Die perfekte Welt - Ivana Jeissing - E-Book

Die perfekte Welt E-Book

Ivana Jeissing

0,0

Beschreibung

Roman

Das E-Book Die perfekte Welt wird angeboten von Edition Tandem und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Architektur, Beziehung, Serendipität

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 230

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ivana Jeissing

Die perfekte Welt

Roman

EDITION

TANDEM

Serendipität:

Der sogenannte glückliche Zufall – die Begegnung mit etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist.

Beispiele: die Entdeckung Amerikas. Der Sekundenkleber. LSD. Nylonstrümpfe, das Post-it.

Edith Miller und Edward Gross.

Inhalt

Teil 1

Die Zitterpappel im Steinernen Meer

Teil 2

Währenddessen in New York

Teil 3

Ist

Teil 1

Die Zitterpappel im Steinernen Meer

Kapitel 1

Noch vor wenigen Stunden hätte Edward den Himmel über sich fotografiert, um ihn zu korrigieren. Er war geradezu besessen davon. Unzählig warteten die Himmelin seinem Mobiltelefon darauf, betrachtet zu werden. Wobei verschlingen besser passte, wenn er, geplagt von der Sorge, in einer immer undurchschaubareren Welt den Durchblick zu verlieren, mit dem Mittelfinger seiner rechten Hand von Himmel zu Himmel wischte. Getrieben von der Sehnsucht nach Klarheit.

Dass die Angst, während so einer Panikattacke verrückt zu werden, durchaus normal war, machte die Sache nicht besser. Alleine das Wort „normal“ sorgte bei Edward für größte Verwirrung. Was konnte es auf einer Welt, die als Feuerball durch das Universum raste, bedeuten? War es normal, dass die Menschen diese Realität außer Acht ließen, wenn sie in Raffgier den eigenen Lebensraum zerstörten? War es normal, einen Kalender zu erfinden, um der eigenen Orientierungslosigkeit Zahlen zu geben? War es normal, auf Geschwindigkeitsbegrenzungen zu vertrauen, während wir am Äquator mit 1.760 und in unseren Breitengraden immer noch mit 1.000 Kilometer pro Stunde durch das Weltall rasten? War es normal zu denken, wir könnten etwas kontrollieren, obwohl uns nur eine relativ dünne Erdschicht von brodelndem Magma trennt? Über uns eine dünne Atmosphäre, der wir unser Leben verdanken und die wir dennoch ebenso zerstören wie alles, was uns in unserem Ausbreitungswahn in die Quere kommt. Ist das normal? Würden die Menschen all ihre Fähigkeiten für den Frieden einsetzen und nicht für den Krieg nutzen, wäre die Erde für jedes Lebewesen ein blühendes Paradies. Warum tun wir es nicht? Weil es normal ist? So betrachtet, war die Realität die gefährlichste Illusion für Edward und der Mensch eine gigantische Fehlkonstruktion.

Die große Verwirrung darüber war ihm aber nicht anzusehen. Edward hatte ein einnehmendes Äußeres. Er war groß gewachsen mit einer sportlichen Figur, die er ausschließlich seinen Genen zu verdanken hatte, und sein sanftmütiges Wesen blickte zurückhaltend und doch neugierig in die für ihn so verwirrende Welt. Die seit wenigen Tagen noch irritierender geworden war, denn gerade segelte Edward auf einer Yacht zwischen Italien und Kroatien, um auf einer ihm völlig unbekannten kleinen Insel an Land zu gehen, die ausgerechnet den Namen Ist trug.

„Ist“, nicht im Sinne von „Sein“, sondern „Ist“ wie ein „Paradox”, denn Edward fühlte sich alles andere als „ist“. Er war höchstens ein „Vielleicht“, aber genaugenommen war aus ihm ein „wäre“ geworden. Ein „Was-wäre-wenn-dann …“

