zurückgelassen und fühle mich hier auf dem endlosen Ozean, unter lauter Fremden, ganz verwaist. Tun Sie mir die Liebe, Sir, und nennen Sie mich bei meinem Vornamen, und dann geben Sie mir einen freundlichen Klapps auf die Backe, wenn Sie finden, dass wir im Laufe des Tages näherkommen."
"Welchen Namen soll ich denn wählen?" fragte Mr. Hethcote, dem der wunderliche Junge Spaß machte. Claude?"
"Nein, nicht Claude. Die Urchristen sagten, Claude sei ein zimperlicher fränkischer Name gewesen. Nennen Sie mich Amelius und ich werde mich wieder wie zu Haus fühlen. Und wenn Sie es eilig haben, so kürzen Sie ihn zu drei Buchstaben ab und nennen mich Mel, wie in Tadmor."
"Schön," sagte Mr. Hethcote. "Nun, mein Freund Amelius (oder Mel), ich werde jetzt ebenso freimütig sprechen, wie Sie. Die urchristlichen Sozialisten müssen großes Vertrauen auf ihr Erziehungssystem setzen, dass sie Sie ohne Gefährten in die weite Welt schicken."
"Sie haben's erraten, Sir," erwiderte Amelius ruhig. Sie setzen ein unbegrenztes Vertrauen in ihr Erziehungssystem. Und ich bin der Beweis dafür."
"Sie haben Verwandte in London, nicht wahr?" fuhr Mr. Hethcote fort.
Ein Schatten von Trauer flog über Amelius Antlitz.
"Ich habe Verwandte," sagte er. "Doch ich habe versprochen, niemals Verwandtschaftsrechte gegen sie geltend zu machen. Sie sind hart und weltlich und würden auch Dich hart und weltlich machen. So sprach mein Vater auf dem Totenbett zu mir." Er nahm seinen Hut ab, als er seines Vaters gedachte und machte eine plötzliche Pause, gesenkten Hauptes, wie in Gedanken verloren. Nach einer kurzen Minute setzte er den Hut wieder auf und blickte seinen Gefährten mit seinem hellen, gewinnenden Lächeln an. "Wir sprechen ein kurzes Gebet für unsere heimgegangenen Lieben, wenn wir sie erwähnen," sagte er erklärend. "Aber wir sprechen es nicht laut, damit es nicht scheint, als paradierten wir mit unseren religiösen Überzeugungen. Heuchelei ist in unserer Gemeinde verhasst."
"Ich lobe diesen Brauch Eurer Gemeinde von Herzen, Amelius. Doch, mein wackerer Bursch, haben Sie wirklich keinen Freund, der Sie in London begrüßt?"
Amelius hob geheimnisvoll die Hand. "Einen Augenblick," sagte er und zog einen Brief aus der Brusttasche seines Rockes. Mr. Hethcote, der ihn beobachtete, bemerkte, dass er dessen Adresse mit ungeheucheltem Stolz und Wohlgefallen betrachtete. Einer unserer Brüder in der Gemeinde hat mir dies gegeben," sagte er. "Es ist ein Empfehlungsbrief, Sir, an einen sehr merkwürdigen Mann, einen Mann, der für uns Andere Alle ein Vorbild ist. Durch Ehrlichkeit und Beharrlichkeit hat er sich aus der Stellung eines armen Ladendieners zu einem der angesehensten Kaufleute in der Londoner City emporgeschwungen."
Nach dieser Einleitung überreichte Amelius Mr. Hethcote seinen Brief. Derselbe trug folgende Adresse:
Herrn John Farnaby
In Firma Ronald u. Farnaby
Papierhändler, Aldersgate-Straße, London.
Mr. Hethcote betrachtete die Adresse des Briefes mit einem Ausdruck des Erstaunens, der Amelius nicht entging. "Kennen Sie Mr. Farnaby?" fragte er.
