Familienkonferenz in der Praxis - Thomas Gordon - E-Book

Familienkonferenz in der Praxis E-Book

Thomas Gordon

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Mit diesem Longseller bietet der Autor der berühmten Familienkonferenz einen Kursus für Fortgeschrittene an. Er wendet sich in erster Linie an Eltern, die bereits mit seinen Konfliktlösungsmodellen wie "aktives Zuhören", "Ich-Botschaften" und "Konfliktlösung ohne Niederlage" gearbeitet und Erfahrungen gesammelt haben. Thomas Gordon will seine Lösungsmodelle nicht als perfekte Techniken verstanden wissen, sondern als brauchbare Vorschläge, wie Menschen offen, verständnisvoll und ohne Missverständnisse miteinander umgehen können. Gordon erklärt und kommentiert die Erfahrungsberichte von Eltern und macht Lesern Mut, sich auf diese Vorschläge einzulassen.

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Seitenzahl: 526

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Von Thomas Gordon sind bei Heyne lieferbar: Familienkonferenz (ISBN 978-3-453-02984-2) Die neue Familienkonferenz (ISBN 978-3-453-07861-1) Familienkonferenz in der Praxis (ISBN: 978-3-453-60234-2) Lehrer-Schüler-Konferenz (ISBN 978-3-453-60326-6) Managerkonferenz (ISBN 978-3-453-60000-3)

Über den Autor

Thomas Gordon (1918–2002) war praktizierender Psychologe in den USA. Er gehörte zu den Pionieren der humanistischen Psychologie und war der Überzeugung, dass Menschen, die in einem fürsorglichen und freiheitlichen Klima aufwachsen, in hohem Maße fähig werden, Verantwortung zu tragen und ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben zu führen. Durch seine Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erkannte er die große Bedeutung der Kommunikation und gewaltfreien Konfliktlösung für die zwischenmenschliche Beziehung. Schön früh entwickelte er hierzu ein konkretes, im Alltag anwendbares Modell, das bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat. Thomas Gordon ist Bestsellerautor zahlreicher Bücher zum Thema Kommunikation, Erziehung und Beziehungen. Sein bekanntestes Buch Familienkonferenz wurde weltweit millionenfach verkauft. Für seine Arbeiten wurde er zudem mehrfach ausgezeichnet. Ziel seiner Methode, das Verbessern von Beziehungen und das gewaltlose Lösen von Konflikten ohne Verlierer, ist auch als Friedensarbeit im eigentlichen Sinne anzusehen, was seine dreifache Nominierung für den Friedensnobelpreis 1997, 1998 und 1999 unterstreicht. Sein umfangreiches Werk ist bei Heyne lieferbar.

Inhaltsverzeichnis

Über den Autor1. Familien nach der Familienkonferenz2. Grundlagen sind wichtiger als Techniken
Das Prinzip der InkonsequenzDas Prinzip des Problembesitzes
3. Neue Möglichkeiten, Kindern bei ihren Problemen zu helfen
Wenn es Eltern nicht gelingt, die zwölf Kommunikationssperren zu vermeidenNeue Erkenntnisse hinsichtlich der zwölf Kommunikationssperren
Manchmal sind die Kommunikationssperren keine SperrenWas ist falsch an Fragen?Brauchen Kinder Ratschläge?
Wie bringt man Eltern das Zuhören besser bei?
Die vier grundlegenden Techniken des Zuhörens
Passives Zuhören (Schweigen)AufmerksamkeitTüröffner oder EinladungenAktives Zuhören
Warum wir Eltern im aktiven Zuhören unterrichtenDie Gefühle verblassenDie Gefühle werden freundlichGrößeres VertrauenDie Kinder beginnen ihrerseits zuzuhörenDie Kinder zeigen mehr VerantwortungsbewusstseinSie werden lernen, ihrem Kind zu vertrauenSie werden mehr akzeptierenSie haben Freude daran, zu helfenIhr Kind wird zu einem eigenständigen IndividuumSie brauchen kein »Über-Vater« bzw. keine »Über-Mutter« zu sein
4. Wie lernt man aktives Zuhören: Probleme und Lösungen
Anfängliches Unbehagen beim aktiven ZuhörenWenn Kinder nicht reden wollenMan muss in der richtigen Stimmung zum Zuhören sein»Lass mich mit diesem aktiven Zuhören in Ruhe«Übertreibungen des aktiven ZuhörensZuhören ohne die Bereitschaft, das Gehörte zu akzeptieren, ist nutzlosAktives Zuhören mit versteckter Absicht»Was ist, wenn einem nicht passt, was man hört?«
Man kann niemals in Erfahrung bringen, ob man Kindern trauen kann, wenn man ihnen nicht vertrautDie Kommunikationssperren hindern das Kind daran, das eigentliche Problem zu erkennenEs bleibt noch genügend Zeit, sein Wissen und seine Weisheit mitzuteilen, wenn es erforderlich ist
Die Versuchung, Kommunikationssperren zu verwendenEinige Richtlinien zur Verbesserung Ihres Zuhörens
5. Wie sich Familien verändern, wenn Eltern geübte Zuhörer werden
Der Zauber des »Ich verstehe dich«Gefühle gehen vorüberWie hilft man Kindern, Realität und Grenzen zu akzeptieren?»Ich mag Kinder nicht«Das eigentliche ProblemKinder werden verantwortungsbewusst»Sie entwickeln sich viel schneller, als man denkt«Eltern gewinnen neue Erkenntnisse über sich selbst»Lieber wär ich tot«
6. Neue Hilfe für Eltern, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen
Du-Botschaften und Ich-Botschaften»Wie sehen meine Gefühle wirklich aus?«Es ist wichtig, vollständige Ich-Botschaften zu sendenWenn Kinder eine Ich-Botschaft nicht zur Kenntnis nehmen
Hören Sie zu, wenn das Kind die Probleme besitzt?Wie stark sind Ihre Ich-Botschaften?
Die Bedeutung des UmschaltensLösungsbotschaften sind keine Ich-BotschaftenZuflucht zu Macht und AutoritätEinige Richtlinien für Ich-Botschaften
7. Positive Erfahrungen mit Ich-Botschaften
Ein leicht erlernbares Instrument»Es funktioniert wirklich!«Ein neues Bewusstsein für Du-Botschaften»Kinder möchten wirklich helfen«Der Einfallsreichtum kindlicher Lösungen»Es ist ein schönes Gefühl, ehrlich zu sein«Wie Eltern ihren Ärger bezwingen
8. Neue Anwendungsmöglichkeiten für Ich-Botschaften
Ich-Botschaften bei Säuglingen und Kleinkindern
1. Das Ratespiel2. Machen wir einen Handel3. »Ich zeige dir, wie ich empfinde«
Ein neues Konzept: Die anerkennende Ich-BotschaftDie präventive Ich-BotschaftProblemlösung durch Ich-Botschaften
9. Eltern-Kind-Konflikte: Wer siegt, wer unterliegt?
Vorbehalte gegenüber der niederlagelosen KonfliktbewältigungDie drei Methoden zur Konfliktbewältigung
Methode I (Theorie)Methode II (Theorie)Methode III (Theorie)Methode I (Beispiel)Methode II (Beispiel)Methode III (Beispiel)
Neue Perspektiven der Konfliktbewältigung
Das Dilemma mit der DisziplinDer Mythos der wohlwollenden AutoritätAutorität: ein Wort mit zwei BedeutungenDie besondere Sprache der MachtVerwechslungen zwischen der niederlagelosen Methode und Nachgiebigkeit»Brauchen Kinder Grenzen?«
Die Wahrheit über elterliche Macht
10. Verwendung der niederlagelosen Methode: Probleme und Lösungen
Zeitdruck und Unterbrechungen»Mit Kindern geht das wirklich nicht«Wenn Kinder während der Problemlösung hinausgehenWenn Kinder sich nicht an ihre Vereinbarungen haltenWirklichkeitsfremde Lösungen von KindernGibt es überhaupt eine Rechtfertigung für Macht und Strafe?Ist Schlagen erlaubt?
11. Die erfolgreiche Anwendung der niederlagelosen Methode
Der angemessene Rahmen für die niederlagelose ProblemlösungWenn die Bedürfnisse klar sind, stellen sich auch Lösungen einGewöhnlich gibt es mehr als eine LösungAbänderung der ursprünglichen EntscheidungDas eigentliche ProblemKinder können sehr vernünftig seinProblemlösung mit SäuglingenDie niederlagelose Methode bei der Bewältigung von Konflikten zwischen GeschwisternRegelmäßige ProblemlösungstreffenPräventive Problemlösung
12. Hilfe bei Wertkollisionen
Die Besonderheit der WertkollisionAllzu beharrliche ElternEffektive Verfahren zur Beilegung von Wertkollisionen
Ein wirkliches Vorbild seinWie wird man ein effektiver Berater?
Versorgen Sie sich mit Fakten und InformationenZuerst müssen Sie als Berater akzeptiert seinÜberlassen Sie Ihrem Klienten die Verantwortung
Überprüfung der eigenen WertvorstellungenAkzeptieren Sie, was Sie nicht verändern können
13. Unterschiedliche Einstellungen zur Familienkonferenz und ihre Gründe
»Sie können es besser machen, als Sie glauben«»Ich werde nicht die Fehler wiederholen, die meine Eltern an mir begangen haben«»Die Elternrolle ist eine schwere Aufgabe«»Wir lesen die Schrift an der Wand«Wenn Verzweiflung aufkommtDas Dilemma der ElternKrisen und TragödienWer braucht Elterntraining?
14. Die persönlichen Berichte von vier Familien
»Sie kann Berge bewegen«Jenseits aller Techniken: Tagebuch einer MutterKrieg und FriedenEine Familie verändert sich
Anhang
Methoden
InterviewsFragebogenBerichteTonbandaufzeichnungenAnekdotensammlung
Inhaltsanalyse und KodierungWeiterführende Literatur
DanksagungRegisterCopyright

