Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens - Richard Sennett - E-Book

Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens E-Book

Richard Sennett

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Beschreibung

Im Jahr 2050 werden zwei Drittel aller Menschen in Städten leben – wie können Bewohner mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen eine friedliche Koexistenz führen? Richard Sennett stellt die Frage nach der Beziehung zwischen urbanem Planen und konkretem Leben: Wie hat sie sich historisch gewandelt? Wie kann eine offene Stadt aussehen, die geprägt ist von Vielfalt und Veränderung – und in der Bewohner Fähigkeiten zum Umgang mit Unsicherheiten entwickeln? Richard Sennett zeigt, warum wir eine Urbanistik brauchen, die eine enge Zusammenarbeit von Planern und Bewohnern einschließt und voraussetzt – und dass eine Stadt voller Widersprüche urbanes Erleben nicht einengt, sondern bereichert.

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Städte sind der Lebensraum der Zukunft. Wie können Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Hintergründen dort gut zusammenleben? Kann das gebaute Umfeld der komplizierten Realität gerecht werden? Für Richard Sennett sind dies Schlüsselfragen – denn es ist eine Sache, wie Städte geplant werden; eine andere, wie Menschen darin wohnen. Meisterhaft analysiert er in seinem neuen Buch das Verhältnis von Gelebtem und Gebautem im urbanen Raum: Wie hat sich die Beziehung historisch gewandelt? Warum hat sich die »geschlossene Stadt« – isoliert, reglementiert und überwacht – mitsamt ihren Konflikten als Modell vom globalen Norden hin zu den explodierenden Metropolen des globalen Südens ausgebreitet? Und wie kann eine offene Stadt aussehen, die Vielfalt, Unordnung und Veränderung nicht nur zulässt – sondern die Voraussetzungen dafür schafft? Richard Sennett zeigt, warum wir eine Urbanistik brauchen, die eine enge Zusammenarbeit von Planern und Bewohnern einschließt – und dass eine Stadt voller Widersprüche urbanes Erleben nicht einengt, sondern bereichert.

Hanser Berlin E-Book

Richard Sennett

DIE OFFENE STADT

Eine Ethik des Bauens und Bewohnens

Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff

Hanser Berlin

Für Ricky und Mika Burdett

INHALT

1  Einleitung: Krumm, offen, bescheiden

Erster Teil: Die zwei Städte

2  Unsichere Fundamente

3  Die Trennung zwischen cité und ville

Zweiter Teil: Die Problematik des Wohnens

4  Klees Engel verlässt Europa

5  Das Gewicht der Anderen

6  Tocqueville in Technopolis

Dritter Teil: Die Öffnung der Stadt

7  Der kompetente Städter

8  Fünf offene Formen

9  Durch Bauen und Herstellen geschaffene Bande

Vierter Teil: Eine Ethik für die Stadt

10  Die Schatten der Zeit

Schluss: Einer unter vielen

Danksagung

Anmerkungen

Bildnachweis

Register

1EINLEITUNG: KRUMM, OFFEN, BESCHEIDEN

Krumm

Im frühen Christentum stand »Stadt« für zwei Städte: die Stadt Gottes und die des Menschen. Augustinus benutzte die Stadt als Metapher für den göttlichen Glaubensplan, aber die antiken Leser seiner Schriften, die durch die Straßen und über die Märkte oder Foren Roms wanderten, fanden dort keine Hinweise darauf, wie Gott sich als Stadtplaner betätigen mochte. Auch als diese christliche Metapher verblasste, hielt sich weiter der Gedanke, dass »Stadt« zwei verschiedene Dinge bedeutete – einen physischen Ort und eine aus Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Glaubensüberzeugungen bestehende Mentalität. Die französische Sprache fasste diese Unterscheidung als erste in zwei verschiedene Wörter: ville und cité.1

Anfangs standen diese Begriffe für groß und klein: ville bezog sich auf die ganze Stadt, cité auf einen bestimmten Ort. Irgendwann im 16. Jahrhundert wurde cité zur Kennzeichnung der Lebensweise in einem Viertel, der Haltung der dortigen Bewohner gegenüber Nachbarn und Fremden und der Bindung an einen Ort. Diese alte Unterscheidung ist inzwischen zumindest in Frankreich verblasst; cité verweist heute meist auf jene trostlosen Viertel an den Rändern der Städte, in denen die Armen hausen. Der alte Wortgebrauch hat indessen Vorzüge, die eine Wiederbelebung rechtfertigen könnten, trifft er doch eine grundlegende Unterscheidung: Die gebaute Umwelt ist eine Sache; wie die Menschen wohnen, eine andere. Die Verkehrsstaus in den schlecht geplanten New Yorker Tunneln gehören heute zur ville, während das Hamsterrad, das viele New Yorker morgens in die Tunnel treibt, zur cité gehört.

Der Ausdruck cité verweist nicht nur auf die Anthropologie der cité, sondern auch auf ein bestimmtes Bewusstsein. Proust beschreibt, wie seine Figuren die Werkstätten, Wohnungen, Straßen und Paläste ihrer Stadt wahrnehmen. Aus diesen Wahrnehmungen setzt er ein Bild von Paris zusammen und erschafft so eine Art Ortsbewusstsein. Ganz anders Balzac. Er erzählt, was in der Stadt wirklich geschieht, ganz unabhängig davon, was seine Figuren denken mögen. Das cité-Bewusstsein kann auch zum Ausdruck bringen, wie die Menschen gemeinsam leben wollen, etwa während der Pariser Aufstände des 19. Jahrhunderts, als die Aufständischen ihre Ziele eher allgemein formulierten, statt spezielle Forderungen nach niedrigeren Steuern oder einer Senkung der Brotpreise zu erheben. Sie setzten sich für eine neue cité ein, das heißt für ein neues politisches Denken. Tatsächlich besteht eine große Nähe zwischen cité und citoyen, dem französischen Wort für Staatsbürger.

Der englische Ausdruck »built environment«, gebaute Umwelt, wird der Idee der ville nicht gerecht, sofern man damit das Schneckenhaus meint, in dem der lebende Körper der Stadt Schutz findet. Gebäude sind nur selten isolierte Tatsachen. Urbane Formen besitzen ihre eigene innere Dynamik, etwa im Blick auf ihr Verhältnis untereinander, zu freien Flächen, zur unterirdischen Infrastruktur oder zur Natur. So untersuchte man vor dem Bau des Eiffelturms in den 1880er Jahren auch andere, weit von seinem endgültigen Platz entfernte Standorte im Pariser Osten, um seine Auswirkungen auf die gesamte Stadt abzuschätzen. Auch vermag die Finanzierung des Turms dessen Gestaltung nicht allein zu erklären. Denselben riesigen Geldbetrag hätte man auch für ein Monument ganz anderer Art ausgeben können, zum Beispiel für eine triumphale Kirche, wie Eiffels konservative Kollegen sie bevorzugten. Als der Bau jedoch beschlossen war, gab es hinsichtlich der Form des Turmes durchaus Entscheidungsspielräume, und sie wurden nicht allein von den Umständen diktiert: Gerade Streben wären viel billiger gewesen als gebogene, aber Eiffels Vision war nicht bloß von Effizienz bestimmt. Das gilt auch in einem allgemeineren Sinne: Die gebaute Umwelt ist mehr als nur ein Spiegelbild der Ökonomie und der Politik. Jenseits dieser Bedingungen sind die Formen der gebauten Umwelt das Ergebnis des Willens ihrer Erbauer.

Man würde denken, cité und ville sollten nahtlos zueinanderpassen: Wie die Menschen leben wollen, sollte auch seinen Ausdruck in der baulichen Gestaltung der Stadt finden. Aber genau hier liegt ein großes Problem. Was man in einer Stadt erlebt, ist wie im Schlafzimmer oder auf dem Schlachtfeld nur selten stimmig und harmonisch, sondern weitaus häufiger voller Widersprüche und schartiger Kanten.

In einem Aufsatz über kosmopolitisches Leben schrieb Immanuel Kant 1784: »Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.« Städte sind krumm, weil sie von Unterschieden geprägt sind, voller Einwanderer mit Dutzenden von Sprachen; weil die Ungleichheit dort so offenkundig wird, wenn vornehme Damen nur wenige Blocks entfernt von erschöpften Reinigungskräften speisen; wegen der psychischen Belastungen, wie denen von übermäßig vielen Hochschulabsolventen auf der Jagd nach zu wenigen Jobs … Kann die physische ville solche Schwierigkeiten richten? Werden Pläne zur Umwandlung einer Straße in eine Fußgängerzone irgendetwas an der Wohnungsnot ändern? Wird der Einbau von feuerfestem Glas in Gebäude die Menschen toleranter gegenüber Einwanderern machen? Die Stadt scheint in dem Sinne krumm zu sein, dass ihre cité und ihre ville von Asymmetrie geplagt sind.2

Gelegentlich ist es durchaus richtig, wenn keine Übereinstimmung zwischen den Werten der Baumeister und denen der Öffentlichkeit besteht. Zu solchen Divergenzen sollte es kommen, wenn Menschen sich weigern, mit Nachbarn zusammenzuleben, die anders sind als sie. Viele Europäer finden muslimische Immigranten unerträglich. Weite Teile der Angloamerikaner meinen, mexikanische Immigranten sollten deportiert werden. Und von Jerusalem bis Mumbai fällt es den Anhängern unterschiedlicher Religionen schwer, gemeinsam am selben Ort zu leben. Eine Folge dieser sozialen Abstoßung zeigt sich in den geschlossenen Wohnanlagen, die heute in aller Welt die beliebteste Form neuer Wohngebiete darstellen. Der Städtebauer sollte sich in diesem Fall gegen den Willen des Volkes stellen und sich weigern, geschlossene Wohnanlagen zu bauen. Hier gilt es, sich im Namen der Gerechtigkeit gegen Vorurteile zu wenden. Aber es gibt keine einfache Möglichkeit, Gerechtigkeit in physische Form umzusetzen – wie ich schon in jungen Jahren bei einem Planungsjob feststellte.

