Die Nazis kannten meinen Namen - Magda Hellinger - E-Book

Die Nazis kannten meinen Namen E-Book

Magda Hellinger

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Beschreibung

Von den Nazis zum Dienst verpflichtet - und doch alles tun, um anderen zu helfen
1942 wurde Magda Hellinger ins KZ Auschwitz deportiert; sie gehört zu den wenigen Juden, die es überlebten. Die Nazis setzten sie als Blockälteste und Lagerälteste ein und verpflichteten sie damit, den Alltag im Lager zu organisieren. Diese Positionen verschafften ihr zwar Privilegien, doch nie ließ sich Magda davon korrumpieren. Unerschrocken nutzte sie jede Möglichkeit, um ihren Mitgefangenen zu helfen - obwohl sie unter besonderer Beobachtung stand und damit in ständiger Gefahr schwebte, für jede gute Tat mit dem Leben zu bezahlen. Ihre Geschichte zeugt von außergewöhnlichem Mut und wahrhaftiger Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten.

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorinnen

Titel

Impressum

Widmung

Einleitung

Teil 1: MAGDAS GESCHICHTE

1 Herkunft

2 Deportation

3 Auschwitz

4 Birkenau

5 Blockälteste

6 Experimentierblock 10

7 Wieder in Birkenau

8 Lagerälteste

9 SS-Kontakte: Irma Grese

10 SS-Kontakte: Kramer und Mengele

11 Bélas Geschichte

12 Widerstand

13 Todesmarsch

14 Malchow

15 Befreiung

Teil 2: MEINE MUTTER BLICKT NACH VORN

16 Wie man sich ein neues Leben aufbaut

17 Das Vermächtnis von Häftlingsnummer 2318

Epilog

Anmerkungen zu den Nachkriegsschicksalen prominenter Personen aus dieser Geschichte

Glossar

Danksagung

Tafelteil

Über das Buch

Von den Nazis zum Dienst verpflichtet – und doch alles tun, um anderen zu helfen

1942 wurde Magda Hellinger ins KZ Auschwitz deportiert; sie gehört zu den wenigen Juden, die es überlebten. Die Nazis setzten sie als Blockälteste und Lagerälteste ein und verpflichteten sie damit, den Alltag im Lager zu organisieren. Diese Positionen verschafften ihr zwar Privilegien, doch nie ließ sich Magda davon korrumpieren. Unerschrocken nutzte sie jede Möglichkeit, um ihren Mitgefangenen zu helfen – obwohl sie unter besonderer Beobachtung stand und damit in ständiger Gefahr schwebte, für jede gute Tat mit dem Leben zu bezahlen. Ihre Geschichte zeugt von außergewöhnlichem Mut und wahrhaftiger Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten.

Über die Autorinnen

Magda Hellinger war 25 Jahre alt, als sie nach Auschwitz deportiert wurde, wo sie verschiedene Positionen als Funktionshäftling übernehmen musste und Hunderte Leben rettete.

Maya Lee ist ihre Tochter. Die erfolgreiche Geschäftsfrau ermutigte ihre Mutter, ihre Geschichte aufzuschreiben, und forschte selbst mehrere Jahre, um sie zu vervollständigen.

MAGDA HELLINGER und MAYA LEE

mit David Brewster

DieNAZIS KANNTEN meinenNAMEN

Wie ich als Lagerälteste Auschwitz überlebte

Übersetzung aus dem australischen Englisch von Maria Mill

Lübbe

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:»The Nazis Knew My Name«

Für die Originalausgabe:Copyright © Maya Lee and David Brewster 2021Published by arrangement with Simon & Schuster Australia, Cammeray NSW 2062, Australia

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Beate De Salve, PulheimUmschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille nach einem Originalentwurf von Simon & Schuster Ltd.Bilder im Tafelteil: Sofern nicht anders genannt © Archiv Maya LeeeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2887-4

luebbe.delesejury.de

In Erinnerung an meine Mutter Magda Hellinger Blau

Das ist die Geschichte, die sie immer erzählen wollte

Einleitung

Nur wenige Menschen können nachvollziehen, was es bedeutete, Häftling in Auschwitz-Birkenau zu sein – eigentlich nur die, die dort waren. Und noch weniger können begreifen, was es hieß, innerhalb des KZs in die Rolle eines Funktionshäftlings gezwungen zu werden. Sich in einer Lage wiederzufinden, in der man, wenn man unerschrocken und gewitzt war, womöglich einige Leben retten konnte, dabei aber dem anhaltenden Massaker an den meisten um einen herum ohnmächtig gegenüberstand. Fortwährend in dem Bewusstsein zu leben, dass man jederzeit durch einen gelangweilten oder verärgerten Wachmann sein Leben verlieren konnte, weil der meinte, dass man zu nett zu einer Mitgefangenen gewesen war, wo man doch nur versucht hatte, menschlich zu sein.

Meine Mutter, Magda Hellinger Blau, war eine solche Häftlingsfunktionärin gewesen, wenn auch die meiste Zeit ihres Lebens nur wenige etwas über ihre Geschichte erfuhren – das galt auch für ihre Familie.

Magda war uns immer ein Rätsel. Trotz allem, was sie durchgemacht hatte, war sie nicht wie so viele andere Überlebende des Holocaust, die für den Rest ihres Lebens von den emotionalen Narben dieser Erfahrung gezeichnet blieben. Rührig und positiv, wie sie war, blickte sie stets nach vorn. Als meine Schwester und ich noch jünger waren, erzählte sie uns manchmal von den Konzentrationslagern und ihrer besonderen Rolle darin, und zwar auf dieselbe nüchterne Art, in der vielleicht andere Mütter von ihrer Kindheit auf dem Bauernhof berichteten. Wir hatten ja keine Ahnung! Irgendwann verdrehten wir nur die Augen und stöhnten: »Lass gut sein, Mum.«

Am Ende brachte sie ihre Geschichte einmal und dann noch ein zweites Mal handschriftlich zu Papier, ohne irgendjemandem von uns etwas davon zu sagen. Zu guter Letzt engagierte sie noch einen jungen Mann zum Abtippen des Manuskripts, und erst danach bekamen wir es überhaupt zu lesen. Doch Magda interessierte sich nicht für Feedback oder Erklärungen. 2003, mit siebenundachtzig Jahren, brachte sie ihre Datei zu einem Drucker und ließ ein dünnes Buch daraus binden. Sie organisierte eine Buchpräsentation zur Förderung irgendeines von ihr unterstützten karitativen Projekts und verkaufte etliche Exemplare. Und das war es dann auch.

In den letzten Jahren ihres Lebens jedoch ließ sich meine Mutter nichts mehr entlocken, weder zu ihrer Geschichte noch zum Thema Holocaust. Obwohl es noch einiges zu erzählen gegeben hätte, hatte sie auf einmal genug davon und wollte den Albtraum ihrer Erinnerungen hinter sich lassen. Es war, als hätte das Schreiben ihren Geist von einem in der Tiefe schwärenden Trauma befreit. Sie wurde wieder zu der Mutter, die ich von früher kannte – jener, die immer nur pragmatisch in die Zukunft geblickt hatte.