Die wenigen Schritte von der Reling zu dem im Deck eingebauten Sofa forderten Edwards ganze Konzentration. Er ging mit ausgebreiteten Armen und leicht gebeugten Knien, um die Balance auf dem schräg im Wind geneigten Bootsdeck nicht zu verlieren, und er ließ sich erleichtert in die Kissen fallen. Schob seine Sonnenbrille zurecht. Und richtete seinen Blick ausschließlich auf die Linie des leicht gekrümmten Horizonts. Darunter verstörte ein unergründliches Blau. Darüber ein grünlicher Schleier am Rand der grellen Mittagssonne, den Edward gerne mit der Photoshop Pro App seines Mobiltelefons aus dem wolkenlosen Himmel entfernt hätte. Es nicht zu tun, fiel ihm schwer. Edward hatte den Entschluss, keine Himmel mehr zu korrigieren, erst vor wenigen Stunden gefasst. Ein erster Schritt der Anpassung, um sich zu befreien. Ein weiteres Paradox, das unausweichlich geworden war, um vertrauensvolle Beziehungen jenseits seiner Gedankenwelt aufzubauen zu können. Edward musste ständig an Edith Miller denken. Das war ebenso überraschend wie die Überlegung, seine zuverlässigsten und vertrautesten Begleiter, Angst und Misstrauen, für sie aufzugeben. Den Himmel nicht mehr zu korrigieren, war essenziell dafür, und weil Edward irgendwo und irgendwie anfangen musste, stellte er sich, während er den Horizont betrachtete, vor, die giftigste Schlange Australiens würde sein Telefon bewachen. Und sie würde ohne zu zögern ihr Gift in seine Hand hineinbeißen, wenn diese sich dem Mobiltelefon auch nur nähern würde. Er hatte also die Wahl zwischen Leben und Telefon. Nach einiger Überlegung entschied er sich für sein Leben. Das war keine selbstverständ-liche Entscheidung gewesen, denn Edward war an einem Punkt angekommen, an dem er sein Dasein eigentlich gerne beendet hätte. Rein theoretisch. So wie den Neustart eines Computers. Er hatte sich sein bisheriges Leben ganz anders vorgestellt, aber einige Überlebensprogramme auf seiner Festplatte hatten sich überproportional verselbstständigt, und er war daurch über die Jahre auf eine Art und Weise in sich selbst hineingeraten, wie er es nie für möglich gehalten hätte.

Edward hatte sich seinen Ideen und Vorstellungen in der Hoffnung hingegeben, sie könnten zu einer maßgeblichen Realität werden. Schließlich ging es darum, sich in der eigenen Verwirklichung treu zu bleiben. Die Frage nach dem eigenen Sinn hatte er sich bisher nur in der Betrachtung der anderen auf sich selbst gestellt. Fanden sie ihn klug? Passte er in die allgemeinen Erwartungen? Oder war er ein Verlierer? Peinlich. Sogar lächerlich. Und unpassend. Der Umgang der Gesellschaft mit dem verlorenen Glück konnte sehr grausam sein, wenn man den verlorenen Sinn nicht bei sich selbst finden konnte, und Edward fragte sich umgeben vom Adriatischen Meer zum ersten Mal, welches Glück er für sich selbst sein wollte. Ja. Es war an der Zeit, nicht mehr den Himmel, sondern sich selbst zu korrigieren.

Die Gespenster der Vergangenheit hatten ihn lange genug daran gehindert, sich seiner sozialen Phobie entgegenzustellen. Alltagshelden konnten Belastungserlebnisse, kritische Lebensereignisse oder Überforderungssituationen wegstecken. Zumindest vorübergehend. Und Selbstdarsteller hatten Tricks und Filter, um sich darüber hinwegzutäuschen. Zumindest vorrübergehend. Edward hatte sich wie so viele einen dicken Schutzpanzer zugelegt, um als dünnhäutiger Idealist nicht durch das grobmaschige Sieb der dickhäutigeren Realisten zu fallen. Wer sehr schüchtern ist, bekommt selten die Aufmerksamkeit, noch die Preise, die er verdienen würde, obwohl es in dieser extremen Disziplin sehr schwer ist, ans Ziel zu kommen. Jedes noch so kleine Gespräch bedeutete eine enorme Kraftanstrengung, und Edward hatte deswegen in seiner Jugend keine große Erwartung an seine Zukunft gehabt. Einfach ohne Spott und Häme in Ruhe gelassen werden. In einem für soziale Phobiker geeigneten Beruf. Zum Beispiel als Gärtner. Übersetzer. Informatiker. Oder Autor. Stattdessen war er jemand geworden, den er selbst meiden würde. Eine Marionette am goldenen Faden. Ein sprachlos verlorengegangener Phantast, der zu viele Kompromisse gemacht hatte, nur um in seiner Gedankenwelt leben zu können, denn Edward funktionierte nur, wenn andere dafür sorgten, dass er sich so wenig wie möglich in der Realität aufhalten musste.

