Die Pegasus-Schwestern - Bernhard Kürzl - E-Book

Die Pegasus-Schwestern E-Book

Bernhard Kürzl

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Beschreibung

Was mit einer Doppelhochzeit am Strand von Amrum beginnt, endet im Chaos: Die Eisharpyien von Armonas tauchen in der realen Welt auf und verletzen Bellerophon schwer. Um ihn zu retten, müssen die Schwestern Bella und Nora mit ihren Freunden nach Armonas und die aus reiner Angst bestehenden Harpyien komplett vernichten. Können sie ihre eigenen Ängste loslassen, um den Eisharpyien keine neue Kraft zu geben? Unterdessen entdeckt die inzwischen fünfzehnjährige Bella ihre Fähigkeit, das Leiden der Pferde zu spüren. Anfangs ist es für sie die Hölle, durch die sie sogar den Turniersport aufgibt. Dann erkennt sie die Gabe als Chance, Pferden zu Helfen und die Täter zu stellen.

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Seitenzahl: 262

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

1.Artemis‘ Bogen

2.Nie wieder!

3.Der schönste Tag im Leben

4.Kalter Feind

5.Der Tag danach

6.Das Leiden der Pferde

7.Enya

8.Vier Schwestern

9.Das letzte Turnier

10.Zweiter Angriff

11.Bellerophon

12.Wer darf mit?

13.Frustrierende Abschiede

14.Armonas

15.Die Wildpferde

16.Das Wasser-Labyrinth

17.Die Stadt im See

18.Amnesie

19.Krieg der Ängste

20.Glorias Alptraum

21.Die verschollene Schwester

22.Das Albtraumportal

23.Gute gehen, bessere kommen

24.Pferdeblut

25.Das letzte Rennen

26.Feuerwerk

27.Die Geburt des Phönix

28.Das Erbe

Epilog

Bernhard Kürzl

Die Pegasus-Schwestern

3.

Pferdeblut

© 2025 Bernhard Kürzl

Coverdesign und Umschlaggestaltung:

Florin Sayer-Gabor – www.100covers4you.com

unter Verwendung von Gafiken von

- shutterstock: Callipso88 (Pferde)
- Adobe Stock: Shacil (Portal)
- Pro Heraldica (Wappen)

Lektorat: Johanna Furch

Druck und Distribution im Auftrag:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg

ISBN 978-3-384-60434-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Wer Leiden sieht und nichts dagegen unternimmt, wählt es.

_____

»Sie kommen«, sagte Nora gelassen, als würde sie auf einen Bus warten.

»Wie viele?«, fragte Gloria.

»Alle!«, antwortete Enya.

Bella schätzte die Menge auf ein paar Tausend. Sie schloss die Augen und sog langsam und tief die Luft ein.

Artemis‘ Bogen

Nora beobachtete den Bären einige Sekunden lang. Würde sie jemals auf darauf schießen können? Ja, es war nur eine Figur, ein 3D-Ziel für einen Bogenschießparcours, aber trotzdem. Es erinnerte sie zu sehr an ein lebendiges unschuldiges Tier. Sie widmete dem Bären in einer Ecke des Bogensportgeschäftes keine weitere Aufmerksamkeit und sah sich weiter um. Es roch nach altem Holz, wie die antike Kegelbahn in der Kneipe, in der sie ab und zu Billard spielte. Die Auswahl in diesem relativ kleinen Laden war enorm. Bogen in allen Größen und verschiedensten Ausführungen, unzählige Pfeilarten, Köcher, Handschuhe und unterschiedliche Hilfsmittel. Aus einem der Regale sprangen ihr verschiedene Schriftzüge von Fachbüchern und DVDs entgegen.

»Hier hätte ich verschiedene Jugendbögen«, sagte der Verkäufer. »Hast du Erfahrung im Bogenschießen?«

Nora nickte und warf einen geringschätzigen Blick auf die Auswahl. »Ich möchte einen Langbogen.«

Der Verkäufer zog die Augenbrauen hoch. »Die sind eigentlich ein bisschen zu groß für dich. Ich würde dir einen Sportrecurve empfehlen. Die sind leichter zu spannen und schießen präziser.«

»Präziser?«, fragte Nora ein bisschen überheblich. »Mitte ist Mitte, oder geht’s noch mittiger? Ich möchte einen Langbogen.«

Der Verkäufer holte tief Luft. »In Ordnung. Ich glaube, ich habe sogar einen für Anfänger mit nur achtzehn Pfund Zugkraft.«

»Sie hat nur einmal im Urlaub geschossen«, mischte sich Mama ein und erntete prompt Noras wütenden Blick. »Jetzt lass dir doch auch mal etwas von dem Herrn sagen. Der kennt sich besser aus. Bevor du etwas Falsches kaufst.«

»Nun ja, wenn man sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat …«, sagte der Verkäufer schmunzelnd und ging in den hinteren Teil des Ladens, in dem die Langbogen an der Wand hingen.

Nora folgte ihm. Plötzlich wurde ihr Blick fast magnetisch von einem der Bogen angezogen. Wie hypnotisiert ging sie auf das schlichte Stück zu. Ein leicht gebogener unscheinbarer Stab ohne Schnörkel und ohne Sehne. Aber das Holz … ein einziges dunkles Stück, keine Schichten, und eine Maserung, die wie ein Kunstwerk wirkte. Sie erkannte ihn sofort wieder.