1. Familien nach derFamilienkonferenz

Als die New York Times die ›Familienkonferenz‹ eine »nationale Bewegung« nannte, war meine erste Reaktion ein gewisses Unbehagen. Als ich genauer darüber nachdachte, hielt ich es schon für möglich, dass die ›Familienkonferenz‹ einiges in Bewegung gesetzt hatte. Ich weiß, dass in 15 Jahren 250000 Eltern an ›Familienkonferenz‹-Kursen teilgenommen haben. Als ich mich an die Niederschrift dieses Buches machte, sind mehr als eine Million Exemplare des ersten Buches Familienkonferenz verkauft worden. Beinahe 8000 Fachleute aus jedem Staat der USA (und aus vielen anderen Ländern) haben an Trainingsveranstaltungen teilgenommen, um als qualifizierte Kursleiter in ihren Heimatorten wirken zu können. Allein dieser quantitative Gesichtspunkt lässt es sicherlich gerechtfertigt erscheinen, von einer Art Bewegung zu sprechen. Doch die Vorstellung an sich, eine »Bewegung« ausgelöst zu haben, verschafft mir keine besondere Befriedigung. Weit wichtiger ist die Frage, ob mein erstes Buch und der Kurs konstruktive Bedeutung für das Familienleben gewonnen haben. An einem Kurs teilnehmen heißt nicht unbedingt, dass man auch etwas lernt, ganz zu schweigen von irgendwelchen Verhaltensänderungen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass man zur Schule geht, unbedingt bedeuten muss, dass man dort auch eine vernünftige Ausbildung erhält.

Sind Eltern, die an den Kursen teilgenommen haben, bessere Mütter und Väter geworden? Und wenn, in welchem Maße? Was machen sie anders? Wie wirkt sich das auf ihre Kinder aus? Hat die ›Familienkonferenz‹ die Eltern-Kind-Beziehung verbessert? Gehen Eltern, wenn sie über die Verfahren und Techniken der ›Familienkonferenz‹ verfügen, geschickter mit ihrem Nachwuchs um? Vermag die ›Familienkonferenz‹ Eltern von einigen ihrer Schwierigkeiten zu befreien? Ziehen Eltern, die durch diese Erfahrung gegangen sind, Kinder groß, die eine größere Bereitschaft zu Verantwortung und Kooperation zeigen? Können Eltern in einem Kurs, den sie acht Wochen lang an einem Abend pro Woche besuchen, lernen, effektiver mit den unvermeidlichen Eltern-Kind-Konflikten und Wertkollisionen fertigzuwerden? Solche Fragen sollte man stellen – und beantworten –, wenn man sich ein Urteil bilden will. Wir müssen uns also überlegen, wie die ›Familienkonferenz‹ sich auf das Familienleben auswirkt, und nicht, wie weit und wie schnell sie sich als »Bewegung« ausgebreitet hat. Wo könnte man diese Fragen besser beantwortet bekommen als in Familien, deren Väter und Mütter an Familienkonferenzen teilgenommen haben? In diesem Buch berichten Kursabsolventen, welche Erfahrungen sie beim Versuch machten, die in den Kursen erworbenen Fertigkeiten zu Hause anzuwenden. Dabei hören wir nicht nur von Erfolgen, sondern auch von Schwierigkeiten und Problemen. Wir werden Familien begegnen, die u. a. bekennen:

»Wir sind nicht immer mit den Techniken der ›Familienkonferenz‹ so zurechtgekommen, wie es eigentlich hätte der Fall sein müssen, besonders wenn es um unsere ältere Tochter ging.«

»Die Praxis in alltäglichen Situationen war weit schwieriger, als es den Anschein bei der Lektüre des Buches hatte.«

»Bei unserm Jüngsten war es, als redete man gegen eine Wand.«

»Wenn ich die Technik der ›Familienkonferenz‹ in der richtigen Weise verwende, funktioniert sie. Aber wenn Jimmy wirklich aufgeregt ist, sende ich nicht immer die angemessenen Botschaften.«

»Ich habe immer noch einige Vorbehalte gegenüber der ›Familienkonferenz‹. Sie wissen schon: ›Wird sie wirklich funktionieren? Lade ich meinem Sohn nicht zu viel Verantwortung auf? Vielleicht sollte ich ihn stärker führen.‹«

Der Leser wird jedoch auch in Familien hineinsehen, die deutlich zeigen, wie effektiv die Techniken der ›Familienkonferenz‹ eingesetzt werden können. Dabei kommt es häufig zu spektakulären Erfolgen:

»Sie hat unserem Familienleben eine neue Wende gegeben.«

»Unsere Probleme sind nicht mehr der Rede wert.«

»Nun erst fühle ich mich so, wie mich meine Kinder schon immer eingeschätzt haben: als vertrauenswürdige und verständnisvolle Person. Sie brauchen keine großen Geheimnisse mehr vor mir zu haben … Das geht, weil wir einander vertrauen.«

»Die ›Familienkonferenz‹ rettete unsere Ehe.«

»Lee und ich haben jetzt eine Tochter, die die meiste Zeit ihre Eltern liebt, die die meiste Zeit ihren Bruder liebt und die vor allem die meiste Zeit über sich selbst liebt. Nur manchmal noch zeigt sie zu wenig Rückgrat. Ich möchte aber nicht wissen, was wäre, wenn ich auch weiterhin der für alles verantwortliche, allwissende und allmächtige Vater geblieben wäre.«

Der Leser soll von den Erlebnissen all dieser Eltern hören – von den Erlebnissen derer, die Probleme hatten, und von den Erlebnissen derer, die von bemerkenswerten Erfolgen zu berichten wissen. Ich denke, er wird dann ganz bestimmt wertvolle Erkenntnisse über seine Elternrolle gewinnen. Außerdem bin ich, als ich die Niederschrift unserer auf Tonband aufgezeichneten Interviews mit Kursabsolventen näher betrachtete, zu der Überzeugung gelangt, dass ich in vielen Fällen erklären kann, warum manche Eltern Schwierigkeiten mit den Methoden der ›Familienkonferenz‹ haben. Ich habe deshalb überall in diesem Buch meine eigenen Auffassungen angefügt, um zu erklären, warum die Dinge in so mancher Situation schiefliefen. Damit möchte ich dem Leser helfen, einige der Fallen zu vermeiden, in die die Eltern tappten, wenn sie versuchten, die Techniken der ›Familienkonferenz‹ im Ernstfall anzuwenden – das heißt zu Hause mit wirklichen Kindern. Häufig fragt man mich: »Doktor Gordon, haben Sie irgendwelche Vorstellungen oder Konzepte verändert, seit Sie die Familienkonferenz geschrieben haben?« Die Eltern wollen es häufig noch sehr viel genauer wissen wie z.B.:

»Sind Sie immer noch der Meinung, dass Eltern ohne Macht und Autorität auskommen sollten?«

»Beharren Sie noch immer auf dem Standpunkt, man solle es den Kindern überlassen, die Lösungen für ihre Probleme zu finden?«

»Würden Sie heute zugeben, dass Eltern ihre Kinder doch für bestimmte Verhaltensweisen strafen sollten, die nun auf gar keinen Fall mehr zu akzeptieren sind?«

»Sind Sie immer noch dagegen, dass Eltern loben oder belohnen?«

In solchen Fragen spiegelt sich ein legitimes Interesse. Man möchte wissen, ob mein ursprüngliches Modell der ›Familienkonferenz‹ sich in der doch recht langen Praxis bewährt hat. Ich werde auf diese und viele andere ähnliche Fragen im Folgenden antworten. Vorab will ich jedoch bekennen, dass das ›Familienkonferenz‹-Modell sich im Laufe der Jahre ständig gewandelt hat. Der schöpferischen Mitarbeit unserer Kursleiter ist es zu verdanken, dass die Unterrichtsmethoden grundlegend verbessert werden konnten. In regelmäßigen Zeitabständen stellte ich fest (oder rief mir ins Gedächtnis), dass das ursprüngliche theoretische Modell der ›Familienkonferenz‹ Lücken aufwies. Wichtige Ergänzungen haben zu einem vertieften Verständnis der dynamischen Eltern-Kind-Beziehung geführt. Auch als wir das umfangreiche Datenmaterial der Interviews und Fragebogen analysierten, auf das sich dieses Buch stützt, ergaben sich neue Vorstellungen und Verbesserungen.

Der Leser, der mit den Grundsätzen und Techniken der ›Familienkonferenz‹ bereits vertraut ist, wird Verbesserungen und Ergänzungen wie die folgenden begrüßen:

Wir wissen jetzt, dass die Techniken der ›Familienkonferenz‹ auch bei sehr kleinen Kindern – Säuglingen und Kleinkindern – mit Erfolg angewendet werden können, lange bevor ihre Sprachentwicklung einsetzt. Eine Mutter berichtet, wie es ihr mithilfe der Technik des aktiven Zuhörens gelang, ihr heftig strampelndes und schreiendes Baby beim Trockenlegen zu beruhigen!Eltern brauchen nicht mehr so ängstlich bemüht zu sein, im Gespräch mit ihren Kindern Kommunikationshindernisse zu vermeiden. In vielen Gesprächssituationen mit Kindern ist eine allzu sorgfältige Kontrolle überflüssig. Eltern können in ihrer Wachsamkeit nachlassen und sogar zu Warnungen, Befehlen, Lösungen, Interpretationen, Fragen und Predigten Zuflucht nehmen. Entscheidend ist, dass sie wissen, wann diese Reaktionen keinen Schaden anrichten.Wir wissen jetzt besser, warum Kinder durch Fragen geängstigt oder gehemmt werden können.Wir haben neue Richtlinien für Eltern entwickelt, die ihren Kindern dadurch auf die Nerven gehen, dass sie das Zuhören übertreiben  – die Rolle der »Eltern als Ratgeber«.Wir haben neue Richtlinien für Eltern entwickelt, die helfen sollen, wenn Kinder Bitten um Hilfe oder Rücksichtnahme nicht zur Kenntnis nehmen.Wir haben einige neue Anwendungsarten für Ich-Botschaften hinzugefügt  – ein Verfahren, mit dessen Hilfe Eltern Kindern ihre Bedürfnisse genau mitteilen können. Dadurch lassen sich zukünftige Konflikte vermeiden.Wir haben entdeckt, dass nachsichtige (tolerante) Eltern und strenge (autoritäre) Eltern sich sehr ähneln – sie sind sozusagen aus demselben Holz geschnitzt. Sie unterscheiden sich beileibe nicht so sehr, wie wir angenommen haben. Beide bedienen sich der »Sprache der Macht«.