Die letzten Tage hatten dies aufs Schmerzlichste gezeigt. Ohne seine persönliche Assistentin Edith Miller verlor Edward den Kontakt zur Außenwelt. Ohne sie geriet er aus der Balance zwischen seiner inneren und der äußeren Welt. Im Augenblick jedenfalls sorgte nur die leicht gekrümmte Linie des Horizonts für etwas Gleichgewicht in seinem verrutschten Leben. Das Gefühl der Zeit hatte er auf dem schattenlosen Meer längst verloren, und die Frage, ob er New York jemals wiedersehen würde, bereitete ihm schlaflose Nächte. Mord war kein Kavaliersdelikt, und sollte Edwards Unschuld nicht bewiesen werden, wartete die Todesstrafe auf ihn. Seine Zukunft hing also davon ab, ob ein Anwalt eine Mordanklage in Totschlag umwandeln konnte. Sollte das nicht gelingen, musste er sich für den Rest seines Lebens verstecken. Ein trostloser Gedanke, den auch der Wind, der die mächtigen Segel bläht und die Haare zerzaust, nicht zerstreuen konnte. Ja. Edward war gerade nicht zu beneiden. Seit er New York fluchtartig verlassen hatte, schlug sein Herz viel zu schnell, und er war ständig nur einen falschen Atemzug davon entfernt, in Panik zu geraten. War das Kribbeln in seinen Fingerspitzen bereits der Vorbote eines Herzinfarktes?

Edith Miller hätte ihn jetzt durch einen Blick oder wenige Worte beruhigt. Sie hatte diese wunderbare Eigenschaft, alleine durch ihre Anwesenheit die Welt zu verbessern. Das lag vor allem an ihrer Stimme und an der Wahl ihrer Worte. Edith Miller war wohltuend, und sie vermittelte ihren Mitmenschen auf geheimnisvolle Art das Gefühl, wichtig und wertvoll zu sein.

Edward verschränkte seine Arme bei diesem Gedanken, und er überlegte, während er seine handgenähten Lederschuhe betrachtete, ob sie auch an seiner Seite wäre, wenn er sie nicht dafür bezahlen würde. In all den Jahren, die sie für ihn arbeitete, hatte er nie so über sie nachgedacht, doch nun ging ihm Edith Miller nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte sich regelrecht in seiner Gedankenwelt festgeklebt. Edward sah sie ständig vor sich, und er sprach sogar mit ihr. Das hatte er in New York nur wenn unbedingt nötig getan.

Eine größere Bugwelle hob die dreißig Meter lange Segelyacht wie eine Feder über die Linie des Horizonts, und Edward erschrak durch die plötzliche Bewegung. Das Meer war bisher ruhig gewesen. Hoffentlich würde es so bleiben. Sein Magen reagierte gerade sehr empfindlich. Wäre er doch letzten Sonntag nicht aus seinem Haus gegangen! Obwohl die Tragödie auch dann ihren Lauf genommen hätte.

Edward nahm eines der Kissen, die mit Klettband am Sofa befestigt waren, und schleuderte es, so weit er konnte, mit dem Wind ins Meer. Ja. Er warf es ins Meer, obwohl es mit Polyurethan gefüllt war. Das hätte er normalerweise nie getan, aber er war in einem Ausnahmezustand. Er hatte bisher nicht gewusst, dass es einen Unterschied machte, ob man von Menschen umgeben war, von denen man sich zurückziehen konnte, oder ob man sich von sich selbst zurückziehen musste, weil man es mit sich selbst nicht mehr aushalten konnte. Diese Hilflosigkeit war schwer zu ertragen. Edward streckte seine Arme hoch, verschränkte sie hinter seinem Kopf, und das gleichzeitige Gähnen kam aus einer großen Ratlosigkeit. Was war nur aus ihm geworden? Er hatte sich durch sich selbst so sehr erschöpft, dass er selbstmüde geworden war. Edward legte seine Ellenbogen auf den ovalen Tisch aus Teakholz, nahm den Kopf in beide Hände und rieb sich mit den Mittelfingern die Augen. Seine zurückhaltende New Yorker Blässe hatte sich durch Sonne und Wind in ein aufdringliches Pink verwandelt, und sein obligatorischer Schal hing nicht wie üblich lässig um seinen Hals, sondern war wirr um den Kopf gewickelt, um einen Sonnenstich zu vermeiden. Sonnenstich. Edward murmelte dieses von ihm ungebrauchte Wort, und Edith Miller wiederholte es ebenso irritiert in seinen Gedanken. Er wollte nichts mehr, als bei ihr sein, und das war noch irritierender, denn diese Sehnsucht nach Nähe passte ebenso wenig in seine bisherige Gedankenwelt wie er in seinem Anzug und den handgenähten Lederschuhen auf das Meer.