Anfang der 1960er Jahre sollte in einem Bostoner Arbeiterviertel eine neue Schule gebaut werden. Dabei stellte sich die Frage nach Rassenintegration oder Rassentrennung, wie sie damals in den meisten Arbeitervierteln herrschte. Falls Rassenintegration angestrebt wurde, mussten wir als Planer große Parkflächen und Haltezonen für Busse vorsehen, die schwarze Kinder in die Schule brachten und nach Schulschluss wieder abholten. Die weißen Eltern widersetzten sich der Integration auf verdeckte Weise, indem sie behaupteten, die Stadt brauche mehr Grünflächen und nicht noch mehr Parkplätze. Planer sollten ihres Erachtens der Gemeinde dienen, statt ihr fremde Werte aufzuzwingen. Mit welchem Recht wollten Leute wie ich – in Harvard ausgebildet und bewaffnet mit Statistiken über die Rassentrennung und makellos ausgeführten Plänen – den Busfahrern, Reinigungskräften und Industriearbeitern in South Boston vorschreiben, wie sie zu leben hätten? Ich bin froh, dass meine Vorgesetzten standhaft blieben. Sie erlagen nicht dem Klassenschuldbewusstsein. Dennoch lässt sich die Kluft zwischen Gelebtem und Gebautem nicht einfach dadurch überbrücken, dass der Planer ethische Standhaftigkeit beweist. In unserem Fall machte das die Dinge nur noch schlimmer, und unsere demonstrative Tugendhaftigkeit führte nur zu noch mehr Zorn in der weißen Öffentlichkeit.

Das ist das ethische Problem in den heutigen Städten. Sollte Stadtplanung die bestehende Gesellschaft repräsentieren oder sie zu ändern versuchen? Falls Kant recht hat, ist es nicht möglich, ville und cité reibungslos zur Übereinstimmung zu bringen. Aber was ist dann zu tun?

Offen

Ich glaubte, eine Antwort darauf gefunden zu haben, als ich vor zwanzig Jahren Stadtplanung am MIT lehrte. Nicht weit von meinem Büro befand sich das Media Lab, das für meine Generation als Epizentrum der Innovation in der neuen digitalen Technologie glänzte und innovative Ideen in praktische Ergebnisse umsetzte. Zu den Projekten dieser 1985 von Nicholas Negroponte gegründeten Einrichtung gehörten superbillige Computer für arme Kinder, medizinische Prothesen wie das Roboterknie und »digitale Kleinstadtzentren«, die es Menschen in entlegenen Gebieten ermöglichen sollten, auf elektronischem Weg am Leben in großen Städten teilzuhaben. Der Schwerpunkt auf gebaute Objekte machte das Media Lab zu einem Paradies für Handwerker. Dieses glorreiche Vorhaben ging einher mit zahlreichen heftigen Debatten, dem Sprung hinunter in technologische Kaninchenhöhlen und jeder Menge Ausschuss.

Die zerzausten Forscher des Media Lab – die niemals zu schlafen schienen – erklärten den Unterschied zwischen Projekten auf »Microsoft-Ebene« und solchen auf »MIT-Ebene« folgendermaßen: Microsoft-Projekte packen vorhandenes Wissen zusammen, während MIT es entpackt. Ein beliebter Zeitvertreib bestand darin, Microsoft-Programme auszutricksen und scheitern oder abstürzen zu lassen. Ob fair oder nicht, die insgesamt eher abenteuerlustigen Forscher am Media Lab neigten dazu, normale Wissenschaft als banal abzutun und stattdessen nach Neuerungen zu suchen. In ihren Augen dachte man bei Microsoft »geschlossen«, im Media Lab dagegen »offen« – und solche »Offenheit« ermögliche Innovation.

Im Allgemeinen bewegen Forscher sich auf gut gebahnten Pfaden, wenn sie ein Experiment durchführen, um eine Hypothese zu beweisen oder zu widerlegen. Die ursprüngliche Behauptung bestimmt dabei die Verfahren und Beobachtungen. Der Ausgang des Experiments entscheidet darüber, ob die Hypothese richtig oder falsch ist. Bei einer anderen Art des Experimentierens nehmen die Forscher unvorhergesehene Ergebnisse ernst und lassen sich davon bewegen, die Spur zu wechseln und außerhalb der vorgegebenen Bahnen zu denken. Sie grübeln über Widersprüche und Mehrdeutigkeiten nach und verharren eine Weile bei diesen Problemen, statt gleich zu versuchen, sie zu lösen oder beiseitezufegen. Die erste Art von Experiment ist insofern geschlossen, als sie eine feststehende Frage beantwortet: Ja oder nein? Bei der zweiten Art von Experiment arbeiten die Forscher insofern offener, als sie Fragen stellen, die sich nicht in dieser Weise beantworten lassen.

In einem nüchterneren Geiste als beim Media Lab üblich erläutert der Harvard-Mediziner Jerome Groopman das Vorgehen bei klinischen Medikamentenversuchen. Bei einem »adaptiven klinischen Versuch« werden die Parameter des Experiments im Laufe des Versuchs verändert. Das heißt nicht, dass man einfach der Nase nach liefe, ganz gleich wohin es führen mag. Da Versuchsmedikamente gefährlich sein können, müssen die Forscher bei der Erkundung unbekannter Gefilde größte Vorsicht walten lassen – aber bei einem adaptiven klinischen Versuch geht es den Experimentatoren eher darum, Überraschendes und Verblüffendes zu verstehen, als möglicherweise Vorhersagbares zu bestätigen.3

Natürlich lassen sich die abenteuerlichen Aspekte der Laborarbeit nicht von der mühsamen Plackerei der Suche nach Antworten auf schlichte Ja-Nein-Fragen trennen. Francis Crick, der die Doppelhelixstruktur der DNA entdeckte, bemerkte einmal, diese Entdeckung habe ihren Ursprung in der Untersuchung kleiner »Anomalien« gehabt, die sich in der alltäglichen Laborarbeit gezeigt hätten. Forscher brauchen Orientierung, und festgelegte Verfahren bieten sie. Erst dann kann die selbstkritische Arbeit an absonderlichen und seltsamen Resultaten beginnen. Die Herausforderung liegt darin, sich auf solche Möglichkeiten einzulassen.4

»Offenheit« setzt ein System voraus, das es erlaubt, Absonderliches, Seltsames und Mögliches zusammenzufügen. Die Mathematikerin Melanie Mitchell hat prägnant zusammengefasst, was ein offenes System auszeichnet. Es ist ein System, »in dem große Netzwerke aus Komponenten ohne zentrale Steuerung und mit einfachen Operationsregeln ein komplexes Kollektivverhalten, eine differenzierte Informationsverarbeitung und eine über Lernen oder Evolution erfolgende Anpassung hervorbringen«. Das heißt, dass Komplexität im Verlaufe der Evolution entsteht, und zwar eher durch das Feedback und das Aussieben von Information als durch ein im Voraus bestimmtes und programmiertes telos.5

Ähnliches gilt für die Vorstellung, wie die Teile in offenen Systemen miteinander interagieren. »Lineare Gleichungen lassen sich … in Stücke zerlegen«, schreibt der Mathematiker Steven Strogatz. »Jedes Stück ist separat zu analysieren und zu lösen; am Ende lassen sich alle separaten Antworten wieder miteinander verbinden … In einem linearen System ist das Ganze genau gleich der Summe seiner Teile.« In einem nichtlinearen, offenen System lassen die Teile sich dagegen nicht in dieser Weise voneinander trennen. »Wir müssen das System insgesamt untersuchen, als kohärente Einheit.« Dieser Gedanke ist leicht nachzuvollziehen, wenn man daran denkt, wie chemische Stoffe miteinander interagieren und eine chemische Verbindung hervorbringen: Bei dieser Verbindung handelt es sich um einen neuen chemischen Stoff ganz eigener Art.6

Solche Vorstellungen hatten am MIT eine solide Grundlage. Das Media Lab baute auf den intellektuellen Fundamenten des Electronic Systems Laboratory auf, das Norbert Wiener, der größte Systemanalytiker des 20. Jahrhunderts, in den 1940er Jahren am MIT gegründet hatte. Wiener stand an der Schwelle zu einem Zeitalter, in dem große Informationsmengen maschinell verarbeitet werden konnten. Er erkundete verschiedene Möglichkeiten, diesen Verarbeitungsprozess zu organisieren. Besonders faszinierte ihn die elektronische Rückkopplung, die nicht geradlinig, sondern komplex, vieldeutig oder widersprüchlich verläuft. Wenn die »lernende Maschine«, wie er dies nannte, sprechen könnte, würde sie sagen: »Ich hatte nicht erwartet, dass X, Y oder Z geschieht. Nun muss ich den Grund herausfinden und mich neu einstellen.« Hier haben wir ein Beispiel für eine offene Umwelt, wenn auch eine von Halbleitern statt von Menschen bewohnte.7

Wie lässt sich dieses Ethos des offenen Laboratoriums auf die Stadt übertragen? Der Architekt Robert Venturi erklärte einmal: »Ich freue mich über Vielfalt und Widerspruch in der Architektur … Ich stelle die Vielfalt der Bedeutungen über die Klarheit der Bedeutungen.« Obwohl er weite Teile der modernen Architektur wegen ihrer stark reduzierten, funktionalistischen Bauten kritisierte, reichen seine Worte doch tiefer. Bei ihm finden wir das Media Lab, auf die Stadt übertragen – die Stadt ist ein komplexer Ort, das heißt voller Widersprüche und Mehrdeutigkeiten. Komplexität bereichert Erleben und Erfahrung, Klarheit schmälert sie.8