»So, hier hätten wir jetzt …«, begann der Verkäufer und stockte. »Die sind nicht so geeignet für dich.«

»Ich möchte den da!« Nora zeigte auf den Bogen, von dem sie das Gefühl hatte, er würde zu ihr gehören. »Er hat mich gewählt.«

Der Verkäufer kam zu ihr und runzelte die Stirn. Dann zog er die Mundwinkel hoch und holte das Stück von schlichter Eleganz herunter. »Du hast einen Blick für schöne und teure Bögen. Dieser kostet fast zweitausend Euro und hat über fünfundsechzig Pfund. Der ist sogar mir zu stark. Eigentlich nur für Sammler. Ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nicht mehr, woher ich ihn habe. Ich weiß auch nicht, welches Holz das ist und wie alt er ist, aber er ist eine Antiquität. Natürlich bekäme er eine neue Sehne.«

Nora strahlte und nahm den ungespannten Bogen aus den Händen des Verkäufers. Er erinnerte sie sehr an den aus Armonas, mit dem sie die Gorgone Euryale getötet hatte. Er hatte verdammt viel Ähnlichkeit damit. »Artemis!«

»Na ja, so alt wird er sicher nicht sein. Außerdem hatte Artemis einen Recurve und keinen Langbogen.«

Nora sah den Mann streng an. »Und woher wissen Sie das?«

»Äh, na von Bildern. Ist ja nur eine Geschichte.«

»Ich glaube, dass sie genau diesen hier hatte.«

»Äh, ja, wenn du ihn als Artemis‘ Bogen haben willst, dann soll es eben so sein.« Er lachte künstlich.

Noras Blick zeigte wieder die Begeisterung und verlor diese auch nicht, als er kurz dem skeptischen ihrer Mutter begegnete. »Pfeile?«

»Ja, natürlich«, sagte der Verkäufer. »Du willst also wirklich bei diesem Bogen bleiben?«

Nora nickte lächelnd.

»Nora, warum willst du zweitausend Euro für einen Bogen ausgeben, der für dich nicht geeignet ist?«, fragte Mama.

»Ich verstehe, dass der Preis ein Problem ist -«, versuchte der Verkäufer zu vermitteln, doch Nora unterbrach ihn.

»Du hast dir doch gerade einen Porsche Taycan gekauft. Dafür bekomme ich hundert solcher Bogen. Im Übrigen hat das Geld Pegasus gewonnen. Und wem gehört er?«

»Das Geld ist ja gar nicht das Problem. Ich möchte nur, dass du gewissenhaft damit umgehst, auch wenn es nur kleine Beträge sind.«

»Kleine Beträge?«, rutschte dem Verkäufer mit halber Lautstärke heraus, als wäre er nicht sicher, ob er seine Verblüffung kundtun sollte oder nicht. Fast schon rechtfertigend fuhr er etwas lauter fort: »Ich hole mal die Pfeile.«

Nora warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu. Hatte er etwas gesagt? »Es ist genau der Bogen, den ich gesucht habe.« Nora war klar, dass sie Mama nicht mit ihrer Begeisterung anstecken konnte. Fast schon ehrfürchtig strich sie über das Holz. »Ich weiß zwar nicht wieso, aber ich kann damit schießen – und treffen.« Sie beobachtete den Verkäufer, wie er verschiedene Pfeile prüfte und anscheinend ein Sortiment zusammenstellte.

Ein anderes Regal zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Pfeilspitzen. Jede Menge, in den verschiedensten Ausführungen. Aber etwas hatten alle gemeinsam: scharfe Klingen! Einige auch Widerhaken. Eine durchsichtige Schachtel mit einem ganzen Satz hatte es ihr besonders angetan. Das Dutzend Spitzen sah gefährlich aus. Aber sie spürte den Drang in sich, sie mitnehmen zu müssen. »Diese hier bitte auch.«

Der Verkäufer kam zu ihr, kratzte sich am Kopf und legte ein besserwisserisches Lächeln auf. »Das sind Jagdspitzen, sehr scharf und massiv. Die sind im Bogensport strengstens verboten. Damit machst du deine Scheibe kaputt.«

»Ich habe keine Scheibe.«

»Worauf willst du dann schießen? Elefantenjagd ist auch verboten.« Er zog seine Mundwinkel leicht nach oben. »Im Übrigen, das Jagen mit Pfeil und Bogen allgemein. Bist du im Verein?«

Nora schüttelte den Kopf und ließ die Spitzen nicht aus den Augen. »Zu langweilig.«

»Aber was willst du dann mit einem Fünfundsechzig-Pfund-Langbogen und Jagdspitzen? Wie alt bist du?«

»Dreizehn. Ich nehme die Schachtel.«

»Äh, ja …« Der Verkäufer blickte zu Mama, die nur mit den Schultern zuckte. »In Ordnung.« Er holte die Box mit den zwölf tödlichen Jagdspitzen aus dem Regal und legte sie zu der Pfeilauswahl. »Ich habe mit einer ähnlichen mal im Keller auf einen Apfel geschossen. Der wurde sauber in zwei Hälften geteilt. Die war schon saugefährlich. Und mit diesen hier …« Er sah zu Mama. »Haben Sie ein Auge drauf.« Er wandte sich wieder an Nora. »Und hier habe ich dir ein Sortiment an Pfeilen zusammengestellt, das optimal für den Bogen und seine extreme Spannkraft ist. Probiere aus, welche dir am ehesten zusagen. Oder lass dich von einem Trainer beraten. Ich packe dir noch zwölf Holzpfeile ohne Spitzen ein, die für diese schweren Jagdspitzen geeignet sind.«

Nora nickte nur und drehte sich zu Mama.