Das Modell der ›Familienkonferenz‹ ist also keineswegs unverändert geblieben. Deshalb sollen in diesem Buch auch nicht die Techniken und Verfahren wieder aufgewärmt werden, die ich im ersten Buch beschrieben habe. Leser, die das Buch bereits kennen, werden im vorliegenden Buch folglich nicht nur eine Auffrischung bekommen (die viele Absolventen nach eigener Aussage brauchen), sondern werden auf diesen Seiten viele Elemente eines »Fortgeschrittenenkurses« der ›Familienkonferenz‹ entdecken. Mein erstes Buch Familienkonferenz ist der einzige Text, der dem Verfahren der Kurse zugrunde liegt. In ihm wird beschrieben und dargelegt, wie sich die Beziehung zu Kindern verbessern lässt. Obwohl ich den Ausdruck nicht besonders mag, würde ich doch sagen, dass es sich um einen »Ratgeber« handelte. Der vorliegende Ergänzungsband Die Familienkonferenz in der Praxis ist dagegen ein Buch über die Menschen, die unser Verfahren verwenden: Mütter, Väter und Kinder. Es ist ein Ergänzungsband, der dem Leser zeigt, wie es in Familien aussieht, in der sich Eltern in dieser Weise bemühen, bessere Beziehungen zu ihren Kindern und zueinander herzustellen.

Die vielen Beispiele und Dialoge aus dem Familienleben, die im ersten Buch aufgenommen wurden, dienten vor allem dazu, bestimmte Techniken und Verfahren zu illustrieren. Viele dieser Beispiele stammten auch von Eltern, die gerade an einem Kurs teilnahmen. Dieses Buch untersucht, was Eltern zustößt, nachdem sie einen solchen Kurs abgeschlossen haben und auf sich selbst gestellt sind. Einige erleben wir unmittelbar danach, einige ein Jahr später, andere vier Jahre später und manche sogar nach einem Zeitraum von neun Jahren. Wir werden konkrete Erkenntnisse anhand der Beispiele aus diesen Familien gewinnen können. Sie alle unterscheiden sich voneinander, aber sie folgen demselben Handlungsplan – sie setzen das Konzept der ›Familienkonferenz‹ in die Tat um. Wir werden Elternteile ohne Partner erleben, die das Verfahren alleine meistern, und wir werden Familien mit Vater und Mutter erleben, in denen es den Partnern nicht gelingt, die neuen Techniken mit gleicher Effektivität anzuwenden. Wir werden auch von Fällen lesen, in denen Eltern Kinder aus früheren Ehen in eine neue Familieneinheit eingegliedert haben.

Einige Eltern entschlossen sich, die ›Familienkonferenz‹ zurate zu ziehen, als ihre Kinder noch sehr klein waren. Andere bedienten sich ihrer, um die Beziehung zu Kindern zu verbessern, die sich bereits in der Adoleszenz befanden und sich ablehnend, aufrührerisch und nachtragend verhielten. Wir werden sehen, wie die ›Familienkonferenz‹ bei ganz normalen und mit gestörten Kindern funktioniert. Einige sind überaktiv, andere behindert, einige leiden unter schweren Krankheiten oder sind drogenabhängig.

Die Informationen über Kinder und Eltern bezogen wir aus Fragebogen, kurzen Berichten und Interviews. Für die Sammlung und Analyse der Daten war meine Tochter Judy Gordon Sands verantwortlich. Außerdem arbeitete Judy eng mit mir zusammen, als ich die Grundkonzeption des Buches entwickelte. Im Anhang wird das ganze Projekt etwas vollständiger beschrieben.

Eines können wir mit Sicherheit aus der Analyse unserer Daten schließen: Die ›Familienkonferenz‹ gibt den Eltern Techniken an die Hand, mit deren Hilfe sie effektiver mit ihren Alltagsproblemen fertig werden können. Überall in diesem Buch wird zu beobachten sein, wie diese Techniken funktionieren, wenn Eltern mit Alltagsschwierigkeiten zu tun haben: wenn die Kinder sich vor unangenehmen Arbeiten drücken, das Badezimmer schmutzig machen, ungefragt an den Kühlschrank gehen, zu spät kommen, lärmen, im Mülleimer wühlen, wenn es Schwierigkeiten bei der Sauberkeitserziehung gibt, wenn sie kein Gemüse essen wollen, wenn sie zu viel fernsehen, mit schmutzigen Schuhen in die Wohnung kommen, sich vor dem Abwaschen drücken, keine Lust zur Schule haben, nicht zu Bett wollen, Rad fahren wollen, wo sie nicht dürfen, und in vielen anderen Dingen nicht die Meinung ihrer Eltern teilen.

Eine Mutter fasste ihre Empfindung mit den Worten zusammen: »Die ›Familienkonferenz‹ trägt sicherlich dazu bei, dass Eltern die Welt in einem neuen Licht sehen.«

Das meine ich auch, und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die ›Familienkonferenz‹ vielen Eltern hilft, viele Angelegenheiten des häuslichen Lebens in einem neuen Licht zu sehen: ihre Aufgabe als Eltern, die Fähigkeit ihrer Kinder, die eigenen Probleme zu lösen, die Bedeutung elterlicher Rechte innerhalb der Familie, den Wert eines demokratischen und machtfreien Klimas in der Familie und den Nutzen von Beziehungen zu den Kindern, aus denen Achtung und Liebe erwachsen. Unter solchen Bedingungen können alle Familienmitglieder ihre besten Möglichkeiten realisieren.

2. Grundlagen sindwichtiger als Techniken

Unter all den Erfahrungen, die wir gemacht haben, ist die Erkenntnis am wichtigsten, dass Eltern das theoretische Modell verstehen müssen, das der ›Familienkonferenz‹ zugrunde liegt, wenn sie zum effektiven Einsatz der erworbenen Techniken in der Lage sein sollen. Instrumente sind nicht genug – Eltern müssen wissen, wann und warum sie sie verwenden. Dazu müssen sie einiges über die Grundlagen wissen. Das ist eigentlich gar nicht so überraschend. Zum Segeln bei Wind und Wetter und auf allen Gewässern gehört mehr als nur die Fähigkeit, die Ruderpinne bedienen oder die Segel setzen zu können. Der kundige Segler muss die Grundlagen der Navigation ebenso wie die Vektortheorie beherrschen. Der Pilot, der sein Flugzeug sicher lenken will, muss sich in der Theorie der Aerodynamik ebenso wie in der der Meteorologie auskennen, ganz zu schweigen davon, dass er wissen muss, wie seine Maschine funktioniert. Die simplen Fertigkeiten, derer ein Pilot bedarf, um zu starten, einwandfrei zu fliegen und zu landen, sind nämlich so einfach, dass ein achtjähriges Kind sie lernen könnte.

Nicht anders geht es Eltern: Will man in dieser Rolle effektiv sein, braucht man gewisse Grundkenntnisse über zwischenmenschliche Beziehungen. Man muss sich im Großen und Ganzen ein Bild davon machen können, was zwischen zwei Menschen passiert, die zueinander in Beziehung stehen. Man kann seiner Aufgabe als Vater oder Mutter nur gerecht werden, wenn man sich nach irgendeiner prinzipiellen Theorie oder einem Plan richtet – Wissenschaftler nennen es ein »Modell«. Missverständnisse des Modells führen unweigerlich dazu, dass man die Techniken unangemessen einsetzt. Die Bedeutung dieses Umstandes war mir nicht so klar, als die ›Familienkonferenz‹ noch in ihren Kinderschuhen steckte. Erst später, als ich Eltern in den Kursen beobachtete, begriff ich, wie wichtig es ist, dass sie das Modell erfassen, das der ›Familienkonferenz‹ zugrunde liegt. Vor ihrer Teilnahme an derartigen Kursen haben viele Eltern beispielsweise eines oder mehrere Bücher über Fragen des Elternverhaltens gelesen und daraus bestimmte Dinge gelernt, z. B. die Art und Weise, wie sie auf die Gefühle von Kindern reagieren müssen. Wir stellten aber fest, dass nur wenige Eltern die zugrunde liegende Theorie verstanden hatten. So waren sie nicht in der Lage zu entscheiden, wann sie eine bestimmte Technik anzuwenden hatten und wann nicht. Außerdem konnten sie nur selten erklären, warum die Technik angewendet werden sollte. In unseren Interviews mit Eltern hörten wir häufig Aussagen wie die folgenden:

»Mir war schon weitgehend bekannt, was einem in der ›Familienkonferenz‹ beigebracht wird. Doch der Kurs fasste all diese isolierten Techniken und Vorstellungen zu einer funktionierenden Einheit zusammen.«

»Die ›Familienkonferenz‹ half mir zu erkennen, was ich tat und warum ich es tat.«

»Ich glaube, dass ich jetzt verstehe, was in jeder nur denkbaren Situation geschieht, in der ich mich mit meinen Kindern befinde. Ich bin ihr gewachsen und glaube, dass ich fähig bin zu entscheiden, was getan werden muss.«

