Die Neue Familienkonferenz - Thomas Gordon - E-Book

Die Neue Familienkonferenz E-Book

Thomas Gordon

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Wie erreiche ich ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen meinen Bedürfnissen als Erwachsener und denen des Kindes?
Thomas Gordon, Autor des Klassikers "Familienkonferenz", weiß Rat: Die eigenen Gefühle zeigen, den Ärger und die Sorgen offenlegen und vor allem das Kind für die Mitwirkung an Kompromisslösungen gewinnen.

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Seitenzahl: 425

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Für Linda,meine Partnerin, Freundin und Ehefrau

Für Judy und Michelle,meine (selbst)disziplinierten und geliebten Töchter

Für die vielen tausend Trainer,die auf der ganzen Welt Eltern und Lehrerin unseren Kursen unterrichten

Inhaltsverzeichnis

WidmungDanksagungenEinführungTeil Eins - WAS IST DISZIPLIN?
KAPITEL EINS - Definitionen und Bedeutungen
Hauptwort und VerbLehren oder KontrollierenDisziplin von außen und SelbstdisziplinMeinungsunterschiede über GrenzenSoll man streng oder nachsichtig-tolerant sein?Die verschiedenen Bedeutungen von »Autorität«Der Mythos von der »gütigen Autorität«
KAPITEL ZWEI - Belohnen und strafen — die traditionelle Methode
Woher bekommen die Kontrollierenden ihre Macht?Wie sollen Belohnungen funktionieren?Wie sollen Strafen funktionieren?Die Bedingungen für die Kontrolle durch Belohnung und StrafeÄußere und innere Kontrolle
KAPITEL DREI - Das Zuckerbrot wirkt manchmal nicht
Die Technik der Kontrolle durch BelohnungSchwierigkeiten von Eltern und Lehrern mit BelohnungenEine eingehendere Analyse des LobesWirksame Alternativen zum Lob
KAPITEL VIER - Nachteile und Gefahren von Strafen
Man braucht Erfahrung, um Strafen wirksam einzusetzen»Strafen sind akzeptabel, solange sie mild sind«Die Risiken schwerer StrafenWenn die Katz’ aus dem Haus ist ...Wie Strafen Aggression und Gewalt hervorrufenErwachsenen gehen in der Regel die Strafen ausFür den Kontrollierenden hat Macht ihren Preis
KAPITEL FÜNF - Wie Kinder wirklich auf Kontrolle reagieren
Bewältigungsmechanismen von KindernRächende Gewalt gegenüber den KontrollierendenWenn Kinder sich von den Eltern »schneiden« lassenDie Saat für kriminelles VerhaltenDas Scheitern der JugendgerichteWarnung: Disziplinierung schadet der Gesundheit und dem Wohlbefinden von KindernHigh werden und abdröhnenWenn der Kontrollierende an Einfluß verliertWollen wir gehorsame Kinder?
Teil Zwei - ALTERNATIVEN ZUR DISZIPLINIERUNG IN DER KINDERERZIEHUNG
KAPITEL SECHS - Nicht-kontrollierende Methoden, um Kinder zu verhaltensänderungen zu veranlassen
Kinder benehmen sich nie wirklich schlechtWer »besitzt« das Problem?Alternative 1: Herausfinden, was das Kind brauchtAlternative 2: Machen wir einen TauschhandelAlternative 3: Die Umgebung verändernAlternative 4: Die konfrontative Ich-BotschaftAlternative 5: Die präventive Ich-BotschaftAlternative 6: Gangwechsel, um Widerstand abzubauenAlternative 7: ProblemlösungAlternative 8: Wut — was steht dahinter?Wie Ich-Botschaften den Sender verändern
KAPITEL SIEBEN - Neue Wege, wie man in Familie und Klassenzimmer regiert
Mitwirkung — das ZauberwortGruppen brauchen RegelnDer Sechs-Schritte-Prozeß der ProblemlösungKonfliktlösungen — die niederlagelose MethodeWenn Werte aufeinanderprallen
KAPITEL ACHT - Wie man Kindern hilft, Probleme selbst zu lösen
Wie man Kindern hilft, ein Problem zu lösenDie Sprache der NichtannahmeAkzeptanz — die helfende GrundhaltungWie man Akzeptanz demonstriert
KAPITEL NEUN - Aktives Zuhören — die Allround-Methode
Das Schlichten von Konflikten unter KindernFörderung fruchtbarer GruppensdiskussionenFür eine bessere Beziehung zwischen Lehrer und SchülerDie vorteile der fördernden HaltungAndere Vorteile der helfendenl fördernden Fähigkeiten
KAPITEL ZEHN - Warum Erwachsene Kinder immer noch disziplinieren
Die Doktrin vom »Verwöhnen«Die Überzeugung, daß Kinder von Natur aus schlecht seienSchwarzweißdenken in Konflikten zwischen Erwachsenen und KindernDie Bibel als Rechtfertigung für strafende DisziplinDer Mythos von der ToleranzEinstellungen gegen demokratische FührungWiderstand gegen die KurseAngst vor Veränderungen in der FamilieWiderstand gegen Veränderungen in Schulen
KAPITEL ELF - Demokratische Beziehungen fördern Gesundheit und Wohlbefinden
Weniger Entbehrung und DemütigungWeniger Streß, weniger KrankheitGrößere ProblemlösungskompetenzWeniger Wut und FeindseligkeitKeine Angst mehrMehr Verantwortung, mehr Kontrolle über das eigene GeschickWeniger selbstschädigendes VerhaltenBessere soziale Fähigkeiten
LiteraturhinweiseCopyright

Danksagungen

Ich bin einer Reihe von Menschen dankbar, die mit ihrer Unterstützung und ihrem Einfluß zu diesem Projekt beigetragen haben. Diejenigen, die das eine oder andere meiner früheren Bücher gelesen haben, kennen bereits den starken Einfluß, den der verstorbene Carl Rogers auf meine Gedanken ausgeübt hat — besonders hinsichtlich der Bedeutung des empathischen Zuhörens bei Lehrern und Eltern. Diese Technik wurde zuerst von Therapeuten an der Ohio State University und der University of Chicago angewendet, die von Rogers ausgebildet worden waren.

Ich möchte den Therapeuten, Eltern und Lehrern meinen Dank aussprechen, die viele Anekdoten, Dialoge und Fallbeispiele beisteuerten — unschätzbar bei dieser Darstellung der neuen Methode, wie man Kinder beeinflußt, sich zu Hause wie auch in der Schule selbstdiszipliniert und kontrolliert zu verhalten.

Peter Wyden, der Verleger meiner früheren Bücher, gab mir immer wieder seine Unterstützung und kluge Ratschläge, wenn ich ihn bei Problemen bei der Zusammenstellung dieses Buches um Hilfe bat.

David Aspy und Flora Roebuck schulde ich meinen Dank für die umfassenden Forschungsstudien, die die positive Entwicklung von Schülern belegen, deren Lehrer in den verschiedenen, in diesem Buch geschilderten interpersonalen Fähigkeiten ausgebildet waren; ähnlich schulde ich Bruce Cedar und Ronald Levant meinen Dank für die Studien, die deutlich die positiven Auswirkungen unserer Familienkonferenz-Theorie auf Eltern wie auch Kinder zeigen.

Dankbar bin ich allen Angestellten des Effectiveness-Programms, die mir in all den Jahren ihre Unterstützung, ihr Verständnis und ihr Vertrauen geschenkt haben.

Ich danke auch Priscilla Lavoie und Diane Lucca, die die verschiedenen Manuskriptfassungen getippt haben. Zudem möchte ich der vorsichtigen, sensiblen und gründlichen Redaktion von Sarah Trotta bei Times Book meinen Dank aussprechen.

T.G.

Einführung

Hierzulande wie auch in der übrigen Welt ist Disziplin neuerdings wieder zu einem Reizwort geworden. Sie steht im Mittelpunkt hitziger Debatten bei Elternversammlungen, Lehrerkonferenzen und Schulbehörden. Strikte Disziplin, darunter auch das Recht (und die Pflicht) von Eltern, ihre Kinder zu strafen, bildet einen Stützpfeiler im Programm einer konservativen, auf familiäre Werte bauenden Pädagogik. Durch Meinungsumfragen ist das Thema der Disziplin als eine Hauptsorge von Eltern empirisch belegt. Es ist offenkundig, daß das Problem der Disziplinierung von Kindern für die meisten Eltern zu inneren Konflikten führt. In unseren Elternkursen ist immer wieder zu beobachten, daß die meisten Teilnehmer anfangs zwischen einer Haltung von Strenge und Nachsicht schwanken. Eine Mutter gab einmal zu: »Bei unserem ersten Kind war ich streng, aber das hat nicht geklappt, und als das zweite kam, beschloß ich, es mit Nachsicht zu versuchen. « Eine andere gestand: »Ich will nicht so autoritär und streng sein, wie meine Eltern waren, aber ich merke immer wieder, wie ich die gleichen Methoden — sogar die gleichen Worte — benutze wie meine Eltern. Und dann hasse ich mich dafür. «

Viele Lehrer stehen vor dem gleichen Dilemma. Sie wollen anfangs herzlich, freundlich und geduldig zu den Schülern sein, erleben aber immer wieder, daß sie sich in die traditionellen, herumkommandierenden, strafenden Lehrer verwandeln, unter denen wir alle wohl irgendwann einmal während unserer Schulzeit gelitten haben. Lehrern wird immer noch beigebracht: »Lächelt eure Klasse nur zu Weihnachten an.«

Wie aber wollen wir dieses Thema Disziplin definieren? An welchen Punkten läßt es sich festmachen? Was sagen die Vertreter der verschiedenen pädagogischen Richtungen den Eltern und Lehrern?