Kapitel 2

Im August war es so gut wie unmöglich, von einem Tag auf den anderen eine passende Segelyacht zu chartern, aber der Zufall wollte es, dass die „Albatross“ wegen eines Buchungsfehlers mit anschließendem Storno im Hafen von Triest liegen geblieben war. Als die Mail mit der Auftragsbestätigung eintraf, war Edith Miller mit Edward bereits auf dem Weg zum Flughafen JFK, und entsprechend groß war ihre Erleichterung. Die Überstellungt der Segelyacht dauerte ebenso lange, wie Edward benötigte, um von New York nach Venedig zu fliegen. Sie hatte noch nie eine Flucht organisiert, und das Internet gab nicht viel her. Bei Wikipedia unterschied man die Flucht von Soldaten im Krieg, die Flucht von Gefahren und Bedrohung, die Massenflucht, die Flucht aus Unfreiheit oder Gefangenschaft, die Flucht in einen geschützten Raum, die Landflucht, die Stadtflucht, die Weltflucht, das Fluchtverhalten bei Tieren, die Flucht aus wirtschaftlicher Erwägung, die Flucht von Häftlingen, die Flucht von Kriegsgefangenen und die Flucht von Schuldigen. Über die Flucht Unschuldiger stand da kein Wort. Bei Google kam sie auf die Seite der UNO-Flüchtlingshilfe. Die furchtbar traurigen Zustände, die wirklich hilfsbedürftige Flüchtlinge durchmachen mussten, waren mit Edwards „Luxusflucht“ in keiner Weise zu vergleichen. Die einzige Gemeinsamkeit war, dass auch er unschuldig war.

Edith Miller hatte nie gefragt, warum der gepackte Weekender immer im Kofferraum des Firmenwagens liegen musste, aber offensichtlich wollte Edward stets fluchtbereit sein. Er trug seinen Reisepass immer bei sich, und auf den ersten Blick war sein Loft perfekt eingerichtet, aber bei genauerer Betrachtung sah es nicht wirklich bewohnt aus, und Edward wirkte in seinen eigenen vier Wänden eher wie ein Gast auf der Durchreise. Edith Miller hätte gerne den Grund dafür erfahren, doch sie vermutete, der gepackte Weekender im Kofferraum gehörte zu den vielen Ritualen, die Edward benötigte, um sich in der Außenwelt zurechtzufinden.

Dass sie deswegen nach dem Unglück gleich zum Flughafen fahren konnten, beschleunigte Edwards Flucht auf jeden Fall enorm. Der Drucker auf dem Vordersitz neben dem Chauffeur Nick Niemetz ratterte ununterbrochen. Chartervertrag. To-do-Listen. Reisebeschreibungen. Atemtechniken und ganze Passagen aus „Wie mache ich ein Lagerfeuer“ und „Überleben in der freien Natur“ aus dem kleinen „Handbuch der Pfadfinder“ druckte Edith Miller zu den anderen üblichen Reisedokumenten.

Edward hatte die Idee, nach Kroatien zu reisen, ruhig aufgenommen, aber er vermied das Wort „Flucht“. Er fuhr in ein schönes Land mit einer interessanten Geschichte, die eng mit der griechischen, italienischen und der österreichischen Historie verbunden war, und wenn er schon sein geliebtes New York verlassen musste, dann wenigstens für einen Ort, dem der griechische Historiker Herodot das Werk „Die Illyrer“ gewidmet hatte. Ein Entscheidungskriterium, das Edith Miller in der Hektik der Flucht völlig außer Acht gelassen hatte. Edward nach Ist zu entfernen, war schlicht ihre profane Vermutung vorausgegangen, dass er die Untersuchungshaft nicht ohne ein finaltotalpersönlichkeitszerstörendes Trauma überstehen würde. Während sich Edward also auf dem Weg zum Flughafen mit den Illyrern beschäftigte, hatte Edith Miller nebst Reiseplanung auch einen zu Edward passenden, wenige Zeilen langen Abschiedsbrief und sein Testament geschrieben, um die Polizei auf die falsche Fährte zu führen. Der Architekt Edward Gross hatte Selbstmord begangen. Er war in den Hudson River gesprungen. Das perfekte Alibi, um Zeit zu gewinnen. Niemand würde ihn auf einem Flug nach Europa vermuten, und die Strömung im Hudson River war so stark, dass es Tage dauern würde, bis ein Polizeisprecher vermuten würde, dass Edward bereits im Atlantischen Ozean treiben könnte. Falls er nicht schon längst von einem Hai gefressen worden war. Eine schreckliche Vorstellung, die genau den Vorsprung brachte, den Edith Miller benötigte. Sie fühlte sich wie in einem Agententhriller, als Nick Niemetz den Wagen an einer entlegenen Stelle des Flughafens JFK parkte, damit Edward ungestört sein Testament und seine letztenWorte durchlesen konnte. Edwards Gesicht war ernst, und Edith Miller konnte darin keine Panik entdecken. Er hatte sich offensichtlich auf Funktionieren eingestellt und tat, was Edith Miller vorschlug, denn er vertraute ihr blind, und sie machte einen überlegten und ruhigen Eindruck. Soweit Edward das beurteilen konnte.