Einmal erzählte eine Mutter, wie sie ein sehr bekanntes Buch über Kindererziehung aufgenommen hatte, das sie vor ihrer Teilnahme an unserem Kurs gelesen hatte:

»Als ich das Buch von Doktor X las, gefiel mir, was man nach seinem Vorschlag Kindern sagen sollte. Es hatte Hand und Fuß. Doch dann sagten meine Kinder nicht dasselbe wie die Kinder in seinem Buch. So konnte ich niemals in der Weise antworten, die er mir empfahl.«

Eine andere Mutter begriff, wie wichtig es ist, eine Theorie zu haben – einen »methodischen Plan« nannte sie es:

»In Doktor X Buch erfährt man genau, wie das Gespräch verlaufen soll. Er gibt aber keinen methodischen Plan. Einen Handlungsplan, wissen Sie … Man liest das Buch zu Ende, und es ist sehr vernünftig, doch wie soll man anfangen? Wie soll man es benutzen?«

Ich glaube, diese Eltern hatten das Wesentliche verstanden. Sie vermissten ein Modell, mit dessen Hilfe sie das Prinzip verstehen konnten, von dem die besondere Kommunikationstechnik abgeleitet worden war. Deshalb konnten sie die Technik auch nicht in den neuen, häufig wechselnden Situationen anwenden, die sich in der eigenen Familie ergaben. Die Situationen waren eben niemals mit denen identisch, die der Autor in seinem Buch anführte. Sie konnten nicht von der besonderen Situation im Buch auf ähnliche (aber verschiedene) Situationen in ihrer Familie verallgemeinern. Wenn ich den Terminus »Modell« oder »Theorie« benutze, beziehe ich mich damit nicht auf irgendeine mehr oder minder unbegründete Vorstellung. In der Wissenschaft versteht man unter einem theoretischen Modell einen Plan oder ein Bündel von Richtlinien, anhand derer sich viele verschiedene Ereignisse oder Geschehnisse verstehen und erklären lassen. Die ›Familienkonferenz‹ beruht auf einem solchen Plan – einer Theorie der zwischenmenschlichen Beziehungen, die vieles (wenn natürlich auch nicht alles) erklärt, was sich in einer Beziehung zwischen zwei Menschen ereignet. Wir wissen jetzt besser, welche Elemente dieses Modells für Eltern besonders schwer zu verstehen sind. Darüber hinaus haben wir bessere Verfahren entwickelt, Eltern diese grundlegende Theorie zu vermitteln. Solange sie diese Grundlagen nicht begriffen haben, werden sie kaum in der Lage sein zu entscheiden, welche Technik in welcher Situation angebracht ist.

Die Theorie der ›Familienkonferenz‹ ist nicht nur ein Plan für effektive Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, sondern eine viel allgemeinere Theorie, die auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen anzuwenden ist – auf die zwischen Mann und Frau, Vorgesetztem und Untergebenem, Lehrer und Schüler, zwischen Rechtsanwalt und Klient oder Freund und Freund. Anfangs sind Eltern von dieser Tatsache stets überrascht. Aus Gründen, die mir nicht ganz einleuchten, gehen nämlich die meisten Eltern davon aus, dass sich die Eltern-Kind-Beziehung grundlegend von anderen Beziehungstypen unterscheidet. Nach der Auffassung von Eltern sind Kinder keine vollwertigen Menschen.

Die meisten Eltern sind der Überzeugung, dass man Erwachsenen gegenüber keine kritischen Bemerkungen machen sollte, durch die man sie in ihrem Stolz treffen könnte. Sie wären dann verletzt, und die Beziehung zu ihnen würde darunter leiden. Dieselben Eltern meinen, dass es sich mit Kindern ganz anders verhalte. Sie sind der Überzeugung, das Kind wäre in einem solchen Fall nicht verletzt und die Tatsache, dass man es herabgesetzt habe, würde der Beziehung keinen Abbruch tun. Die meisten Eltern behaupten sogar, dass Kinder Kritik brauchten und dass es ihnen nicht schade, wenn ihr Selbstbewusstsein von Zeit zu Zeit einen Dämpfer erhalte. Deshalb sei es die Pflicht guter Eltern, ihren Kindern solche Botschaften in reichlichem Maße zukommen zu lassen – »zu ihrem eigenen Besten«.

Eltern, die nachdrücklich die Auffassung vertreten, dass die Gewalt aus zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbannen sei, lassen sich dadurch nicht daran hindern, ihre Kinder körperlich zu strafen, ja, sie vertreten sogar die Auffassung, dass es diesen nütze! Ferner sind Eltern im Allgemeinen zweisprachig – eine Sprache benutzen sie mit Menschen und eine andere mit Kindern. Wenn ein Freund eine Schüssel fallen lässt und sie dabei zerbricht, würden die meisten Eltern bestrebt sein, ihrem Freund das Gefühl der Verlegenheit oder der Schuld zu ersparen. Ihre Botschaft würde in etwa lauten: »Oh, mach dir keine Gedanken wegen der Schüssel – das kann jedem passieren!« Wehe aber, wenn der achtjährige Sohn die Schüssel fallen lässt. Dann hören wir eine andere Sprache  – zum Beispiel: »Mein Gott nochmal, die schöne Schüssel – warum bist du auch so ungeschickt? Kannst du denn nicht aufpassen?«

Es fällt Eltern schwer, einzusehen, dass auch Kinder Menschen sind und dass die Ereignisse in der Eltern-Kind-Beziehung sich deshalb anhand derselben Grundsätze erklären lassen, die für alle zwischenmenschlichen Beziehungen gelten. Die Eltern, mit denen wir zusammengearbeitet haben, mussten einige sehr drastische Änderungen an ihren eigenen Theorien über Eltern und über Kinder vornehmen, bevor sie ihr Verhalten als Vater oder Mutter verändern konnten:

Sie mussten damit Schluss machen, ihre Kinder als eine besondere Spezies zu betrachten, und damit beginnen, sie als Personen wahrzunehmen.Sie mussten sich zu der Einsicht bequemen, dass die Verhaltensweise ihrer Kinder im Wesentlichen durch das bestimmt wird, was in der Eltern-Kind-Beziehung passiert.Sie mussten anfangen, einige der generellen Prinzipien (Grundlagen) zwischenmenschlicher Beziehungen zu verstehen.

Daher halte ich es für notwendig, in diesem ersten Kapitel die Grundprinzipien der Theorie zwischenmenschlicher Beziehungen zusammenzufassen, auf die sich die ›Familienkonferenz‹ gründet. Eltern, die dieses Buch gelesen oder an einem unserer Kurse teilgenommen haben, werden vielleicht versucht sein, das Kapitel zu überschlagen. Ich glaube jedoch, dass auch sie es mit Nutzen lesen werden. Nicht nur, weil wir die Theorie ergänzen und verfeinern, sondern auch, weil sie prüfen können, ob sie die Theorie wirklich verstanden haben. Eltern, die noch überhaupt keine Bekanntschaft mit dem Modell der ›Familienkonferenz‹ gemacht haben, sollten das erste Buch lesen. Nur so können sie sich einen vollständigen Überblick der grundlegenden Theorie verschaffen. Denn wenn sie die Theorie nicht verstanden haben, werden sie nicht beurteilen können, wann die Techniken zu verwenden sind, die in den folgenden Kapiteln beschrieben und an Beispielen demonstriert werden.

Das Prinzip der Inkonsequenz

Eine der Überzeugungen, denen man am häufigsten begegnet, ist die, dass Eltern konsequent sein müssten. Wenn man heute eine bestimmte Verhaltensweise seines Kindes nicht akzeptiert, darf man sie auch morgen nicht akzeptieren, oder man ist inkonsequent. Und dies sei falsch, haben die Eltern gelernt. Das Gleiche gilt für den umgekehrten Fall: Wenn man irgendeine Verhaltensweise am Montag »erlaubt«, verhält man sich seinem Kind gegenüber nicht richtig, wenn man sich von demselben Verhalten am Freitag auf die Palme bringen lässt oder es für unerträglich hält.

Dieser Mythos wurde in unseren Kursen bald zerstört. Sehr zur Erleichterung der Eltern, die sich bislang verzweifelt bemüht hatten, ihm gerecht zu werden, und als Lohn für ihre Mühe nur Schuldgefühle und Selbstvorwürfe geerntet hatten. Denn das Ziel war einfach zu hoch gesteckt. Es wurde gezeigt, dass an manchen Tagen bestimmte Verhaltensweisen akzeptabel sind, weil die Eltern in einer entsprechenden Verfassung sind. Zu anderen Zeiten können sie die gleichen Geschehnisse nicht akzeptieren, weil sie anders aufgelegt sind. Eine Mutter zweier aggressiver Kinder berichtet, dass sie auf den häufigen Streit ihrer Kinder unterschiedlich reagiert:

»Es hängt von meiner Stimmung ab, ob ich ihnen erlaube, ihre Streitereien in meiner Nähe auszutragen. Ich meine damit, dass es mich manchmal, wenn ich z. B. die Zeitung lese oder ähnlichen Beschäftigungen nachgehe, nicht berührt, wenn sie sich in meiner Nähe streiten oder sonst etwas anstellen. Es gibt aber Augenblicke, wo ich es nicht ausstehen kann, wenn sie in meiner Nähe spielen. Das merken sie, als läge Gedankenübertragung vor. Denn gehen sie woandershin.«

Ein Vater, ein Arzt, erzählte von der Inkonsequenz in seinem Verhalten gegenüber den Patienten in der Sprechstunde:

»Es gibt Tage, an denen mein Toleranzniveau ausgezeichnet ist. Dann sitze ich und höre zu. Das kann eine ganze Stunde lang dauern. Auch ein überfülltes Wartezimmer kann mich dann nicht stören … Es gibt aber Zeiten, da fehlt mir die Bereitschaft … Dann sage ich unter Umständen zu einem Patienten: ›Ich begreife gut, dass Sie das Bedürfnis haben, sich auszusprechen, aber ich kann Ihnen heute nicht zuhören.‹ Und ich nenne ihm den Grund dafür. Ich füge hinzu: ›Herzlich gern zu einem anderen Zeitpunkt‹, oder ›Lassen Sie sich einen neuen Termin geben‹. Kein Patient hat sich bisher darüber aufgeregt. Für mich war es eine Offenbarung! Bevor ich an der Familienkonferenz teilgenommen hatte, war es ganz anders. Wenn ich damals etwas zu tun hatte, regte es mich auf, wenn ein Patient vor mir saß und mir sein Herz ausschütten wollte. Ich sah dann zur Uhr oder ließ ihn auf andere Weise merken, dass ich kein Interesse an dem hatte, was er mir mitteilen wollte. Dann war er böse. Ich war nicht ehrlich zu ihm gewesen.«

Abbildung 1

Abbildung 2

Der Begriff des »Toleranzniveaus«, den der Arzt verwendet, stammt aus dem Modell der Familienkonferenz. Er öffnet den Eltern die Augen darüber, dass sie gar nicht anders als inkonsequent sein können. In unseren Kursen fordern wir die Eltern zunächst auf, sich ein Rechteck oder ein Fenster vorzustellen (Abb. 1). Darin sehen sie alle Verhaltensweisen ihres Kindes.