Viele Sozialwissenschaftler, besonders Psychologen, meinen — im Gegensatz zu konservativen Politikern und Pädagogen — , daß strengere, strafende Disziplin wenig wirksam sei und Kindern und Jugendlichen eher schade. Der Vorsitzende eines Komitees für Disziplinfragen des angesehenen Pädagogenverbandes Phi Delta Kappa, William Wayson, Professor für Pädagogik an der Ohio State University, sagte vor einigen Jahren bei einem Kongreß-Hearing:

Restriktive Maßnahmen führen, wenn sie nicht von grundlegenden Anstrengungen begleitet werden, den Schüler einzubeziehen und ihm zu dienen, unvermeidlich zu schlechterer Disziplin, vielleicht sogar zu Gewalt oder dem erzwungenen Schulverweis von Schülern, die schulische Zuwendung am meisten brauchen und verdienen... (Cordes, 1984)

In dem Bericht dieses Komitees wird im weiteren erklärt, wodurch sich gute Schulen auszeichnen. Interne Zusammenarbeit, Kooperation zwischen Schule und Eltern, demokratische Entscheidungsprozesse, Methoden, aufgrund derer sich alle Schüler zugehörig und verantwortlich fühlen, Regeln, die eher Selbstdisziplin fördern statt sture Übernahme von Erwachsenenregeln, herausfordernde, interessante Lehrpläne und Unterricht, die Fähigkeit, mit persönlichen Problemen von Schülern und Lehrern umzugehen, sowie die sachlichen Gegebenheiten und Organisationsstrukturen, die diese Maßnahmen unterstützen.

Irwin Hyman, ein pädagogischer Psychologe, der in einem nationalen Forschungszentrum an der Temple-Universität die Wirkung körperlicher Strafen an Schulen und Alternativen dazu untersucht, sagte vor dem Untersuchungsausschuß des amerikanischen Senats aus:

Es gibt Gewalt gegen Lehrer, aber die Bestrafung von Kindern, die das amerikanische Erziehungssystem durchdringt, ist eher als Ursache für statt als Ausweg aus dem Fehlverhalten im Klassenzimmer zu betrachten... »Gute alte Disziplin« ist der am wenigsten wirksame Weg, dieses Schülerverhalten zu ändern... (Cordes, 1984)

B. E Skinner, wohl der führende Verhaltenspsychologe der Welt, heute emeritierter Professor für Psychologie in Harvard, schrieb in einem Brief an den kalifornischen Parlamentsabgeordneten Sam Farr am 16. September 1986:

Strafmaßnahmen, ob sie von der Polizei, Lehrern, Ehepartnern oder Eltern ausgeübt werden, haben wohlbekannte Wirkungen: (1) Flucht (in der Schule gibt es einen eigenen Begriff dafür: Schwänzen), (2) Gegenangriff (Vandalismus in Schulen und Übergriffe auf Lehrer) und (3) Apathie — verdrossener Tunix-Rückzug... Eine unmittelbare Wirkung eines Gesetzes [gegen körperliche Strafen] wäre es, daß Lehrer aufgefordert werden, andere Methoden für die Kontrolle der Schüler zu entwickeln, die langfristig wesentlich wirksamer sind. (Skinner, 1986-87)

Mehrere Meinungsumfragen des Gallup-Instituts haben ergeben, daß amerikanische Eltern Disziplin für das wichtigste Problem in Schulen halten, und eine große Mehrheit befürwortet die Anwendung der Prügelstrafe; nur eine Handvoll Eltern (weniger als 20 Prozent) mißbilligen die Anwendung der körperlichen Züchtigung in Schulen.

Vielleicht stellt es für den Leser eine Überraschung dar, wenn er erfährt, daß in den USA nur acht Staaten die Prügelstrafe in Schulen völlig verbieten: Kalifornien, Hawaii, Maine, Massachusetts, New Hampshire, New York, Rhode Island und Vermont. Nur sechs von diesen acht Staaten schützen Kinder bei Pflegeeltern, in Kinderheimen und Schulen.

Die Disziplin-Debatte geht aber weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus; es handelt sich um ein wahrhaft internationales Thema. Vor einigen Jahren wurde in Schweden eine Gesetzesvorlage ausgiebig und heiß diskutiert, nach der schon ein Klaps und darüberhinaus jedwede beleidigende oder verletzende Behandlung von Eltern rechtswidrig würde, die Kindern seelisches Leid zufügen konnte. Das Gesetz wurde gegen eine starke Opposition verabschiedet. Die Prügelstrafe in Schulen war in Schweden schon lange verboten.

In China werden Lehrer, die die Geduld verlieren und denen die Hand strafend ausrutscht, selbst bestraft. Singapur gestattet nur Schulleitern oder älteren Lehrern, Jungen über zehn für kleinere Vergehen zu prügeln; Mädchen sind davon ausgenommen. Die Japaner schafften nach dem Zweiten Weltkrieg die Prügelstrafe ab, aber das Gesetz wird oft übertreten und »ein gewisses Maß an körperlicher Bestrafung angewandt«. In der Türkei gibt es die verbreitete Redewendung: »Wo der Lehrer hinschlägt, erblüht eine Rose«. In Lateinamerika ist die körperliche Züchtigung offiziell tabu, aber in einigen ländlichen Gegenden wird der Gürtel benutzt. In Kenia ist die körperliche Züchtigung erlaubt, aber so geregelt, daß sie fast ein Ritual darstellt: Sie kann nur vom Rektor oder dessen Stellvertreter ausgeführt werden, und zwar im Beisein von Zeugen. Alle Einzelheiten müssen in einem »Strafenbuch« verzeichnet werden, wie etwa die Anzahl der Rohrschläge; sie kann nur wegen ungewöhnlicher Vergehen verhängt werden, wie etwa Lügen, Trunkenheit oder die Terrorisierung anderer Schüler. In Belgien kann man sich eine Gefängnisstrafe einhandeln, wenn man einen Schüler schlägt. In Thailand darf die Prügelstrafe nur mit einem Stock ausgeübt werden, der nicht dicker ist als einen Zentimeter.

Viele Länder haben die Prügelstrafe gegen Kinder per Gesetz abgeschafft: dazu gehören Belgien, Dänemark, Ekuador, Finnland, Frankreich, Island, Irland, Israel, Italien, Japan, Jordanien, Luxemburg, Mauritius, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Katar, Rumänien, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, die Länder der ehemaligen UdSSR und Zypern (Bacon/Hyman, 1976). In Polen wurde die Prügelstrafe schon 1783 verboten.

Das Thema Disziplin tauchte in den USA auch im Zusammenhang mit anderen Ereignissen auf und wurde beispielsweise ausgiebig unter Angehörigen des Gesundheitswesens diskutiert. 1962 veröffentlichten der Arzt Henry Kempe und andere ihren inzwischen klassischen Aufsatz: »The Battered Child Syndrome« (Das Syndrom des geprügelten Kindes) im Journal of the American Medical Association (Kempe u. a., 1962). Diese Studie bereitete den Weg für weitere Untersuchungen zum schrecklichen Thema Kindesmißhandlung. Gegen Ende der sechziger Jahre waren in allen fünfzig amerikanischen Bundesstaaten Gesetze verabschiedet worden, nach denen Ärzte und Krankenhäuser Anzeichen von Kindesmißhandlung der Polizei melden mußten. Inzwischen verlangen achtzehn Staaten zusätzlich, daß jeder, der von einer Mißhandlung Kenntnis hat, diese anzeigen muß. 1974 wurde das nationale Zentrum für Kindesmißhandlung und -Vernachlässigung gegründet, um weitere Forschung über die Ursachen von Gewalt an Kindern zu fördern, die Ergebnisse bekannt zu machen sowie präventive Maßnahmen zu beschreiben.