Erst nachdem meine Mutter (kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag) gestorben war, begann ich allmählich die Komplexität ihrer Geschichte zu verstehen. Während der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre hatte sie der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel, dem Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten, dem Jewish Holocaust Centre in Melbourne und, wenige Jahre später, der von Filmregisseur Steven Spielberg gegründeten Shoah Foundation Audio- und Videozeugnisse überlassen. Stundenlang hatte sie für diese Projekte Interviews gegeben, sie uns gegenüber jedoch kaum erwähnt. Während ich mir diese Aufnahmen betrachtete und anhörte, wurde mir klar, dass meine Mutter in ihrer Hast, ihre Geschichte auf Buchseiten zu bannen, viele Details unerwähnt gelassen hatte. Auch zahlreiche Primärquellen, die ihre Geschichte ergänzten und erweiterten, hatte sie verschwiegen, einschließlich der Zeugnisse einiger der vielen Frauen, denen Magda durch behutsame Manipulation des Nazi-Personals das Leben gerettet hatte. Ich sah, dass Magda in ihren eigenen Schriften nur einen Bruchteil ihrer Geschichte erzählt hatte.

In den Jahren seit ihrem Tod habe ich mich zunehmend um ein Verständnis dessen bemüht, was Magda und die Frauen um sie herum durchgemacht haben. Im Zuge dessen habe ich die bemerkenswerte und einzigartige Geschichte einer Frau entdeckt, die – was selten war – die SS, ihr Morden, ihre Lügen und ihre tückischen Tricks aus nächster Nähe beobachten konnte. Dabei hat sie irgendwie die innere Stärke gefunden, sich über die Grausamkeit und den Horror des berüchtigtsten der Nazi-Konzentrationslager zu erheben, und es in den dreieinhalb Jahren dort fertiggebracht, nicht nur sich selbst, sondern auch Hunderte andere zu retten.

Über Menschen wie Magda, die selbst Häftlinge waren und gleichzeitig im Auftrag der Nazis unter den Gefangenen Führungspositionen bekleideten, die sogenannten »Funktionshäftlinge« oder »Häftlingsfunktionäre« der Konzentrationslager, ist nur wenig geschrieben worden. Und was über sie geschrieben wurde, konzentriert sich in der Regel auf die Kapos, die vor allem für die Kommandos (Arbeitsgruppen, die für die SS Sklavenarbeit verrichteten) zuständig waren. Die meisten Kapos waren deutsche Gefangene, meist Schwerverbrecher, die den Ruf hatten, zu enormer Grausamkeit fähig zu sein. Leider hatte dieser Ruf zur Folge, dass auch alle anderen Funktionshäftlinge über denselben Kamm geschoren wurden. Magda ist von einigen Überlebenden allein wegen der Stellung, die sie gezwungenermaßen einnahm, falsch dargestellt und unfair beurteilt worden. Die meisten der gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen beruhten auf Gerüchten, die dazu dienten, zu beschuldigen und zu verurteilen. In den ersten Jahren nach dem Holocaust versuchten jüdische Überlebende jene, die solche Positionen bekleidet hatten, infrage zu stellen, einfach, weil sie Sündenböcke brauchten. Vielen, darunter auch Magda, warf man Kollaboration mit den Nazis vor. Diese Kultur der Schuldzuweisung hat viele der ehemaligen Häftlingsfunktionäre dazu veranlasst, sich auch später in Schweigen zu hüllen, um nicht weitere Anschuldigungen zu provozieren.

Wer jedoch Magda oder irgendeinen der anderen Funktionshäftlinge verurteilt, ignoriert dabei, dass sie jedes Mal, wenn sie etwas unternahmen und damit das Leben eines anderen retteten, ihr eigenes aufs Spiel setzten. Ihre Geschichten müssen erzählt werden.

Um den Dank jener, deren Leben sie gerettet hatte, ging es Magda eigentlich nie – lediglich um die Anerkennung, dass sie in einer wahrhaft schrecklichen Zeit alles ihr Mögliche getan hatte. Außerdem wollte sie – wie so viele andere Überlebende –, dass die, die den Holocaust zu leugnen wagten, dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. In ihren Worten: »Ich habe mir oft gewünscht, diese Leute fragen zu können, warum sie mein Leiden leugnen und mich und Millionen andere in Misskredit bringen. Haben wir nicht genug gelitten, dass wir uns auch jetzt noch solche Lügen anhören müssen?« Wie so viele andere wollte sie sicherstellen, dass sich der Holocaust nie wiederholen würde.

Ich wende mich an euch, Leser, Eltern, Lehrer, Professoren und Wissenschaftler, Priester und Rabbis. Unterrichtet die Kinder und die gesamte Bevölkerung über die Gräuel, die unter dem Nazi-Regime an allen Völkern verübt wurden, nicht nur an den Juden … denn ungeschehen kann ich nicht machen, was mir und unzähligen anderen angetan wurde. Jede Nacht, wenn ich die Augen schließe, wecken mich die quälenden Albträume. Ich will meine Geschichte erzählen, damit Menschen wie ihr euch dazu entschließt und dafür sorgt, dass die Saat solchen Übels nie mehr auf fruchtbaren Boden fällt.

Magda schrieb ihre Geschichte so nieder, wie sie sie in Erinnerung hatte. Die Geschehnisse standen ihr klar vor Augen; etwa, wie sie mit den Unmenschen von der SS sowie ihren Mithäftlingen umgegangen war. Bei der Wiedergabe ihrer Geschichte und bei der Beschreibung des Lebens in Auschwitz-Birkenau während der Jahre ihrer Inhaftierung habe ich versucht, mich möglichst genau an ihre Erinnerungen zu halten. Allerdings musste ich einige notwendige Details hinzufügen, um eine sowohl ehrliche als auch umfassende Darstellung bieten zu können. Abgesehen von Magdas Schriften, ihren Ton- und Videoaufnahmen, habe ich auch auf Zeugnisse anderer Überlebender zurückgegriffen – ob nun solcher, die Magda persönlich kannten, oder anderer, die ähnliche Positionen innehatten –, ebenso wie auf die Arbeit verschiedener Wissenschaftler. Wo man die Wahrheit nicht kennt, wie es in derartigen Geschichten häufig der Fall ist, gestatte ich Magda, die Ereignisse so zu erzählen, wie sie es stets aus dem Gedächtnis getan hat. Dies gilt insbesondere für persönliche Wortwechsel: Die in diesem Buch rekonstruierten Dialoge sind so, wie Magda sie aufgeschrieben oder in ihren Selbstzeugnissen geschildert hat, und wurden, wenn nötig, lediglich zur Verdeutlichung bearbeitet.

Zum Abschluss dieser Einleitung möchte ich folgenden Auszug aus einem offenen Brief der Auschwitz-Überlebenden Dr. Gisella Perl mit Ihnen teilen. Der Brief wurde am 28. Juli 1953 unter der Überschrift »Magda, die Lagerälteste von Lager C« in der ungarischsprachigen Zeitung Új Kelet in Tel Aviv veröffentlicht. Dr. Perl war eine rumänisch-jüdische Gynäkologin, deren Familienangehörige 1944 voneinander getrennt und in Konzentrationslager deportiert wurden; später veröffentlichte sie unter dem Titel Ich war eine Ärztin in Auschwitz ihren eigenen Bericht über die Lager. Der Brief wurde geschrieben, kurz nachdem sich Dr. Perl und Magda Hellinger in Israel zufällig wiederbegegnet waren.