Dann machen wir deutlich, dass das Rechteck jedes Elternteils zwei verschiedene Verhaltensweisen enthält (Abb. 2): akzeptable und nicht akzeptable.

Wenn die Mutter ausgeruht ist und einer interessanten und befriedigenden Tätigkeit nachgeht, wird sie wahrscheinlich akzeptieren, dass ihre dreijährige Tochter auf dem Klavier herumhämmert. Diese Handlung wäre aber wahrscheinlich nicht akzeptabel, wenn die Mutter müde wäre und schlafen wollte. Außerdem gibt es Tage, an denen der Toleranzbereich eines Elternteils sehr groß ist. Alles läuft wie geschmiert, und beinahe nichts kann ihn aus der Ruhe bringen. Das Rechteck hätte die Form wie Abbildung 3.

Abbildung 3

Dann wieder mag der Vater aufgebracht sein oder Sorgen haben. Alles scheint schiefzugehen. Sein Rechteck sieht dann vielleicht so wie Abbildung 4 aus:

Abbildung 4

An solchen Tagen wird ihm fast alles, was sein Kind tut, nicht akzeptabel erscheinen. Solche Schwankungen der Trennungslinie (oder des »Toleranzniveaus«) sind häufig und für die meisten Eltern unvermeidlich. Es ist verständlich und normal, dass sie zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Verfassung sind.

»Es gibt Momente, in denen habe ich das Gefühl, nutzlos und ein Versager zu sein. Mir ist klar, dass es daher kommt, dass ich müde und niedergeschlagen bin. Aber ich habe dann einfach an allem etwas auszusetzen  – nichts ist an seinem Platz, keiner kann es mir recht machen.«

Wenn Eltern diese Veränderung des Rechtecks verstehen, erkennen sie damit die Tatsache an, dass sie schließlich auch nur Menschen und Stimmungsschwankungen unterworfen sind. Sie lernen es, mit dem Umstand zu leben, dass sie nicht immer die gleichen Gefühle ihren Kindern gegenüber hegen. Sie befreien sich von dem Schuldgefühl, das die Inkonsequenz ihres Verhaltens geschaffen hat.

Es gibt noch zwei andere Faktoren, die die Einstellungen und Verhaltensweisen von Eltern Schwankungen aussetzen. Zum einen lässt es sich überhaupt nicht vermeiden, dass Eltern das eine Kind akzeptabler als das andere finden. Kinder besitzen nun einmal unterschiedliche Persönlichkeiten und Merkmale. Zum anderen erleben Eltern immer wieder, dass ihre Einstellung zu bestimmten Verhaltensweisen sich je nach der Umwelt ändert, in der jene gezeigt werden.

Warum verhalten sich Eltern in ihrem Empfinden und Handeln inkonsequent gegenüber ihren Kindern, wenn sie mehrere Kinder haben? Weil nun einmal mit manchen Kindern leichter umzugehen ist als mit anderen. Und dies aus vielen Gründen. Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass ein Kleinkind (Kind A) sehr aggressiv, äußerst mobil und extrem neugierig ist. Es steckt seine Nase in alles und stiftet jede nur erdenkliche Unruhe in der Familie. Das andere Kind in dieser Familie (Kind B) weist ganz andere Merkmale auf – es ist ruhig, sorgsam und umsichtig. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die typischen Verhaltensrechtecke der Eltern für diese beiden so gegensätzlichen Kinder unterschiedliche Formen aufweisen. Einige Kinder, die ich kennengelernt habe, übten so viel Charme und Anziehungskraft auf mich aus, dass ich in der Regel alles akzeptierte, was sie taten. Ich bin aber auch anderen Kindern begegnet, die aufgrund ihrer besonderen Charaktermerkmale Verhaltensweisen an den Tag legten, die ich einfach nicht akzeptieren konnte.

Und wie verleitet die Umwelt Eltern zur Inkonsequenz? Nehmen wir als Beispiel ein lebhaftes Spiel. Draußen im Hof mag es der Vater akzeptieren – oder ihm sogar mit Wohlwollen begegnen. Im Wohnzimmer wird er solch ein Verhalten nicht dulden (Abb. 5 und 6).

Abbildung 5

Die Tischmanieren eines 14-jährigen Sohnes mögen zu Hause akzeptabel sein, in einem Restaurant aber nicht akzeptabel und peinlich.

Alle Eltern werden von diesen drei Faktoren beeinflusst: ihrer Stimmung, dem Kind und der Umwelt. Ständig ertappen sie sich dabei, dass sie in Einstellung und Verhalten ihren Kindern gegenüber inkonsequent sind. Durch die Wechselwirkung der drei Faktoren ist die Trennungslinie zwischen dem Bereich der akzeptablen Verhaltensweisen und dem Bereich der nicht akzeptablen Verhaltensweisen (Abb. 7) ständigen Schwankungen unterworfen.

Da haben wir das Prinzip der Inkonsequenz. Ständig wird man sich dessen schuldig machen, und zwar in dem Maße, in dem man Stimmungsschwankungen unterworfen ist, es mit verschiedenen Kindern zu tun hat und sich in unterschiedlichen Umwelten bewegt. Sofern man das Prinzip akzeptiert, wird man sich viel Schuldgefühle und Angst er-sparen. Wir alle sind Menschen, und als solche empfinden wir inkonsequente Gefühle gegenüber unseren Kindern. Wenn wir uns zu dieser Tatsache bekennen, können wir uns das Geschäft der Elternschaft um ein Beträchtliches erleichtern.

Abbildung 6

Abbildung 7

Eine weitere Erscheinungsform des Prinzips der Inkonsequenz sollte erwähnt werden. Denn noch eine andere generell hingenommene Vorstellung erschwert das Dasein von Eltern unnötig. Gemeint ist die Überzeugung, dass beide Eltern in Verhalten und Empfinden einem Kind gegenüber immer identisch vorgehen – ihm gegenüber »geschlossene Front« machen müssten. Abgesehen davon, dass dieser Grundsatz zu vielen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zwischen den Eltern führt, kann er auch die Ursache von Schuldgefühlen und Groll sein. So berichtet eine Mutter:

»Mein Mann glaubt, dass es ein Zeichen von Schwäche sei, wenn man mit den Kindern verhandle. Stattdessen müsse man sie ins Bett schicken, wenn man mit ihnen unzufrieden sei … Die ›Familienkonferenz‹ hat mir die Augen geöffnet. Ich weiß nun, was mir gefehlt hat. Dies gilt insbesondere für die Vorstellung, dass Mann und Frau durchaus anderer Meinung sein können. Als ich das las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Wenn ich an all die Schuldgefühle denke, die ich hatte, wenn ich mich seiner Meinung nicht anschließen konnte! … Der Gedanke, dass ich ein Recht hatte, eine andere Meinung zu haben, war zu schön … Er empfindet es immer noch als sehr bedrohlich, aber ich fühle mich jetzt sicher … Als ich zum ersten Mal eine abweichende Auffassung äußerte, war er verletzt, als widersetzte ich mich seiner Autorität, die ich ihm bislang zugebilligt hatte.«

Eine andere Mutter berichtet von den Erfahrungen, die sie bei dem Versuch machte, eine geschlossene Front mit dem Vater zu bilden:

»Man hatte uns immer gesagt, wir müssten eine geschlossene Front bilden, wissen Sie, oder unsere Kinder würden verrückt, unausgeglichen oder etwas dergleichen. Unser Kursleiter dagegen meinte, es sei absolut nicht notwendig. Unsere Kinder würden es schon verkraften, weil sie wüssten, dass zwei Menschen nicht immer und in jeder Hinsicht der gleichen Meinung sein können. Unserem Sohn Mike gegenüber hatte ich immer versucht, die Meinung meines Mannes zu vertreten. Immer hieß es: ›Dein Vater meint dies und dein Vater meint das. Tu, was dein Vater sagt.‹ Ich fühlte mich dann aber nicht in der Lage, Mike während der häufigen Abwesenheit seines Vaters bei der Lösung seiner Probleme zu helfen, weil ich erst sichergehen musste, ob das, was ich vorhatte, auch im Sinne des Vaters war. … Ich glaubte, alles müsse erst mit ihm abgestimmt werden.«

Solche Konflikte können sehr gefährlich für die Ehebeziehungen sein. Zu ihrer Vermeidung oder Entschärfung lehrt die ›Familienkonferenz‹ deshalb die Eltern, unabhängige Beziehungen zu ihren Kindern zu suchen, statt sich zu bemühen, eine geschlossene Front ihnen gegenüber zu bilden. Jedem Elternteil steht es frei, individuell auf ein bestimmtes Verhalten des Kindes zu reagieren. Die Rechtecke sehen dann wie bei Abbildung 8 aus.