Ich wurde als Berater des Nationalen Komitees für die Verhinderung von Kindesmißhandlung (NCPCA) (1972 von Donna Stone in Chicago gegründet) persönlich mit diesem Problem konfrontiert. Man bat mich, eine Broschüre zu verfassen — »Was alle Eltern wissen sollten« —, in der Eltern mehr als ein Dutzend Alternativen zu strafender Disziplin dargelegt wurden. Diese Broschüre bildete den Anfang einer ganzen Reihe ähnlicher Publikationen der NCPCA für Eltern und Erzieher. Ich beschreibe darin die Alternativen zu körperlicher Züchtigung, wie sie in meinen Kursen unterrichtet werden, und zeige Eltern, wie man sie anwendet (Gordon, 1975). Bei meiner Arbeit in diesem Gremium wurde mir schmerzhaft deutlich, wie weitverbreitet Kindesmißhandlung in den Vereinigten Staaten ist.

Die USA sind zwar als Nation von dem Gedanken besessen, daß Kinder Disziplin brauchen, doch manche Eltern haben zugegebenermaßen gemischte Gefühle, wenn es um die Bestrafung ihrer Kinder geht. Eine Mutter gestand mir in einem meiner Kurse: »Ich gebe meinen Kindern nach, bis ich sie nicht mehr ertragen kann, und dann werde ich so autoritär, daß ich mich selbst nicht mehr ertragen kann.« Wie viele Leser können sich daran erinnern, von den Eltern einen Klaps bekommen zu haben, während sie gleichzeitig den schuldbewußten Satz hörten: »Das tut mir mehr weh als dir.« Ich habe den Verdacht, daß viele Eltern es insgeheim hassen, ihre Kinder körperlich zu strafen. Wer hat schon tatsächlich Spaß daran, jemanden zu strafen, der viel kleiner und schwächer ist als man selbst?

Doch nicht alle amerikanischen Psychologen plädieren für eine prinzipiell gewaltfreie Erziehung. Vor kurzem stieß ich zu meiner Verblüffung auf ein Buch mit dem Titel Parent power von einem Psychologen, Logan Wright. Dieser Autor bekam sogar den Medienpreis eines Psychologenverbandes für dieses Buch. Die ersten beiden Sätze raten Eltern:

Die Parole für alle Eltern, die einigermaßen bei Verstand bleiben wollen, heißt, Kontrolle zu erlangen und aufrechtzuerhalten. Doch der wichtigste Grund für die Kontrolle ist, daß man fähig sein muß, sein Kind zu kontrollieren, ehe man es wirklich unterstützen und lieben kann (kursiv im Original). (Wright, 1980)

Dieses Buch schockierte mich. Ich weiß noch, wie ich es in den Schoß sinken ließ und dachte: »Was geht hier vor? Warum rät ein bekannter Psychologe Eltern, sie sollten ihre Kinder disziplinieren und kontrollieren, bevor sie sie lieben? « Meine Lektüre bildete den Auslöser, Fragen der Disziplin eingehend zu untersuchen mit der Absicht, meine Ergebnisse Eltern und Lehrern bekannt zu machen.

Nun las ich alle Bücher, die die Eltern an die Macht rufen und sie auffordern, mehr Disziplin zu wagen. Ich untersuchte die psychologische Literatur nach Forschungsergebnissen über Fragen der Disziplin, Erziehungsstile usw. Ich fand eine überraschend große Anzahl solcher Untersuchungen, wie Sie im weiteren Verlauf dieses Buches sehen werden.

Bei meinem Vorhaben wurde mir zunehmend klar, wie komplex das Thema Disziplin wirklich ist. Als mir diese Komplexitäten deutlich wurden und ich immer mehr begriff, entschloß ich mich, das Gelernte mit anderen zu teilen, die ebenfalls mehr über Disziplin und deren Wirkung auf Kinder erfahren wollten. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieses Lernens und Diskutierens. In Teil Eins wird der Begriff Disziplin ausführlich dargestellt und untersucht. Ich fand zum Beispiel heraus, daß es verschiedene Arten von Disziplin gibt — einige gut, andere schlecht. Diese Tatsache wird von vielen übersehen. Ich erfuhr, daß Disziplin für die meisten Menschen bedeutet, Strafe und Belohnung wie bei Haustieren einzusetzen. Ich erfuhr, daß Belohnungen bei älteren Kindern nichts erreichen und daß Strafen, um zu wirken, sehr schwer sein müssen. Doch überwiegend stieß ich auf viele wirre Gedanken, weil Bücher über Disziplin nicht anerkennen, daß es mehrere verschiedene Arten von Autorität gibt — einige wohlwollend, andere schädlich. Ich erfuhr, daß Strafen, besonders milde, manchmal auf Kinder wie Belohnungen wirken können; Belohnungen hingegen werden manchmal als Strafen empfunden. Ich entdeckte, daß Strafen kein Heilmittel gegen Aggressionen von Kindern sind, wenn diese etwa ein kleineres Geschwister schlagen, sondern gewöhnlich den Grund für Aggression gegenüber anderen darstellen.

Ich stelle zahlreiche wirksame Alternativen zu strafender Disziplin zu Hause und in der Schule vor, die alle ohne Machtausübung wirken. Sie werden allgemein Ihre Durchsetzungsfähigkeit im Umgang mit störendem oder inakzeptablem Verhalten bei Kindern verbessern, die von Erwachsenen auferlegte Disziplin durch Selbstdisziplin ersetzen, die Kontrolle von Kindern durch Erwachsene durch Selbstkontrolle des Kindes ersetzen, einseitige Grenzziehung und Erwachsenenregeln durch Regeln und Grenzen ersetzen, die Erwachsene und Kinder gemeinsam festlegen, Konfliktlösungen mit Sieger und Verlierer durch solche ersetzen, bei denen keiner verliert (oder gewinnt). Mein Ziel im Zweiten Teil des Buches besteht darin, diese wirksameren, demokratischeren, menschlicheren Methoden zu erklären und zu veranschaulichen.

Eine Tatsache wurde mir bei der Erforschung des Themas Disziplin klar: Wir wenden als Gesellschaft die falschen Strategien an, um selbstzerstörerisches und gesellschaftlich inakzeptables Verhalten bei jungen Menschen zu verringern, das mit schockierender Häufigkeit auftritt — Alkoholismus, Rauchen, Drogenmißbrauch, Straffälligkeit, Schulabbruch, Alkohol am Steuer, Vandalismus und andere Formen von Gewalt, Frühschwangerschaften, Vergewaltigung und Selbstmord. Das zunehmend häufigere Auftreten dieser Verhaltensweisen ist sicher ausreichender Beweis dafür, daß die Methoden, mit denen wir herkömmlicherweise Kinder zu Hause und in der Schule diszipliniert haben, nichts erreichen. Diese Art von Disziplinierung von Kindern ist vielleicht eher die Ursache für, denn ein Heilmittel gegen dieses unerwünschte Verhalten.

Die traditionellen Strategien, mit denen man diesen schwerwiegenden Problemen begegnen will, versuchen, etwas mit dem Kind zu tun. Die Strategien, die Eltern, Schulvertreter, die Polizei, Jugendgerichte und staatliche Förderprogramme beispielsweise regelmäßig gegen Alkoholismus, Rauchen, Drogenmißbrauch und Trunkenheit am Steuer einsetzen, konzentrieren sich auf das Kind. Es gibt Kurse, in denen die Jugendlichen aufgeklärt oder mit den Gefahren dieser selbstzerstörerischen Verhaltensweisen abgeschreckt werden, Programme, die Kinder überreden, »nein« zu sagen, Gesetze, die die Strafen für Jugendliche verschärfen, Beratung und Therapie, Kurse für Eltern, in denen sie überzeugt werden, strenger zu den Kindern zu sein (natürlich aus Liebe), »zu wissen, wo das Kind ist«, oder »zu Hause zu sein, wenn das Kind aus der Schule kommt«, und so weiter. Je mehr ich über die Hauptursachen des Verhaltens erfahren habe, das die Jugendlichen schädigt und unsere Gesellschaft schwächt, um so stärker wuchs meine Überzeugung, daß unsere größte Hoffnung hinsichtlich einer Verhinderung in einer anderen Strategie liegt — nämlich, den Erwachsenen, die mit Kindern umgehen, zu helfen, neue Methoden zu erlernen, wie man sich in Familien, Schulen und Jugendorganisationen verhält. Zu dieser Vorgehensweise gehört, daß Erwachsene lernen, sich in ihrer Familie, ihrer Schulklasse, ihrer sozialen Gruppe auf demokratischere, weniger autoritäre Weise durchzusetzen — und nicht anders herum, wie mancher uns einzureden versucht.

Teil Eins

WAS IST DISZIPLIN?

KAPITEL EINS

Definitionen und Bedeutungen

Einer meiner Lieblingsprofessoren an der Universität plagte seine Studenten immer mit dem apodiktischen Satz: »Definieren Sie Ihre Begriffe präzise, wenn Sie eine intelligente Diskussion führen wollen.« Aber genau das scheinen die meisten Leute nicht zu tun, wenn sie über Disziplin diskutieren, und darauf beruhen viele Mißverständnisse. Wir beschreiben auf den folgenden Seiten diese verbreiteten Mißverständnisse und klären damit hoffentlich über die falschen Aspekte der Disziplindebatte auf.