»Was willst du mit den Pfeilspitzen?«, fragte die vorwurfsvoll.

»Jemanden töten!«

Nora zuckte und wirkte wie eine weitere Tierattrappe. Die Stimme gehörte einer jungen Frau, vielleicht Anfang zwanzig, die hinter ihrer Mutter auftauchte. Sekunden vergingen, ohne dass irgendetwas passierte.

»Kennt ihr euch?«, fragte Mama.

»Das ist meine Tochter«, sagte der Verkäufer.

Nora brachte noch immer keinen Laut heraus. Normalerweise hätte sie gedacht, es wäre nur eine große Ähnlichkeit, aber die Frau mit den langen, fast schwarzen Haaren schien sie ja auch zu erkennen.

»Du hast auf mich geschossen«, flüsterte die junge Frau. »Mit genau diesem Bogen - in einem Traum.«

»Euryale?«, fragte Nora und ließ ihren Mund offenstehen.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich heiße Enya.«

»Ja«, sagte der Verkäufer, »wie die Sängerin. Aber ich verstehe gerade nicht. Kennt ihr euch oder nicht?«

»Papa, der Traum!«, sagte Enya und blickte drängend zu ihrem Vater.

Ihr Vater schien zu grübeln. »Ach ja, dieser Albtraum in der Höhle war das, oder? Der mit dem Mädchen?«

Enya nickte und sah wieder zu Nora. »Ja, und das ist sie!«

»Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, sagte Mama.

Nie wieder!

Nora schritt noch einmal die Strecke vom Badezimmer durch den langen Flur bis zur hintersten Ecke des Wohnzimmers ab. Ja, es waren mindestens zwölf Meter. Die Entfernung war eher etwas für Anfänger oder zum Warmwerden, aber es war die einzige Möglichkeit, die Pfeilspitzen zu testen. Durch die offenen Türen sah sie direkt auf einen Stuhl im Bad, auf dem sie eine leere Klopapierrolle gestellt hatte. Darauf ruhte ein roter Apfel. Hinter den Aufbau hatte sie zwei alte Holzplatten aus dem Keller gestellt. Sie sollten ausreichen, sonst könnte dahinter eine Fliese kaputtgehen. Der dann hereinbrechende Ärger hätte nichts mit der Fliese zu tun, sondern damit, dass es ihr Mama verboten hatte, in der Wohnung zu schießen. Und schon gar nicht mit diesen Jagdspitzen.

Mama war sowieso schon sauer gewesen, dass sie auf den Kauf bestanden hatte. Nora war ja selbst nicht klar gewesen, warum sie diese kleinen gefährlichen Dinger unbedingt haben wollte. Ja, sie waren faszinierend, verbreiteten einen Hauch von Macht. Aber das brauchte Nora doch überhaupt nicht. Macht und Geltung hatten doch für sie nie eine Bedeutung gespielt. Es ging immer um die Zweckmäßigkeit, ob es richtig war, etwas zu tun oder eben nicht. Sie verscheuchte die Gedanken.

Nora legte den Pfeil mit der scharfkantigen Jagdspitze in den Bogen ein. Sie war die Einzige im Haus. Bella war bei Milan und würde erst spät nach Hause kommen, Mama arbeitete noch im Rathaus und Bellerophon hatte eine Konferenz im Lehrerkollegium. Also freies Schussfeld. Lust auf Apfelbrei? Nora grinste bei dem Gedanken und atmete tief ein. Beim Ausatmen zog sie die Sehne zurück. Sie schoss intuitiv, musste also nicht lange Zielen. Ihre Finger ließen die Sehne los. Die Zeit schien fast stehenzubleiben, wie bei einem Flug auf Pegasus. Der Pfeil löste sich mit seiner tödlichen Spitze vom Bogen und verließ das Wohnzimmer.

Die Haustür ging auf! »Hallo Nora, ich konnte früher gehen und dachte -« Weiter kam Mama nicht mehr, dann stand sie in der Schussbahn.

Nora sah nur noch den entsetzten Blick von Mamas weit aufgerissenen Augen. Sie hatte das Gefühl, das Herz in ihrer Brust würde sich zusammenziehen. Dann wurde es dunkel. Sie bekam keine Luft mehr, irgendetwas drückte gegen ihre Nase. Nora schlug um sich, aber sie konnte nichts greifen.

Plötzlich zuckte ihr ganzer Körper. Sie öffnete die Augen – Dunkelheit. Nicht ganz, ein schwacher Lichtschein drang durch die Ritzen des Rollladens. Die Bettdecke war bis über ihre Nase hochgezogen. Sie schob sie weg und atmete tief durch. Was war das für ein furchtbarer Traum gewesen? Ihre Finger ertasteten den Schalter ihrer Nachttischlampe und schalteten das Licht ein. Nora setzte sich zitternd auf. Sie nahm ein Schluck aus dem Wasserglas, stand auf und ging zum Schrank. Da lag das transparente Kästchen mit den Jagdpfeilen. Alle noch drin. Sie hatte überhaupt keinen Pfeil umgebaut. Sie wäre auch nie auf die bescheuerte Idee gekommen, damit in der Wohnung zu schießen. Warum träumte sie so etwas?