Hier sollte es die Mutter dem Vater überlassen, auf die Tischmanieren des Kindes einzuwirken. Schließlich fühlt er sich durch sie gestört. Sie sollte nicht in den Fehler verfallen, an seiner Stelle zu handeln. In diesem Falle würde sie gegen ihr Empfinden handeln – in gewissem Sinne wäre sie also unehrlich. Zum einen würde sie das sicherlich belasten (sie würde Groll empfinden oder sich unterwürfig vorkommen). Zum anderen besteht die Gefahr, dass das Kind die Unaufrichtigkeit der Mutter bemerken und die Achtung vor ihr verlieren würde. Einige der Schwierigkeiten, die mit der Ideologie der geschlossenen Front verknüpft sind, zeigen sich im folgenden Auszug aus einem Interview mit einer Mutter. Sie berichtet, wie ihr Mann und sie ihre Inkonsequenz erkannten und das Problem der Tischmanieren in ihrer Familie lösten:

Abbildung 8

M: Nach dem Kurs veränderte ich mich von Grund auf … Besonders auffällig war die Veränderung in meiner Beziehung zu den Kindern. Dies war auch der Grund dafür, dass mein Mann dann ebenfalls an einem Kurs teilnahm: Er sah, wie sehr sich meine Beziehung zu den Kindern verändert hatte.

L: Wie veränderte sich die Beziehung?

M: Oh, ich wurde viel gelassener. Er bemerkte, wie sich die Kommunikation veränderte – wirklich positiv veränderte. Außerdem bemerkte er, dass ich ihm seine eigenen Probleme überließ.

L: Zum Beispiel?

M: Oh, ein schönes Beispiel sind die Tischmanieren. Ich kümmerte mich nicht mehr um die Tischmanieren der Kinder. Das war nicht mein Problem. Es machte mir nichts aus, wie sie das Essen hineinstopften. Er aber war von einem sehr strengen Onkel erzogen worden, der das reinste Drama aus den Tischmanieren gemacht hatte. Früher hatte ich die Kinder bei Tisch zurechtgewiesen, weil ihn störte, was sie taten.

L: Sie hatten sich also um eine geschlossene Front bemüht.

M: Ich hatte die Verantwortung für ihn übernommen … Als dies Problem im Kurs zur Sprache kam, dachte ich: »Warum tue ich das? Warum meckere ich über etwas, was mich nicht stört, sondern was eigentlich sein Problem ist …?« Ich hatte immer geglaubt, er sei großzügig und ich nervös. Dann bemerkte ich aber, dass er einen Großteil der Probleme besaß, nicht ich. Daraufhin hackte ich nicht mehr so viel auf den Kindern herum. Und ich stellte fest, dass ich dabei gar nicht so schlecht fuhr. Ich hatte bislang das Empfinden gehabt, die »Lästige« in der Familie zu sein. Jetzt fiel der Druck von mir ab, während er gezwungen war, sich mit den Dingen zu beschäftigen, die ihm nicht passten … Ich bemerkte auch, dass die Kinder, wenn sie mit mir allein waren, auf die Dinge verzichteten, die sie taten, wenn er anwesend war. Es geschah also nur, um ihn zu ärgern …

L: Wie lösten Sie das Problem?

M: Nun, es stellte sich heraus, dass meinen Mann die Tischmanieren der Kinder nur störten, wenn wir zum Essen in ein Restaurant gingen. Er mochte es nicht, wenn sie dann mit den Händen aßen oder in anderer Hinsicht gegen die guten Sitten verstießen. So einigten wir uns darauf, dass er die Kinder zu Hause in Frieden lassen würde. Dafür beschlossen wir, an einem Abend in der Woche im Esszimmer mit Tischdecke und Kerzen zu essen. Die Kinder sollten sich ihrer besten Manieren befleißigen. Auf diese Weise sollten sie so essen lernen, wie ihr Vater es von ihnen in der Öffentlichkeit erwartete. Ich brauchte mich die übrige Zeit nicht um sie zu kümmern, trotzdem würden sie die Unterweisung erhalten, die er für notwendig hielt.

L: Funktionierte das?

M: Großartig. Außerdem machte es Spaß. Wissen Sie, wenn der Tisch schön gedeckt wird und Kerzen brennen, reißt sich jeder ein bisschen zusammen.

Das Prinzip des Problembesitzes

Ein entscheidender Begriff der ›Familienkonferenz‹ ist das Prinzip des Problembesitzes. Seine Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aus den Interviews mit den Eltern geht hervor, dass die falsche Anwendung der›Familienkonferenz‹ häufig daher rührt, dass die Eltern dieses Prinzip missverstehen. Der Begriff ging in die ›Familienkonferenz‹ ein, weil viele Eltern den Fehler machen, die Probleme ihrer Kinder an deren Stelle lösen zu wollen, statt sie dazu zu bewegen, diese selbst zu lösen. In den Interviews hörten wir viele Äußerungen wie die folgende:

»Wissen Sie, sie hatten die Gewohnheit angenommen, mit allen ihren Problemen zu mir zu kommen. Da hieß es z. B.: ›Mir ist ein Zehncentstück in einen Kanaldeckel gefallen, was soll ich jetzt tun?‹ Ich musste einfach alles für sie erledigen, weil ich mir ein entsprechendes Image geschaffen hatte. Mama war zuständig für das Lösen von Problemen, bis sie davon so frustriert war, dass ihr die Rolle zum Halse heraushing. Ich wusste nicht, wie ich sie loswerden sollte. Ich konnte einfach nicht sagen: ›Lasst mich um Gottes willen in Ruhe. Ich bin müde. Ich habe Kopfschmerzen. Haut ab und löst eure Probleme selbst.‹ Sie wurden ja nicht mit ihnen fertig.«

»Das größte Erlebnis mit der ›Familienkonferenz‹ war für mich, dass ich zu entscheiden lernte, wer ein bestimmtes Problem besitzt. Es war wirklich von der allergrößten Bedeutung. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, dass Frankie Probleme hatte und dass ich sie nicht in Besitz zu nehmen brauchte … Und ich hatte sie jahrelang besessen.«

»Bevor ich am Kurs teilnahm, ließ ich sie ihre Probleme nicht selbst lösen. Ich versuchte, ihr irgendwie zu helfen. Heute hat sie aber – so glaube ich – ihre Fähigkeit erheblich verbessert, mit ihren Problemen selbst fertigzuwerden … Es tut mir gut zu sehen, wie sie ihre eigenen kleinen Beziehungsprobleme selbst löst … Ich bin erstaunt festzustellen, dass sie auf diesem Gebiet weit mehr Fähigkeiten besitzt, als ich in ihrem Alter oder auch später noch besaß. Ich habe das Gefühl, dass ich ihr bei ihrer Entwicklung helfe. Sie hat viele Entwicklungsschritte getan, zu denen ich nie in der Lage war … Die Technik der ›Familienkonferenz‹ ermöglichte mir, sie ihren eigenen Problemen weitgehend zu überlassen, ohne meine Lösungen aufzudrängen … Die Feststellung, dass sie sich mit ihren Problemen befasst, ermöglichte mir, mich zurückzuhalten. Ich zwinge ihr meine Lösungen nicht auf, die der Situation weit weniger gerecht werden als diejenigen, auf die sie selbst kommt.«

Wenn die Eltern das Prinzip des Problembesitzes verstanden haben, kann es zu einer tief greifenden Veränderung in ihrem Verhalten gegenüber den Kindern führen. Im Kurs werden die Eltern mit dem Begriff anfangs auf dieselbe Weise vertraut gemacht, die zur Unterscheidung »akzeptabler« und »nicht akzeptabler« Verhaltensweisen verwendet wird. Wieder müssen sie sich ein Rechteck vorstellen. Diesmal müssen sie jedoch einen dritten Bereich hinzufügen. Dies geht aus dem rechten Rechteck der Abbildung 9 unten hervor.

Beginnen wir mit dem unteren Teil des Rechtecks auf der rechten Seite. Wie der Leser sich erinnern wird, handelt es sich hier um die Verhaltensweisen, die von dem Elternteil nicht akzeptiert werden, weil sie seine Rechte verletzen oder ihn daran hindern, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Beispiele: Das Kind ist laut, wenn die Eltern sprechen, das Kind trödelt, wenn die Eltern es eilig haben, das Kind kritzelt auf die Tapete, das Kind verstreut seine Spielsachen oder Kleidungsstücke im Wohnzimmer, das Kind verkratzt die Tischplatte usw. Solche Verhaltensweisen bedeuten, dass der Elternteil das Problem besitzt. Es ist an ihm, das Verhalten zu verändern, das das Problem hervorruft.

Im oberen Teil des Rechtecks zeigen wir Verhaltensweisen des Kin-des, die anzeigen, dass hier das Kind das Problem besitzt: Die Bedürfnisse des Kindes werden nicht befriedigt, das Kind ist unglücklich, frustriert oder in Schwierigkeiten. Beispiele: Das Kind ist unzufrieden, weil es niemanden zum Spielen hat; das Kind wird von einem seiner Freunde zurückgewiesen; dem Kind erscheinen seine Schularbeiten zu schwierig; das Kind ist auf seinen Lehrer böse; der Teenager ist unglücklich wegen seines Übergewichtes. Es handelt sich um Probleme aus dem Lebensbereich der Kinder. Sie haben mit dem Leben der Eltern nichts zu tun. In solchen Situationen besitzt das Kind das Problem.

Abbildung 9

Der Mittelbereich des Rechtecks ist Verhaltensweisen des Kindes vorbehalten, die weder für die Eltern noch für es selbst ein Problem darstellen. Es ist dies die kostbare Zeit, in der Eltern und Kinder in einer problemfreien Beziehung zueinander stehen, zusammen spielen, sich unterhalten, arbeiten oder irgendeiner anderen gemeinsamen Beschäftigung nachgehen. Es ist dies die problemfreie Zone.