"Er ist mir nicht ganz unbekannt," lautete die mit einer gewissen Zurückhaltung gegebene Antwort. Amelius fragte eifrig weiter. "Was ist es für ein Mann? Glauben Sie, dass er ein Vorurteil gegen mich haben wird, weil ich in Tadmor erzogen bin?"
"Ich musste mit Ihnen und Tadmor erst näher bekannt sein, Amelius, bevor ich Ihre Frage beantworten kann. Erzählen Sie mir zunächst, wie Sie unter die Sozialisten gekommen sind."
"Ich war damals ein ganz kleiner Knabe, Mr. Hethcote."
"Schön. Auch kleine Knaben haben ein Gedächtnis. Haben Sie irgendein Bedenken, mir Ihre Erinnerungen zu erzählen?"
Amelius antwortete etwas niedergeschlagen, die Augen auf das Verdeck geheftet. "Ich erinnere mich, dass irgendein Ereignis unserer Familie in England Betrübnis bereitete, und dass meine Mutter darin verwickelt war. Ich wagte auch älter geworden niemals meinen Vater darnach zu fragen und er erzählte mir nichts darüber. Ich weiß nur das Eine, dass er ihr irgendein Unrecht, welches sie begangen hatte, verzieh und sie wieder in sein Haus aufnahm und dass ihn deshalb alle seine Freunde und Bekannten heftig tadelten und sich von ihm zurückzogen. Nicht lange darauf, ich ging schon in die Schule, starb meine Mutter. Ich begleitete meinen Vater bei dem Begräbnis. Als wir zurückkamen und allein waren, hob er mich auf seine Kniee und küsste mich. Was willst Du tun, Amelius? fragte er mich. Willst Du bei Onkel und Tante in England bleiben, oder mit mir nach Amerika gehen, um nie wieder hierher zurückzukehren? Nimm Dir Zeit zur Überlegung. Ich bedurfte deren nicht, sondern sagte sofort: "Ich gehe mit Dir, Papa. Ich erschrak, wie er in Schluchzen ausbrach, es war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah. Jetzt verstehe ich ihn. Er war ins Herz getroffen worden und hatte das wie ein Märtyrer ertragen, sein Kind war sein einziger Freund geblieben. Nun, am Ende der Woche waren wir schon an Bord, und dort trafen wir einen liebenswürdigen Herrn, mit langem, grauem Bart, der meinen Vater begrüßte und mir Naschwerk schenkte. In meiner Dummheit hielt ich ihn für den Kapitän. Doch er war dies keineswegs, sondern der erste Sozialist, den ich gesehen; er hatte meinen Vater zum Verlassen Englands bewogen."
Mr. Hethcote gab seine Ansichten über die Sozialisten in einem etwas säuerlichen Lächeln kund. "Und wie ging die Geschichte mit dem liebenswürdigen Herrn weiter?" fragte er. "Nachdem er Ihren Vater bekehrt hatte, bekehrte er auch Sie –– mit Naschwerk?"
Amelius lächelte: Tun Sie ihm nicht Unrecht, Sir, er verließ sich durchaus nicht auf das Naschwerk. Er wartete bis Amerika in Sicht kam, und dann hielt er mir eine kleine Rede, mir ganz allein."
"Eine Predigt?" fragte Mr. Hethcote. "Natürlich war sehr wenig von Religion darin die Rede, nicht wahr?"