Nora schlich sich aus dem Zimmer, den Flur entlang, bis zu Mamas Schlafzimmer. Sollte sie wirklich hineingehen? Zögerlich legte sie ihre Hand auf die Klinke, holte tief Luft und öffnete lautlos die Tür. Mama schlief. Ein zartes friedliches Schnarchen versicherte ihr, dass alles in bester Ordnung war. Nichts hatte etwas mit ihrem furchtbaren Traum zu tun. Eigentlich wollte sie Mama nicht wecken, aber jetzt brauchte sie ihre Nähe. Sie schlich sich bis zum Bett und krabbelte mit unter die Decke.

»Hm?«, brummelte Mama. »Was ist los?«

»Albtraum.«

»Na dann komm her.«

Nora spürte, wie Mama ihren Arm um sie legte. Sie genoss die beruhigende Nähe und Wärme und konnte endlich mit einem Lächeln loslassen. Dann schlief sie wieder ein.

»Wo willst du mit dem Bogen hin?«, fragte Bella, als sie ihre Schwester durch den Flur huschen sah. »Willst du das Ding mit in die Schule nehmen?« Nora reagierte nicht, öffnete die Haustür und ging zu den Mülltonnen. Als sie wieder in die Küche kam nahm Bella einen weiteren Löffel Müsli und überflog die Nachrichten in ihrem Handy.

»Ich schieße nie wieder!«, sagte Nora und setzte sich an ihren Platz.

»Oh! Ist klar. Du kaufst einen Zweitausend-Euro-Bogen, nimmst noch Pfeilspitzen für die Bärenjagd und dann sammelst du lieber Briefmarken.«

»Ich sammle doch keine Briefmarken!«, fauchte Nora lautstark zurück.

»Na, was ist hier los?«, fragte Mama, die gerade aus dem Bad kam.

»Nora hat zu viel Geld«, lästerte Bella.

»Habe ich nicht! Ich will nur nie wieder Bogenschießen.«

Mama setzte sich zu ihnen. »So plötzlich? Vielleicht kannst du den Bogen wieder zurückgeben.«

»Ich habe ihn zerbrochen.«

»Was?« Mama war entsetzt. »Du hättest ihn auch verschenken können. Was ist denn plötzlich passiert?«

»Ach!« Nora stand auf, ohne etwas gefrühstückt zu haben und rannte aus der Küche.

»Nora! So nicht! Komm her!«

Die Tränen liefen aus Noras Augen auf ihr Kissen, als es an der Tür klopfte. Sie reagierte nicht. Noch einmal klopfte es. Dann öffnete Mama vorsichtig die Tür. »Darf ich reinkommen?« Nora sagte noch immer nichts. Mama setze sich auf die Bettkante und strich ihr liebevoll über den Kopf. Im ersten Moment wollte Nora die Streicheleinheiten abwehren. Sie war kein kleines Kind mehr. Aber der Trost war angenehm. Mama sah, wenn es ihr nicht gut ging. Auch sie sagte nichts, war einfach nur da, und wollte keine Erklärungen. Sie verstand sie auch so.

»Es war dieser verdammte Traum.«

»Willst du ihn mir erzählen?«

Nora schilderte knapp, an was sie sich noch erinnerte. Den Schluss deutete sie nur an. Das, was sie wirklich gesehen hatte, war nicht wichtig. Mama verstand es auch so.

»Aber der Traum verarbeitet doch nur Erlebnisse und mischt sie mit Gefühlen, Wünschen oder Ängsten«, erklärte Mama. »Das hat doch nichts mit der Realität zu tun.«

»Schon mehrere meiner Träume waren Vorahnungen.«

»Wie viele?«

Nora überlegte kurz. »Ich kann mich an mindestens drei erinnern.«

»Drei von wie viel tausend? Etwa vier Träume pro Nacht macht in einem Jahr schon über tausend, auch wenn du dich meistens nicht mehr erinnern kannst.«

»Dann weiß ich aber auch nicht, ob vielleicht viel mehr wahr geworden sind.«

»Stimmt auch wieder. Warum hast du denn dann nicht einfach nur diese furchtbaren Spitzen weggeworfen?«

»Hm, weiß ich auch nicht. Vielleicht habe ich einfach Angst, an den Traum erinnert zu werden, wenn ich den Bogen behalte.«

»Jetzt komm erstmal frühstücken … frühstücken … frühstücken … Nora? Aufwachen!«

Nora schreckte hoch. Mama stand in der Tür. Hatte sie nicht eben gerade auf ihrem Bett gesessen? »Was ist los?«

»Du hast verschlafen. Komm raus aus dem Federn, sonst kommen wir zu spät.«

»Aber wir haben doch Ferien!«

»Du weißt, dass ich einen Anprobetermin habe. Und Bella wollte auch nach einem neuen Kleid gucken.« Mama verließ das Zimmer, ließ die Tür aber einen Spalt offenstehen. »Vielleicht kommst du ja dabei auf den Geschmack, dir auch etwas Festlicheres auszusuchen.«

Verwirrt setzte sich Nora auf. Sie hatte noch ihren Schlafanzug an. So etwas hatte sie schon sehr lange nicht mehr erlebt: Sie hatte geträumt, dass sie geträumt hatte.