Mein Freund William Mitchell, ein Architekt, der schließlich das Media Lab übernahm, schlug die Brücke zwischen System und Stadt. Als Bonvivant, der das Nachtleben in Cambridge, Massachusetts (wie es sich damals darbot), zu schätzen wusste, erklärte er einmal: »Die Tastatur ist mein Stammcafé.« Sein City of Bits war das erste Buch über die smarte Stadt und erschien 1996, also noch vor dem Zeitalter der tragbaren Computer, der interaktiven Programme des Web 2.0 und der Nanotechnologie. Darin hieß er alles willkommen, was die Zukunft bringen mochte. Er stellte sich die smarte Stadt als einen komplexen Ort vor: Durch Daten-Sharing erhielten die Bürger immer mehr Wahlmöglichkeiten und dadurch auch größere Freiheit. Die Gebäude, Straßen, Schulen und Büros der ville bestünden aus Komponenten, die ständig verändert würden und sich dadurch entwickeln könnten, wie es auch beim Datenstrom geschehe. Die smarte Stadt werde immer komplexer in der Form, ihre cité immer reicher an Bedeutungen.9

In gewisser Weise war diese technologische Fantasie nichts Neues. Aristoteles schrieb in seiner Politik, der Staat bestehe »nicht bloß aus einer Mehrheit von Menschen; dieselben sind auch der Art nach verschieden; aus ganz gleichen Menschen kann nie ein Staat entstehen«. Gemeinsam seien die Menschen stärker als getrennt. So nahm Athen in Kriegszeiten eine Reihe von Stämmen auf, die vom Land in die Stadt geflohen waren, und auch Exilanten, die dann in der Stadt blieben. Obwohl der Status dieser Flüchtlinge unklar und unsicher blieb, brachten sie doch neue Denkweisen und neue Handwerke in die Stadt. Aristoteles lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass der Handel in einer dicht besiedelten Stadt besser gedeiht als in einem Dorf mit geringer Einwohnerzahl, und damit stand er keineswegs allein. Fast alle antiken Autoren, die über die Stadt schrieben, stellten fest, dass vielfältige, komplexe Ökonomien einträglicher seien als ökonomische Monokulturen. Auch über die Vorteile der Komplexität in der Politik dachte Aristoteles nach. In einer vielfältigen Umgebung seien Männer (zu Zeiten des Aristoteles ausschließlich Männer) gezwungen, unterschiedliche Sichtweisen zu verstehen, wenn sie die Stadt regieren wollten. Das Zusammenkommen unterschiedlichster Menschen bezeichnete Aristoteles als synoikismos – ein Wort ähnlicher Herleitung wie die modernen Ausdrücke »Synthese« und »Synergie«. Die Stadt ist, wie Strogatz es in seiner Gleichung ausdrückte, ein Ganzes, das größer als die Summe seiner Teile ist.10

»Offen« ist auch ein Schlüsselwort in der modernen Politik. Der aus Österreich geflohene Philosoph Karl Popper veröffentlichte 1945 sein Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Er stellte als Philosoph die Frage, wie Europa dem Totalitarismus verfallen war. Gab es etwas im westlichen Denken, das die Menschen verleitete, eine rationale, faktenbasierte Debatte zwischen verschiedenen Gruppen zugunsten verführerischer, von Diktatoren gerne gesponnener Mythen nach Art von »wir sind eins« oder »wir gegen sie« aufzugeben? Das Thema des Buches veraltet nicht, auch wenn der Titel Die offene Gesellschaft und ihre Feinde nicht ganz zutrifft, weil Popper darin eher eine lange Tradition illiberalen politischen Denkens analysiert und weniger alltägliche Geschehnisse in der Gesellschaft. Dennoch hatte das Buch gewaltigen Einfluss auf Menschen, die sich an solchen Debatten beteiligten, vor allem auf seine Kollegen an der London School of Economics, die damals gerade die Grundzüge des britischen Wohlfahrtsstaates konzipierten und einen Plan zu entwickeln hofften, der dafür sorgte, dass die Bürokratie locker und offen statt starr und geschlossen ausfiel. Poppers Schüler, der Finanzmann George Soros, gab später große Summen für den Aufbau zivilgesellschaftlicher Institutionen wie etwa Universitäten aus, in denen Poppers liberale Wertvorstellungen ihren Ausdruck finden sollten.

Es mag den Anschein haben, als passten die liberalen Werte einer offenen Gesellschaft gut zu jeder Stadt, in der viele verschiedene Arten von Menschen leben, weil wechselseitige Toleranz ihnen dieses Zusammenleben ermöglicht. Eine offene Gesellschaft sollte allerdings größere Gleichheit und mehr Demokratie verwirklichen als die meisten heutigen Gesellschaften. Reichtum und Macht sollten auf die ganze Gesellschaft verteilt und nicht an der Spitze konzentriert sein. Dieses Ziel hat jedoch nichts spezifisch Städtisches, denn auch Bauern und Kleinstädter verdienen diese Art Gerechtigkeit. Wenn wir nach einer Ethik der Stadt fragen, möchten wir wissen, wodurch solch eine Ethik urban würde.

So besitzt etwa die Freiheit in der Stadt einen besonderen Wert. Die deutsche Redensart »Stadtluft macht frei« stammt aus dem späten Mittelalter und versprach den Bürgern der Städte, sie könnten frei von einer festgelegten ererbten Position in der ökonomischen und sozialen Hackordnung und frei von dem Zwang sein, nur einem Herrn zu dienen. Das bedeutete nicht, dass die Bürger isolierte Individuen wären. Es konnte durchaus Pflichten gegenüber einer Gilde, den Nachbarn oder der Kirche geben, aber diese Pflichten konnten sich im Laufe des Lebens verändern. In seiner Autobiographie beschreibt der Goldschmied Benvenuto Cellini, wie er solch einen Gestaltwechsel in seinem dritten Lebensjahrzehnt vornahm, als er seine Lehre beendet hatte. Er nutzte Unterschiede in Recht und Sitten der verschiedenen italienischen Städte, in denen er arbeitete, um in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen und verschiedenen Herren zu dienen. Ganz nach Bedarf übernahm er unterschiedliche Aufgaben auf dem Gebiet der Metallverarbeitung, der Dichtkunst und des Kriegshandwerks. Sein Leben war offener, als es jemals hätte sein können, wenn er auf dem Land geblieben wäre, denn die Stadt befreite ihn von einem einzigen festgelegten Ich, so dass er das werden konnte, was er wollte.

Am MIT konnte ich erleben, was dieses »Stadtluft macht frei« bei einer Gruppe junger Architekten aus Shanghai bewirkte. Ihre Heimatstadt ist ein Paradebeispiel für die heute überall in den Entwicklungsländern zu beobachtende Explosion der Städte – ein Ort mit einem atemberaubenden Wirtschaftswachstum, der junge Menschen aus ganz China in seinen Bannkreis zieht. Obwohl meine Shanghaier alljährlich zum Neujahrsfest in ihre Dörfer und Kleinstädte zurückkehrten, ließen sie in der Stadt doch viele lokale Ansichten und Bräuche weit hinter sich. Einige der jungen Architekten outeten sich als schwul, und junge Architektinnen zögerten es hinaus oder lehnten es ab, ein Kind zu bekommen – zum Kummer ihrer Verwandten daheim. Als ich ihnen meine Überlegungen zu »Stadtluft macht frei« vorstellte, übersetzten sie die Wendung mit »verschiedene Hüte tragen« ins Mandarin. Die oberflächlichen Worte vermitteln eine tiefere Wahrheit, wonach Leben, wenn es offen wird, auch vielschichtig wird – wie es bei Cellini geschehen war.

Am MIT kam mir der Gedanke, dass all diese Stränge der »Offenheit« das Rätsel der Beziehung zwischen ville und cité lösen könnten. Statt den Versuch zu machen, diese Beziehung zu entwirren, müsste eine offene Stadt vielmehr mit deren Komplexität arbeiten und so ein komplexes Erfahrungsmolekül schaffen. Aufgabe des Planers und Architekten wäre es, Komplexität zu fördern und eine interaktive, synergetische ville zu schaffen, die größer wäre als die Summe ihrer Teile und in der Ordnungsinseln den Menschen Orientierung gäben. In ethischer Hinsicht tolerierte eine offene Stadt natürlich Unterschiede und förderte Gleichheit, befreite aber in einem spezifischeren Sinne die Menschen auch aus der Zwangsjacke des Festen und Vertrauten, indem sie ein Terrain schüfe, auf dem die Menschen experimentieren und ihre Erfahrung erweitern könnten.

Idealistisch? Selbstverständlich. Aber ein Idealismus amerikanischer Art, geprägt von der philosophischen Schule des Pragmatismus, in dessen Mittelpunkt der Gedanke steht, dass Erfahrung stets experimentell sein sollte. Ich glaube, die Heroen des Pragmatismus – Charles Sanders Peirce, William James, John Dewey – hätten sich im Media Lab sehr heimisch gefühlt. Ebendiese Heroen widersetzten sich der Gleichsetzung von »pragmatisch« und »praktisch«, ausgerechnet sie, die hartgesottenen Praktiker, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Werte des Landes beherrschten, alles Mehrdeutige oder Widersprüchliche verachteten und die Effizienz feierten.