Wir waren nur wenige Wochen in Auschwitz-Birkenau. Damals vermutete ich das alles nur, doch heute weiß ich es gewiss. Wir, entwürdigte Geschöpfe, menschliche Tiere, ob mit Häftlingsnummern versehen oder nicht – wir hatten keine Ahnung, begriffen nicht, was um uns herum geschah. Was war die Wahrheit? Was war Lüge? Wem sollte man glauben? Wer war der Herr dieser Hölle? Welche Regeln und Vorschriften bestimmten minütlich, stündlich unser Schicksal?

Wir wussten es einfach nicht. Ich wusste es nicht.

Sechs Wochen lang war ich schon Gefangene. Ich stand barfuß in Lumpen beim Appell und schaute zu. Ich guckte und beobachtete. Es gab ein paar Häftlinge im Lager, die das Sagen hatten, und es gab eine, die man die Lagerälteste nannte.

Ich begann, sie zu beobachten. Ich studierte sie mit den Augen einer Ärztin, einer Psychologin. Hinter ihrer harten Fassade, die sie sich selbst aufzwang, sah ich die Angst in ihren Augen. Ich sah das Zittern ihrer Finger und das entsetzte Pulsieren ihrer Halsvene, wenn die Gefangenen vor eine SS-Frau oder einen SS-Mann treten mussten.

Eines Abends suchte ich diese Lagerälteste, die Magda hieß, auf.

»Wer sind Sie?«, fragte sie mich. »Und was wollen Sie?«

»Ich bin Ärztin. Ich bräuchte ein paar Schuhe und würde gerne mit Ihnen sprechen«, meinte ich beklommen und mit abgewandtem Blick.

»Kommen Sie doch, setzen Sie sich. Ich besorge Ihnen ein Paar Schuhe. Aber zuerst reden wir, denn ich sehe, dass ich es mit einer intelligenten Person zu tun habe.«

Während Magda sprach, enthüllte sie mir die komplexen und teuflischen Gesetze der Hölle von Auschwitz-Birkenau. Sie offenbarte mir das Grauen der Gaskammern, der Krematorien und des Experimentierblocks 10, die Schrecken der Strafkommandos und anderer Einrichtungen. Nun, zehn Jahre später, denke ich nicht, dass Menschen überhaupt noch glauben können, dass es diese Dinge wirklich gab, obwohl es gar nicht so lange her ist. Man kann sich einfach nicht mehr vorstellen, dass Hunderte von Polen und Millionen von Juden auf diese sadistische Weise ermordet worden sein sollen.

Magda redete und flüsterte, während sich ihr Gesicht von Minute zu Minute veränderte. Anstelle der strengen Linien traten nun mit Tränen gefüllte Furchen.

»Ganz nach Lust und Laune und ohne einen ersichtlichen Grund suchen sie sich stets ein paar Leute aus unserer Gruppe aus und platzieren sie – quasi als Bindeglied zwischen Mördern und Opfern – auf sogenannte Führungspositionen. Weshalb sie das tun? Wozu? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines: dass wir verantwortlich sind. Wir sind verantwortlich für alles, was der SS nicht passt. Glauben Sie mir, es ist sehr schwierig.«

Mit gesenktem Kopf fuhr sie fort:

»Sie sind Ärztin. Seien Sie vorsichtig! Vergessen Sie nie, dass Sie Ärztin sind. Passen Sie auf, und vergessen Sie es nicht. Was immer die Deutschen auch sagen, es ist gelogen. Es steckt immer etwas Böses dahinter. Hier sind Ihre Schuhe. Kommen Sie doch gelegentlich vorbei, zum Reden. Wir können eine Menge tun.«

Das war meine erste Begegnung mit Magda. So machte sie mich mit der Realität des Grauens bekannt. Ich beobachtete sie ein ganzes Jahr lang, und dieses ganze Jahr lang hat sie mir leidgetan. Wenn es Ärger gab, ging ich zu ihr, und sie hat mir immer geholfen.

Ich wusste es bereits damals und weiß es heute: Lagerälteste zu sein war ein bitteres Los … dreißig- bis vierzigtausend auf Tierniveau erniedrigte Menschen zusammenzuhalten, so etwas wie eine Ordnung aufrechtzuerhalten, während man gleichzeitig die teuflischen Befehle der SS-Aufseher auszuführen hatte … Unsere Lagerälteste, unsere Magda, war eine rechtschaffene Person. Und ich danke der Vorsehung, dass sie so war, nämlich ein Mensch, der glaubte und darauf vertraute, dass wir eines Tages wieder Menschen sein würden. Jemand, der uns überall und jederzeit voller Güte beigestanden, uns verteidigt und gerettet hat – manchmal schroff, manchmal lächelnd, manchmal stirnrunzelnd.

Ich denke, dass ich mit dieser Aussage eine Dankesschuld begleiche – im Namen sehr vieler Ex-Häftlinge und nicht zuletzt meinem eigenen –, dafür, dass mir Magda, die Lagerälteste von Auschwitz-Birkenau, so viel Güte erwiesen hat.

Ich hoffe, dass Magdas Geschichte eine Welt inspiriert, in der das Beste des menschlichen Geistes triumphiert und auch unter entsetzlichsten, schwierigsten und unmenschlichsten Bedingungen überdauert.

Maya Lee

Teil 1MAGDAS GESCHICHTE

1Herkunft

Ich saß in einer riesigen schwarz glänzenden Limousine, direkt neben mir Hauptsturmführer Josef Kramer, Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz–Birkenau. Er trug die eindrucksvolle graugrüne Uniform der SS und dazu die Mütze mit dem bedrohlichen Totenkopf-Emblem.

Es war im Mai 1944.

Kramer war erst vor Kurzem in Birkenau eingetroffen, doch sein Ruf war ihm vorausgeeilt – er galt als einer der übelsten Lagerkommandanten der SS. Kramer war ein baumlanger Mensch, über 1,85 m groß, an dem die eigenartigen Riesenpranken auffielen. Gerüchten zufolge hatte er mit diesen Händen schon mehr als einen Gefangenen getötet. Im Laufe der darauffolgenden zwei Monate sollte er die Ankunft von nahezu 430.000 ungarischen Juden überwachen, die in extrem überfüllten Eisenbahnwaggons herbeigeschafft wurden. Gleich nach ihrer Ankunft beaufsichtigte er die Vergasung von drei Viertel dieser Menschen in den Tötungsfabriken des Lagers. Während dieser Phase erreichte die Bevölkerungsdichte von Auschwitz ihren Höhepunkt, ebenso wie die Vernichtungsrate. Von den fast eine Million Opfern der Auschwitz-Lager während des Zweiten Weltkrieges starb fast die Hälfte innerhalb dieser kurzen Zeitspanne unter Kramers Kommando.