Sie setzte sich auf die Bettkante und sah … Sie atmete tief durch, stand auf und ging zu ihrem Bücherregal. Oben drauf lag er – ihr neuer uralter Bogen, unversehrt. Sie nahm ihn herunter und strich sanft über das Holz. »Mein liebstes Stück, ich würde dich doch nie kaputt machen. Und ich würde auch nie in der Wohnung schießen.« Sie sah zu dem Kästchen mit den Pfeilspitzen und legte den Bogen zurück. Ganz langsam klappte sie den Deckel des Kästchens auf. Da lagen die zwölf gefährlichen Spitzen. Mit ihrem starken Bogen könnte sie damit vermutlich tatsächlich einen Elefanten töten. Warum wollte sie die Dinger haben, wenn sie sie überhaupt nicht einsetzen konnte?

Der Traum im Traum war hoffentlich keine Zukunftsvision, sondern einfach nur eine tiefe Angst in ihr, jemanden versehentlich schaden zu können. Ja, Angst ist ein schlechter Ratgeber. Sie liebte das Bogenschießen.

Die Jagdspitzen blieben erstmal unter Verschluss, bis sie wusste, warum sie sie haben wollte. Jetzt musste sie sich schnellstens anziehen. Brauchte sie wirklich ein neues Kleid? Warum durfte man bei einer Hochzeit keine Jeans tragen?

Der schönste Tag im Leben

Die rötliche Sonne spähte nur noch ein kleines Stück über dem Horizont hervor. Ein schmaler Wolkenstreifen verdeckte ihren unteren Teil, der noch über dem Wasser stand. Sanft schob der Wind die Wellen über den endlosen Sand den breiten Strand hinauf und hinterließ in kurzen Abständen ein entspannendes Rauschen. Ein Geräusch aus der Ferne unterbrach jäh die meditative Stimmung. Es war schnell, so schnell, wie es auch näherkam: Hufgetrappel!

Kopf an Kopf lieferten sich Omorfiá und Pegasus ein Wettrennen. Die kräftigen Hufe der beiden ungesattelten Pferde katapultierten den feuchten Sand weit durch die Luft. Oder doch eigentlich nur die von Pegasus.

Bella trieb verbissen ihren Rappen noch mehr an. »Warum galoppierst du nicht? Was soll das sein? Trab?«

Nora warf einen Blick über ihre Schulter und lachte. Omorfiá war schnell, aber sie galoppierte nicht. »Das ist Pass, Renn-Pass. Dafür hat sie aber ein wahnsinniges Tempo drauf. Sie war schließlich eine sehr erfolgreiche Traberin.«

»Aber sie kann galoppieren! Omorfiá, ich weiß, dass du fünf Gänge hast und Pegasus nur drei. Aber jetzt gib Gas!«

»Pegasus kann über siebzig laufen, da kann sie auch mit Galopp nicht mitkommen.«

Der Abstand zu Pegasus vergrößerte sich immer mehr.

Als wollte Omorfiá nur ihre besonderen Fähigkeiten unter Beweis stellen, sich aber trotzdem nicht abhängen lassen, wechselte sie abrupt in den Galopp. »Auf! Wir schaffen die beiden.« Obwohl Pegasus schneller sein sollte, verkürzte Omorfiá rasch die Distanz.

»Pegasus, lass sie nicht vorbei!«, rief Nora. Der Araber blieb auf gleicher Höhe, doch dann wurde er langsamer. »Was machst du?«

Omorfiá nahm ebenfalls ihr Tempo zurück, blieb aber exakt neben Pegasus. »Da vorne sind Leute«, sagte Bella. »Deshalb werden sie langsamer.«

»Und immer genau gleich?«

»Ich wette, die haben sich abgesprochen.«

»Das ist unfair!«

»Das ist doch mein Spruch«, sagte Bella und lachte laut los. »Ab ins Wasser!« Damit steuerte sie Omorfiá einige Meter ins Meer und beschleunigte wieder.

»Das lassen wir nicht zu!« Pegasus und Nora folgten dicht.

Kurz bevor sie die Badestelle mit den wenigen Abendschwimmern erreicht hatten, zog Bella ihre Knie fast bis zum Widerrist an, stützte sich mit den Händen ab und sprang mit einem Rückwärtssalto ins Meer.

»Angeberin!« Nora sprang ebenfalls, beließ es aber bei einem coolen Kopfsprung.

Pegasus und Omorfiá standen bis zur Schulter im Wasser und umkreisten sich spielerisch. Durch den Größenunterschied wirkte Omorfiá im Wasser wie Pegasus‘ Mutter.

»Schade, dass Milan nicht mitkommen durfte«, sagte Bella und verpasste Nora eine Handvoll Wasser.

Nora schloss kurz die Augen und zog ihre Hand kräftig über die Wasseroberfläche. Das aufgepeitschte Nass schlug Bella genau ins Gesicht.