In meinem kleinen Winkel innerhalb des pragmatischen Rahmens war es indessen nicht so leicht, diese hartgesottenen Werte beiseitezuwischen. Die meisten Stadtprojekte kosten ein Vermögen. »Stadtluft macht frei« sagt dem Stadtplaner nicht, wie breit die Straßen sein sollten. Planer haben sich gegenüber Menschen zu verantworten, die es vielleicht nicht mögen, in einer Laune leben zu müssen oder in einem Experiment, das sich als interessanter Fehlschlag entpuppt hat. Weder Dewey noch James waren in dieser Hinsicht naiv. Ihnen war klar, dass der Pragmatismus herausfinden musste, wie man vom Experiment zur Praxis gelangt. Wenn man eine bestehende Praxis auflöst, sagt einem diese Dekonstruktion nicht, was als Nächstes zu tun ist. James hatte sogar den Verdacht, das offene, experimentierende Denken – das so kritisch gegenüber der Welt ist und so sehr davon überzeugt, dass die Dinge auch anders sein könnten – verrate in Wirklichkeit eine Angst vor dem Engagement. Der ewig Experimentierende leide unter einer »Furcht vor dem Unwiderruflichen, die oft einen zu raschem und entschlossenem Zupacken unfähigen Charakter hervorbringt«. Der von dieser Neurose freie Macher folge dem krummen Pfad vom Möglichen zum Machbaren.11

Das Problem des Pragmatismus, wie eine offene Praxis sich auskristallisieren lässt, begegnete Mitchell in ganz besonderer Weise. Einige Jahre nach der Veröffentlichung von City of Bits förderte er gemeinsam mit dem Architekten Frank Gehry ein Projekt zur Entwicklung eines selbstfahrenden Hightech-Autos, das kein bloßer Behälter für allerlei Technik sein sollte, sondern ein Gefährt, in dem zu fahren Spaß machte. Sie strebten nach einem schwer zu fassenden Ziel, das Mitchell als »Ästhetik der Bewegung« bezeichnete. Auf mein Drängen, diesen Ausdruck zu erläutern, erwiderte er: »Ich weiß noch nicht« – eine für das Media Lab durchaus typische Antwort. Ich schaute gelegentlich bei dem Projekt vorbei und bemerkte, dass das Personal recht oft zu wechseln schien. Ich fragte, warum so viele Mitarbeiter weggingen, und erhielt die Antwort, viele verstünden nicht, welche Aufgabe sie hätten. »Ich weiß noch nicht« bietet anderen keine Orientierung. Der Projektmanager meinte lakonisch (und in Mitchells Beisein), die Frustration sei in diesem offenen Experiment »abnorm« groß. Die beiden Genies auf der Suche nach dem Undefinierbaren gaben sich darüber hinaus gar keine Mühe, ihre Leute aufzuklären. Sie gingen davon aus, dass die Untergebenen die Inspiration intuitiv erfassten und dann umsetzten. So wankte das offene, innovative Experiment am Rande des Dysfunktionalen entlang.

Mitchell starb 2010 an Krebs und erlebte deshalb nicht mehr, ob seine Vision sich ihrer Verwirklichung näherte. Aber schon in seinen letzten Lebensjahren befand die Welt der Technik sich in einem Übergang – von Offenheit zu Abschließung. Yochai Benkler schreibt: »Typisch für das erste Vierteljahrhundert des Internets war ein integriertes System offener Systeme …, das sich der Ausübung von Macht durch irgendeine zentrale Autorität widersetzte.« Heute dagegen »nähern wir uns einem Internet, das die Akkumulation von Macht durch eine relativ kleine Gruppe staatlicher und nichtstaatlicher Akteure begünstigt«. Facebook, Google, Amazon, Intel, Apple – diese Namen stehen für das Problem, das Benkler heute sieht: Der abgeschlossene Bereich des Internets besteht aus einer kleinen Zahl von Monopolen, die Geräte und Programme zur massenhaften Datensammlung produzieren. Haben sie erst einmal eine Monopolstellung erreicht, werden die Programme immer stärker personalisiert und üben immer mehr Kontrolle aus.12

Auch wenn Karl Popper lange vor dem Beginn des digitalen Zeitalters starb, hätte sein Geist wohl gesagt: »Ich habe es gewusst.« Popper verabscheute ökonomische Monopole ebenso wie totalitäre Staaten. Beide machen dieselbe verführerische Versprechung: Das Leben kann einfacher, klarer, benutzerfreundlicher sein (wie wir heute im Blick auf Technologie sagen würden), wenn die Menschen sich nur einem Regime unterwerfen, das für die nötige Organisation sorgt. Sie wissen, woran sie sind, weil die Regeln ihres Daseins für sie festgelegt werden. Was sie an Klarheit gewinnen, werden sie jedoch an Freiheit verlieren. Ihre Erfahrung wird klar und geschlossen sein. Lange vor Popper verwies der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt auf dieselbe Gefahr und warnte, das moderne Leben werde von den »terribles simplificateurs«, den »furchtbaren Vereinfachern«, bedroht, wobei er damals an die verführerisch simplen Thesen des Nationalismus dachte. Für Popper wie für Burckhardt stehen diese Schlagworte einer offenen Erfahrung – »komplex«, »mehrdeutig«, »ungewiss« – für den Widerstand gegen ein mächtiges Unterdrückungsregime.13

Die Städte, in denen wir heute leben, sind in einer Weise geschlossen, die das Geschehen im technischen Bereich spiegelt. Im Zuge der gewaltigen Explosion der Städte im globalen Süden – in China, Indien, Brasilien, Mexiko, den Ländern Zentralafrikas – standardisieren große Finanzunternehmen und Baufirmen die ville. Landet man dort mit dem Flugzeug, kann man Beijing und New York nicht voneinander unterscheiden. Im Norden wie im Süden hat das Wachstum der Städte kaum zu Experimenten mit den Formen geführt. Der Büropark, der Schulkomplex, der von ein bisschen Grün umgebene Wohnturm sind keine für Experimente aufgeschlossenen Formen, denn sie alle sind eher in sich geschlossen als offen für äußere Einflüsse und Interaktionen.

Meine Erfahrung in Boston warnt mich indessen davor, in der Abschließung nur eine Frage der Auspressung des Volkes durch Big Power zu erblicken. Auch die Angst vor anderen oder die Unfähigkeit, mit Komplexität umzugehen, sind Aspekte der cité, die das Leben einschließen. Urteile, wonach die cité es »verfehlt« habe, sich zu öffnen, sind doppelgesichtig, wie ich gleichfalls in Boston herausfand. Ein Gesicht zeigt das zornige populistische Vorurteil, aber auf dem anderen kann auch das selbstgerechte, Tugendhaftigkeit demonstrierende Lächeln einer Elite erscheinen. Die geschlossene cité ist daher ein Problem der Werte wie auch der politischen Ökonomie.

Bescheiden

Das Wort »machen« ist so gewöhnlich, dass die Menschen meist nicht viel darüber nachdenken. Unsere Vorfahren waren nicht so blasiert. Die Griechen betrachteten voller Staunen die Fähigkeit, auch nur die gewöhnlichsten Dinge zu erschaffen. Die Büchse der Pandora enthielt nicht nur exotische Elixiere, sondern auch Messer, Teppiche und Töpfe. Der menschliche Beitrag zum Dasein bestand darin, etwas zu erschaffen, wo vorher nichts gewesen war. Die Griechen bewahrten sich ein tiefes Staunen, das in unseren übersättigten Zeiten geschwunden ist. Sie staunten über die bloße Tatsache, dass überhaupt Dinge existieren – dass ein Töpfer verhindern konnte, dass ein Topf zerbrach, oder dass die Farben, mit denen sie ihre Statuen bemalten, solche Leuchtkraft besaßen, während wir nur noch über Dinge staunen, die neu sind, etwa eine neue Topfform oder eine Farbe, die wir noch nie gesehen haben.

Dieses Lob des Machens erweiterte sich in der Renaissance auf ein neues Gebiet. »Stadtluft macht frei« wandte das Wort »machen« nun auf das Ich an. Der Renaissancephilosoph Giovanni Pico della Mirandola erklärte in seinem Traktat Über die Würde des Menschen: »Der Mensch ist ein Lebewesen von verschiedenartiger, vielgestaltiger und sprunghafter Natur«, ein Wesen, »dem gegeben ist zu haben, was er wünscht, zu sein, was er will«.14 Das ist kein unbescheidenes Selbstlob, sondern, wie Montaigne am Ende der Renaissance erklärte, Ausdruck der Tatsache, dass die Menschen ihr Leben je nach ihrem Geschmack, ihren Überzeugungen und ihren Begegnungen gestalten. Krieg gegen den eigenen Vater zu führen ist eine je eigene und besondere Erfahrung; Mut in einem Krieg jeglicher Art ist eine Eigenschaft, die jeder besitzen oder nicht besitzen mag. Montaignes Essays vermitteln einen deutlichen Unterschied zwischen Persönlichkeit als etwas, das der Mensch selbst schafft, und Charakter, der durch allen gemeinsame Überzeugungen und Verhaltensweisen gebildet wird.15 Dass der Mensch sich selbst erschafft, war für Pico dennoch mehr als eine bloße Frage der Persönlichkeit – es engte die göttliche Macht über das Schicksal des Menschen ein. Als tiefgläubiger Mensch versuchte Pico sein Leben lang, beides miteinander zu versöhnen.

Philosophen des 18. Jahrhunderts bemühten sich, die Spannung abzumildern, indem sie sich auf einen Aspekt des Machens konzentrierten: den Drang, gute Arbeit zu leisten. Diese Tugend des Machers hatte seit dem Mittelalter als gottgefällig gegolten und gute Arbeit als Zeichen eines Dienstes an etwas Objektivem, das über persönliche Selbstsucht hinausreichte. Nun erklärten die Philosophen mit weltlichen Begriffen, dass Menschen sich selbst verwirklichen, wenn sie als Arbeitende danach streben, gute Arbeit zu verrichten. In diesem Gewande erschien Homo faber den Lesern der zwischen 1751 und 1771 von Denis Diderot herausgegebenen Encyclopédie, deren Bände in Wort und Bild darstellten, wie man gute Arbeit leistete, ob nun als Koch, als Bauer oder als König. Die Betonung der praktischen Arbeit in der Encyclopédie stand im Widerspruch zu Kants Bild des krummen menschlichen Holzes, denn der fähige Arbeiter ist ein auf Zusammenarbeit ausgerichtetes Wesen, das in seinen Beziehungen zu anderen bei der gemeinsamen Bemühung, gut gemachte Dinge zu schaffen, das Krumme gerade richtet.