Ich war Gefangene. Irgendwie hatte ich bereits mehr als zwei Jahre als Insassin der Todeslager von Auschwitz überlebt. Ich hatte Krankheit und Hunger, grausame Bestrafungen und Misshandlungen erduldet. Mindestens dreimal war ich dem Gang in die Gaskammern um ein Haar entkommen. Auf meinen linken Unterarm hatte man mir die Häftlingsnummer »2318« eintätowiert, und diese Nummer – Dreiundzwanzig Achtzehn – war für die meisten der SS-Wächter mein Name. Für Kramer und einige andere hochrangige SS-Leute jedoch war ich eine der wenigen Gefangenen, die sie beim Namen nannten.

Kramer legte die kurze Strecke zu jenem Ort, der später als »Lager C« bekannt werden sollte und offiziell »Block B IIc« hieß, einem eben erst fertiggestellten Gefängnis innerhalb des Komplexes Birkenau, fahrend zurück. Sein Wagen hielt am Haupttor der Lagers, und wir stiegen aus. Von einem hohen Elektrozaun umgeben erstreckten sich zwei parallel verlaufende Reihen von identischen, barackenartigen Holzgebäuden vor uns. Ähnliche »Lager« schlossen sich zu beiden Seiten an. Die sich scheinbar endlos fortsetzende Wiederholung hatte etwas Bedrohliches.

Kramer starrte auf mich herab. »Hier wirst du Lagerälteste sein«, sagte er.

Lagerälteste. Sprich: Lageraufseherin. Die Spitze jener bizarren Hierarchie sogenannter Funktionshäftlinge oder Häftlingsfunktionäre. Ohne irgendein Mitspracherecht meinerseits hatte man mich dazu auserwählt, mich um dreißigtausend frisch eingetroffene weibliche Mithäftlinge zu kümmern. Und meine Aufgabe würde es sein, in dieser Ansammlung von dreißig Baracken Essensverteilung und Hygiene zu koordinieren. In einer solchen Baracke hätte man ungefähr vierzig Pferde unterbringen können, doch nun würde man in jede davon tausend Frauen pferchen. Doch dafür zu sorgen, dass all diese Frauen jeden Morgen vor Tagesanbruch und am Spätnachmittag erschienen, um in ordentlichen Fünferreihen manchmal stundenlang zum gewohnten Zählappell anzustehen, war letztendlich meine Verantwortung. Kam es dabei zu einem Zwischenfall, einem Fehlverhalten, erschien ein Häftling nicht zum Zählappell, gaben Lagerführerin Irma Grese oder einer ihrer Wachmänner umgehend mir die Schuld. Aus Jux und Tollerei konnte mich ein verärgerter oder betrunkener SS-Offizier in die Gaskammer schicken. Irgendein Verstoß gegen Hygienevorschriften oder ein Krankheitsausbruch in meinem Verantwortungsbereich, und ich konnte – zusammen mit sämtlichen Insassinnen von Lager C – »durch den Schornstein« geschickt werden.

Ich ließ den Ort auf mich wirken und blinzelte unbewegt durch den Dauernebel aus beißendem Rauch, der aus den auf mittlere Distanz kaum zu erkennenden Schornsteinen stieg. Unbewegt? Nun, das war das, was ich Kramer sehen ließ. In meinem Innern aber tobte ein Sturm, eine noch heftigere Version all der Gefühle, die ich während der vergangenen zwei Jahre an jedem einzelnen Tag empfunden hatte. Da war zum einen die Angst um all die Menschenleben – Tausende von Menschenleben! –, die ausgelöscht werden würden, egal, was ich tat. Zum anderen aber auch die Entschlossenheit, die Mission zu erfüllen, die ich zu haben glaubte, nämlich trotz allem so viele Leben zu retten, wie ich nur konnte.

~

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an eine Begegnung mit einem Uniformierten. Es ist eine jener Erinnerungen, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob es wirklich meine eigenen sind, denn in diesem Fall war ich erst drei Jahre alt. Vielleicht erinnere ich mich ja nur noch an die Geschichte. Geblieben ist mir allerdings das Bild des leuchtend roten Kleides, das ich mit dem Eigensinn einer Dreijährigen anbehalten hatte und gegen kein anderes eintauschen wollte, wobei ich den im Nachbarhaus herrschenden Tumult offenbar ignorierte. Das alles wäre nicht weiter schlimm gewesen, nur dass die Mischung aus Judentum und der Farbe Rot damals gefährlich war.

Es war das Jahr 1919, und zwei Jahre zuvor hatten in Russland revolutionäre bolschewistische Kommunisten unter ihrer roten Flagge die Macht ergriffen. Die neu errichtete, aus dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg hervorgegangene Demokratie der Tschechoslowakei war eines der verbündeten Länder, die sich den Sturz der Bolschewiken auf die Fahne geschrieben hatten. Während sich die antikommunistische Stimmung verstärkte, eröffnete man in weiten Teilen Europas die Jagd auf jene, die man kommunistischer Sympathien verdächtigte. Eine sich zusammenbrauende Verschwörungstheorie, die Juden mit der Russischen Revolution in Verbindung brachte, beschuldigte nun viele Juden dieses »Verbrechens«.

In unserer Heimatstadt Michalovce ganz im Osten der Tschechoslowakei kursierten Gerüchte, Juden sollten als Kommunisten hingerichtet werden. Daher wandte sich eine Delegation von Juden aus Michalovce an unseren Nachbarn, den angesehenen Bürger Herrn Elefant, und bat um Schutz. Herr Elefant erklärte sich bereit, sie zu verstecken, doch als die Nachricht seines Widerstands hochrangige tschechische Offiziere erreichte, befahl man ihm, die Juden auszuliefern. Als Herr Elefant sich weigerte, stürmten die Offiziere sein Haus, trieben alle, die sich darin versteckt hatten, zusammen, führten sie ins Freie und stellten sie an eine Wand, um sie zu erschießen.

Bei uns zu Hause hielt ich währenddessen meinen eigenen Widerstand aufrecht, sodass meine Mutter, wohl abgelenkt vom Radau nebenan, schließlich nachgab und mich mein Lieblingskleid anziehen ließ. Kurz darauf stürmte, wohl auf der Suche nach weiteren jüdischen Kommunisten, einer der tschechischen Offiziere in unser Haus, und die erste Farbe, die er erblickte, war das leuchtende Rot meines Kleides. Ihm folgte auf dem Fuße Herr Elefant, der in seinem Flehen um die Rettung der Juden einfach nicht nachlassen wollte.

Ich starrte auf die glänzenden Uniformknöpfe und Abzeichen des Offiziers. Da ich von der Angst im Raum nichts mitbekam, streckte ich beide Arme nach ihm aus, und er tat mir den Gefallen, mich hochzunehmen. Während ich mit seinen Knöpfen spielte und sein ernstes Gesicht streichelte, plapperte ich fröhlich vor mich hin.

Herr Elefant und meine Mutter sahen fassungslos zu. Nach wenigen Augenblicken tätschelte der Offizier meine Hand, setzte mich ab und verabschiedete sich von Herrn Elefant, um sich wieder zu seinen Kollegen nach draußen zu gesellen.