»Der gehört ja auch noch nicht zur Familie«, sagte Nora, während sich Bella mit der Hand durchs Gesicht fuhr. »Ben ist ja auch nicht dabei.«

»Ben? Ich denke, ihr habt nichts miteinander.« Bella grinste schelmisch.

»Haben wir auch nicht! Ich meine ja nur. Aber Gloria wäre praktisch gewesen.«

»Stimmt, dann hätten wir nicht mit dem Auto fahren müssen, sondern hätten die Kristalle nehmen können.«

»Das sollten wir sowieso nur in Ausnahmefällen machen. Und dann nur im Dunkeln. Wenn das jemand sieht. Sonst hätten wir auch mit Pegasus über Armonas reisen können.«

»Schon klar. Was ist eigentlich mit Enya? Wolltet ihr euch nicht mal treffen?«

»Ja, schon.« Nora ging langsam Richtung Strand zurück. »Sie hat mich eingeladen. Ich würde ja gerne, aber irgendwie ist das ein doofes Gefühl mit einer Frau zu quatschen, die ich selbst getötet habe.«

Bella folgte ihr durch das hüfthohe Wasser. »Du hast nicht Enya getötet, sondern eine Kopie ohne eigene Seele. Also hast du eigentlich niemanden getötet. Genauso wie nur Omorfiás Kopie gestorben ist. Gestorben passt eigentlich nicht. Sie hat sich aufgelöst.«

Nora ging nicht darauf ein, sondern nickte nur. Sie sah kurz zu den letzten Badegästen. »Langsam leert‘s sich. Wir sollten auch zurück. Morgen haben wir einen anstrengenden Tag. Vielleicht sollten wir Mama ein bisschen beruhigen. Sabrina ist auch schon den ganzen Nachmittag bei Maren.«

»Okay. Hast du gesehen, wie viele Leute am Strand mit ihrem Handy beschäftigt sind? Ich denke, die machen Urlaub.«

»Ich glaube, bald gibt’s auch Suchtkliniken für Smombies. Na ja, wir werden dann wohl kaum zu den Kunden zählen. Das werden Omorfiá und Pegasus schon zu verhindern wissen.«

***

Das Wetter war wie bestellt. Ein heißer erster August, mit einem angenehmen leichten Wind vom Meer, der den großen Sonnenschutz zum Flattern brachte. Bella fühlte sich in ihrem festlichen Kleid selbst schon fast als Braut. Sie drückte kurz Noras Hand, um sich etwas die Nervosität zu nehmen. Sie hätte nie gedacht, einmal die Hochzeit von Mama und Papa miterleben zu können. Nun ja, eigentlich waren es zwei Hochzeiten, eine Doppelhochzeit.

»Wenn der Standesbeamte die Unterlagen verwechselt«, flüstere Nora, »dann heiratet Mama Papa und Bello Maren.«

Bella unterdrückte ein Kichern. »Was bei Mama und Papa rauskommt, wissen wir ja, aber Bello und Maren?«

»Pst«, flüsterte Sabrina an ihrer anderen Seite und gab ihr einen leichten Schubs. »Gleich sind wir Stiefschwestern.«

»Herr Christopher Ahrens«, sagte der Standesbeamte, »ich frage Sie, wollen Sie mit der hier anwesende Maren Peters die Ehe eingehen, so antworten Sie mit Ja.«

»Ja!«

»Wollen auch Sie, Frau Maren Peters, mit dem hier anwesenden Christopher Ahrens die Ehe eingehen, so antworten Sie mit Ja.«

»Ja!«

»Nachdem Sie beide vor mir und den Zeugen erklärt haben, die Ehe miteinander einzugehen, erkläre ich Sie nunmehr, Kraft Gesetz, zu rechtmäßig verbundenen Eheleuten. Und als Zeichen Ihrer Verbundenheit dürfen Sie jetzt die Ringe tauschen.«

Kaum hatten Papa und Maren ihre Ringe an den Fingern und sich geküsst, fuhr der Standesbeamte mit Mama und Bellerophon fort.

Die Temperatur war durch den Wind ganz angenehm, aber ein bisschen Schatten wäre nicht schlecht. Nora blinzelte in die Sonne. Eine Sonnenbrille wäre jetzt auch hilfreich. Ah, endlich etwas Schatten. Wo kamen denn so plötzlich die Wolken her? Nora öffnete die Augen etwas weiter. Die kleinen Wolken wuchsen schnell zu größeren Gebilden heran, aber sie blieben hell. Kein Unwetter. Aber sie wechselten so schnell die Richtung wie eine Fliege.

»Was ist das?«, fragte Bella, die an ihrem Glas mit Sekt und Orangensaft nippte. Auch einigen der anderen Gäste waren die seltsamen Himmelsobjekte aufgefallen. Sie unterbrachen ihre Gespräche und blickten gebannt in den Himmel.

»Für Wolken zu schnell«, antwortete Nora. »Sieht so ähnlich aus, wie wenn Pegasus fliegt.«

»Stimmt. Aber viel größer und ohne klare Umrisse.«

Plötzlich nahm der Wind zu. Wie der Sturm vor einem drohenden Unwetter fegte der den Sand über den Strand. Nora schloss die Augen und drehte ihren Kopf aus dem Wind. »Jetzt wird’s eklig.«

Die große Plane flatterte heftig, riss sich los und machte sich auf den Weg Richtung Dünen. Die Hochzeitsgäste folgten erst gemächlich, dann zügiger und schließlich panikartig dem Beispiel.