In der Moderne ist der Glaube an Homo faber geschwunden. Der Industrialismus verdunkelte das Bild des auf sein Können stolzen Handwerkers, da Maschinen seine Fähigkeiten übernahmen und die Bedingungen in den Fabriken den gesellschaftlichen Rahmen der Arbeit verschlechterten. Im letzten Jahrhundert verwandelten Faschismus und Staatskommunismus den schaffenden Menschen in eine obszöne ideologische Waffe. »Arbeit macht frei« stand über den Toren von Konzentrationslagern. Heute sind diese Schrecken des Totalitarismus Vergangenheit, aber neue Formen kurzzeitiger und befristeter Arbeitsverhältnisse und das Vordringen von Robotern in der Arbeitswelt verwehren heute zahlreichen Menschen den Stolz auf ihre Arbeit.

Wenn wir die Rolle des Homo faber in der Stadt verstehen wollen, müssen wir die Würde der Arbeit anders begreifen. Statt sich einem Weltbild zu verschreiben, macht Homo faber sich in der Stadt Ehre, indem er auf bescheidene Weise praktisch tätig wird: mit der möglichst billigen Renovierung kleiner Häuser, dem Anpflanzen neuer Bäume an einer Straße oder auch nur dem Aufstellen billiger Bänke, auf denen ältere Bewohner sicher im Freien sitzen können. Diese Ethik bescheidenen Schaffens erfordert ihrerseits ein bestimmtes Verhältnis zur cité.

Als junger Stadtplaner begeisterte ich mich für die Ethik bescheidenen Schaffens dank der Lektüre eines in den 1960er Jahren geschriebenen Buches von Bernard Rudofsky mit dem Titel Architektur ohne Architekten. Jenseits der heißen Fragen dieser fernen Zeiten des Postmodernismus und der Theorie zeigte Rudofsky darin, wie Baumaterialien, Formen und Standorte der gebauten Umwelt aus der Praxis des Alltagslebens hervorgehen. Siena abseits des Hauptplatzes veranschaulicht Rudofskys Sicht. Die Fenster, Türen und Verzierungen an den weitgehend ähnlichen Baukörpern der Stadt haben sich auf unvorhersehbare Weise über Jahrhunderte angesammelt, und dieses Ansammeln geht weiter. Ein Spaziergang durch eine Straße in Siena – Geschäfte mit Glasfronten neben mittelalterlichen Holztüren, einem McDonald’s und einem Kloster – vermittelt das deutliche Gefühl, dass sich hier ein Prozess entfaltet hat, der dem Ort einen komplexen und besonderen Charakter verleiht. Und diese Variationen stammen meist von den Menschen, die hier lebten; sie schufen mit der Zeit diese Gebäude und passten sie an. Die Beschilderung an der Glasfront des McDonald’s musste mit einem Nachbarschaftsverein abgestimmt werden und passt nun recht gut.

Rudofsky erklärte, das Bauen bedürfe keines besonderen künstlerischen Anspruchs, und verwies zum Beleg auf formschöne elliptische Kornspeicher im zentralafrikanischen Busch oder auf fein detaillierte Türme im Iran, die eigens dafür gebaut wurden, Tauben anzulocken, deren Kot sich dort ansammelte und diese Türme in Düngemittelfabriken verwandelte. Und genau das meinte er mit Architektur ohne Architekten: den Primat der cité – Bauen, vom Wohnen abgeleitet. Die Sorgfalt, mit der Kornspeicher, Türme und saubergefegte Straßen gepflegt werden, zeigt, dass die Menschen Besitz von diesen Orten ergriffen haben. Ich denke, wenn wir sagen, wir fühlten uns in einem Viertel daheim, bestätigen wir dieses Tun – die physische Umgebung scheint daraus hervorzugehen, wie wir wohnen und wer wir sind.16

Rudofsky griff sogar auf gestandene Stadtplaner wie Gordon Cullen zurück, der eher technisch über die Frage dachte, in welcher Weise Erfahrung die physische Form leiten solle. So untersuchte Cullen Unterschiede hinsichtlich der »Orientierungslinie« (oder Grundebene) in Städten, die am Meer oder an einem Fluss liegen. Man baute mit der Zeit auch unterhalb der Orientierungslinie, um das Be- und Entladen von Schiffen zu erleichtern wie bei den Quais in Paris, oder oberhalb der Orientierungslinie, um Überschwemmungen zu vermeiden wie bei den erhöhten Plätzen in Agde, wobei die genaue Höhe von den Jahr für Jahr gemachten Erfahrungen abhing. In beiden Fällen sorgte die Nutzung mit der Zeit für einen präzisen visuellen Rahmen. Professionelle Planer sollten sich an diesen aus der Erfahrung gewonnenen Rahmen halten, statt Flächen willkürlich zu erhöhen oder hervorzuheben, nur weil die Abstufung auf dem Papier gut aussieht.17

Rudofsky und Cullen warnen den Schaffenden noch aus einem anderen Grunde vor willkürlichen Neuerungen. Jede Neuerung leidet per definitionem unter einem Missverhältnis zwischen der Art, wie die Menschen Dinge gerade tun, und der Art, wie sie sie tun könnten. Ergebnisoffenheit in der Zeit heißt, dass ein Gegenstand sich entwickelt und seine Nutzung sich verändert – ein Prozess, der sich oft nicht voraussehen lässt. Man denke etwa an das in der Chirurgie benutzte Skalpell, das im 16. Jahrhundert entstand, als ein Fortschritt in der Metallurgie die Möglichkeit eröffnete, Messer mit schärferen und dauerhafteren Schneiden herzustellen. Danach brauchten die Ärzte weitere achtzig Jahre, um herauszufinden, wie sie diese scharfen Messer in der Medizin einsetzen konnten – dass sie sie zum Beispiel sehr fein führen konnten, statt sie mit viel Kraft wie ein stumpfes Schwert zu schwingen. In diesen achtzig Jahren wurden Klinge und Griff immer wieder einmal dünner und schmaler, in jedem Jahrzehnt kamen andere Versionen des Griffs und der Klinge auf, von denen einige zu Werkzeugen für neue Verwendungsweisen beim Schlachten von Tieren wurden und damit dankenswerterweise aus dem Bereich der Chirurgie heraustraten. Im Handwerk kommt es häufig vor, dass Werkzeuge oder Materialen da sind, bevor jemand weiß, was man damit tun kann, und so werden die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten allein durch Versuch und Irrtum gefunden. Die Zeit kehrt das Mantra um, wonach die Form der Funktion folgen sollte. Stattdessen folgt die Funktion der Form – und das oft nur langsam.18

Ganz ähnlich brauchen die Menschen auch Zeit, um die gebaute Umwelt kennenzulernen. Eigentlich sollte man meinen, Menschen wüssten »intuitiv«, wie sie sich in einem Gebäude oder an einem Ort bewegen oder wie sie diese verstehen könnten, aber willkürlich innovative Bauten können solche selbstverständlichen Gewohnheiten auch stören. Dieses Problem stellt sich zum Beispiel bei der Gestaltung von Schulen, wenn die Räume den Fortschritten des Online-Unterrichts gerecht werden sollen. Das traditionelle Klassenzimmer hat eine Reihe von Tischen, die auf den Lehrer vorn ausgerichtet sind, während neuere Klassenzimmer informell angeordnete Gruppen von Arbeitsplätzen aufweisen. Wie beim Messer aus gehärtetem Stahl wissen die Lehrer nicht sogleich, wie sie ihre körperliche Präsenz im Verhältnis zu diesen Arbeitsplätzen ausrichten sollen – etwa, wohin sie sich am besten stellen, um die Aufmerksamkeit aller Schüler zu erhalten. Das neue Gebäude kennen und nutzen zu lernen braucht eine gewisse Zeit. Ganz ähnlich hätten die Menschen, wenn denn unsere Pläne zur Rassenintegration realisiert worden wären, erst noch lernen müssen, die für die Schulbusse vorgesehenen Flächen als Spielplätze zu nutzen, wenn keine Busse dort fahren oder stehen.

Jane Jacobs kombinierte all diese Vorstellungen. Diese große, kämpferische Schriftstellern stellte den Wert der Stadtplanung nicht in Frage, erklärte aber, die städtischen Formen entstünden langsam und schrittweise mit ihrer Nutzung und mit der Erfahrung. Der Homo faber – der ihr ein besonderes Gräuel war – der New Yorker Stadtplaner und politische Strippenzieher Robert Moses, baute genau in der entgegengesetzten Weise: groß, schnell und ganz nach seinem Belieben. Wie sich in diesem Buch noch zeigen wird, bewegte ich mich als junger Mann in Jane Jacobs’ Schatten, trat dann aber schrittweise daraus heraus.

Das hatte seinen Grund zum Teil in einer Verlagerung meines Tätigkeitsfeldes. Als Stadtplaner kann ich nur auf eine bescheidene Praxis verweisen. Im Nachhinein bedauere ich sogar, mich im Blick auf die pragmatische Herausforderung nicht mehr der Praxis und weniger der Lehre gewidmet zu haben. Meine Praxis in Amerika war lokal und auf die Stärkung der Gemeinschaft ausgerichtet. In mittlerem Alter begann ich mit Beratungstätigkeiten bei den Vereinten Nationen, erst für die UNESCO, dann für das Entwicklungsprogramm der UN und später für UN-Habitat. Im globalen Süden wuchsen die Städte so stark und schnell, dass eine großangelegte Planung erforderlich wurde. Klein, vorsichtig und lokal wäre nicht die richtige Leitschnur gewesen, um Wohnungen, Schulen und Verkehrsmittel für große Bevölkerungszahlen bereitzustellen. Wie sollte man Städtebau in großem Maßstab, aber in einem bescheidenen Geiste betreiben? Ich gab die ethische Grundeinstellung, die mich geprägt hatte, nicht auf, aber sie bedurfte einer neuen Interpretation.