Edith Miller verbarg ihre Nervosität, so weit wie möglich. Sie konnte selbst noch nicht glauben, was geschehen war. Aus dem erfolgsverwöhnten Architekten Edward Gross war in rekordverdächtig kurzer Zeit ein Mörder, Selbstmörder und Flüchtling geworden! Nach-dem Edward den Abschiedsbrief und sein Testament unterschrieben hatte, wäre sie am liebsten in Tränen ausgebrochen, obwohl ihr nun als Alleinerbin Frederick, der schwarze Mops, E. Gross Architects und das dazu-gehörende Bürogebäude mit Penthaus darüber gehörte. Hatte sie etwas vergessen? Gab es noch Fragen?

Edward hatte noch eine zu den Illyrern, die Edith Miller dank Siri schnell beantworten konnte, bevor sie zum Gate mussten. Sie hatte auch für sich ein Ticket gekauft, damit der Sitz neben Edward leer blieb und sie ihn in die Maschine begleiten konnte.

Seitdem waren keine achtundvierzig Stunden vergangen, und Edward spürte ein Ziehen in seiner Brust, wenn er daran dachte. Egal wie er sich auf dem Deck der Segelyacht auch drehte und wendete. Edith Miller ging ihm nicht aus dem Kopf. Er sah sie neben sich im Wagen. Sah sie an seinem Schreibtisch ihm gegenübersitzen. Wo war sie, wenn sie nicht im Büro war? Wo fuhr sie hin, wenn sie alleine war? Was tat sie, wenn sie nicht arbeitete? Wo war sie dann? Und mit wem? Und wie alt war sie überhaupt? War sie Mitte dreißig? Oder vierzig? Edward hatte kein privates Vorstellungsvermögen von Edith Miller. Abgesehen davon tat er sich sowieso schwer, das Alter oder die Gefühle anderer Menschen einzuschätzen. In New York war es jetzt früh am Morgen, und Edith Miller schlief vermutlich. Sie hatte nie ihr Apartment oder ihre Adresse erwähnt. Oder er hatte nicht darauf geachtet. Bei ihrem Gehalt wohnte sie wahrscheinlich in Queens. Oder Tribeca? Ihre Kleidung passte aber auch nach Chelsea. Oder in die Nähe des Central Parks. Nein. So viel Geld verdiente sie nicht. Oder doch? Edith Miller kümmert sich um die Finanzen von E. Gross Architects, und Edward hatte keine Ahnung, wieviel sie sich bezahlte. Geld interessierte Edward nicht. Ein Satz, den sich nur formidable Träumer oder sehr reiche Menschen leisten können.

Er unterhielt sich mit Edith Miller, wenn überhaupt nur in Fragmenten. Termine? Wann? Wo? Ja. Nein. Danke. Guten Morgen. Guten Abend. Wobei es vorkommen konnte, dass er die Tageszeiten verwechselte, da er bei zugezogenen Leinenvorhängen, die nur etwas Licht durchließen, arbeitete, um sich besser konzentrieren zu können. Und natürlich nahm es Edith Miller nicht persönlich, wenn Edward Mails an sie schrieb oder mit ihr telefonierte, obwohl sie nur wenige Meter von ihm entfernt war. Sie hatte kein Problem damit, dass er sich jenseits seiner Gedankenwelt unwohl fühlte. Sie fand Edwards extreme Schüchternheit sogar anziehend, denn sie weckte ihren Beschützerinstinkt. Obwohl sein angeborenes Misstrauen jede Annäherung unmöglich machte. Darüber hinaus war jede unkontrollierbare Veränderung eine Qual für Edward, und müsste er sich in einem psychologischen Test einem Meer zuordnen, wäre er das Steinerne Meer.