»Kommt!«, rief Mama. »Schnell ins Restaurant!«

Nora erkannte Schatten, viele Schatten in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit. Sie spürte, wie sich eine Gänsehaut über ihren ganzen Körper ausbreitete.

Plötzlich schrie eine Frau auf. Sie blutete am Oberarm. Für einen Moment erstarrte Nora in der Bewegung, bis Bella sie am Arm packte und mitzog. Nora stolperte durch den Sand. Sie konnte kaum etwas sehen und ließ sich von Bella führen. Sie folgten den anderen auf dem Weg durch die Dünen zum Restaurant. Wieder hörte Nora einen Schrei, dann noch einen. Dann war es vorbei. So plötzlich, wie der Sturm aufgetaucht war, so schnell war er auch wieder verschwunden.

Abrupt blieben die Schwestern stehen. Die Sonne strahlte wie bereits wenige Minuten zuvor, als hätte es diesen Zwischenfall nie gegeben. Aber was war eigentlich passiert?

Nora drehte sich herum und löste sich aus Bellas Griff. Überall um sie herum verwirrte Hochzeitsgäste, die unsicher herumgingen, als versuchten sie zu verstehen, was gerade passiert war. Einige bluteten an Kopf und Armen. Und die Hochzeitspaare? Papa und Maren standen Hand in Hand da und sahen zum Strand. Von Marens Hochzeitsfrisur war nicht mehr viel übrig. Aber die beiden waren anscheinend unverletzt, nur sandig. Genauso Sabrina, die zu ihnen eilte.

Und Mama? Die hockte auf dem Boden.

»Bello!«, schrie Nora und rannte los. Bella setzte ihr nach und war sogar noch vor ihr da. Bellerophon lag vor Mama. Er blutete am Kopf und hatte zwei tiefe Schnitte in der linken Wange.

»Wir brauchen einen Arzt!«, schrie Mama. Sie riss ihren Schleier vom Kopf, rollte ihn zusammen und drückte ihn auf die Kopfwunde. Bellerophon öffnete die Augen. Sein Blick traf zunächst Mama, dann die Schwestern. Mühsam hob er seinen linken Arm und deutete ihnen, näher zu kommen.

Nora wechselte kurz einen Blick mit Bella und hockte sich neben ihn in den Sand. Bella blieb dicht hinter Nora stehen, als würde sie ihre kleine Schwester beschützen wollen.

»Sie sind gekommen!«, flüsterte Bellerophon und ergriff Noras Hand. »Pegasus!«

»Wer ist gekommen?«, fragte Nora. So schwach hatte sie diesen hünenhaften Mann noch nie gesehen.

Bellerophons Blick verlor seine Klarheit. Er wirkte wie ein Wahnsinniger. »Ihr könnte sie nur auf ihrem eigenen Territorium vernichten. Angst, sie brauchen Angst, um …« Bellerophons Stimme versagte, dann schloss er seine Augen. Mama schrie auf.

Papa und Maren waren schon ein ganzes Stück weitergelaufen und kamen nun zurück. Maren tastete nach Bellerophons Puls und überprüfte seine Atmung. »Er ist ohnmächtig, aber er lebt.« Papa telefonierte unterdessen mit der Rettungsleitstelle.

Zehn Minuten später hoben zwei Sanitäter Bellerophon auf einer Trage in den Krankenwagen. »Er hat zwar etwas Blut verloren«, sagte der Notarzt, »aber ansonsten konnte ich keine lebensgefährlichen Verletzungen erkennen. Ich denke, seine Ohnmacht ist eine Folge des Schocks.«

Inzwischen war auch die Polizei eingetroffen und befragte gerade Papa, Maren und Sabrina. Nach einem kurzen Wortwechsel kam Sabrina mit verschränkten Armen zu den Schwestern, sagte aber nichts.

»Wir sollten nach den Pferden sehen«, meinte Bella. Dass Bellerophon Pegasus erwähnt hatte, beunruhigte sie.

»Ich glaube, die brauchen uns jetzt am wenigsten«, antwortete Sabrina. »Bleibt besser bei eurer Mutter.«

»Wohin bringen sie Bellerophon?«

»Nach Föhr. In die Inselklinik in Wyk. Ich fahre zurück zum Hof und sehe nach den Pferden. Dort ist bestimmt alles in Ordnung. Der Sandsturm war doch nur hier.«

»Sandsturm?«, fragte Nora. »Das war doch kein Sandsturm.«

»Na ja, eine steife Brise eben. Vielleicht hat die ein paar Gasscherben durch die Luft gewirbelt.«

Bella nickte zögerlich. Ja, das wäre eine Erklärung. Sie sah zu ihrer Schwester, die Sabrinas Theorie anscheinend wenig Glauben schenkte.

»Aber wer ist gekommen?«, fragte Nora.

»Was?«, fragte Sabrina.

»Bellerophon sagte, sie wären gekommen. Und er erwähnte Pegasus«, antwortete Bella.