Hauptwort und Verb

Es ist sehr wichtig, gleich zu Anfang den wichtigen Unterschied zwischen Disziplin und disziplinieren zu beachten. Mit dem Substantiv meinen wir gewöhnlich ein Verhalten oder eine Ordnung, das oder die den allgemeinen Regeln und Anweisungen entspricht, oder aber ein Verhalten, das man mit Übung aufrechterhält, wie bei »Disziplin im Klassenzimmer«, oder die »Disziplin einer guten Handballmannschaft«.

Über diese »Disziplin« gibt es nur selten eine Debatte. Jeder scheint sie zu begrüßen. Mit diesem Wort verbinden sich Begriffe wie Ordnung, Organisation, Kooperation, Wissen, Regeln und Vorschriften folgen sowie die Berücksichtigung der Rechte anderer.

Das Verb disziplinieren wird in meinem Wörterbuch so definiert: »Jemanden durch Übung und Kontrolle in einen Zustand der Ordnung und des Gehorsams bringen, so wie strafen, bestrafen, korrigieren, züchtigen.«

Der Lehrer disziplinierte die Kinder, die geschwatzt hatten, indem er sie nachsitzen ließ.

Wenn Kinder zu Hause nicht diszipliniert werden, fallen sie in der Schule als Unruhestifter auf.

Bei Diskussionen über Disziplin wird sehr häufig angenommen, daß die einzige Möglichkeit, Disziplin zu erringen, für Eltern und Lehrer darin besteht, rigoros zu disziplinieren — und das heißt, Kinder zu kontrollieren, zu strafen, zu korrigieren und zu züchtigen.

Ich habe ausreichend Beweise gefunden, die diese noch vielfach verbreitete Annahme widerlegen. Ich habe sogar festgestellt, daß die Disziplinierung von Kindern vermutlich die am wenigsten wirksame Methode darstellt, wie man zu Hause oder in der Schule Disziplin erreicht. Untersuchungen haben gezeigt, daß die Disziplin im Klassenzimmer immer sofort zusammenbricht, wenn der Lehrer/Strafende den Raum verläßt oder sich zur Tafel dreht. Auch zu Hause hat das jeder schon einmal beobachtet. Weil zur Disziplinierung von Kindern außerdem Macht gehört, gewöhnlich in Form von Strafen oder der Drohung damit, wehren sich Kinder gegen eine solche strafende Macht, indem sie rebellieren, sich sträuben, sich rächen oder lügen — sie versuchen alles, um zu vermeiden, gezwungen, eingeschränkt oder kontrolliert zu werden.

Forschungen haben ebenfalls erwiesen, daß Strafprozeduren bei Kindern Aggression und Gewaltverhalten auslösen — die häufiger bestraften Kinder zeigen im Vergleich zu Kindern, die zu Hause selten oder gar nicht bestraft werden, mehr Aggressionen, mehr Hyperaktivität und Gewalt gegenüber anderen Kindern. In einer Studie fand man heraus, daß fast 100 Prozent von bestraften Kindern im Jahr der Untersuchung einen Bruder oder eine Schwester angegriffen hatten, während dies auf nur 20 Prozent der Kinder von Eltern zutraf, die keine körperlichen Strafen anwendeten. (Straus/Gelles/Steinmetz, 1980)

Die Erfassung des Unterschiedes zwischen Disziplin und disziplinieren ist auch aus einem anderen Grund äußerst wichtig. Daran wird deutlich, daß es bei der Disziplindebatte eigentlich darum geht, wie wir mit den Kindern umgehen sollen (es geht um die Mittel), und nicht darum, was wir von ihnen erwarten (Ziel). Die meisten Menschen sind wohl der Meinung, daß unsere Kinder ordentlich, kooperativ und rücksichtsvoll sein sollten — zu Hause wie auch in der Schule —, aber es besteht ein deutlicher Unterschied in der Auffassung, ob disziplinieren das beste Mittel ist, um Disziplin zu erreichen, das allgemein anerkannte Ziel.

Lehren oder Kontrollieren

Auch in der Verbform hat »disziplinieren« zwei verschiedene Bedeutungen. Mit der ersten haben wir uns gerade befaßt — man diszipliniert mit dem Ziel der Kontrolle. Die zweite Bedeutung hat mit dem Akt des Unterweisens, Unterrichtens, Erziehens zu tun. Im Wörterbuch finden wir die Erklärung: »Mit Unterweisung und Übung lehren, drillen.« In einem anderen Lexikon der Synonyme fand ich die folgenden Begriffe für diese lehrende/unterrichtende Art des Disziplinierens:

trainieren, beraten, drillen, instruieren, lehren, unterweisen, Lektionen erteilen, schulen, bilden, informieren, aufklären, eintrichtern, indoktrinieren, vorbereiten, qualifizieren, heranzüchten, herausarbeiten, führen, vertraut machen.

Hier haben wir es mit einer weiteren Form von Disziplin zu tun, über die es nur selten Meinungsverschiedenheiten gibt. Nur selten wird gefragt, ob es wünschenswert sei, wenn Erwachsene eine oder mehrere der genannten Funktionen bei Kindern und Jugendlichen ausüben. Die meisten würden vielmehr meinen, es sei die Pflicht vernünftiger Eltern und kompetenter Lehrer, diese Art von Training, Beratung und Leitung anzubieten. Niemand will diese Art von Disziplinieren, das Lehren, Ausbilden, Informieren, abschaffen. Um die kontrollierende Art der Disziplinierung wird jedoch heiß gestritten. Betrachten wir zunächst einmal die Synonymliste für diese Art von Disziplin:

kontrollieren, korrigieren, anweisen, regieren, überwachen, beaufsichtigen, vorsitzen, steuern, in Ordnung halten, regulieren, reglementieren, einschränken, überprüfen, eingrenzen, zurückhalten, verhaften, fesseln, zügeln, zurückhalten, an die Leine legen, zum Schweigen bringen, beherrschen, einsperren, hemmen, strafen, ermahnen, schimpfen, beschuldigen, kritisieren, bestrafen, züchtigen.

Offensichtlich haben wir es hier mit etwas gänzlich anderem zu tun als bei der Disziplin des Lehrens/Trainierens/ Informierens. Der Blutdruck steigt, und der Geräuschpegel bei Diskussionen nimmt zu bei Begriffen wie kontrollieren, reglementieren, einschränken, zügeln, zum Schweigen bringen, züchtigen, strafen —besonders beim letzteren.

Ich bin überzeugt, daß diese Art von Disziplin weder für meine Kinder noch für andere gesund ist, doch erstaunlich viele Eltern und Lehrer stehen hartnäckig hinter dieser Art von Disziplin, die mit Kontrolle und Restriktion arbeitet. In den meisten Leitfäden für amerikanische Eltern wird sogar behauptet, daß Kinder dies nicht allein bräuchten, sondern sogar wünschten, daß sie sich ohne Disziplin unsicher fühlten, daß sie glaubten, man liebe sie nicht, wenn man sie nicht anwendet, daß sie ohne diese Art von Disziplin zu unkontrollierbaren kleinen Ungeheuern würden. Ich möchte jede einzelne dieser unhaltbaren Thesen in den folgenden Kapiteln in Frage stellen.

Man muß sich auch klarmachen, daß die lehrende Art der Disziplinierung einen Versuch darstellt, Kinder zu beeinflussen,während es bei der anderen Art stets darum geht, sie zu kontrollieren.

Der Unterschied zwischen der Kontrolle von Kindern und deren Beeinflussung ist nicht sonderlich bekannt, aber überaus wichtig. Offensichtlich wünschen sich die meisten Eltern und Lehrer nichts sehnlicher als die Fähigkeit, junge Menschen zu beeinflussen und damit eine positive Wirkung auf deren Leben zu haben. Aber in ihrem Eifer, sie zu beeinflussen, tappen die meisten Erwachsenen leider in eine Falle. Statt ausschließlich Beeinflussungsmethoden anzuwenden, setzen sie Grenzen, geben sie Befehle, kommandieren, strafen oder drohen mit Strafen. Diese Kontrollmethoden beeinflussen Jugendliche allerdings keineswegs: Sie zwingen sie lediglich zu etwas. Und wenn ein Kind zu etwas gezwungen wird, wird es nicht wirklich beeinflußt; auch wenn es sich fügt, tut es dies gewöhnlich nur aus Angst vor Strafe.