Gerade wenn das Kind das Problem besitzt, sind Eltern häufig versucht, einzuspringen, die Verantwortung für seine Lösung zu übernehmen, sich selbst Vorwürfe zu machen, wenn sie dazu nicht in der Lage sind. Die ›Familienkonferenz‹ bietet Eltern, die bestrebt sind, ihren Kindern zu helfen, eine Alternative an: dem Kind das Problem zu überlassen und abzuwarten, was es selbst für eine Lösung findet. Etwas vereinfacht enthält der neue Ansatz folgende Elemente:

Alle Kinder bekommen in ihrem Leben unvermeidlich mit Problemen der verschiedensten Art zu tun.Kinder haben ungeahnte und meistens unentdeckte Fähigkeiten zur Lösung ihrer Probleme.Wenn Eltern ihre Kinder mit vorfabrizierten Lösungen versorgen, bleiben die Kinder abhängig. Sie kommen nicht dazu, eigene Problemlösungsfertigkeiten zu entwickeln. Immer wieder werden sie sich an ihre Eltern wenden, wenn sie auf ein neues Problem stoßen.Wenn Eltern die Probleme ihrer Kinder übernehmen (oder sie in »Besitz« nehmen), übernehmen sie die volle Verantwortung dafür, mit einer guten Lösung aufzuwarten. Dies wächst sich nicht nur zu einer sehr unangenehmen Belastung aus, sondern wird auch zu einer ihre Kräfte übersteigenden Aufgabe. Niemand hat die unerschöpfliche Weisheit, die erforderlich ist, um für die persönlichen Probleme anderer Leute gute Lösungen herbeizuzaubern.Wenn die Eltern akzeptieren können, dass sie die Probleme ihres Kindes nicht besitzen, fällt es ihnen viel leichter, die Lösungen, die ihr Kind selbst sucht, »anzubahnen«, »zu katalysieren« oder »zu unterstützen«. Sie unterstützen das Kind bei seinem Versuch, sich aus eigener Kraft durch den Problemlösungsprozess hindurchzuarbeiten.Kinder brauchen bei bestimmten Problemen Hilfe. Auf lange Sicht ist jedoch – so paradox es klingt – die beste Form der Hilfe eine Art »Nicht-Hilfe«. Genauer gesagt, handelt es sich um eine Form der Hilfe, die dem Kind die Verantwortung dafür überlässt, seine eigenen Lösungen zu suchen und zu finden. In der ›Familienkonferenz‹ nennen wir dies die »Hilfstechniken« (Abb. 10).

Wenn die Verhaltensweisen des Kindes die Eltern vor ein Problem stellen (jenes Verhalten, das wir oben im unteren Drittel des Rechtecks untergebracht haben), müssen wir auf eine andere Art von Techniken zurückgreifen. Wir benötigen Techniken, die geeignet sind, das nicht akzeptable Verhalten des Kindes zu verändern. Wenn ein Kind die Rechte der Eltern verletzt oder etwas tut, was die Eltern daran hindert, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, besitzen die Eltern das Problem. Folglich brauchen sie Techniken, die ihnen selbst nützen. Wir nennen diese Kategorie »Konfrontationstechniken« (Abb. 11).

Abbildung 10

Wenn die Eltern das Problem besitzen, bedarf es einer Haltung, die dem Kind mitteilt: »Ich habe ein Problem und brauche deine Hilfe.« Wir haben es also mit einer ganz anderen Haltung zu tun als in dem Fall, wenn das Kind ein Problem besitzt. Dort übermitteln die Eltern die Botschaft: »Es scheint, als hättest du ein Problem; brauchst du meine Hilfe?« Wir können jetzt die wichtigsten Merkmale unseres Modells grafisch darstellen:

Wir vermitteln den Eltern Techniken, durch die sich die Zahl der Probleme des Kindes reduzieren lässt (die die Zone im oberen Drittel des Rechtecks schrumpfen lassen).Außerdem vermitteln wir den Eltern ganz andere Techniken, durch die sich die Zahl der Probleme, vor die sie durch ihre Kinder gestellt werden, reduzieren lässt (die die Zone im unteren Drittel des Rechtecks schrumpfen lassen) (Abb. 12).

Abbildung 11

Abbildung 12

Die erfolgreiche Anwendung dieser beiden Techniken vergrößert die problemfreie Zone. In der Eltern-Kind-Beziehung wird jener Zeitraum größer, da niemand irgendwelche Probleme hat. Beide Teile können ihre Bedürfnisse befriedigen und ihr gemeinsames Leben genießen.

In den Kapiteln 3, 4 und 5 werde ich mich ausschließlich mit den Hilfstechniken beschäftigen. Dabei werde ich von den Schwierigkeiten berichten, denen die Eltern häufig begegnen. Ich werde Vorschläge machen und Richtlinien geben, anhand derer die Eltern solche Schwierigkeiten überwinden oder vermeiden können. Außerdem werde ich in Fallbeschreibungen zu zeigen versuchen, welcher Lohn und Nutzen sie erwartet, wenn sie diese Techniken bei ihren Kindern effektiv verwenden. In den Kapiteln 6, 7 und 8 werde ich mich mit den entsprechenden Aspekten der Konfrontationstechniken befassen.

3. Neue Möglichkeiten, Kindernbei ihren Problemen zu helfen

Es ist ganz gewiss nicht einfach, Eltern dazu zu bewegen, den Kommunikationsstil zu verändern, den sie verwenden, wenn das Kind das Problem besitzt. Wir haben es hier mit Gewohnheiten zu tun, die den Betroffenen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Die meisten Eltern reagieren angesichts einer Situation, in der ihr Kind vor einem Problem steht, genauso, wie ihre Eltern es taten. Da sie nie die Möglichkeiten hatten, sich eine bessere Reaktionsweise anzueignen, begehen die Eltern die gleichen Fehler, die ihre Eltern machten. Eltern, deren eigene Eltern Moralpredigten hielten, neigen dazu, bei eigenen Kindern ebenso zu verfahren. Eine Mutter, deren Eltern sich vor allem auf Vorträge und Faktenvermittlung verließen, wird bei dem Versuch, ihrem Kind bei der Lösung eines Problems zu helfen, höchstwahrscheinlich in der gleichen Weise reagieren. Kinder, die Trost und Einfühlung gewöhnt sind, werden trostreiche und einfühlsame Eltern werden. Individuen, deren Eltern immer mit Rat und Lösungen für ihre Probleme zur Stelle gewesen sind, werden sich dabei ertappen, dass sie als Eltern dasselbe versuchen.

Die ›Familienkonferenz‹ verlangt von den Eltern, die meisten ihrer Gewohnheiten zu verlernen, die sie ihren Kindern gegenüber angenommen haben, wenn diese vor eigenen Problemen stehen. Genauer, Eltern müssen lernen, mit dem Reden aufzuhören und mit dem Zuhören anzufangen. Es stellt sich jedoch heraus, dass viele Eltern den Unterschied zwischen Zuhören und Reden nicht kennen! Wir haben unsere Techniken verbessert, den Eltern diesen Unterschied klarzumachen.

Kaum begegnet man heute noch irgendwelchen Eltern, die nie gehört haben, wie wichtig es ist, Kindern zuzuhören. Keine der Autoritäten, denen man in Büchern, Zeitschriften, auf der Rednertribüne oder auf dem Bildschirm begegnet, verzichtet auf diese abgedroschene Phrase, wenn sie ihre Gebrauchsanweisung zur vorbildlichen Erfüllung der Elternrolle liefert.

Fast genauso häufig, wie diese Weisheit hergebetet wird, sind Eltern davon überzeugt, dass sie ihren Kindern in der Praxis wirklich zuhören. »Natürlich höre ich meinen Kindern zu«, meinen die meisten Eltern. Nur noch wenige Eltern halten sich in unserer Zeit an die altmodische Vorstellung, dass »man Kinder sehen, aber nicht hören soll«. So sind die Eltern sehr überrascht, wenn sie feststellen, dass sie sich den Begriff des Zuhörens zwar abstrakt zu eigen gemacht haben, dass sie aber in konkreten Situationen zum aktiven Zuhören nicht in der Lage sind. Und gerade dort wäre es so nötig.

In der ›Familienkonferenz‹ lernen die Eltern zunächst zu unterscheiden, wann sie ihren Kindern zuhören und wann sie zu ihnen sprechen. Eine Mutter drückte es so aus:

»Was mich am meisten bedrückt, ist, dass man niemals weiß, ob das Kind ein Problem hat – manchmal trägt es seine Schwierigkeiten tagelang mit sich herum. Der Gedanke ist schrecklich, dass ich die Gelegenheit versäumt habe, ihm zu helfen, weil ich die Tür zugemacht habe … Ich habe viel Zeit damit zugebracht, mit ihm zu sprechen – ich glaube, ich habe sehr viel mit ihm geredet … Es hat uns viel Mühe gemacht, an unseren Sohn heranzukommen. Ich fand keinen Zugang zu ihm. Er ist sehr still. Verzweifelt habe ich nach Dingen gesucht, die ich ihm sagen konnte. Schließlich bin ich seine Mutter und muss mit ihm reden.«

Viele Eltern lassen in Interviews wie diesen erkennen, dass sie zuhören und reden verwechseln:

»Wenn dieses Problem sich zeigte, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Früher habe ich schreckliche Angst vor dieser Situation gehabt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.«

»Früher habe ich viel mehr Fragen gestellt. Wenn mein Kind ein Problem hatte, sagte ich zum Beispiel: ›Nun was gibt es? Warum bist du aufgebracht?‹ Man sieht es meinen Kindern sofort – wenn sie ins Zimmer kommen – an, ob sie über irgendetwas aufgebracht sind. Und dann habe ich sofort mit dem Fragen begonnen.«

Mit wenigen Ausnahmen war bei allen Eltern, die an unseren Kursen teilgenommen haben, die typische Reaktion, dass sie einem Kind, das mit einem Problem zu tun hatte, nicht zuhörten, sondern zu ihm sprachen. Sie glaubten, sie müssten dem Kind etwas sagen, ihm irgendeine Botschaft zukommen lassen, ihm etwas mitteilen.