"In der Tat, sehr wenig, Sir," erwiderte Amelius. Nicht mehr, als sich auch im neuen Testament findet. Ich war noch nicht alt genug, um ihn sofort zu verstehen, deshalb schrieb er mir seine Rede vorn in ein Geschichtenbuch das ich bei mir hatte und sagte, ich solle es lesen, wenn ich die Geschichten satt hätte. Viel Geschichten standen mir damals nicht zur Verfügung, und als ich meinen kleinen Vorrat erschöpft hatte, las ich, lieber als gar nichts, meine Rede, und las sie so oft, dass ich glaube, ich weiß noch jetzt jedes Wort auswendig. Mein lieber, kleiner Knabe! Die christliche Religion, wie sie Christus lehrte, hat schon lange aufgehört, die Religion der christlichen Welt zu sein. Eine selbstsüchtige und grausame Priesterschaft ist an ihre Stelle getreten. Dein eigener Vater ist ein Beispiel der Wahrheit dieser Worte. Er hatte die erste und vornehmste Pflicht eines echten Christen erfüllt, die Pflicht, ein Unrecht zu verzeihen. Dafür verlor er Achtung und Gunst aller seiner Freunde, sie haben ihn verleugnet und verlassen. Er verzeiht ihnen und sucht Frieden und gute Gesellschaft in der neuen Welt, unter Christen die ihm gleichen. Du wirst es nicht bereuen, dass Du Deine Heimat mit ihm verlassen hast, Du wirst das Mitglied einer Familie voller Liebe sein, und wenn Du alt genug geworden bist, kannst Du frei für Dich selbst entscheiden, wie sich Dein künftiges Leben gestalten soll. Weiter wusste ich nichts von den Sozialisten, als wir Tadmor nach langer Reise erreichten."
Mr. Hethcotes Vorurteile kamen abermals zum Vorschein. "Ein elender Ort," sagte er, "nach dem Namen zu urteilen."
"Elend? Wie kommen Sie darauf? Niemals habe ich einen reizenderen Fleck gesehen, niemals erwarte ich, einen solchen wiederzusehen. Ein klarer, anmutig gewundener Fluss, der in einen kleinen blauen See strömt. Ein breiter Abhang, über und über mit Blumengärten bedeckt und von prächtigen Bäumen beschattet. Auf dem Scheitel des Hügels erheben sich die Häuser der Gemeinde, teils aus Ziegeln, teils aus Holz, und so dicht von Schlingpflanzen bedeckt und von Veranden umgeben, dass ich heute noch nicht anzugeben weiß, in welchem Styl sie erbaut sind. Hinter den Häusern erheben sich wieder Bäume, und auf der anderen Seite des Hügels beginnen die Kornfelder, die sich in gelben, mächtigen Flächen weit dahinziehen, bis sie dem goldenen Himmel und der sinkenden Sonne entgegen am Horizonte verschwinden. Das war unser erster Anblick von Tadmor, als uns die Landkutsche dort absetzte."
Mr. Hethcote war noch immer nicht geschlagen. "Und was für Leute leben denn in diesem irdischen Paradiese?" fragte er weiter. "Männliche und weibliche Heilige –– wie?"
"Oh nein, Sir! Ganz das Gegenteil von Heiligen. Sie essen und trinken gerade wie ihre Nachbarn. Sie denken nicht daran, sich in raue Pferdehaare zu hüllen, wenn sie glattes Leinen haben. Und wenn sie in Versuchung geraten, wissen sie sich besser zu helfen, als dass sie einen Strick drehen und sich den Rücken blutig geißeln. Heilige! Wie ein Schwarm Schulkinder kamen sie angelaufen, uns Willkommen zu sagen; zuerst küssten sie uns und dann gaben sie uns einen Krug Wein von ihrer eigenen Kelter. Heilige! Oh, Mr. Hethcote, wessen werden Sie uns noch beschuldigen? Doch Sie mögen gegen die Sozialisten vorbringen, was Sie wollen, ich werde es widerlegen. Darf ich eine Vermutung aussprechen, Sir, ohne Sie zu beleidigen? Einige Anzeichen lassen mich vermuten, dass Sie ein englischer Geistlicher sind."
Endlich gab sich Mr. Hethcote überwunden, er brach in lautes Lachen aus.
"Sie haben mich erkannt," sagte er, "Natürlich, mit meiner bunten Krawatte und diesem Jagdrock sehe ich wie ein englischer Geistlicher aus! Ich möchte wohl wissen, wieso?"