»Es tut mir so leid, Herr Elefant«, jammerte meine Mutter. »Ich wollte nicht, dass sie das rote Kleid anzieht, aber sie ließ sich einfach nicht abbringen.«

»Schon gut«, versetzte Herr Elefant. »Das Kind hat den Offizier abgelenkt und so das Leben dieser armen, verschreckten Leute gerettet.«

Etwa drei Jahre zuvor war ich am 19. August 1916 als zweites Kind und einzige Tochter von Ignac und Berta Hellinger zur Welt gekommen.

Meine frühesten Erinnerungen an meine Mutter sind solche an eine glückliche junge Frau, die fortwährend Melodien aus all den Opern schmetterte, die sie als Kind in Budapest besucht hatte. Wir hatten einen großen Garten, der immer voller Obst und Gemüse war, und im Sommer stand sie schon in aller Frühe auf, um Kartoffeln, Mais oder Tomaten zu ernten – was eben gerade Saison hatte. Ich kletterte auf die Obstbäume, um die schönsten Früchte zu pflücken, und holte mir manchmal das Frühstück von einem Baum, das Mittagessen von einem anderen und das Abendessen von einem dritten. Meine Mutter hat ständig gekocht oder ihr eigenes Brot gebacken, oder Challa, einen Hefezopf, den es nur zum Schabbat (dem Sabbat) gab. Dank des Gartens hatten wir immer reichlich zu essen, und meine Mutter war stets bereit, mit allen Nachbarn zu teilen. War jemand in Not, ließ sie alles stehen und liegen, um zu helfen.

Eines Tages, ich war noch ziemlich jung, besuchte ich das Haus einer meiner Freundinnen, wo mir auffiel, dass der Herd in der Küche kalt war und offenbar nicht gekocht wurde. Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter davon, woraufhin sie ihre Schabbat-Vorbereitungen unterbrach.

»Morgen ist Schabbat, und sie haben nichts zu essen«, meinte meine Mutter nachdenklich. »Bringen wir ihnen doch was vorbei, damit sie sich was kochen können.«

Als wir losgingen, erklärte sie: »Frau Finfitter ist eine sehr nette Person, aber sie ist bestimmt zu stolz, um etwas anzunehmen. Deswegen gehe ich rein und unterhalte mich mit ihr, während du die Sachen in die Küche trägst.«

Ich empfand leisen Stolz, als ich eine Tüte mit Hühnerklein und -fett sowie Zucker auf der Küchenbank der Finfitters ablegte.

Bei anderer Gelegenheit erzählte mir einmal eine Spielkameradin, dass ihr Familie Brot ohne Butter esse und es nie Milch gebe. Ihr Vater litt an Tuberkulose, und nur eine ihrer älteren Schwestern hatte Arbeit. Ich rannte nach Hause zu meiner Mutter und erzählte ihr davon, worauf sie mich mit Zucker, Butter, Milch und Gänseklein für eine gute Suppe zu ihnen zurückschickte.

Mit Mitte zwanzig hatte mein Vater, Spross einer zehnköpfigen Familie, den Beruf gewechselt. Er hatte die Buchhaltung aufgegeben, um fortan zu unterrichten, und sich erfolgreich um die Stelle des Lehrers für jüdische Geschichte im Städtchen beworben, nachdem der alte Geschichtslehrer verstorben war. Er reiste viel, um heilige Stätten zu besuchen und jüdische Geschichte zu studieren, und kam am Ende heim nach Michalovce, um seine neue Stelle anzutreten. Kaum hatte er sich etabliert, hielt er um die Hand der damals siebzehnjährigen Berta Burger an. Zunächst unterrichtete er nur an der einzigen jüdischen Schule von Michalovce, doch im Lauf der Jahre, als die Stadt wuchs und neue konfessionelle staatliche Schulen eröffnet wurden, lehrte er auch an diesen. Außerdem begann er, Deutsch zu unterrichten, da er die Sprache gut beherrschte und Deutsch in Mode kam. (Er brachte mir Deutsch bei, wenn auch keiner von uns beiden hätte ahnen können, wie nützlich mir das später einmal sein sollte.) Und dann begann er auch noch, Erwachsene zu unterrichten, die weder lesen noch schreiben konnten, wobei seine Güte und Großzügigkeit ihnen half, ihre Verlegenheit wegen ihres Analphabetismus zu überwinden. Das alles kostete viel Zeit. Oft kam er abends nur nach Hause, um kurz zu Abend zu essen, und ging dann wieder arbeiten.

In ganz Michalovce war Ignac hoch angesehen und gut vernetzt. Er kannte den Bürgermeister, Herrn Alexa, persönlich, und obwohl er selbst frommer Jude war, stand er sowohl mit der Führung der griechisch-orthodoxen als auch mit den Oberhäuptern der katholischen Kirche unserer Stadt in Kontakt. All diese prominenten Bürger bekannten sich zum Grundsatz der Glaubensfreiheit, dazu, dass Juden und Christen in der Lage sein sollten, in Frieden miteinander zu leben.

Ich hatte vier Brüder: Max war älter als ich, die anderen, Ernest, Eugene und Arthur, alle jünger. Von Arthur einmal abgesehen, hatte ich meist nur wenig mit ihnen zu tun, da sie das Haus schon in aller Frühe verließen, um – bevor sie die Schule besuchten – zum Chejder* zu gehen und jüdische Geschichte und Religion zu studieren. Meine engste Freundin war Marta, ein etwa gleichaltriges Waisenmädchen, das bei uns wohnte. Marta hatte im Krieg ihren Vater verloren, woraufhin sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter an gebrochenem Herzen gestorben waren. Als Sorgeberechtigter war ihr nur ein alter Großvater geblieben, doch die Aufgabe überforderte ihn, sodass meine Eltern sie zu sich nahmen. Marta und ich wuchsen wie Schwestern auf.

Außer uns sieben und Marta beherbergte unser Haus des Öfteren Internatsschüler, die am Freitag vor dem Schabbat nicht nach Hause fahren konnten. Auch eine Schneiderin aus einem anderen Dorf gab es, die unter der Woche bei uns wohnte, weil es sich für ein unverheiratetes Mädchen nicht schickte, allein in einer fremden Stadt zu leben. Diese junge Frau nähte mir und meiner Mutter viele wunderschöne Kleider. Und dann saßen an den Freitagabenden vor dem Schabbat oder an jüdischen Feiertagen auch noch Extragäste am Tisch, ob nun Freunde oder Besucher aus der Schule oder aber eine Familie in Not. Zum Glück hatten wir viel Platz in unserem Haus, das mein Vater gebaut hatte und das er über die Jahre, je nach Bedarf, Zimmer um Zimmer erweiterte. An Samstagen aber besuchten wir die zahlreichen, über ganz Michalovce verstreuten Mitglieder der Großfamilie Hellinger, um ihnen »Schabbat Schalom« zu wünschen.

Wir lebten in einem sehr netten Viertel mit vielen Kindern, jüdischen wie nicht jüdischen, und mit vielen Verwandten in unserer Nähe. Der Vater eines nicht jüdischen Mädchens, das im Nachbarhaus wohnte, setzte ein Törchen in den Zaun, damit seine Tochter sowie Marta und ich zwischen den Gärten hin- und herlaufen konnten. Zusammen mit ein paar anderen Mädchen sorgten wir dafür, dass immer was los war. Wir dachten uns Theaterstücke aus, sangen, tanzten oder spielten Spiele. Manchmal machten sogar die Jungen mit.