Um auf das Leben junger Menschen grundsätzlichen und dauerhaften Einfluß zu nehmen, müssen Erwachsene die machtorientierten Methoden zur Kontrolle von Kindern unterlassen und statt dessen bestimmte neue Methoden anwenden, die ihren positiven Einfluß auf das Leben der Kinder verbessern. Diese Methoden werde ich in den folgenden Kapiteln beschreiben. Sie dienen dazu, die natürliche Abneigung von Kindern gegenüber Veränderungen zu verringern, Kinder zu motivieren, Verantwortung für eigene Verhaltensänderungen zu übernehmen, Kinder zu beeinflussen, sich an Abmachungen zu halten, und die Rücksicht in Kindern gegenüber anderen zu fördern.

Hier nun eine kleine psychologische Weisheit, die vielleicht paradox klingt: Man gewinnt bei Kindern mehr Einfluß, wenn man aufhört, Macht zu ihrer Kontrolle einzusetzen! Das Gegenteil stimmt allerdings auch: Je mehr man Macht einsetzt, um Menschen zu kontrollieren, desto weniger Einfluß hat man auf ihr Leben. Warum? Weil Machtmethoden Widerstand auslösen (nicht tun, was die Erwachsenen wollen), Rebellion (das Gegenteil tun) oder Lügen (etwas nicht tun, aber behaupten, es getan zu haben).

Disziplin von außen und Selbstdisziplin

Lassen Sie uns nun zwischen zwei radikal verschiedenen Arten von Kontroll-Disziplinierung unterscheiden. Die eine wird von außen angewendet oder auferlegt, die andere stammt von innen, ist »selbstauferlegt«. Disziplin durch andere oder die Disziplin durch das Selbst — Kontrolle durch andere im Gegensatz zu Selbstkontrolle.

Jeder kennt den Begriff Selbstdisziplin, aber was bedeutet er eigentlich? Psychologen benutzen den Terminus »Standort der Kontrolle«, der hier vielleicht weiterhelfen kann. Ihre Untersuchungen haben gezeigt, daß manche Menschen meinen, diesen »Standort« in sich selbst zu tragen. Bei Selbstkontrolle ist der Platz der Kontrolle in einem selbst, aber wenn die Disziplin durch andere auferlegt wird, befindet sich der Standort der Kontrolle außerhalb der Person — nämlich im Kontrollierenden.

Daß Selbstkontrolle wünschenswert ist, wird nicht bezweifelt. Jeder legt wohl großen Wert darauf, daß Kinder zur Selbstkontrolle, zur Selbstregulierung und Selbstdisziplin fähig sind. Es bestehen jedoch große Meinungsverschiedenheiten darüber, wie man diese wünschenswerten Charaktereigenschaften bei Kindern und Jugendlichen am besten fördert. Wir stehen wieder vor dem Grundkonflikt über die Mittel, mit denen man dieses bestimmte Ziel erreicht.

Die meisten Eltern und Lehrer vertreten die Position, daß Kinder schließlich automatisch eine innere Kontrolle entwickeln, aber als direkte Folge der äußeren Kontrolle, die Erwachsene anwenden (Disziplin). Diese Überzeugung wurzelt in der bekannten Freudschen Theorie, daß Kinder beim Älterwerden allmählich die früherlebten Zwänge und Kontrollen der Eltern und anderer Erwachsener internalisieren und schließlich diese äußeren Kontrollen in innere Kontrolle und Selbstdisziplin verwandeln.

Heutzutage gibt es ausreichend Beweise, die diese Freudsche Theorie widerlegen. Die Alltagserfahrung sagt uns, daß sich Selbstdisziplin nicht auf diese Weise entwickelt. Denken wir an das Sprichwort: »Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.« Na, und wenn die erwachsenen Kontrolleure ihnen den Rücken kehren, zeigen die Kinder gewöhnlich nur wenig Selbstkontrolle. Manchmal tun sie genau das, was die erwachsene Autorität ihnen zuvor verboten hat. Erinnern wir uns auch an das, was man über Pastorenkinder sagt: Anfangs sind sie immer ganz gehorsam, unterwürfig und artig, aber als Jugendliche verwandeln sie sich oft in Rebellen und Unruhestifter. Kinder, die sich der elterlichen Autorität sanftmütig unterwerfen, werden später oft zu rebellischen, ja manchmal kriminellen Jugendlichen, unfähig zu jeglicher Selbstkontrolle und Selbstdisziplin.

Selbstdisziplinierte junge Menschen sind jedoch diejenigen, denen immer schon beträchtliche persönliche Freiheit zugestanden wurde. Und warum? Weil ihnen die Chance gegeben wurde, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Kinder lernen nur dann, ein Verhalten, das Erwachsene als störend empfinden, zu kontrollieren und zu begrenzen, wenn die Erwachsenen ihnen ähnliche Rücksicht erwiesen haben. Kinder wenden Selbstkontrolle an, um Regeln zu folgen, wenn ihnen die Chance gegeben wurde, sich mit den Erwachsenen an der Diskussion zu beteiligen, wie diese Regeln aussehen sollen. Im Verlauf dieses Buches hoffe ich, den Leser davon zu überzeugen, daß von Erwachsenen disziplinierte Kinder nicht automatisch zu disziplinierten Erwachsenen werden, und ich werde die Beweise dafür vorlegen. Es stimmt zwar, daß die Disziplinierung durch Erwachsene manchmal gehorsame, furchtsame, unterwürfige und geduckte Kinder produziert. Doch für wirklich selbst-disziplinierte Kinder trifft das nicht zu.

Meinungsunterschiede über Grenzen

In den meisten Diskussionen über Disziplin taucht noch ein weiteres Mißverständnis auf. Es geht dabei um die Vorstellung von Grenzen. Alle Eltern und Lehrer erkennen es als notwendig an, daß Kinder mit bestimmten Grenzen aufwachsen, aber nur wenige begreifen, daß es einen Unterschied ausmacht, wie diese Grenzen errichtet werden. Wieder geht es darum, welche Mittel angewendet werden.

Die Vertreter der Disziplin-Schule verkünden im Brustton der Überzeugung: »Kinder brauchen Grenzen, und Kinder wollen Grenzen. « Doch das ist eine gefährliche Halbwahrheit. Es ist zwar in der Tat notwendig, daß Kinder das Gefühl haben, ihrem Verhalten würden, vorwiegend zum Vorteil anderer, Grenzen gesetzt. Aber was für ein Unterschied ist zu beobachten in den Reaktionen von Kindern auf Grenzen, die ihnen ein Erwachsener gesetzt hat, und solchen, bei deren Festsetzung sie mitreden konnten! Sehr deutlich wird das in einem späteren Kapitel, in dem ich zeige, wie Eltern und Lehrer das einflußreiche »Prinzip Partizipation« benutzen können, um Kinder an gemeinsamen Problemlösungen zu beteiligen, aus denen Vereinbarungen, Abmachungen, Regeln und Grenzen entstehen, die tatsächlich Wirkung haben. Ich glaube, Sie werden dann überzeugt sein, daß Kinder viel motivierter sind, sich an Vereinbarungen zu halten, wenn die Erwachsenen sie mitbestimmen lassen, wie ihrem eigenen Verhalten Grenzen gesetzt werden.

Familien und Schulklassen brauchen bestimmte Regeln und deutliche Verhaltenserwartungen. Wenn man Kindern die Gelegenheit dazu gibt, sind sie durchaus fähig, gemeinsam mit Eltern oder Lehrern die Regeln zu setzen und Abmachungen zu treffen, die ihr Verhalten bestimmen. Klassenverbände und Familien können sich ohne erwachsene Vorherrschaft wirksam selbst lenken, ohne daß jemand der Boß ist, der Regelmacher. Man kann die drohende Warnung aller Disziplinierungsbücher vergessen, daß ohne die Regeln einer erwachsenen Autorität Anarchie, Chaos und Verwirrung herrschen. Das stimmt nämlich nicht.

Wenn man Kindern vielmehr die Gelegenheit gibt, an der Aufstellung von Regeln mitzuwirken, entdecken die Familien oft, daß sie mehr Regeln als vorher haben, an die sich alle halten. Die kritische Frage lautet dann nicht, ob Grenzen und Regeln in Familien und Schulen nötig sind, sondern eher, wer sie setzt: Die Erwachsenen allein oder Erwachsene und Kinder gemeinsam?

Soll man streng oder nachsichtig-tolerant sein?

Ich bezweifle, daß es Eltern gibt, die sich nicht irgendwann mindestens einmal über diese Frage den Kopf zerbrochen haben. Bei Lehrern ist die Unsicherheit genau so verbreitet, wie sie sich vor der Klasse verhalten sollen — tolerant oder streng, als strikter Disziplinierer oder freundlich-nachgiebig.

Streng oder nicht streng — das ist hier die Frage. Es handelt sich sogar um die vordringlichste Frage unter Erziehungswissenschaftlern, Eltern, Schulbehörden und Lehrern. Sie wird in Büchern diskutiert und auf Konferenzen abgehandelt. (Ist Ihnen übrigens schon einmal aufgefallen, daß man nur selten hört, daß ein Lehrer oder Eltern von sich sagen: »Ich bin autoritär« oder: »Ich bin weich«? Diese Bezeichnungen bleiben immer demjenigen vorbehalten, mit dem man gerade nicht einer Meinung ist.)