Ein weiterer Wandel meiner Einstellung hat persönliche Gründe. Vor einigen Jahren erlitt ich einen schweren Schlaganfall. Während ich mich davon erholte, begann ich, Bauwerke und räumliche Beziehungen anders zu verstehen als zuvor. Es kostete mich nun Anstrengung, in komplexen Räumen zu sein, musste ich doch mit dem Problem fertigwerden, mich aufrecht zu halten und gerade zu gehen, und auch mit jenem neurologischen Kurzschluss, der dafür sorgt, dass man sich nach einem Schlaganfall in einer Menschenmenge desorientiert fühlt. Seltsamerweise erweiterte die physische Anstrengung, die mir das Gehen bereitete, meinen Sinn für die Umgebung, statt sie auf die Stelle einzuengen, an die ich als Nächstes meinen Fuß setzte, oder auf die Person, die sich unmittelbar vor mir befand. Ich stellte mich in einem breiteren Maße auf die mehrdeutigen oder komplexen Räume ein, durch die ich navigierte. Ich wurde ein Städter nach Art Venturis.

Beide Veränderungen veranlassten mich, der Frage nachzugehen, wie Homo faber in der Stadt eine stärkere Rolle spielen kann. Eine stärkere Urbanistik muss sich auch am Bauchgefühl orientieren, denn Ort und Raum werden im Körper lebendig. Wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche, lässt sich proaktive Urbanistik mit ethischer Bescheidenheit verbinden. Bescheidenheit bedeutet nicht kriecherische Unterwürfigkeit. Der Stadtplaner sollte Partner, nicht Knecht des Städters sein – sowohl kritisch hinsichtlich der Lebensweise der Menschen als auch selbstkritisch hinsichtlich des von ihm Gebauten. Wenn sich solch ein Verhältnis zwischen cité und ville herstellen lässt, kann die Stadt offen sein.

Ein Einwand muss gegen diese Auffassung erhoben werden. Ein Teil der Selbstachtung des Schaffenden liegt in seinem ureigenen Willen. Alle großen Städtebauer waren und sind sehr stolz auf Dinge, die sie unabhängig von den Wünschen anderer oder sogar gegen deren Willen getan haben. Ausdrücke wie »unmöglich«, »noch nie da gewesen«, »ein Egotrip«, »vollkommen aus dem Kontext« und dergleichen sind sämtlich Warnsignale und bestärken eher noch diese Einstellung. Ein Schaffender, der seine Arbeit im Geiste der Bescheidenheit angeht, wie Gordon Cullen und Jane Jacobs dies wünschen, wird gewiss die Spannung zwischen Bauen und Wohnen verringern. Aber er wird auch Risiken vermeiden. Der unbescheidene, bestimmende, kreative Wille steckt voller Feuer. Kann eine sensiblere, kooperative, selbstkritische Urbanistik ähnliche Energie entfalten?

DER AUFBAU DES BUCHES: Dieses Buch ist der dritte Band einer Trilogie, die sich mit der Stellung des Homo faber in der Gesellschaft befasst. Der erste Band untersuchte das Handwerk und vor allem das darin anzutreffende Verhältnis zwischen Kopf und Hand. Der zweite erforschte die für gute Arbeit nötige Zusammenarbeit. Dieser Band nun versetzt Homo faber in die Stadt. Der erste Teil betrachtet die Entwicklung der Urbanistik – der professionellen Praxis des Städtebaus. Im 19. Jahrhundert versuchten Städtebauer, Gelebtes und Gebautes miteinander zu verbinden. Diese Gewebe waren zerbrechlich und rissen leicht. Im 20. Jahrhundert gingen cité und ville in der Art und Weise, wie Städtebauer ihre Arbeit verstanden und ausführten, getrennte Wege. Die Urbanistik glich nun in ihrem Innern einer geschlossenen Wohnanlage.19

Im zweiten Teil untersucht das Buch, wie drei große Themen von dieser Bruchlinie zwischen Gelebtem und Gebautem betroffen sind. Ich beginne mit dem gewaltigen Wachstum der Städte im globalen Süden, in denen die ungelösten Probleme des Nordens erneut zutage treten. In sozialer und soziologischer Hinsicht sind Städte heute traumatisiert von der These des Aristoteles, dass eine cité aus Menschen verschiedener Art bestehen solle. Mitchells smarte Stadt hat sich in menschlicher Weise entwickelt und ist heute entweder ein Albtraum oder ein Ort voller Versprechen, da Technologie die cité sowohl zu schließen als auch zu öffnen vermag.

Im dritten Teil zeige ich, wie eine Stadt aussehen könnte, wenn sie offener wäre. Die offene Stadt verlangt von ihren Bewohnern, dass sie die Fähigkeit zum Umgang mit Komplexität entwickeln. In der ville vermögen fünf offene Formen städtische Orte auf gute Art komplex zu machen. Ich versuche aufzuzeigen, wie Stadtplaner bei der Nutzung dieser offenen Formen mit Städtern zusammenarbeiten könnten.

Der letzte Teil greift erneut das wesenhaft Krumme an der Stadt auf. Die Arbeit der Zeit, die ihren sozialen, technologischen und architektonischen Brüchen zugrunde liegt, zerrüttet die Beziehungen zwischen Gelebtem und Gebautem – eine eher praktische als poetische Aussage. Die Turbulenzen und Unsicherheiten des Klimawandels erhellen die Brüche, zu denen es in der Entwicklung jeder Stadt kommt. Diese Turbulenzen bringen mich am Ende des Buches zurück zu der Frage, die mich erstmals in Boston bewegte: Kann Ethik die Gestaltung der Stadt prägen?

Erster Teil

DIE ZWEI STÄDTE

2  UNSICHERE FUNDAMENTE

Die Geburt des Stadtplanung – Geschichte eines Bauingenieurs

Im Jahr 1859 benutzte der spanische Architekt Ildefons Cerdà als Erster die Ausdrücke »Stadtplanung« und »Stadtplaner« in einem gedruckten Buch. Warum so spät? Immerhin lebten Menschen seit Jahrtausenden in Städten. Die Ausdrücke tauchten auf, weil das moderne Leben ein neues Verständnis der Stadt erforderte.1

Im frühen 18. Jahrhundert begann in Europa eine gewaltige Einwanderung in die Städte – in erster Linie junge, arme Leute und hauptsächlich nach London und Paris. Dort mussten sie feststellen, dass Arbeit knapp war. Nur etwa 60 Prozent der Londoner Armen hatten 1720 eine Vollzeitbeschäftigung. In Amerika zogen viele Einwanderer von New York und Philadelphia weiter in Richtung Westen, der amerikanischen Frontier, während in Großbritannien und Frankreich diese arbeitslosen Massen wie geronnenes Blut in den Hauptstädten blieben. Bei Ausbruch der Französischen Revolution galten Reformen weithin als unumgänglich, und manche Vorschläge zielten auf diese materiellen Bedingungen, etwa jener, baufällige Elendsviertel abzureißen. Aber nicht an die wirtschaftliche Krise dachten jene Leute, die Cerdà »Stadtplaner« nannte. Vielmehr waren es Fragen der öffentlichen Gesundheit, die sie veranlassten, die Stadt neu zu denken – Krankheiten, die Reich und Arm gleichermaßen trafen.

Die Pest war in den Städten immer schon eine Gefahr gewesen – im Spätmittelalter hatte der Schwarze Tod ein Drittel der Bevölkerung dahingerafft. Als die Städte in der frühen Neuzeit immer größer wurden und die Bevölkerungsdichte zunahm – wodurch sich immer mehr Kot und Urin ansammelte –, entwickelten sie sich auch zu Brutstätten für Ratten und die von ihnen weitergegebenen Krankheiten. Wenn es einem Kind gelang, die Geburt zu überleben (eine echte Leistung in diesen Zeiten einer noch primitiven Geburtshilfe), lief es Gefahr, aufgrund des schmutzigen Wassers schon bald an Ruhr zu erkranken. Die wachsende Bevölkerung bedeutete auch mehr Häuser; mehr Häuser bedeuteten, dass mehr Kamine die Luft verschmutzten; und die verpestete Luft förderte die Tuberkulose.

Die ersten Stadtplaner, die entschlossen gegen diese Verhältnisse anzugehen versuchten, waren keine Ärzte, sondern Ingenieure. Das Bau- und Ingenieurwesen gilt im Allgemeinen nicht als besonders glanzvolle Tätigkeit, doch in Cerdàs Generation wurden Ingenieure zu Heldengestalten, weil sie sich aktiver mit den Gesundheitsproblemen auseinandersetzten als die Ärzte, die nicht wirklich wussten, wie sie die Tuberkulose oder die Ursachen von Seuchen bekämpfen konnten.

Bei Bürgern wie bei medizinischen Fachleuten basierten die Praktiken im Umgang mit der Cholera auf tiefer Unwissenheit. Man glaubte fälschlich, die Krankheit werde durch die Luft statt durch Wasser übertragen. So versuchten denn bei einer Epidemie 1832 viele Pariser, sich vor der grassierenden Krankheit zu schützen, indem sie ihren Mund mit einem weißen Taschentuch bedeckten, wenn sie mit anderen sprachen – wobei man der weißen Farbe eine besonders schützende Wirkung beimaß. Das Palais Royal, das zuvor Läden und Bordelle beherbergt hatte, wurde in ein Krankenhaus umgewandelt, in dem man die Krankenbetten in engen Reihen unter dem Glasdach aufstellte. Indem man die Kranken eng zusammenpferchte, sorgte man lediglich dafür, dass sie sich gegenseitig erneut ansteckten, sollten sich bei einem von ihnen tatsächlich einmal Anzeichen einer Genesung zeigen. Ärzte und Patienten hielten gleichwohl an der Überzeugung fest, das auf die Kranken herabströmende Sonnenlicht besitze eine desinfizierende Wirkung – ein verzweifeltes Vermächtnis des alten Glaubens an die Heilkraft des göttlichen Lichts.2

Ingenieure wurden zu den Handwerkern der modernen Stadt und versuchten, die Qualität des städtischen Lebens mit Hilfe technischer Experimente zu verbessern. Straßen, in denen Seuchen grassierten, veranlassten die Ingenieure, über die verwendeten Baumaterialien nachzudenken. Glatte Steinpflaster, von denen man Pferdeäpfel leicht wieder entfernen konnte, wurden erstmals im 18. Jahrhundert auf den Plätzen des Londoner Stadtteils Bloomsbury verlegt, fanden eine weitere Verbreitung aber erst, als man – um 1800 – solche Pflastersteine mit Hilfe von Steinschneidemaschinen in industriellem Maßstab herstellen konnte. Die Ingenieure sorgten dafür, dass ein Markt für solche industriell gefertigten Pflastersteine entstand. Sie glaubten, wenn Straßen leichter zu reinigen seien, achteten die Menschen auch eher auf deren Sauberkeit und würfen zum Beispiel keine Abfälle aus den Fenstern ihrer Häuser (wie damals allgemein üblich). Tatsächlich nahmen die Ingenieure an, wenn sie die Infrastruktur veränderten, ergäbe sich auch ein aufgeklärterer Umgang mit Fragen der öffentlichen Gesundheit – die ville könne die cité verändern.