Ich ging gern zur Schule und war auch ziemlich gut. An den Nachmittagen fand ich mich dann unversehens in der Lehrerrolle wieder, wenn ich einigen meiner Klassenkameraden Nachhilfe erteilte, unter anderem auch dem Sohn des Bürgermeisters. Der war zwar nicht besonders fleißig, aber wir wurden gute Freunde, und ich brachte ihn dazu, sich ein wenig mehr anzustrengen. In einem dieser Jahre bereiteten wir zwei eine Rede vor, die anlässlich der Feierlichkeiten zum Geburtstag des beliebten tschechischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk gehalten werden sollte. Die ganze Stadt wohnte dem Ereignis bei, und der Bürgermeister war sehr stolz, seinen Sohn so zu erleben.

Es war ein erfülltes Leben und eine Freiheit, die jene genießen, die in einer sicheren und wohlhabenden Umgebung aufwachsen.

~

Mein Vater war stolz auf sein jüdisches Erbe. Statt traditioneller Gutenachtgeschichten erzählte er mir von Ereignissen aus der jüdischen Geschichte. Diese legten in mir den Keim zu einem leidenschaftlichen Zionismus, der während meiner ersten Jugendjahre durch einen polnischen Hebräischlehrer, der an unsere Schule kam, weiter gefördert wurde.

Zu dieser Zeit, ich konnte noch gar kein Hebräisch, kam ich eines Tages nach Hause und meinte zu meinem Vater: »Es gibt da einen sehr netten Mann, der uns beigebracht hat, ›Lo scham‹ zu sagen.« »Ich glaube, du meinst ›Schalom‹«, versetzte mein Vater lachend.

»Ja, ja«, rief ich. »Schalom.«

Dieser Lehrer initiierte einige außerschulische Aktivitäten wie Theaterspielen und Singen und führte uns schließlich in einen Mo’adon ein, eine Art zionistischen Jugendclub. Ich genoss das alles in vollen Zügen und engagierte mich bald sehr stark. Es dauerte nicht lange, bis man meine Begeisterung registrierte und mir die Rolle der Menahélet, also »Leiterin« oder »Organisatorin«, für kleine Kinder übertrug. Nun erzählte ich diesen Kleinen von Ereignissen aus der jüdischen Geschichte und vermittelte ihnen die Idee, dass wir Juden eines Tages unser eigenes Heimatland haben würden. Ich wurde sogar Menahélet für die älteren Kinder und schließlich für den ganzen Mo’adon.

Bald schon lernte ich, dass Organisationen, sobald sie merken, dass jemand begeisterungsfähig und tatkräftig ist, mehr als willens sind, Geschick und Fähigkeiten dieser Person voll auszuschöpfen. Ich engagierte mich in der zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair, die wir auch als jüdische Pfadfinder bezeichneten, und half ihnen, die Organisationen Keren Hayesod und Keren Kayemeth LeIsrael, der Jüdische Nationalfonds, zu unterstützen, die beide Geld sammelten, um wiederum Juden zu helfen, sich dort niederzulassen, wo später Israel entstehen sollte.

Ich wurde eine gute Organisatorin, und es mangelte mir auch nicht an Chuzpe, wenn es etwa darum ging, mitunter sehr viel ältere Leute um Hilfe zu bitten. Noch als Teenager reiste ich in die vierhundert Kilometer entfernte Stadt Trenčin im äußersten Westen der Slowakei, um eine neue Zweigstelle von Hashomer Hatzair zu gründen. Ich stieß dort auf drei sehr verständnisvolle Stadträte. Und weil sie keine Juden waren, erzählte ich ihnen einfach, ich wolle in ihrer Gemeinde eine neue Pfadfinderbewegung aufbauen. Ich schlug ihnen eine Spendenaktion vor, bei der man einen Fahnenmast mit Markierungen aufstellen könnte, die die Höhe der jeweiligen Zuwendungen anzeigten. Dann könnte man den Leuten einen goldenen Nagel und ein Namensschildchen reichen, und zur Eröffnung des Events sollte jeder die Höhe seiner Spende markieren, indem er seinen Nagel an der entsprechenden Stelle in den Mast hämmerte. Die Stadträte waren ganz beeindruckt von meiner Idee und boten selbst großzügige Beträge an. Und das war wichtig, weil ich dann zu den Mitgliedern der örtlichen jüdischen Gemeinde gehen und auf die Spenden dieser Nichtjuden verweisen konnte. Natürlich mussten die Juden dann mehr spenden, sodass ich noch höhere Beiträge einheimste. Ich rekrutierte eine Handarbeitslehrerin, die mir Stoff für eine Flagge gab, auf die sie ihre Schülerinnen unser Emblem sticken ließ, und ich überredete den örtlichen Schmied, die Nägel für mich zu fertigen. Wir hielten eine große und gelungene Fahnenzeremonie ab, und die neue Pfadfinder-Niederlassung war geboren.

Auch viele Purimfeste, Chanukkafeiern und Bälle habe ich organisiert, um Spenden einzutreiben. Bei einem dieser Bälle – ich war etwa sechzehn oder siebzehn – trat ein Herr auf mich zu und bat mich um einen Tanz. Ich erklärte ihm, dass ich nicht tanze, was zumindest teilweise stimmte – Hashomer Hatzair hielt nichts vom Tanzen, es sei denn, man tanzte die Hora, eine jüdische Version des traditionellen osteuropäischen Tanzes, bei dem sich alle in einen großen Kreis einreihten. Dieser Mann aber ging zum Leiter der Organisation, für die wir sammelten, und erzählte ihm, er werde etwas spenden, wenn ich mit ihm tanzte. Ich weigerte mich nach wie vor und beharrte darauf, mit niemandem zu tanzen. Der Preis stieg in ungeahnte Höhen, sodass unser Leiter schließlich meinte: »Hör mal, er will so viel geben, wenn du mit ihm tanzt. Was kann dir denn passieren, wenn du ein einziges Mal mit ihm tanzt?« Und so tanzte ich. Einen Tanz, den er teuer bezahlen musste!

Mit etwa siebzehn ging ich auch zur Hachschara oder »Vorbereitung«, das war ein Trainingsprogramm für junge Zionisten. Ziel dabei war, uns jene handwerklichen Fertigkeiten anzueignen, die wir in Palästina und speziell in den Kibbuzim benötigen würden. Ich reiste nach Bratislava, die größte Stadt der Slowakei, und arbeitete in einer Parkettfabrik. Sie gehörte einem Juden namens Wolf, doch aus irgendeinem Grunde war ich die einzige jüdische Arbeiterin dort. Die anderen mobbten mich ein wenig, anfangs, weil ich hübsche Kleider trug statt der Arbeitsmontur wie alle anderen; doch auch als ich sie mit der Arbeitskluft vertauschte, ging die Schikane weiter. Ich merkte, dass ich das nur durchhalten würde, wenn ich für mich blieb und sehr hart arbeitete – irgendwie war ich immer außer Atem.