Der verkarstete Gebirgsstock stand seit Millionen von Jahren zuverlässig in den nördlichen Kalkalpen zwischen Bayern und Salzburg, und die Erinnerung daran kam für Edward immer mit dem Duft von Almkräutern und einer Vorstellung, in der seine Eltern Lara und Carlo Groß nicht als die schillernden Zirkusartisten „Flying Corrados“ auftraten, sondern als schlichte Wanderer behutsam einen Schritt vor den anderen setzten, um auf ihrer jährlichen Wallfahrt von Maria Alm nach St. Bartholomä am Königssee für ihr einziges Kind zu danken. Das Amen im Gebet war für sie eben-so wichtig wie ein „Allez hopp“ und, dass der Heilige Bartholomäus eigentlich der Schutzpatron der Bergleute, Gipser, Bauern, Winzer, Schäfer, Sattler, Gerber, Schuhmacher, Schneider, Bäcker, Metzger, Buchbinder und in Florenz auch der der Öl- und Käsehändler, nicht aber der Artisten war, spielte keine Rolle.  

Für sie zählte die Übereinstimmung der ersten vier Zahlen des Geburtsdatums. Die jährliche Pilgerreise war also ein rein symbolischer Akt der Dankbarkeit. In der Welt von Lara und Carlo Gross, in der ständig auf Holz geklopft und vor jedem Auftritt drei Mal über die linke Schulter gespuckt wurde, war der Heilige Bartholomäus aber eine Realität, die über Glück und Unglück entschied. Wer von keinem Heiligen beschützt wurde, war verloren.

Edward konnte damit schon als Kind nichts anfangen, denn er war längst verloren gegangen. Scheu und ohne Talent für den großen Auftritt fühlte er sich in der Zirkuswelt fremd, und er konnte nicht verstehen, warum seine Eltern hoch auf dem Seil balancieren wollten, wenn es auf dem Boden unberechenbar und lebensgefährlich genug war.

Lara und Carlo Gross konnten das wiederum nicht verstehen, und sie fragten sich, warum ausgerechnet ihr einziges Kind so kompliziert sein musste. Für Edward aber war nicht nur er selbst, sondern das Leben in all seinen Welten ganz und gar und grundsätzlich schrecklich kompliziert. Ein nicht nur von Zirkusmusik, sondern vor allem von Furcht begleiteter Balanceakt.

Was tun? Lara und Carlo Gross hatten nur dieses eine Kind. Es gab kein Ausweichkind, das die Tradition der „Flying Corrados” fortsetzen könnte. Edward war für sie ein Rätsel ohne jede Magie, und sie fragten sich, was sie falsch gemacht hatten. Oder lag es gar nicht an ihnen? Sie hatten doch alles getan, um ihrem Kind so früh wie möglich den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Hatten nur applaudiert, wenn er alles richtig gemacht hatte. Und sie hatten auch nie versäumt, ihn von allen Seiten gespiegelt so ins Licht zu setzen, dass er unendlich scheitern konnte. Und dennoch: Edward blieb das untalentierteste Zirkuskind, das sie sich vorstellen konnten. Eine Niete. Hübsch anzusehen, aber unbrauchbar.

Der herbeigerufene Kinderpsychologe konnte das nur bestätigen. Das Ergebnis seiner Untersuchungen war niederschmetternd. Edward war der geborene Außenseiter. Ein abseits der Gesellschaft stehender, der seinen ganz eigenen Weg gehen musste. Und der würde nie leicht sein, denn egal, ob die Mundwinkel seiner Mitmenschen nach oben oder nach unten zeigten, egal, ob die Augen darüber lachten oder traurig blickten, Edward konnte sich zwar an hunderte Gesichter im Detail erinnern, darin Freude oder Trauer zu erkennen, war für ihn jedoch unmöglich. Obwohl er in einem Kurs gelernt hatte, die menschliche Mimik wie Stadtpläne zu lesen. Edward interpretierte ehrliche Gesichter auch weiterhin falsch. Den unehrlichen war er schutzlos ausgeliefert. Ein Wort musste nicht der Wahrheit entsprechen. Ein verzerrter Mund und Tränen konnten tiefe Trauer, genauso gut aber auch Schmerz, Wut, Angst, Enttäuschung oder Trotz bedeuten. Ein Lächeln zeigte Zuneigung, Freude, Glück, konnte aber auch aus Rache, Verachtung oder Neid entstehen.