Ganz ähnlich markierten Erfindungen wie das 1843 in Paris eingeführte Pissoir einen echten Fortschritt in der öffentlichen Gesundheit. Das »Alexandrine« genannte, von mehreren Männern gleichzeitig benutzbare Pissoir, das in den 1880er Jahren aufkam, war eine für belebte Straßen besonders gut geeignete Hygienetechnologie. Auch hier lag der Gedanke zugrunde, dass die Bereitstellung solcher Möglichkeiten zu einem Einstellungswandel führen werde. Bis 1843 entblößten Männer ohne jede Scham ihr Glied und urinierten in aller Öffentlichkeit. Sie pinkelten wie Hunde gegen Häuserwände oder auf die Straße. Nach der Einführung des Pissoirs konnte man den Urin unterirdisch wegschaffen. Entsprechend veränderten sich auch die Werte der cité. Nun galt es zunehmend als beschämend, sich unter den Augen von Fremden zu erleichtern. Die Verbannung des Kots und Urins von der Straße hatte außerdem den positiven Effekt, dass diese Außenbereiche sich nun besser als sozialer Raum nutzen ließen. Die große Café-Terrasse an den Boulevards war ein Geschenk der Sanitäringenieure an die städtische Zivilisation.3

Den technischen Bemühungen um gesunde Städte war gut dreihundert Jahre zuvor eine grundlegende Entdeckung hinsichtlich des menschlichen Körpers vorausgegangen. William Harvey erklärte in seiner Abhandlung De motu cordis 1628, wie das menschliche Herz das Blut auf mechanischem Wege durch Arterien und Venen zirkulieren lässt, während frühere Arzte angenommen hatten, die Zirkulation käme durch die Erwärmung des Blutes zustande. Ein Jahrhundert später wurde der von Harvey entdeckte Blutkreislauf zum Vorbild für die Stadtplanung. Der französische Stadtplaner Christian Patte ließ sich durch das Bild der Arterien und Venen zur Erfindung des Systems der Einbahnstraßen anregen, das wir heute kennen. Stadtplaner der Aufklärung stellten sich vor, wenn die Bewegung durch die Stadt an irgendeinem wichtigen Punkt blockiert werde, drohe eine ähnliche Zirkulationskrise, wie der menschliche Körper sie bei einem Herzinfarkt erlebe. Die durch das Zirkulationsmodell nahegelegten Einbahnstraßen ließen sich in kleinen Städten mit relativ wenig Verkehr recht leicht einrichten. In Großstädten wie Paris dagegen, deren Bevölkerung und Verkehr während des ganzen 19. Jahrhunderts ständig wuchsen, reichte es nicht, einfach Einbahnstraßenschilder aufzustellen. Ein frei fließender Verkehr bedurfte dort stärkerer Planung und systematischerer Eingriffe in das städtische Gewebe.

Die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit durch den unter- und oberirdischen Einsatz technischer Mittel war jedenfalls eine große Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. In einem neuen Vorwort zur Neuausgabe eines Buches, das er ein halbes Jahrhundert zuvor über das Elend der Arbeiterklasse in Manchester geschrieben hatte, bemerkte Friedrich Engels 1892: »Die wiederholten Heimsuchungen durch Cholera, Typhus, Pocken und andre Epidemien haben dem britischen Bourgeois die dringende Notwendigkeit eingetrichtert, seine Städte gesund zu machen … Demgemäß sind die in diesem Buch beschriebenen schreiendsten Mißstände heute beseitigt oder doch weniger auffällig gemacht.« Eine viktorianische Fortschrittsgeschichte, gewiss, aber viele Folgen der Stadtplanung waren oft zufällig und unbeabsichtigt. So hatten die Ingenieure nicht die Absicht gehabt, die Einrichtung von Straßencafés zu ermöglichen.4

Ein Großteil der Infrastruktur-Baumaßnahmen des 19. Jahrhunderts war in ähnlicher Weise offen wie das Media Lab in seiner Blütezeit. Die Ingenieure stellten Vermutungen an und erfanden durch Zufall Dinge, ohne die weiter reichenden Auswirkungen ihrer technischen Erfindungen vorauszusehen. Die Ingenieure etwa, die für Joseph Bazalgette arbeiteten, als der in den 1850er und 1860er Jahren die Londoner Kanalisation baute, erfanden Technologien wie die für feste Abfälle bestimmten Gitter, die sie einbauten, wenn sie Rohrsegmente miteinander verbanden. Sie wussten nicht im Voraus, welche Gitterweite sie verwenden sollten, sondern experimentierten mit verschiedenen Filterkonstruktionen. Bazalgette wusste zwar sehr genau, was sein Endziel war: Das Reich der Kanalisation – das in Hugos Die Elenden beschrieben ist – musste zu einem unterirdischen Kanal- und Rohrnetz werden, das dem oberirdischen Straßennetz entsprach. Dennoch neigte er zur Unbestimmtheit. Oft plante er Kanäle und Rohre mit größerem Querschnitt, als erforderlich schien, und sagte, die Planung könne zukünftige Bedürfnisse nicht vorhersehen.5

Joseph Bazalgette beaufsichtigt den Bau des Abwasserkanals Northern Outfall Sewer unter dem Pumpwerk Abbey Mills in London

Für diesen experimentellen Prozess mussten Ingenieure und Stadtplaner neue visuelle Werkzeuge entwickeln. Vor Cerdàs und Bazalgettes Zeiten hatten künstlerische Konventionen des Zeichnens und der bildlichen Darstellung die Mittel bestimmt, mit denen man entwarf, wie die Stadt aussehen sollte. Donald Olsen schrieb dazu: »Die Stadt wurde als Kunstwerk verstanden.« Selbst Militäringenieure hielten sich an geziemend künstlerische Standards, wenn sie sich Gedanken darüber machten, wie sie eine Stadt entwerfen konnten, die sich bei Belagerungen am besten verteidigen ließ. So setzten die militärischen Planer in der Entwurfszeichnung für die italienische Stadt Palmanova mitten hinein in ein zerklüftetes Gelände das Bild einer sternförmigen, auf einer ebenen Fläche liegenden Stadt, mit anmutigen Gärten darin, schön verzierten Mauern und dergleichen. Grund- und Aufrisse sind klassische Techniken, die sich bestens zur Darstellung einzelner Gebäude eignen; dabei zeigt man sie in einem horizontalen oder vertikalen Schnitt gleichsam von oben oder von der Seite. Das chaotische Gemisch unterschiedlichster Formen entlang einer dicht und ungeordnet bebauten Straße verlangt ein anderes Darstellungsmittel.

Wir können solche Komplexität heute dank der Montagefähigkeiten moderner CAD-Systeme visualisieren, aber unsere Vorfahren vermochten dies alles nur vor ihrem inneren Auge zu sehen. Auch ließ sich mit klassischen Darstellungstechniken nicht zeigen, wie die auf Londoner Straßen erstmals 1807 installierten Gaslampen deren nächtlichen Anblick bei unterschiedlichen Anordnungen jeweils veränderten, und ebenso wenig ließ sich die Geschwindigkeit des Verkehrsflusses graphisch darstellen. Die von den Ingenieuren unter der Erde gebaute Infrastruktur war unsichtbar. Die herkömmlichen Darstellungsverfahren boten den Ingenieuren und Stadtplanern nicht die benötigten Techniken.

Aus all diesen Gründen praktizierten sie keine exakte Wissenschaft. Sie wandten keine gesicherten Prinzipien auf Einzelfälle an, und keine allgemeine Politik diktierte, was als beste Praxis gelten konnte. Die Ingenieure nahmen gleichsam Jerome Groopmans Beschreibung des »adaptiven klinischen Versuchs« vorweg und lernten während der Durchführung. Zu den wahrhaft bewundernswerten Aspekten in Bazalgettes Charakter gehört die Tatsache, dass er viktorianische Zuversicht ausstrahlte, ohne zu behaupten, er wisse genau, was er tue, und lediglich glaubte, am Ende werde es schon das Richtige sein. Das gilt auch für viele andere im Städtebau tätige Ingenieure dieser Zeit. Ihr technisches Wissen war ergebnisoffen.

Das führte indessen auch zu ähnlichen Schwierigkeiten, wie Bill Mitchell ihnen begegnete, als er versuchte, seine Ideen so zu übersetzen, dass auch andere sie verstanden. Baumeister der Renaissance wie Palladio achteten sehr darauf, wie ihr Werk am besten gesehen werden konnte. Betrachtet man in Venedig von der Piazza San Marco aus über das Wasser Palladios Kirche San Giorgio, sieht man, wie sie platziert und in ihrer Größe bestimmt wurde, und man erkennt, wie sie in das Gewebe der Stadt eingefügt ist, aber auch davon absorbiert wird: Palladio demonstriert hier eindeutig Komplexität. Für die Ingenieure war ein Eingriff anderer Art typisch. Ihre Arbeit war für andere nicht so greifbar. Die Öffentlichkeit mag die Folgen durchaus spüren, etwa wenn es auf der Straße nicht stinkt, aber nicht erkennen, warum das so ist. Diese Art Komplexität ist mehrdeutig. Der Bau einer Kanalisation erforderte mancherlei Prüfungen hinsichtlich des Bodens, in dem die Rohre verlegt wurden, aber warum Bazalgette sich für ein sechs- oder neunzölliges Rohr entschied, vermochte er anderen nicht wirklich zu erklären – weil er es sich selbst nicht erklären konnte. Diese Unklarheit gleicht der von Mitchell, der die »Ästhetik der Bewegung« nicht so zu erklären vermochte, dass seine Assistenten wussten, was sie am nächsten Morgen zu tun hatten.