Wie viele andere Mädchen im Teenageralter stritt auch ich mich in diesen Jahren häufig mit meinem Vater. Meist kreisten unsere Auseinandersetzungen um den Zionismus. Die traditionellen religiösen jiddischen Gemeinden betrachteten den Zionismus damals als eine Bewegung, die eine Art sektiererischen Nationalismus verfolgte, der wenig mit dem jüdischen Glauben zu tun hatte. Der Nationalismus in Europa hatte bereits zum Ersten Weltkrieg geführt und braute sich damals erneut zusammen. Obwohl mein Vater die zionistische Sache unterstützte, fand er gleichzeitig, dass man vorsichtig damit sein und sie womöglich nicht mit solchem Eifer betreiben sollte. Ich war da offensichtlich zu einer anderen Einschätzung gelangt. »Es ist sehr wichtig, dass wir arbeiten, uns organisieren und nach Palästina gehen, um dort neu anzufangen. Denn wenn wir unseren neuen Staat bekommen, muss schließlich jemand dort sein.« Unsere Debatten waren heftig und zuweilen wohl auch etwas laut, doch zum Glück waren wir letztlich klug genug, die Sicht des jeweils anderen zu respektieren.

Der Zionismus reichte allerdings nicht, um all meine überschießende Energie zu kanalisieren. Mit sechzehn oder siebzehn beschlossen Marta und ich während der Sommerferien, dass Michalovce einen Kindergarten brauchte, um die jüngeren Kinder während der langen Ferien zu bespaßen. Natürlich hatten wir weder das Geld noch einen Platz, um unsere kleine Einrichtung aufzuziehen, also sprachen wir eine prominente ältere Dame unseres Städtchens darauf an. Diese auch als »Gleich Mamma« bekannte Dame gehörte zu den Menschen, die jedermanns Sache zu ihrer eigenen machen, sodass alle Kinder der Stadt sie quasi als eine Art Tante adoptiert hatten. Und sie verfügte über die nötigen Beziehungen, um Dinge ins Rollen zu bringen.

Gleich Mamma erzählte uns, sie kenne da Leute, die in drei Monaten heiraten wollten. Allerdings stehe das Haus, das die beiden gekauft hätten, bis dahin leer, und es eigne sich ganz hervorragend, weil der Garten noch nicht angelegt sei, sodass wir leicht Sand zum Spielen aufschütten könnten.

Der Mann, dem das Haus gehörte, war Tischler, sodass Gleich Mamma ihn bat, ein paar Tischchen und Stühlchen für uns zu schreinern. Anschließend wandten wir uns mit ihrer Hilfe an die örtlichen Geschäfte und brachten es fertig, dass sie uns Spielzeug, Bücher und Teppiche spendeten. Nachdem wir den größten Raum als Kindergarten eingerichtet hatten, waren wir startklar. Wir gingen in der Stadt herum und erzählten interessierten Eltern, dass wir ihre Kinder morgens abholen und abends wieder nach Hause bringen würden. Zu unserer Freude warteten bereits am ersten Morgen etwa vierzig Kinder vor ihren Haustüren, die uns »Malka, Jaffa« (unsere hebräischen Namen) entgegenriefen. Wie Rattenfängerinnen sammelten wir unsere Schutzbefohlenen ein und führten sie zu unserem neuen Kindergarten. Die ganzen Sommerferien hindurch ging es so weiter. Die Eltern zahlten eine Gebühr, die davon abhing, was sie sich leisten konnten, beziehungsweise was uns reichte, um sowohl die Miete als auch die Kosten für den Sand etc. zu decken.

Bei alledem – und vor allem bei den Hashomer-Hatzair-Aktivitäten – baute ich stark auf meine Mutter. Zu Beginn, als ich noch recht jung war, brachte sie mich zu meinen Treffen und holte mich auch wieder ab. »Ich glaube nicht, dass unsere Regierung so viele Versammlungen einberuft«, sagte sie oft. »Wie beschäftigt du immer bist!« Einmal, als wir KewerAwot, ein alljährlich stattfindendes Ereignis, besuchten, bei dem sich die Großfamilie am Grab der Vorfahren zum Gebet versammelte, hörte ich, wie sich meine Mutter bei ihrer Schwester beklagte. Ich sei »so beschäftigt mit diesem und jenem, Keren Hayesod und Keren Kayemeth und was weiß ich. Was immer es ist, sie muss dabei sein.«

»Sie kann halt nicht anders«, erwiderte meine Tante. »Das ist nun mal ihre Mission. Hat nicht der Belzer Rabbi gesagt, dass sie eine Mission hat? Also hab Geduld. Sie ist ein kluges Mädchen, ein außergewöhnliches Mädchen, das viel Gutes tut. Also finde dich ab damit. Sie kann nicht anders. Es ist ihre Bestimmung.«

Ich hatte keine Ahnung, was meine Tante da redete, aber ich war froh, dass sie mich verteidigte. Und im Übrigen ließen mir meine Eltern, auch wenn sie mich nicht immer bereitwillig unterstützten, stets meinen Willen.

~

Während einer meiner Organisationsreisen mit Hashomer Hatzair ins etwa eine Stunde entfernte Kapušany war ich bei dem Arzt des Städtchens, Dr. Tomashov, und seiner Frau untergebracht. Er war ein ziemlich erfahrener Mediziner, eine bedeutende Persönlichkeit und sehr bekannt für die Behandlung von Kröpfen, die damals sehr verbreitet waren. Ich erinnere mich, dass er eine Schreibmaschine besaß, die ich benutzte, um Listen und Programme und sogar das Manuskript eines Theaterstücks abzutippen, das eine Kindergruppe aufführen sollte.

Etwa ein Jahr später fragte Dr. Tomashov schriftlich bei mir an, ob ich vielleicht Lust hätte, bei ihm zu arbeiten und etwas über Medizin zu lernen, mit der Aussicht, eventuell seine Assistentin zu werden, sodass seine Frau sich aus dem Berufsleben zurückziehen könne. Schon lange hatte ich mit dem Gedanken geliebäugelt, vielleicht Ärztin zu werden, und mittlerweile war ich neunzehn und auf der Suche nach einer Karriere. Also nahm ich sein Angebot an und kehrte nach Kapušany zurück, um erneut bei ihnen zu leben. Er schickte mich ins Krankenhaus, damit ich mir Grundkenntnisse aneignete, und ich tippte für ihn und lernte gewisse Dinge, etwa wie man Verbände anlegt. Es war eine arbeitsreiche Zeit. Dr. Tomashovs Frau verreiste für eine Weile, und da wir keine Zeit zum Kochen fanden, aßen wir meist in einem nahe gelegenen Restaurant.

Eines Tages erhielt ich einen Brief von einer meiner Freundinnen aus der Heimat. Sie habe von Gleich Mamma Gerüchte gehört, schrieb sie, dass sich der Doktor in mich verliebt habe, dass er sich von seiner Frau scheiden lassen und mich heiraten wolle. Ich war schockiert. Es erschien mir völlig lächerlich, schon allein deshalb, weil er ja so viel älter war als ich. Tatsächlich fand ich es so ungeheuerlich, dass ich beschloss, die beste Art damit umzugehen sei, ihn einfach zu fragen.