»Nach der Verletzung würde ich auch wirres Zeug reden. Macht euch nicht so viele Gedanken. Seine Schrammen haben zwar schlimm ausgesehen, aber der Notarzt hat doch gesagt, es ist nicht lebensbedrohlich. Die anderen Gäste haben weniger abbekommen. Ich denke, dass sie hier auf der Insel versorgt werden.«

Kalter Feind

Während Bella und Nora mit ihrer Mutter Bellerophon auf dem Boot nach Föhr begleiteten, hatte der Skoda-Enyaq den Petershof erreicht. »Ich hatte mir eure Hochzeit ein bisschen anders vorgestellt«, sagte Sabrina und schloss die Wagentür.

»Ich mir auch«, sagte Christopher und zog sein Jackett aus, »aber wir sind wenigstens unverletzt geblieben. Und die Feier holen wir irgendwann nach.«

»Bis zu dem Sturm war es doch auch ein wunderschöner Tag«, sagte Maren, ohne dass man ihr das jetzt noch ansehen konnte. »Für Franziska und Bellerophon wird es wohl nicht der schönste Tag des Lebens gewesen sein.«

»Na ja, der kann ja noch kommen«, sagte Christopher. »Und außerdem hatte Franziska den ja schon mit mir gehabt.«

Maren funkelte Christopher wütend an. Sabrina war nicht sicher, ob das jetzt schon die erste Ehekriese geben würde.

»Das war ein Scherz«, versuchte Christopher seinen Spruch zu entschärfen.

»Ach ja? Dann war er ziemlich unpassend, insbesondere in der momentanen Situation!« Maren schlug die Autotür fester zu, als es nötig gewesen wäre, und ging zügig zum Haus. Christopher sah Sabrina hilfesuchend an, aber die zuckte nur mit den Schultern und ließ ihn ebenfalls stehen.

Ohne sich erst umzuziehen, ging Sabrina in ihrem cremefarbenen Brautjungfernkleid zum alten Stall. Hier hatte Pegasus wieder seine frühere Box bekommen und Omorfiá die daneben. Beide konnten jederzeit selbstständig durch die Hintertür nach draußen in den gemeinsamen Auslauf. Vor dem Eingang lagen einige Dachziegel, teilweise zerbrochen. Sabrina sah zum Dach und erkannte, dass dort mehrere Ziegel fehlten. Es war fast schon ein Loch.

»Reißt Pegasus beim Start jetzt schon das Dach ein?« Das war Christopher, der hinter ihr stand.

Sabrina sah ihn kurz an, dann wieder zum Dach. »Oder die Windhose vom Strand hat sich auch hierher verirrt.«

»Müsste es dann nicht eine Schneise geben?«

Sabrina nickte. »Auf jeden Fall kein einzelnes Loch.« Zügig öffnete sie das Tor und betrat die Stallgasse. Ihre Augen suchten die Decke ab. Die Öffnung lag in der Nähe von Pegasus‘ Box. War mit ihm alles in Ordnung? Sie ging schneller. Ihr Herzschlag hämmerte in ihren Ohren. Und zu den Schwestern hatte sie noch gesagt, dass die Pferde sie jetzt am wenigsten brauchen würden.

Pegasus sah Sabrina mit großen Augen an. Er wirkte verstört, traumatisiert. Sie ging gleich weiter zur nächsten Box. Omorfiá schien ebenfalls in Ordnung zu sein, aber auch sie sah verschreckt aus. Sabrina öffnete die Tür und ging zu der Stute. »Ganz ruhig, ich bin`s doch. Was ist denn nur passiert?« Sie streichelte sie sanft den Rücken entlang und ging dabei vorsichtig einmal um sie herum. Äußerlich war sie nicht verletzt – oder doch? Sabrinas Hand war blutig! Sie sah sich die Stelle an, über die ihre Hand eben gefahren war. Auf Omorfiás Rücken war so etwas wie ein etwa zwanzig Zentimeter langer Schnitt. »Leg dich hin, mein Mädchen.«

Omorfiá reagierte nicht.

»Hört sie sonst auf dich?«, fragte Christopher. Er stand noch vor der Box und hielt sich an der Tür fest.

»Klar! Auf mich hören die meisten Pferde, genauso wie auf Nora.«

»Sie hat vermutlich Angst, weil sie dann ungeschützt ist.«

Müssen alle Väter einen klugen Spruch reißen, wenn ihnen nichts mehr einfällt? »Ja, Stiefpapa, danke für den Hinweis.«

Für eine Sekunde sah es so aus, als wäre Christopher beleidigt, aber dann lächelte er doch und ging einen Schritt auf Omorfiá zu. »Gern geschehen, Stieftochter.« Er strich dem Rappen über den Nasenrücken.

Plötzlich erwachte dieser aus seiner Starre und legte sich hin.

Sabrina zog die Augenbrauen hoch. »Wie jetzt?«

»Vielleicht fühlt sie sich jetzt besser geschützt, weil ich auch noch da bin.«

»Vielleicht. Okay, dann schauen wir uns mal deine Verletzung an.« Sie strich vorsichtig durch das blutverschmierte Fell. »Ein heftiger Schnitt. So langsam glaube ich nicht mehr an meine Theorie mit den Glasscherben.«

»Dann müssten ja auch irgendwo welche liegen. Am Strand habe ich auch keine gesehen. Ich sehe mir Pegasus genauer an.«