Solche mehrdeutige Komplexität verband die Ingenieure und Stadtplaner der ville mit den Chronisten der cité.

Die cité – schwer zu lesen

Wie schwierig es ist, die cité zu lesen, wurde dem jungen Friedrich Engels klar, als er in den frühen 1840er Jahren nach Manchester reiste, um das Elend der Armen zu dokumentieren. Für den 24-Jährigen war es eine seltsame Reise. Der Sohn eines wohlhabenden deutschen Kaufmanns war ein liebenswürdiger Gesellschafter, der gerne durch die Stadt zog und, wenn er auf dem Lande weilte, mit Begeisterung auf die Fuchsjagd ging. Engels war zwar beeindruckt von Karl Marx, aber in jungen Jahren der Abenteuerlustigere von beiden. In Großbritannien und Frankreich gab es eine lange Tradition, das alltägliche Leben der »niederen Stände« zu beschreiben, doch radikale Reformer schilderten die Zustände meist aus der Distanz. Um etwas über die Lebensbedingungen der in den Fabriken von Manchester arbeitenden Armen zu erfahren, begab sich Engels tatsächlich dorthin, er lief durch die Straßen, steckte seine Nase in Bordelle, trieb sich in Schenken herum und besuchte sogar nonkonformistische Kirchen (obwohl er eine instinktive Abneigung gegen sie empfand).

Der Historiker E. P. Thompson merkte an, das schmutzige, beklemmende Manchester habe Engels angeregt, eine Sprache für die Beschreibung der Klassenunterschiede zu schaffen und Wörter oder Kategorien für die Armen zu erfinden, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Im Blick auf die Verhältnisse in Manchester prägte er den Ausdruck »Proletariat« und dessen Gegenstück »Lumpenproletariat«. Sein Buch über Die Lage der arbeitenden Klasse in England war jedoch keine bloße, mit Horrorgeschichten gespickte Reportage. Der junge, zum Anthropologen gewendete Fuchsjäger begann auch Aspekte der Stadt wahrzunehmen, die mit der neuen Betonung auf Klassenunterschiede auf den ersten Blick recht wenig zu tun hatten, etwa wie Kinder auf der Straße spielten, mit welcher Geschwindigkeit Frauen auf der Straße gingen oder wie die Leute sich in den Schenken vergnügten.

Seine sensible Antenne für das städtische Leben rückt ihn in die Nähe mancher Romanciers der Zeit, vor allem Balzacs und Stendhals (ein Pseudonym für Marie-Henri Beyle). Gewiss hatten die Romanciers und die angehenden Kommunisten verschiedene Städte im Blick. Anders als ein industrielles Zentrum wie Manchester oder das französische Lyon, in dem die Textil- und Glasindustrie des Landes konzentriert war, vereinigte Paris glitzernden Luxus, geschäftliche wie auch staatliche Korruption, eine riesige staatliche Bürokratie und massenhaftes Elend in sich. Die Beschreibung dieser dichten Urbanität bedurfte innovativer Romantechniken – ganz wie die Ingenieure und Stadtplaner neue Techniken der Visualisierung benötigten.

Um eine schwer zu lesende Stadt vor dem inneren Augen erstehen zu lassen, beginnen Romane wie Balzacs Verlorene Illusionen oder Stendhals Rot und Schwarz mit einer scheinbar einfachen Geschichte. Ein junger Mann aus der Provinz kommt voller Hoffnungen in die Großstadt. Aber die Stadt enttäuscht seine Erwartungen oder verwandelt sie in selbstzerstörerische Wünsche. Dann erfolgt eine Feinabstimmung dieser einfachen Geschichte, und zwar in zweierlei Weise. Erstens spielen die Autoren mit dem Ehrgeiz ihres jungen Helden, der sich von dem Spruch »Stadtluft macht frei« treiben lässt. In Balzacs Vater Goriot schüttelt der junge Rastignac die Faust gegen Paris und erklärt: »À nous deux maintenant!« (»Nun wollen wir uns miteinander messen«) – nur um dann wie Lucien Chardon in Verlorene Illusionen festzustellen, dass es auch viele andere Egos gibt, die ihre Faust schütteln. Wie Luftballons schrumpfen die ehrgeizigen jungen Protagonisten in sich zusammen. Stendhal zeigt eine zweite Möglichkeit auf, wie die Stadt den Geist der Jugend zu brechen vermag. Der junge, aus der Provinz stammende, von seinem Vater misshandelte Julien Sorel in Rot und Schwarz ist mehr als ein Monster an Ehrgeiz. Nach seiner Flucht in die Stadt entdeckt er neue drängende sexuelle Begierden in sich. Paris setzt ihm keine moralischen Grenzen. Doch ohne äußere Verbote vermag er sich nicht zu beherrschen, und am Ende erweisen sich seine übermäßigen Begierden als fatal. Auch Julien Sorel schrumpft in sich zusammen.

Die Romanciers des städtischen Lebens im 19. Jahrhundert schwelgten – und diesen Ausdruck halte ich keineswegs für übertrieben – darin, zu zeigen, auf welche Weisen die Stadt die Hoffnungen junger Menschen zu zerstören vermag. Bei Balzac finden sich schlicht exquisite Passagen, in denen er die Demütigungen oder die Gleichgültigkeit beschreibt, denen seine brünstigen jungen Leute ausgesetzt sind. Flaubert beschleunigt die Satzrhythmen und greift zu immer farbigeren Bildern – der Autor ist geradezu begeistert! –, als er seinen jungen Mann in Erziehung des Herzens ins Verderben führt. Die Romanciers schufen ein ästhetisches Vergnügen, während sie ihre Figuren nach und nach vernichteten.

Auf weniger perverse Weise teilen auch Entwicklungsromane von geringerer Bedeutung als diese Meisterwerke jenes Problem der cité, das auch ein Problem ihrer Leser ist: Die Erfüllung, nach der man sucht, kommt von Menschen, die man noch nicht kennt. Man muss mit Fremden fertigwerden, die schwer zu durchschauen sind, weil sie sich bedeckt halten.

Das Zeitalter dieser Romane war eines, in dem es den Bewohnern der Städte nicht mehr leichtfiel, spontan mit Fremden auf der Straße zu sprechen. Das tun wir auch heute in der Regel nicht, und so können wir uns kaum vorstellen, dass es einmal anders war. Aber Mitte des 18. Jahrhunderts empfand ein Fremder in Paris oder in London keine Scheu, Unbekannte auf der Straße anzusprechen und sie ganz direkt am Arm festzuhalten, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und sie nach etwas zu fragen. Und wenn man in einem Kaffeehaus einen Kaffee trinken wollte, setzte man sich an einen langen Tisch und erwartete, die Zeit auf angenehme Weise zu verbringen, indem man mit vollkommenen Fremden über das aktuelle Geschehen diskutierte. Stendhals Paris markierte insofern einen Wendepunkt, da nun die Menschen auf der Straße oder im Café erwarteten, in Ruhe gelassen zu werden und ungestört etwas trinken oder ihren Gedanken nachhängen zu können. Und in der Öffentlichkeit hüllte man sich zunehmend in den Schutz des Schweigens und schirmte sich auf diese Weise vor der Zudringlichkeit von Fremden ab. Das ist heute noch so: In der modernen Stadt verkehren Fremde eher durch Blicke miteinander als durch Worte.

Im 19. Jahrhundert trug alle Welt schwarze Kleidung – nicht das modische japanische Rot-Schwarz, das wie Farbtupfer wirkte, sondern ein langweilig einheitliches Grauschwarz, das die städtische Menge als ein Meer aus schwarzgekleideten Männern mit schwarzen Hüten erschienen ließ. Es war zugleich auch das erste Zeitalter der Konfektionskleidung, die von Maschinen in standardisierten Formen und Größen hergestellt wurde. Das Schwarz und die Konfektionskleidung verbanden sich zu einer anonymen Uniform, die verhinderte, dass der Einzelne wahrgenommen wurde oder hervorstach – im Bereich der Mode das Gegenstück zu dem Mann, der allein mit seinem Getränk und seinen Gedanken im Café saß. Auch dies war im Paris oder London des 18. Jahrhunderts anders gewesen, als die Straßen noch voller Farben waren. Im Ancien Régime signalisierte die Kleidung nicht nur die Stellung innerhalb der sozialen Hierarchie, sondern genauer noch den Berufsstand, dem man angehörte (Schlachter trugen rot-weiß gestreifte Halstücher, und Apotheker steckten sich ein Sträußchen Rosmarin ans Revers). Angesichts des Meers an Gleichförmigkeit fiel es nunmehr schwerer, Fremde durch einen Blick auf ihre Kleidung einzuordnen.

Sowohl die Romanfiguren als auch die Käufer der Balzac’schen Romane bemühten sich, diese Abschirmung in der Öffentlichkeit auf spezielle Weise zu lesen. Sie versuchten, den Charakter eines Fremden aufgrund kleiner, verräterischer Details an der Kleidung näher zu bestimmen. So glaubte man, Knöpfe an den Ärmeln eines Jacketts, die man tatsächlich öffnen könnte, zeigten an, dass der Träger ein »Gentleman« war, obwohl dieses Jackett fast genauso geschnitten war und in demselben Schwarzton daherkam wie die von Handwerkern getragenen. In allen Romanen der Menschlichen Komödie