Noch am selben Abend erzählte ich ihm während des Essens im Restaurant von dem Brief und dem darin berichteten Klatsch. Als er es hörte, ließ er sein Besteck sinken und starrte mich an.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Aber so etwas könnte ich nie tun.«

Als kurz darauf seine Frau zurückkam und wieder als seine Assistentin arbeiten wollte, verließ ich Dr. Tomashov und kehrte nach Hause zurück.

Nach dieser Erfahrung kamen mir Zweifel hinsichtlich des Medizinstudiums. Ich überlegte, wie lange es dauern und wie kostspielig es sein würde, eine Praxis zu eröffnen. Vielleicht sollte ich ja doch lieber bei meiner Kindergartenarbeit bleiben, bei der ich schon wusste, dass sie mir Spaß machte und dass ich gut darin war. Vielleicht fand ich ja auch einen Ehemann, der Arzt war, und mir altersmäßig etwas näher stand!

In Trebišov, einer etwa fünfundzwanzig Kilometer von Michalovce entfernten Stadt, meldete ich mich regulär zur Kindergärtnerinnenausbildung an. Im Alter von mittlerweile zwanzig Jahren widmete ich mich – da ich, nachdem ich die zionistische Jugendarbeit hinter mir gelassen hatte, sonst nichts zu tun hatte – nun ganz meiner Ausbildung. Ich reiste nach Bratislava, um meine Prüfungen abzulegen, und schloss den eigentlich auf vier Jahre angelegten Kurs innerhalb von nur zwei Jahren erfolgreich ab.

Mit der Absicht, in Michalovce einen festen Kindergarten, den ersten der Stadt, zu eröffnen, kehrte ich nach Hause zurück.

Nicht lange nach meiner Rückkehr traf ich eines Tages auf der Straße Herrn Alexa, der immer noch unser Bürgermeister war. Er fragte mich, wo ich denn die letzten paar Jahre gewesen sei. Als ich ihm von meinen Plänen erzählte, bekam er vor lauter Begeisterung ganz große Augen.

»Komm mit, Magda.« Er lächelte. »Ich habe ein Haus in der Turecká Straße. Vorn sind einige Büros, aber der Rest steht leer.«

Er führte mich zu einem hübschen Haus mit einem Foyer und drei daran anschließenden Räumen. Es gab sogar einige Möbelstücke, mit denen sich etwas anfangen ließe, bis ich mir weitere leisten könnte.

»Das ist perfekt. Wie hoch ist denn die Miete?«

»Aber ich werde doch keine Miete von dir verlangen!«, meinte er und zündete sich eine Zigarette an. »Du weißt, vor vielen Jahren gab es mal einen Kindergarten in Michalovce, und ich glaube, ich weiß vielleicht, wo sich die Möbel befinden«, fuhr er dann fort. »Ich kümmere mich darum und lasse sie dir zu deinem neuen Kindergarten schicken.«

Ich war sprachlos, doch der Bürgermeister bestand darauf. »Du hast es verdient«, meinte er.

Kurz darauf konnte ich meinen Kindergarten eröffnen. Binnen weniger Tage war er bei der Schulaufsicht registriert und mit Kindern aus jüdischen ebenso wie aus nicht jüdischen Familien bis auf den letzten Platz ausgebucht. Bald hatte ich meinen festen Tagesablauf, legte jeden Morgen den kurzen Spaziergang zur Arbeit zurück, grüßte auf dem Weg Herrn Kahot, den örtlichen Schuster – einen Familienvater, der mir schon viele wunderschöne Stiefel angefertigt hatte –, und verbrachte meine Wochenenden mit Marta und anderen Freunden. Als das Jahr 1940 anbrach, hatte ich das Gefühl, dass die Weichen für mein künftiges Leben gestellt waren. Ich war stolz darauf, dass ich mein Leben in die eigenen Hände genommen hatte und meinen eigenen Kindergarten betrieb.

~

Anfang 1942 erzählte ein Zugschaffner jemandem, der es anderen weitersagte, die es wiederum weitererzählten, er habe gehört, junge unverheiratete jüdische Frauen würden verschleppt, um in deutschen Fabriken zu arbeiten. Ein Schauder, vermischt mit Ungläubigkeit und Panik, erfasste unsere jüdische Gemeinde. Der Zugschaffner, erzählte man, habe seine Freundin aufs Land geschickt, damit sie sich dort versteckte. Nach und nach hörte ich weitere Geschichten von Mädchen, die fortgeschickt wurden – eines nach Irland, eines nach England, einige nach Ungarn.

Seit Ende 1938 hatte sich das Leben für einen Großteil der jüdischen Bevölkerung in der Tschechoslowakei allmählich verändert, obwohl es mir selbst kaum aufgefallen war. Ich lebte in einer sehr kleinen Welt, die vor allem von meinem Kindergartenalltag bestimmt wurde. Wie auch immer, es sollte noch eine ganze Weile dauern, ehe sich für die viertausend Juden Michalovces alles veränderte – unter anderem auch deswegen, weil unsere Region im äußersten Osten des Landes lag.

Die Tschechoslowakei hatte sich nach ihrer Gründung am Ende des Ersten Weltkriegs zu einer der wenigen tatsächlich funktionierenden Demokratien Mittel- beziehungsweise Osteuropas entwickelt. Und das blieb sie auch, bis Hitler seine Herrschaft gewaltsam auszudehnen begann und 1939 im Handstreich die tschechische Landeshälfte unterwarf. Die übrige Slowakei aber entwickelte sich mit Unterstützung der faschistischen und nationalistischen Slowakischen Volkspartei und deren von der SS trainierten Miliz, der Hlinka-Garde, schon bald zu einem Marionettenstaat Nazi-Deutschlands. Rasch wurde eine »Arisierungs-Politik« verfügt, gefolgt von sogenannten Judengesetzen. Die meisten jüdischen Ärzte und Rechtsanwälte erhielten Berufsverbot. Schließlich wurden in Michalovce 436 jüdische Unternehmen sowie Dutzende von Immobilien konfisziert. Alle wurden loyalen Angehörigen der Slowakischen Volkspartei und der Hlinka-Garde zugesprochen. Juden wurden aus ihren Stellungen entfernt, vor allem, wenn sie Beamte waren, jüdische Kinder von staatlichen Schulen verwiesen. Wie in Deutschland befahl man den meisten Juden, den gelben Davidstern zu tragen.

Aus irgendeinem Grund durfte mein Kindergarten weiterbestehen, vielleicht weil er von der Schulaufsicht genehmigt war oder weil er auch nicht jüdischen Familien offenstand; ich habe nie erfahren, weshalb. Nicht einmal den gelben Stern musste ich tragen. Die offensichtlichste Veränderung bestand darin, dass nun nach und nach die Väter, nicht mehr die Mütter, ihre Kinder zum Kindergarten brachten und wieder abholten. Ihrer Lebensgrundlage beraubt, war dies vielleicht ihre einzige Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun. Gebühren verlangten wir nur noch von denen, die sie sich leisten konnten. Ansonsten lief das Leben weiter. Abends ging ich, soweit ich die Energie dazu aufbrachte, mit Freunden – jüdischen wie nicht jüdischen – ins Kino. Wenn ich überhaupt über die Gerüchte nachdachte, so ging ich davon aus, dass ich, falls doch etwas passierte, aufgrund meiner Stellung als Kindergärtnerin verschont werden würde.