Deshalb haben wir es immer als unsere erste Pflicht angesehen, den Eltern bewusst zu machen, wie ihre typische verbale Reaktion in dem Augenblick aussieht, da ihre Kinder ihnen von Problemen berichten. Manchmal ist unsere Methode auf Verwirrung und nicht selten auf erheblichen Widerstand gestoßen. Neuerlich haben wir ein Verfahren entwickelt, mit dessen Hilfe sich Verwirrung und Widerstand abbauen lassen. In diesem Kapitel möchte ich deshalb die Eltern mit einigen der neuen Erkenntnisse bekanntmachen und einige Richtlinien nennen, durch die man ein effektiverer Zuhörer werden kann.

Wenn es Eltern nicht gelingt, die zwölf Kommunikationssperren zu vermeiden

In der ersten Kurssitzung führen die Kursleiter eine Übung mit den Eltern durch. Dabei spielt der Leiter nacheinander die Rolle verschiedener Kinder, die mitteilen, sie hätten ein Problem. Die Kursteilnehmer werden aufgefordert, wörtlich niederzuschreiben, wie sie auf jedes einzelne der Kinder reagieren würden. Ihre Antworten werden dann eingesammelt und analysiert, gut 90 Prozent lassen sich zwölf Grundkategorien zuordnen. Wir nennen sie die zwölf Kommunikationssperren. Nehmen wir einen 14-jährigen Jungen, der seinen Eltern von den Problemen berichtet, die er mit Hausaufgaben und Schule hat:

»Ich kann meine Hausaufgaben einfach nicht erledigen. Ich hasse sie. Und ich hasse die Schule. Sie ist langweilig. Sie bringen mir nichts von dem bei, was ich im Leben gebrauchen könnte – es ist unnützes Zeug. Wenn ich alt genug bin, werde ich die Schule verlassen. Ich brauche die Schule nicht, um im Leben vorwärtszukommen.«

Hier sind einige der typischen Antworten, die die Eltern im Rahmen der Kursübung für diesen Jungen vorsahen. Die rechte Spalte gibt an, in welche Kategorie der Kommunikationssperren jede der Antworten fällt:

AntwortSperrentyp»Mein Sohn wird die Schule nicht verlassen. Das werde ich nie zulassen!«befehlen, anordnen, auffordern»Wenn du die Schule verlässt, brauchst du keine finanzielle Unterstützung mehr zu erwarten.«warnen, drohen»Lernen ist für jedermann von größtem Nutzen.«moralisieren, predigen, beraten, Lösungen geben»Ein Collegeabsolvent verdient über die Hälfte mehr als ein High-schoolabsolvent.«Vorträge halten, belehren, Fakten liefern»Du denkst kurzsichtig und unreif.«urteilen, kritisieren, Vorwürfe machen»Du bist immer ein guter Schüler mit großen Fähigkeiten gewesen.«loben, zustimmen»Du redest wie ein ›Hippie‹.«beschimpfen, lächerlich machen»Du magst die Schule nicht, weil du jeder Mühe aus dem Wege gehst.«interpretieren, analysieren»Ich weiß, wie dir zumute ist, aber die Schule wird dir in deinem späteren Leben zugute kommen.«trösten, einfühlen»Was würdest du ohne eine Ausbildung anfangen? Wie würdest du deinen Lebensunterhalt verdienen?«forschen, fragen, verhören»Wir wollen bei Tisch keine Probleme erörtern! Wie steht’s in der Bundesliga?«zurückziehen, ablenken, ausweichen

Diese Übung zeigt, dass Eltern, wenn sie mit dem Problem des Kindes konfrontiert werden, in der Regel etwas sagen: Sie geben einen Befehl, warnen, halten eine Moralpredigt, geben einen Rat, halten einen Vortrag, äußern Kritik, schimpfen, diagnostizieren, predigen, trösten, fragen oder lenken ab. Bei solchen Antworten der Eltern lässt sich die Kommunikation zwischen Eltern und Kind als Diagramm, wie in Abbildung 13 gezeigt, darstellen.

Abbildung 13

Diese typischen Antworten nennen wir Sperren, weil sie häufig jeden weiteren Versuch zur Kommunikation auf Seiten des Kindes unterbinden. Sie können sich auch negativ auf die Selbstachtung des Kindes auswirken oder die Eltern-Kind-Beziehung beeinträchtigen.

Die zwölf Kommunikationssperren wirken sich mit großer Wahrscheinlichkeit in der einen oder anderen der unten genannten Weisen aus:

– Sie verschließen ihnen den Mund.– Sie drängen sie in die Defensive.– Sie geben ihnen das Gefühl von Unzulänglichkeit und Inferiorität.– Sie machen sie empört und zornig.– Sie geben ihnen das Gefühl, schuldig oder schlecht zu sein. Sie geben ihnen das Gefühl, sie würden so, wie sie sind, nicht akzeptiert.– Sie geben ihnen das Gefühl, man traue ihnen nicht zu, dass sie ihre Probleme selbst lösen könnten.– Sie geben ihnen das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Sie geben ihnen das Gefühl, ihre Empfindungen seien nicht gerechtfertigt.– Sie geben ihnen das Gefühl, man schneide ihnen das Wort ab. Sie geben ihnen das Gefühl der Frustration.– Sie geben ihnen das Gefühl, sie würden in den Zeugenstand gerufen und ins Kreuzverhör genommen.– Sie verleihen ihnen das Gefühl, die Eltern seien uninteressiert.

Zahlreiche Eltern berichteten uns von den Erfahrungen, die sie machten, als sie in der Weise der einen oder anderen Kommunikationssperre auf ihre Kinder reagierten:

»Früher redete ich, glaube ich, ziemlich viel. Wenn sie zum Beispiel sagten: ›Ich mag meine Lehrerin nicht‹, pflegte ich zu sagen: ›Du solltest deine Lehrerin nicht hassen‹, oder: ›Sie tut ihr Bestes‹, oder etwas dergleichen. Ich weiß heute, dass ich sie dadurch dazu brachte, ihre Gedanken für sich zu behalten.«

»Ich bin mit den Kindern oft zum Arzt oder Zahnarzt gegangen. Den ganzen Weg über klagten sie: Sie wollten keine Spritze oder sie konnten den Arzt nicht ausstehen. Um sie in bessere Stimmung zu versetzen, habe ich ihre Gefühle nicht zur Kenntnis genommen, indem ich zum Beispiel sagte: ›Oh, ihr habt ja in Wirklichkeit gar keine Angst, dorthin zu gehen.‹ Das war falsch. Heute weiß ich das genau … Wenn jemand ihnen sagt, dass sie solche Empfindungen nicht hegen dürfen, haben sie das Gefühl, unrecht zu haben – dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmt, weil sie Angst haben. Sie verlieren dadurch die positive Einstellung zu sich selbst.«

»Als Timmy in den Kindergarten kam, konnte er zu Hause nichts von dem erzählen, was sich morgens getan hatte. Ich fragte ihn direkt danach, aber er antwortete nicht … Dann stellte ich fest, dass er auch sonst kaum jemals auf meine direkten Fragen antwortete. Es war für mich als Lehrerin sehr frustrierend, ein Kind zu haben, das den Mund hielt, wenn man es etwas fragte … Dann entdeckte ich, dass meine Gewohnheit, Timmy direkt zu befragen, ihn in eine sehr verletzliche Position brachte. Er verabscheute es, unrecht zu haben. Statt also eine Frage falsch zu beantworten, zog er es vor, überhaupt nicht zu reagieren. Eine Woche lang achtete ich auf mich und bemerkte die Schärfe in meiner Stimme. Es war eine beschämende Entdeckung. Die entschiedene Objektivität und anklägerische Pose, die im Unterricht so gut funktionierte, erdrückte meinen zarten fünfjährigen Jungen. Er konnte sich nur durch Schweigen wehren. Dann stellte ich allmählich fest, dass ich in freundlicherem Ton Antworten hervorlocken konnte. Wenn ich geduldig war und sorgfältig zuhörte, konnte ich am Ende in Erfahrung bringen, was er über den Tag im Kindergarten dachte … Nach und nach gewährte er mir Einblick in sein Innenleben.«

Diese drei Eltern entdeckten jeder für sich ein wichtiges Prinzip zwischenmenschlicher Beziehungen: Wenn jemand sich bedrückt fühlt, nützt es selten, in ihn zu dringen, zu moralisieren, Vorträge zu halten oder zu trösten. Viel eher werden diese Botschaften ebenso wie die anderen Kommunikationssperren den Versuch zur Problemlösung unterbinden.

Neue Erkenntnisse hinsichtlich der zwölf Kommunikationssperren

Die Erfahrung hat uns gezeigt, auf welche Schwierigkeiten die Eltern im Zusammenhang mit den Kommunikationssperren stoßen. Einige meinen nach Beendigung des Kurses, sie dürften nie wieder eine Frage stellen, nie wieder Informationen liefern, Lösungen anbieten, etwas befehlen oder einen Scherz mit ihren Kindern machen. Andere können einfach nicht glauben, dass sich bestimmte Sperren wirklich als Hemmnisse auswirken – Fragen zum Beispiel. Andere können sich von der falschen Vorstellung nicht trennen, dass jemand, der mit einem Problem zu tun hat, es immer begrüßen wird, wenn man ihm eine Lösung anbietet.

Manchmal sind die Kommunikationssperren keine Sperren

Wir haben den Eltern nicht immer deutlich genug klargemacht, dass die Kommunikationssperren nicht notwendig