Lara und Carlo Gross hatten es nun schriftlich. Ihr Kind litt an Alexithymie. Edward fehlten die Worte für seine Gefühle. Zudem hatte er eine tiefsitzende soziale Phobie, und die Angst, merkwürdig, peinlich oder lächerlich zu erscheinen, verstärkte seine seltsame Erscheinung. Alexithymischen Sozialphobikern tat das grelle Licht der Manege nicht gut. Ganz abgesehen davon, dass die Unruhe, die das Uhrwerk der Optimisten und aller im „Ist“-Lebenden jenseits der Zirkuswelt in Bewegung hielt, viel zu fordernd war für Edwards schüchternes Wesen.

Kapitel 3

Das Haus, in dem Edith Miller aufgewachsen war, stand direkt neben der Tankstelle, die ihren Eltern gehörte. Gegenüber und ebenso verloren wie alles im Umkreis von zwanzig Kilometern gab es eine riesige Plakatwand, auf der meist Werbung für gigantische Burger, Autos, oder Gartenartikel zu sehen war, doch drei Mal im Jahr verwandelte sich diese Fläche in eine verführerische Oase blühendster Fantasie für Edith Miller, und sie konnte sich gar nicht sattsehen an den Ballerinas des New York City Balletts. Sie schwebten in Tutus aus weißem Tüll auf ihren Fußspitzen über die Bühne, und die Primaballerina blickte jedes Mal so verführerisch auf Edith Miller hinunter, dass die unbedingt zu ihr hinaufwollte.

Ihre Eltern verfluchten diese Werbewand genau deswegen, denn mit dem Geld, das sie für Ballettunterricht ausgeben mussten, hätten sie lieber Burger, ein neues Auto oder Gartenartikel gekauft. Edith Miller aber wollte ab ihrem achten Lebensjahr nur noch in die Welt des Balletts, und einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag packte sie ihre Koffer und fuhr mit dem Zug nach New York, anstatt die Tankstelle zu übernehmen. Stolz, sich aus der Verkettung sinnlos gewordener Familientraditionen befreit zu haben, war die Enttäuschung allerdings groß, als sie erkennen musste, dass die Chance, in New York einen guten Job als Tänzerin zu bekommen, verschwindend klein war. Edith Miller ging zu zahllosen Castings und traf auf hunderte weitere talentierte Traumtänzer, die wie sie in anderen Jobs arbeiten mussten, um ihren Lebensunterhalt zahlen zu können. Die Stadt, die niemals schläft, schien in diesen Tagen wie ein riesiger Dauerparkplatz für geplatzte Träume, und erst als Edith Miller endlich in einer Broadway-Revue in der hinteren Reihe auftreten durfte, wurde es leichter. Zum Vortanzen für das New York City Ballett wurde Edith Miller aber nie eingeladen. Die „Bauelemente“ ihres Tanz-körpers entsprachen nicht zu einhundert Prozent dem erwünschten architektonischen Prinzip der perfekten Ballerina, und auch ihr charakteristisch genetisches Profil, das aus zwei Gen-Varianten bestehen musste, passte nicht. Edith Millers Serotonin-Transporter steuerte die Gehirnaktivität ihres Wahrnehmungs-, Gefühls- und Einfühlungsvermögens nicht wie gefordert, und ihr Rezeptor für das Hormon Vasopressin war zu niedrig, um genug Ausdrucksstärke und Kreativität zu liefern. Obwohl ihr leptosom graziler Körperbau das richtige Verhältnis zwischen Rumpflänge zu Armen und Beinen und ihr symmetrischer Schultergürtel die gewünschte umgekehrte V-Form als Verbindung zwischen Hals und Schultern hatte. Und ihr Hals lang war. Edith Miller hatte auch die flache Thoraxform in der Sagittalebene mit flach am Thorax anliegenden Schulterblättern, und ihr schmales Becken mit den langen und geraden Beinen wies keine Hypertrophie der Quadrizepsmuskulatur auf. Ja. Sogar ihr Kopfumfang stimmte, und sie hatte einen hohen Spann mit elastischem Abrollverhalten. Im Stand auf der Spitze stimmte die Sinuskurve ihres Beines. Die Hyperflexion im Fuß und die ausgleichende Überstreckung im Kniegelenk hatten also die richtige Form. Aber die Körpergröße einer Ballerina musste zwischen 1,65 und 1,70 Meter sein. Edith Miller war 1,72. Das konnte sie nicht wegtrainieren. Sie hatte gehofft, die beiden Zentimeter könnten ihrem Talent nicht im Wege stehen. Wenn sie sich gemessen hatte, war sie immer 1,70 Meter groß gewesen.