Die Frage, streng oder nachsichtig, wird von Sozialwissenschaftlern als »Pseudoproblem« bezeichnet. Sie ist ebenfalls ein deutliches Beispiel für »Schwarzweiß-Denken«. Ich will das erklären:

Nur selten lerne ich Eltern oder Lehrer kennen, die begreifen, daß es nicht notwendig ist, sich zwischen diesen beiden Führungsstilen zu entscheiden. Das wissen nur wenige Erwachsene, aber es gilt eine Alternative zu der Entscheidung für einen der beiden Pole auf dieser Verhaltensskala. Es gibt einen dritten Stil.

Die Alternative, die viele vielleicht als Segen empfinden, heißt, weder autoritär noch nachsichtig zu sein, weder streng noch duldsam. Heißt das, man befindet sich irgendwo in der Mitte — gemäßigt streng, maßvoll nachsichtig? Nein. Die Alternative hat mit der Skala überhaupt nichts zu tun.

Autoritärer Führungsstil — ob zu Hause oder in der Schule — bedeutet, die Kontrolle liegt in der Hand des erwachsenen Leiters; tolerante (permissive) Führung bedeutet, man hat den Kindern Kontrolle und Regelsetzung »erlaubt« (»Hier herrschen Kinder«). In den Schulen herrscht und kontrolliert, wie auch die Kleinsten schon wissen, die Mehrzahl der Lehrer, und sie erwarten Gehorsam. Ein kleiner Teil der Lehrer gilt als tolerant. Sie kontrollieren oder herrschen nicht, und infolgedessen geht es in ihren Klassen oft laut und chaotisch zu, es wirkt ungeregelt, unordentlich, ohne Grenzen oder Einschränkungen.

Kein Elternteil oder Lehrer will wirklich unter den chaotischen Konsequenzen regelloser Unordnung leiden. Kinder selbst freuen sich nicht über Grenzenlosigkeit zu Hause oder in der Schule. (Ich werde nie den Tag vergessen, als meine Tochter am ersten Tag in der Mittelschule nach Hause kam und klagte: »Das wird ein schreckliches Jahr. Ich habe zwei autoritäre Lehrer und zwei tolerante.«)

Es trifft auch zu, daß den meisten Kindern angesichts der Folgen ihres ungeregelten Verhaltens unwohl ist. Kinder toleranter Eltern fühlen sich oft schuldig, weil sie sich immer durchsetzen. Sie fühlen sich unsicher, ob sie geliebt werden, weil ihr rücksichtsloses Verhalten sie nicht liebenswert macht. Ein zentraler Gedanke dieses Buches ist, daß es eine wesentlich bessere und leichtere Methode gibt, mit Kindern umzugehen — eine mögliche und wirksame Alternative zu autoritärer und toleranter Führung. Es fehlt ihr nur ein guter Name (mir ist bislang noch kein vernünftiger eingefallen). Dennoch bin ich überzeugt, daß ich die Hauptelemente dieser Alternative festgestellt habe, und ich werde in den folgenden Kapiteln die Fähigkeiten und Methoden beschreiben, die man für diese neue Art des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen braucht.

Im Moment möchte ich nur betonen, daß dieser neue Zugang zu jungen Menschen auf einer Veränderung darin beruht, wie Erwachsene Kinder wahrnehmen, aber auch darin, wie sie sie behandeln. Doch diese Veränderung braucht nicht schwierig zu sein. Eltern benötigen nur die Bereitschaft, ein paar neue Methoden und Fähigkeiten zu erlernen.

Wenn Eltern und Lehrer begreifen, daß es eine Alternative — und zwar eine wirksamere — zu autoritärem wie auch nachsichtigem Verhalten gibt, lassen sie sich kaum mehr in die fruchtlosen Streitereien um »streng oder weich«, »autoritär oder tolerant« verwickeln. Wenn Eltern und Lehrer einfach nur besser darüber informiert sind, wie unwirksam Kontrolle durch Macht ist, lassen sie sich nicht mehr von verführerischen Versprechen derjenigen verlocken, die nach strengerer Disziplin in Familien und Schulen verlangen. Und wenn man die Nachteile der übergroßen Nachsichtigkeit erkennt, kann man auch vermeiden, den Versprechen derjenigen zu erliegen, die sich dafür einsetzen, den jungen Menschen zu Hause und in der Schule grenzenlose Freiheit zu gewähren.

Die verschiedenen Bedeutungen von »Autorität«

Immer, wenn man über Disziplin diskutiert oder debattiert, kann man damit rechnen, daß der Begriff »Autorität« auftaucht. Leider trägt dieser Begriff unweigerlich zur allgemeinen Verwirrung und zum unscharfen Denken bei, die bereits das Thema Disziplin umgeben. Die »Disziplinierer« drängen Eltern und Lehrer ständig, im Umgang mit Kindern und Jugendlichen »Autorität auszuüben«, und sie behaupten, Kinder bräuchten sie, wollten sie und wären glücklicher, wenn sie sie bekämen. Sie bejammern auch den »Zusammenbruch der Autorität« in Schulen und Familien und wünschen, daß die Kinder von heute die Autoritäten ebenso respektieren, wie es vermeintlich früher der Fall war. Die Fürsprecher strenger Disziplin stoßen schreckliche Warnungen aus, was in Schulen und Familien ohne Erwachsenenautorität geschähe. James Dobson, ein konservativer, an der Bibel orientierter Autor, fürchtet, ohne Autorität »gibt es unvermeidlich Chaos und Verwirrung und Unordnung in allen menschlichen Beziehungen«. (Dobson, 1978) Diejenigen, die Eltern und Lehrern anraten, machtbegründete Autorität anzuwenden, weisen typischerweise stets darauf hin, diese müsse »liebevoll« oder »gütig« sein. Sie ersetzen häufig das Wort Autorität durch Leitung oder Führung und betonen dann, diese müsse »wohlwollend« sein. Interessanterweise hört man von den Autoritätsvertretern nie, daß Eltern und Lehrer »autoritär« sein sollen. Dieses Wort benutzen sie niemals, obwohl die erste Definition des Adjektivs autoritär in meinem Wörterbuch lautet: Autorität befürworten; die erste Definition des Substantivs Autorität schließt die »Disziplinierer« ein.

Um ihr Argument zu belegen, behaupten die »Disziplinierer« gewöhnlich, Kinder würden Autorität respektieren, zu ihr aufblicken, sich ihr unterwerfen, sich auf sie verlassen. Dann aber ergibt es keinen Sinn, daß sie sich solche Sorgen darüber machen, wenn Jugendliche gegen die Autorität von Lehrern und Eltern rebellieren, daß sie gegen den »Zusammenbruch der Autorität« unter der heutigen Jugend wettern (Beweis, daß die Erwachsenenautorität nicht immer Respekt und Gehorsam erzeugt). Keines der etwa ein Dutzend Bücher der Advokaten für elterliche Macht, die ich studiert habe, befaßt sich mit dieser kritischen Frage: Wenn Kinder Autorität respektieren, wollen, brauchen und sich ihr unterwerfen, warum erleben wir dann unter jungen Menschen so weit verbreitete Rebellion und Widerstand dagegen, solche Feindseligkeit und fehlenden Respekt gegenüber den Erwachsenen, die sie anwenden?

Wichtiger aber noch ist, daß in keinem der Bücher, Artikel oder Videos, die in den USA von den Befürwortern von Disziplin verbreitet werden, die Tatsache anerkannt wird, daß nicht alle Autorität gleich ist. Es ist übrigens zu bedauern, daß es in der englischen Sprache mindestens vier verschiedene Bedeutungen von Autorität gibt, denn ein Konsens darüber läßt sich daher nur sehr schwer herstellen. Autorität ist kein einheitliches Konzept. Ohne das anzuerkennen, können wir niemals eine intelligente Diskussion über Autorität führen oder ein deutliches Verständnis dieses Begriffs erlangen. Lassen Sie mich die vier Definitionen darlegen:

1. Auf Erfahrung gegründete Autorität. Diese Art Autorität leitet sich von der Erfahrung einer Person ab — von deren Wissen, Ausbildung, Fähigkeit, Weisheit, Bildung. Wir sagen zum Beispiel: »Er ist eine Autorität auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts«, »Das Buch wird zur Autorität über den Zweiten Weltkrieg«, »Verlassen wir uns auf die Autorität des Wörterbuchs«, »Sie spricht mit Autorität«. Wir nennen dies E-Autorität — weil sie auf Erfahrung beruht.

In unserer Familie wird häufig E-Autorität angewendet. Meine Tochter und meine Frau beeinflussen mich häufig bei der Auswahl meiner Kleidung, indem sie mir sagen, dies oder jenes passe nicht zusammen. Gewöhnlich akzeptiere ich auf diesem Gebiet ihre Erfahrung. Oft (aber nicht immer) kann ich meine Frau beeinflussen, meinen Anweisungen zu folgen, wenn sie am Steuer sitzt und wir durch eine fremde Stadt fahren, weil sie gewöhnlich meine Erfahrung im Orientieren anerkennt, eine Fähigkeit, die ich bei der Armee gelernt habe.

Andererseits akzeptiere ich gewöhnlich ihren Einfluß bei Dingen wie der Einhaltung von Verabredungen mit Freunden oder wenn sie mich auffordert, versprochene Briefe zu schreiben oder Geburtstagsgeschenke zu kaufen, weil ich weiß, daß ihr Gedächtnis für Daten und Ereignisse unendlich viel besser ist als meines.

2. Auf Stellung oder Titeln beruhende Autorität. Diese zweite Autorität beruht auf der Position, Stellung oder dem Titel einer Person oder einer gegenseitig anerkannten Stellenbeschreibung, die die Pflichten, Funktionen und Verantwortlichkeiten einer Person beinhaltet. Ein Flugkapitän hat diese Art Autorität über seine Mannschaft und die Passagiere. Einer Richterin gibt man die Autorität, die Sitzung zu eröffnen und zu beenden, ein Polizist hat die Autorität, einen Strafzettel auszustellen, eine Lehrerin hat die Autorität, Schülern zu sagen, sie sollten ihre Bücher herausholen. Ein Chef hat die Autorität, die Sekretärin zum Diktat zu bitten, ein Postbote hat die Autorität, das Geld für einen unfrankierten Brief zu kassieren, ein Autofahrer hat die Autorität, seine Mitfahrer aufzufordern, den Sicherheitsgurt anzulegen. Wir nennen dies J-Autorität, wobei das J für Job steht. Manchmal nennt man sie auch designierte oder legitimierte Autorität.

Achten Sie auf die Schlüsselbegriffe »gegenseitig anerkannte« und »vereinbarte« Positionsbeschreibung. Damit diese Art von Autorität in menschlichen Beziehungen funktioniert, müssen die Beteiligten das Recht der »Autoritäts«-Person akzeptieren — sanktionieren, sie beauftragen, unterstützen, anerkennen —, einen Teil ihres Verhaltens zu bestimmen (natürlich nicht das gesamte). Meine Sekretärin würde wohl nur selten nachgeben, wenn ich sie aufforderte, mir eine Tasse Kaffee zu holen, weil dieser Job nicht zu den Aufgaben in ihrer Stellenbeschreibung gehört. Abgesehen davon weiß ich, daß sie etwas dagegen hat, daß man von Frauen in Büros automatisch erwartet, den Kaffee für die Männer zu holen.

In unserer Familie gibt es viele Interaktionen, in denen J-Autorität eine wichtige Rolle spielt. Wir haben eingespielte Abmachungen, wer welche Aufgaben erledigt. An den drei Abenden in der Woche, an denen ich koche, kann es sein, daß meine Frau oder meine Tochter, die noch zu Hause lebt, mich bitten, ihnen ein Glas Milch oder die Mayonnaise zu holen. Das tue ich dann. Und da das Füttern und Waschen unseres Hundes Aufgabe meiner Tochter ist, wird auch akzeptiert, wenn ich sage: »Du hast Katie heute noch nicht gefüttert«, oder »Katie braucht ein Vollbad.« Und da wir vereinbart haben, daß der Wocheneinkauf meine Sache ist, ist es legitim und sicherlich akzeptabel, wenn meine Tochter einen Zettel schreibt, auf dem steht: »Kauf nicht den flusigen Orangensaft für mich, ich mag den anderen lieber.«

Alle Pflichten und Verantwortlichkeiten in den angeführten Beispielen hatten ihre Berechtigung, weil sie bei einer Gruppenentscheidung unter Beteiligung aller vereinbart wurden. Bei diesem Prozeß gelangt man zu einer Entscheidung, die für alle akzeptabel ist. Aufgrund dieser gegenseitigen Akzeptierung von Entscheidungen gewinnt die J-Autorität erstaunliche Kraft bei der Beeinflussung von Verhalten. Verstehen Sie, warum das manchmal »legitimierte« Autorität genannt wird?

3. Autorität aufgrund von informellen Verträgen. Die dritte Art von Autorität in menschlichen Beziehungen leitet sich von den vielen Abmachungen, Vereinbarungen und Verträgen ab, die Menschen in den alltäglichen Interaktionen eingehen. Ich sage zum Beispiel morgens zu, meine Tochter um vier Uhr nachmittags in die Werkstatt zu fahren, damit sie ihr Auto abholen kann. Das Versprechen hat eine Menge Konsequenzen (Autorität, wenn man so will), weil sie mich beeinflußt, wann ich mein Büro verlasse und sie treffe, um die Vereinbarung einzuhalten. Wir nennen diese Art V-Autorität, wobei das V für Vertrag und Verpflichtung steht. Ein häufig wiederkehrendes Beispiel bei uns für V-Autorität ist das Abkommen, daß wir immer zu Hause anrufen, wenn wir uns verpflichtet haben, zu einem bestimmten Zeitpunkt dazusein, und merken, daß wir es nicht rechtzeitig schaffen können. Der Sinn dieser Abmachung ist offenkundig: Sorgen und Angst zu vermeiden.

Wir haben auch schon seit Jahren die ungeschriebene Abmachung, anzuklopfen, ehe wir das Zimmer eines anderen betreten. Diese Vereinbarung hat uns immer stark beeinflußt, und immer, wenn es einer mal vergißt, bestärkt der andere die Regel, indem er den »Eindringling« mit einem kräftigen: »He, wie wär’s mit Anklopfen?« konfrontiert.

Seit Jahren haben meine Frau und ich die Vereinbarung, daß derjenige, der zuerst wach wird und aufsteht, unten den Kaffee macht, die Zeitung hereinholt und beides demjenigen nach oben bringt, der noch im Bett liegt. Wer zuletzt noch oben ist, macht die Betten.

Andere Abkommen und Vereinbarungen in unserer Familie sind:

Meine Frau kümmert sich um die Topfpflanzen. Ich mache gewöhnlich sonntags das Frühstück. Meine Frau sitzt beim Fernsehen auf dem Sofa, ich im Sessel. Meine Tochter ist für ihre Hausaufgaben allein verantwortlich — ob sie sie macht oder nicht, und auch dafür, wann und wo sie sie macht.

V-Autorität gewinnt ihren starken Einfluß aus den persönlichen Verpflichtungen, die sie jeweils beinhaltet.

Ich werde in einem späteren Kapitel V-Autorität eingehender beschreiben und Beispiele geben, wie man junge Menschen zu Hause und in der Schule damit beeinflussen kann.

4. Auf Macht beruhende Autorität. Die vierte Art von Autorität leitet sich von der Person ab, die die Macht über andere hat. Ich nenne diese Art M-Autorität — wegen der Macht, zu kontrollieren, zu beherrschen, zu zwingen, den Willen anderer zu brechen, andere zu veranlassen, zu tun, was man will. Diese Art von Autorität steht fast immer im Vordergrund, wenn Leute verkünden, Eltern und Lehrer bräuchten Autorität und müßten sie ausüben; wenn sie wünschen, Kinder würden erwachsene Autorität »respektieren«, wenn sie über einen »Zusammenbruch von Autorität« in Familien und Schulen reden, wenn sie wollen, daß Kinder gegenüber Autoritäten gehorsam sind, wenn sie sich über Kinder beklagen, die »gegen Autoritäten rebellieren«. M-Autorität ist auch diejenige, die wir meinen, wenn wir von einer »Hierarchie von Autoritäten« in Organisationen sprechen. Ich werde im nächsten Kapitel eingehend erklären, wie Erwachsene Belohnungen und Strafen als Quelle von Macht und Autorität benutzen, um Kinder zu kontrollieren, und warum das so oft nicht klappt. Ich werde auch auf die schädlichen Wirkungen von M-Autorität hinweisen. An dieser Stelle möchte ich lediglich ein wenig Verwirrung aufklären, die durch diese vier verschiedenen Formen von Autorität im Hinblick auf Kinder entsteht.

Ich beginne mit der E-Autorität, Autorität, die auf Erfahrung beruht. Diese wird hochgeschätzt und ist innerhalb menschlicher Beziehungen recht harmlos. Die meisten Leute, auch Kinder, respektieren Menschen mit Erfahrung - sie lernen von ihnen, suchen ihren Rat, folgen oft ihrem Beispiel. Wenn Eltern und Lehrer (und Autoren von Büchern über disziplinorientierte Kindererziehung) darüber klagen, daß die Kinder von heute keine Autorität respektieren, denken sie an M-Autorität. Sie klagen in Wirklichkeit darüber, daß Kinder den Erwachsenen nicht gehorchen — das heißt nicht genau das tun, was die Erwachsenen wollen, und nur, weil diese es ihnen sagen.