Sie hatte sich wieder einmal umsonst kleiner gemacht, und fühlte sich mit all ihren Unzulänglichkeiten weder auf einer großen Bühne noch bei ihren Eltern zu Hause. Und sie fühlte sich schuldig, denn zu oft hatte sie gehört, dass sie und die Tankstelle zusammengehörten. Und noch öfter hatte sie gehört, dass Hochmut vor dem Fall komme. Letztendlich genügte ein kleiner Fehltritt.  

Als Edith Miller Stunden später in einem Krankenhauszimmer aufwachte, floss durch einen schmalen Schlauch eine transparente Flüssigkeit in ihre Armbeuge, und ein Arzt erklärte, es handle sich um Schmerz- und Beruhigungsmittel. Nachdem er ihre Krankenakte gelesen hatte, sagte er in einem Ton, der jede Hoffnung aus dem Rampenlicht in den Schatten zerrte, dass sie jetzt Geduld haben müsse. Das Kreuzband in ihrem rechten Knie war gerissen. Eine Knieorthese sorgte dafür, dass es mehrere Wochen nicht bewegt werden konnte. Auch die Psychologin, die ehrenamtlich in der Reha arbeitete, betonte, Edith Miller müsse sich Zeit lassen. Ruhig bleiben. Es nicht so dramatisch sehen. Sie war nicht aus der Welt, sondern wie ein Vogel nur aus dem Nest gefallen. Sie hatte eine harte Landung hinter sich. Ihr Federkleid war zerzaust. Ein Flügel war verletzt. Aber das würde heilen. Edith Miller solle froh sein, dass es nicht schlimmer gekommen war. Dieser schreckliche Satz! Und Zeit lassen wofür? Wer im Sitzen arbeitet, kann doch nicht wissen wie es ist, wenn man mit dem eigenen Körper beruflich fliegen kann! Für Edith Miller war dieser Verlust so schlimm, dass ihr Leben keinen Sinn mehr machte. Daran konnten auch die Umschulungsprospekte, die sie im Briefkasten erwarteten, nichts ändern. In der Arbeitswelt war mit ihr nicht mehr viel anzufangen. Sie konnte nicht lange stehen. Konnte nicht lange sitzen. Hatte keine Ahnung von Buchhaltung oder von Informatik. Konnte keine Haare schneiden. Konnte nicht kochen und kein Auto reparieren. Sie hätte gerne Kindern Ballettunterricht gegeben, aber es gab keine freie Stelle, und die Warteliste war lang. Die Tage vergingen wie Wochen. Und Wochen vergingen wie Monate. Und weil so viele Jahre umsonst gewesen waren, stürzte Edith Miller noch einmal. In eine tiefe Depression.

„Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken“, sagte die Psychologin in der letzten Therapiesitzung. Tests hatten ergeben, dass Edith Miller gut organisieren konnte, den Überblick behielt und ein gutes Gedächtnis hatte. Das stimmte. Sie erinnerte sich an tausend Schritte. Die Arbeitsagentur konnte keinen einzigen davon gebrauchen.

Sie vermittelte Edith Miller in ein Callcenter, in dem sie noch depressiver wurde, denn die Sehnsucht einer Ballerina nach dem Bühnenlicht konnte man nicht einfach ausknipsen.

Um ihr Leben zu bezahlen, arbeitete sie schließlich in einem neonbeleuchteten Großraumbüro und in einem Supermarkt an der Kasse. Edith Miller spürte Muskeln, die bisher noch nie eine Rolle gespielten hatten. Das in dieser trostlosen Zeit ausgerechnet ihr Nachbar Frank Goodman eine neue Bühne für sie bereithielt, kam überraschend, denn er war Automechaniker.

Sie hatten sich zufällig im Treppenhaus getroffen, weil Edith Miller an der Fensterbank in der ersten Etage eine Pause gemacht hatte und nicht wie sonst, ohne Frank Goodman zu beachten, leichtfüßig an ihm vorbeigeeilt war. Ihren Rucksack auf dem Rücken. In Jogginghosen. Die Handgelenke und Knie in Wolle gepackt. Egal ob im Winter oder im Sommer.