Meine Erfahrung mit E-Autorität ist, daß Kinder Menschen mit Erfahrung jede Menge Respekt erweisen. Sie überschätzen häufig sogar diese E-Autorität von Erwachsenen. Das gilt insbesondere für kleinere Kinder, die glauben, ihre Eltern wären allwissend. Und sie haben oft Ehrfurcht vor dem Wissen und den Fähigkeiten von Ärzten, Lehrern, Trainern, Handwerkern und anderen.

Wie steht es mit dem Respekt vor J-Autorität? Ich glaube, daß Kinder gewöhnlich auch diese Art von Autorität respektieren, die sich aus den allgemein verständlichen Pflichten, Regeln und Funktionen von Erwachsenen-Jobs ableitet. Wenn Lehrer eine Klasse zur Ordnung rufen, folgen die meisten Kinder dieser Bitte; wenn Lehrer Hausarbeit aufgeben, betrachten Kinder das meist als legitim. Wenn Erwachsene Auto fahren und die Kinder bitten, sich anzuschnallen, akzeptieren die meisten das als eine legitime Bitte des Fahrers, nicht unähnlich der Situation in einem Flugzeug, wenn die Passagiere der Anweisung des Piloten folgen und sich in einer unerwarteten Gewitterfront anschnallen. Kinder stehen gewöhnlich auf, wenn ein Erwachsener sagt: »Stehen wir auf und singen die Nationalhymne. « Meine Mutter hatte als Köchin der Familie eine Menge J-Autorität, die wir Kinder (und Pa) gewöhnlich respektierten. Nur selten widersetzten wir uns ihren Befehlen: »Alle reinkommen, das Essen ist fertig.« »Bringt die Teller auf den Tisch.« »Eßt, solange es heiß ist.« »Hebt ein bißchen Fleisch für eure Brote morgen auf.« »Räumt den Tisch ab« und so weiter.

Respektieren Kinder M-Autorität? Ich glaube nicht, daß sie das jemals tun. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Lehrer respektiert zu haben, der uns anbrüllte und Macht einsetzte, um uns zu etwas zu zwingen, was wir nicht tun wollten. Ich habe nie ein Kind kennengelernt, daß einen Erwachsenen schätzte, der ständig aufgrund seiner Machtposition strafte oder mit Strafen drohte. Kinder wie Erwachsene respektieren Machtbonzen nicht, doch sie fürchten sie gewöhnlich. Warum rächen sie sich sonst stets an ihnen, widersetzen sich, meiden sie, lügen sie an und lehnen sie ab? Ich glaube, die meisten Erwachsenen kennen das aus eigener Erfahrung in ihrer Kindheit.

Ich weiß, wenn Eltern sich über den Begriff Autorität unsicher sind, wenn sie in der Fragestunde nach einem Vortrag über dieses Thema sagen: »Sie drängen Eltern und Lehrer, keine Autorität anzuwenden. Aber haben diese nicht die Pflicht, Kindern ihre Werte und Überzeugungen beizubringen und ihnen ihre fundierteren Meinungen und Weisheiten mitzuteilen?« Diese Fage erhellt die Verwechslung zweier Bedeutungen von Autorität: M und E. Bei meiner Antwort weise ich darauf hin, daß ich Eltern und Lehrer zwar dränge, keine M-Autorität anzuwenden, doch ich sei sicher dafür, daß sie ihre Erfahrung mitteilten, wann immer das angemessen sei. Wie ich schon erwähnt habe, suchen Kinder oft den Rat, das Urteil und die Meinungen Älterer, und sie sind oft neugierig, was die Eltern und Lehrer glauben und für gut halten.

Drücken wir es anders aus: Es tut in einer Erwachsenen-Kind-Beziehung selten weh, wenn der Erwachsene eine Autorität (mit E-Autorität) an Erfahrung oder auf einem Gebiet ist, aber es schadet der Beziehung, wenn er autoritär (mit M-Autorität) ist.

Die Vertreter strenger Disziplin neigen zur Verwendung ungenauer Begriffe (vielleicht sogar bewußt), wenn sie ihre Überzeugung verteidigen, Eltern hätten die Pflicht, auf Macht beruhende Disziplin auszuüben. In James Dobsons Buch The strong-willed Child (1978) vertritt der Autor die Auffassung, daß Kinder der M-Autorität von Erwachsenen gehorchen, indem er eine Stelle aus der Bibel zitiert: »Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn, denn das ist billig« (Epheser 6,1).

Er zitiert noch einmal aus der Bibel, um zu belegen, daß man Kinder disziplinieren soll, doch hier empfiehlt er eine andere Art von Autorität, nämlich E-Autorität: »Scheltet und schimpft nicht mit euren Kindern, macht sie nicht wütend und trotzig. Zieht sie eher mit liebevoller Disziplin auf, die dem Herrn selbst gefällt, mit Vorschlägen und göttlichen Ratschlägen.« (kursiv v. Verf.)

Vorschläge und Ratschläge sind deutlich Methoden der Beeinflussung anderer, indem man seine Erfahrung, Weisheit, Wissen und so weiter mitteilt — E-Autorität, die sich eindeutig von der Kontrolle anderer durch M-Autorität unterscheidet.

Ich werde in späteren Kapiteln erklären, wie und wann man E-Autorität, J-Autorität und V-Autorität am wirksamsten einsetzt. Belassen wir es hier dabei, zu betonen, daß ein zentraler, wenn nicht der zentrale Gedanke dieses Buches lautet, daß diese drei Typen erwachsener Autorität extrem wirksame und — am wichtigsten — konstruktive Methoden darstellen, Kinder zu beeinflussen, während M-Autorität eine Weise ist, Kinder zu kontrollieren, die oft unwirksam bleibt. Dieser Unterschied zwischen Einfluß und Kontrolle ist überaus wichtig, wie ich im weiteren erklären werde.

Der Mythos von der »gütigen Autorität«

Die allgemein verbreitete Neigung der Disziplin-Vertreter, M-Autorität als liebevoll oder gütig hinzustellen, schafft eine weitere bedeutsame Quelle für die Verwirrung um Disziplin und Autorität. Man sagt Eltern wie Lehrern, daß sie ruhig Strafmaßnahmen ausführen können, solange das gerecht, weise, liebevoll, fair oder gütig geschieht — immer aber »im besten Interesse des Kindes«. Sie behaupten, es sei absolut in Ordnung, »fest, aber fair« zu sein, sich streng zu verhalten, solange es »liebevolle Strenge« sei, autokratisch zu sein, solange sie »gütige Autokraten« sind, zu kontrollieren, solange sie keine Diktatoren sind, zu strafen, solange die Strafen nicht zu streng sind.

Diese Ansichten sind zweifelsohne weitverbreitet, weil sie genau das sind, was strafende Eltern und Lehrer am stärksten glauben wollen. In dem Bedürfnis, ihre auf Macht beruhende Disziplin zu rechtfertigen, um die Kinder zu kontrollieren, oder weil sie ihre Schuldgefühle beschwichtigen wollen, möchten Erwachsene verzweifelt gern glauben, daß das, was sie tun, aus Liebe zum Kind und zum Wohl des Kindes geschieht. Man versucht, die Ziele gütig erscheinen zu lassen, um die Anwendung machtabgeleiteter Mittel zu rechtfertigen.

Kann aber von Macht abgeleitete Autorität jemals gütig sein? Ja, wenn wir damit meinen, daß der Kontrollierende glaubt, er oder sie handele gütig und im besten Interesse des Kindes. Wenn man mich jedoch fragt: »Ist auf Macht beruhende Autorität tatsächlich im besten Interesse des Kindes — das heißt, wird sie vom Kind als zu seinem Besten wahrgenommen? «, lautet meine Antwort: »Nur selten, wenn überhaupt jemals.« In Kapitel Fünf werde ich diese Überzeugung belegen, indem ich eine Reihe von Bewältigungsmethoden schildere, die Kinder anwenden, um sich gegen M-Autorität zu wehren oder ihr zu entfliehen. Ich wiederhole, daß Kinder niemals das Gefühl haben, strafende Disziplin sei gütig oder zu ihrem Besten.

Ich habe noch nie so viele Beispiele für ungenaue Wortwahl und unpräzise Begriffe gefunden wie in dem Buch Parent Power des Kinderpsychologen und Kolumnisten John Rosemund. Er befürwortet offen, daß Eltern »gütige Diktatoren« sein sollten, die »auf Gehorsam von seiten der Kinder bestehen«, und erklärt seine Position. Da wir nun den bedeutsamen Unterschied zwischen den vier Arten von Autorität kennen, schauen Sie selbst, ob Sie die Uneindeutigkeiten und ungenauen Bedeutungen in dem folgenden Abschnitt von Rosemund entdecken können: