Die Pflanze, die gern Purzelbäume schlägt … - Ewald Weber - E-Book

Die Pflanze, die gern Purzelbäume schlägt … E-Book

Ewald Weber

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Beschreibung

»Der Baum, der keine Nachbarn duldet«, »die Blume, die vom Ölboom träumt« oder »der Strauch, der sich nach den Tropen sehnt« – das sind nur drei von 25 heimischen Wildpflanzen, mit denen uns das neue Buch von Ewald Weber zum Staunen bringt. Das Augenmerk liegt dabei nicht auf den »Stars der Pflanzenszene«, und es werden nicht einfach Fakten aufgelistet. In unterhaltsamen Essays werden vielmehr Arten vorgestellt, die etwas Besonderes, ja Herausragendes zu bieten haben, etwa faszinierende Überlebensstrategien oder einen wichtigen Beitrag für das Funktionieren ganzer Ökosysteme. Ganz nebenbei vermittelt das Buch viele spannende Details und zeigt so auf, was die Natur in ihrem Innersten zusammenhält. Ausgestattet mit liebevollen Zeichnungen und Aquarellen der Künstlerin Rita Mühlbauer wird das Buch all jene begeistern, die die Natur und ihre kleinen Wunder schätzen und lieben.

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Seitenzahl: 212

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Ewald Weber
Die Pflanze, diegern Purzelbäumeschlägt
… und andere Geschichten vonSeidelbast, Walnuss & Co.
Mit Illustrationen vonRita Mühlbauer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Illustrationen: Rita Mühlbauer
Lektorat: Annika Christof, oekom verlagKorrektorat: Petra KienleSatz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-470-8
Für Herta
Vorwort
AM MEER
Das Kraut, das untertauchte
Der Dicke am Rande des Watts
Baukünstler der Dünen
Eine stachelige Schönheit
Die Rose im Schafspelz
IN FELD UND WIESE
Der Baum, der keine Nachbarn duldet
Die Pflanze, die gerne Purzelbäume schlägt
Die Blume, die vom Ölboom träumt
Wer ist die Kleinste im ganzen Land?
Ackerunkraut ohne Heimat
IM WALD
Der Strauch, der sich nach den Tropen sehnt
Gender-Fragen bei Bäumen
Das Gewächs, das seine Blüten versteckt
Der Feuerbusch
Bleich und dennoch kerngesund
IM WASSER
Blühende Segelboote
Ein ganz und gar geselliges Gras
Ein Kunstwerk auf dem Wasser
Die Pflanze mit dem Janusgesicht
Die primitive Wasserlilie
IM HOCHGEBIRGE
Kuschelig und warm, trotz klirrender Kälte
Die berühmteste aller Alpenblumen
Die Tropfsteinpflanze
Zwei Brüder, die sich aus dem Weg gehen
Einsamer Extremkletterer
Allgemeine Literatur
Fachliteratur zu den einzelnen Arten
Artenregister
Vorwort
Während meiner Studienzeit kam ich in den Genuss zahlreicher botanischer Exkursionen in die nähere Umgebung von Basel, in die Alpen und ans Mittelmeer. Sie waren dank eines enthusiastischen Botanikprofessors stets faszinierend und erlebnisreich. Dennoch ging es immer darum, welche Pflanzenarten im Gebiet vorkommen und aufgrund welcher Merkmale man sie erkennt. Die Funde zählten und der Erfolg des Tages maß sich an der Länge der zusammengestellten Artenliste. Doch Namen und Artenkenntnis sind nicht alles, die Naturgeschichte der einzelnen Pflanzenarten ist noch weitaus spannender. Warum wächst diese Pflanzenart hier und nicht woanders und warum sind bei jener Pflanze die Blüten so merkwürdig gestaltet? Jede Pflanze, überhaupt jede Art von Lebewesen, erzählt ihre ganz eigene Geschichte. Gestalt und Funktion einer jeden Art sind schließlich das Ergebnis des anhaltenden Prozesses der Evolution, der Anpassung an einen bestimmten Lebensraum und die Ausbreitung in der Vergangenheit. Die Gestalt eines Blatts oder einer Blüte verrät viel über die Lebensweise einer Pflanze – wo sie wächst und wer ihre Blüten besucht.
Nicht nur die Naturgeschichte ist spannend, sondern auch die Verzahnung mit unserer eigenen Geschichte. Welche Bedeutung hat eine bestimmte Art für uns Menschen? Wie beeinflusst sie unser Handeln und wie wiederum beeinflussen wir die Art? Um eine Pflanze richtig zu verstehen, braucht es auch einen Blick über die Schulter von Wissenschaftlern. Was haben Biologen in aufwendigen Forschungsprojekten über eine bestimmte Art alles herausgefunden? Ein Eintauchen in die Fachliteratur kann manchmal genauso spannend sein wie das Besuchen einer der Arten draußen in der Natur. Nicht selten tun sich Zusammenhänge auf, die sich beim Anblick eines Gewächses kaum erraten lassen.
Deutschland ist landschaftlich abwechslungsreich, wir haben eine Küste und ein kleines Stück der Alpen, dazwischen Fichtenwälder, Laubwälder, Kiefernwälder, Moore, Seen, Trockenrasen, Feuchtwiesen und felsige Abhänge. In jedem Lebensraum wachsen bestimmte Pflanzen, sodass wir insgesamt eine Flora von rund 3.000 wildwachsenden Pflanzenarten haben. Im Folgenden möchte ich Ihnen einige besondere Persönlichkeiten unserer reichhaltigen Flora vorstellen und ihre Geschichten erzählen. Ich lade Sie zu einer Reise quer durch Deutschland ein, vom Meeresgrund in der Ostsee bis zu den Bergspitzen der Bayerischen Alpen. Wir werden 25 Pflanzenarten, die sich durch die eine oder andere Besonderheit auszeichnen, ein bisschen näher kennenlernen. Darunter befinden sich wenig bekannte Arten, Pflanzen, die man kaum zu Gesicht bekommt, weil sie selten sind oder ein verstecktes Leben führen. Aber auch ganz und gar gewöhnliche Pflanzen, die wir bestens kennen und denen wir beinahe jeden Tag begegnen. So manche unter ihnen wartet mit unerwarteten Eigenschaften auf.
Eine Auswahl von 25 aus 3.000 Arten ist klein und kann nur willkürlich sein. Ich hätte genauso gut andere Arten auswählen können. Die vorgestellten Arten sollen aber stellvertretend für viele weitere stehen und zum Nachdenken, Mitdenken und vor allem zum Beobachten in der freien Natur anregen. Wer sich die Zeit nimmt, wird viel entdecken und dabei ganz rasch die Zeit vergessen. Naturbeobachtung ist für die ganze Familie Erholung pur! Loki Schmidt sagte einmal: »Es gibt einfach so viele verschiedene Blütenformen, die man auf jeder Wiese stundenlang entdecken und vergleichen kann.«
Für Auskünfte zu manchen Pflanzen danke ich mehreren Botanikern und Naturschützern, unter ihnen Gerd Böhm, Erhard Bolender, Rainer Borcherding, Wolfgang Fischer, Thilo Heinken, Maike Isermann, Volker Kummer, Philipp Schubert und Martin Wiesmeier.
Rita Mühlbauer hat meine kleine Pflanzenauswahl liebevoll porträtiert. Durch ihre Zeichnungen werden die Pflanzen zum Leben erweckt. Mein Dank gilt auch Annika Christof, die das Projekt redaktionell betreut hat, dem Verleger des oekom Verlags Jacob Radloff sowie Clemens Herrmann, der von Anfang an von der Idee begeistert war. Schließlich danke ich allen, die das Projekt finanziell unterstützt haben.
Potsdam, im Oktober 2017
Ewald Weber

AM MEER

Das Kraut, das untertauchte

Gewöhnliches Seegras(Zostera marina)

Holnis, im August. Unsere Begegnung mit außergewöhnlichen Pflanzen beginnt mit einem Spaziergang am Strand der Flensburger Förde. Die Ostsee ist hier sehr flach und zahm, nicht zu vergleichen mit der Nordsee. Vom schmalen Landzipfel nördlich des kleinen Orts Holnis können wir nach Dänemark hinüberblicken. Unsere Aufmerksamkeit gilt aber dem Spülsaum, dem Material, das der Wellenschlag an den Strand spült. Dicke Kissen aus braunen Bändern liegen hier »unordentlich« herum; bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich als lange und schmale Blätter, die an einem Stück Stängel sitzen. Und oft genug zeigen sich hier auch frische und grüne Pflanzen, losgerissen und angeschwemmt. Das sind keine Algen wie der ebenfalls allgegenwärtige Tang, sondern Blütenpflanzen. Die grasgrünen Blätter sind durchscheinend, wenn wir sie gegen das Licht halten, glänzen stark und sind von fester Beschaffenheit. Da draußen in der See muss es eine Unmenge dieser Pflanzen geben, die unweigerlich an Gräser erinnern. Mit den echten Gräsern haben sie aber nichts zu tun. Botaniker stecken sie in eine eigene Familie, die Seegrasgewächse. Unsere Pflanze ist das Gewöhnliche Seegras, eine von zwei Arten an der deutschen Küste. Der kleine Bruder – das Zwerg-Seegras (Zostera nana) – kommt hauptsächlich an der Nordsee vor und ist von viel kleinerem Wuchs.

Ein echter Meeresbewohner

Der seichte Küstenbereich erlaubt uns, weit hinaus zu waten, wir können ins Meer hineinspazieren und uns umschauen. In etwa einem Meter Tiefe zeigen sich die ersten verankerten Büschel. Die Pflanze lebt vollkommen untergetaucht, ist über ihren ganzen Lebenszyklus von Salzwasser umgeben. Eine echte Meerespflanze und damit eine absolute Ausnahmeerscheinung bei den Blütenpflanzen. Blütenpflanzen auf dem Meeresboden erscheinen uns ungewohnt, verbindet man das Leben in den Ozeanen doch eher mit Fischen, Seesternen, Muscheln bzw. Tang und anderen Vertretern der Algen. Letztere haben aber mit Blütenpflanzen nichts zu tun, denn sie stellen eine komplett andere Gruppe von Organismen dar, so anders, dass sie heutzutage sogar nicht mehr zu den eigentlichen Pflanzen zählt, sondern als eine eigene Gruppe angesehen wird.
Der Schritt vom Land ins Meer ist nur einer Handvoll Pflanzenarten gelungen. Meerwasser enthält Salz und der Umgang damit ist für pflanzliches Leben eine große Herausforderung. Zu viel Salz in den Zellen schadet, es bedarf besonderer Anpassungen des Stoffwechsels, um in einer salzigen Umgebung existieren zu können.

Ein Unterwasserblüher

Jetzt im August blüht das Seegras gerade. Blüten im Meer?
Stellen Sie sich eine blühende Wiese mit Glockenblumen, Margeriten und wilden Nelken vor und stellen Sie sich weiter vor, dass diese Wiese nun überflutet werden würde. Das Wasser stünde so hoch, dass die Blumen komplett vom nassen Element umgeben sind. Lange könnten sie das nicht ertragen; sie würden absterben und verfaulen. Vor allem wäre es undenkbar, dass die Blüten bestäubt werden könnten. Fische würden dafür kaum in Frage kommen, auch kleine Krebstiere würden sich nicht um die Blüten kümmern. Ganz abgesehen davon, dass der Nektar vom Wasser ausgespült und fortgeschwemmt würde.
Blütenpflanzen sind Landlebewesen, die an der Luft wachsen, sollte man meinen. Für die meisten Arten trifft dies auch zu. Blütenpflanzen haben sich im Laufe der Evolution an Land gebildet und bei der Besiedlung unterschiedlichster Lebensräume eine enorme Artenvielfalt entwickelt. Es sind Landlebewesen, auch wenn ihre entferntesten Vorfahren Meeresalgen waren. Auf einen ganz kleinen Nenner gebracht, entstanden die Blütenpflanzen aus der evolutiven Reihe Alge – Farn – Palmfarn – Blütenpflanze. Doch auch bei den Pflanzen gilt: keine Regel ohne Ausnahme.
So wie manche Säugetiere sekundär vom Land wieder ins Wasser zurückkehrten und sich vollkommen auf ein Leben im nassen Element einstellten – die Wale etwa –, hatten auch ein paar wenige Gewächse das Wasser wiedererobert. All die Wasserpflanzen, die in Teichen, Seen und Flüssen wachsen, stammen von Arten ab, die einst an Land entstanden sind. Aber selbst bei den meisten Wasserpflanzen befinden sich die Blüten über dem Wasser und werden wie bei den Landpflanzen von Insekten oder vom Wind bestäubt.
Umso erstaunlicher ist, dass ein paar wenige Arten auf dem Weg vom Land zurück ins Wasser auch ihre Blüten mit in die Tiefe genommen haben. Sie entwickelten eine Unterwasserbestäubung.

Wie bestäubt man im Meer?

Unser Seegras lebt nicht nur vollkommen untergetaucht, es blüht und fruchtet auch unter Wasser. Wie aber sehen die Blüten aus – und wie werden sie bestäubt?
Die Blüten der Seegräser haben mit den echten Gräsern etwas gemeinsam: Sie sind klein und unscheinbar. Es liegt auf der Hand, dass große und farbige Blüten in einem Ozean keinen Sinn ergeben. Die Blüten sind also winzig und bestehen nur aus den funktionellen Bestandteilen: entweder aus einem einzelnen Staubblatt, das den Blütenstaub entlässt, oder aus einem Fruchtknoten, der die Eizelle enthält. Nun ergibt pulverförmiger Blütenstaub im Wasser aber ebenfalls keinen Sinn und wir wissen noch immer nicht, wie die Übertragung des Blütenstaubs vor sich gehen soll. Tiere fallen weg, denn Unterwasserbestäuber gibt es nicht. Also bleibt nur das Element Wasser, in Analogie zur Windbestäubung über dem Wasser. Aber ganz so einfach ist das nicht.
Blütenstaub von windbestäubten Landpflanzen ist so leicht, dass er vom Wind fortgeweht werden kann. Kiefern oder Haselsträucher machen es vor, bei ihnen ziehen Schwaden von gelbem Staub durch die Luft. Im Wasser aber stellt sich ein fundamentales Problem: Ist ein Pollenkorn zu schwer, sinkt es auf den Grund; ist es zu leicht, steigt es zur Oberfläche und treibt auf dem Wasser. In beiden Fällen ist das nutzlos, denn die Zielorte, die Fruchtknoten, stehen irgendwo unten im Wasser und können den Pollen so nicht einfangen.
Das Seegras bildet daher ungewöhnlich geformten Blütenstaub: kleine Würste, etwa zwei Millimeter lang und sehr dünn. Diese Pollenwürste sind so beschaffen, dass sie in etwa dasselbe spezifische Gewicht wie Wasser haben und so im Wasser schweben. Die Meeresströmung verteilt den Blütenstaub – wenn denn überhaupt von Staub gesprochen werden darf – und der Pollen findet den Weg zu den Narben der Fruchtknoten.
Die Samen der Pflanze hingegen sinken auf den Grund, denn die Keimlinge müssen sich ja im Substrat verankern können. Wachsen sie heran, bilden sie bald feste Wurzelstöcke, die als Ausläufer über den Boden kriechen und immer wieder neue Blätter bilden. In drei bis zehn Meter Tiefe finden sich mancherorts ausgedehnte Seegraswiesen. Stängel an Stängel der etwa einen Meter hohen Meerwasserpflanze stehen hier; die langen und schmalen Blätter wiegen sich mit der Wellenbewegung wie Gräser im Wind. Jetzt wird auch der wissenschaftliche Name der Pflanze verständlich, denn Zostera stammt von dem griechischen Wort »Zoster« und meint Gürtel. Eine Anspielung auf die bandförmigen Blätter, der Artname marina kommt vom lateinischen »marinus« oder Meer.
Der Mechanismus der Unterwasserbestäubung hat sich auch bei einigen Süßwasserpflanzen entwickelt. Besonders raffiniert ist der Mechanismus beim Rauen Hornblatt (Ceratophyllum demersum), das manchmal massenhaft in Seen auftritt. Wir werden der Pflanze später noch begegnen.

Wiesen auf dem Meeresgrund

Seegräser wachsen an vielen Küsten der Erde. Es handelt sich dabei nur um ein paar Handvoll verschiedener Arten, die aber alle sehr ähnlich gestaltet sind. Im Mittelmeer etwa gedeiht das Neptungras (Posidonia oceanica), das etwa vor Mallorca ausgedehnte Wiesen bildet.
Solche Wasserwiesen sind für das marine Leben von großer Bedeutung. Viele Jungfische nutzen die dichten Unterwassermatten, um sich zu verstecken und auf Nahrungssuche zu gehen – und sie sind wichtige Laichgründe für Meeresfische. Die Pflanzen selbst sind eine wichtige Futterquelle für Fische und Vögel. Die Seegraswiesen bilden auch Lebensraum für ausgefallene Tierarten, nämlich Seenadeln und Seepferdchen. Beide gehören zu den Knochenfischen und tragen einen äußeren Panzer aus Knochenplatten. Dadurch sind die Tiere schlechte Schwimmer und halten sich am liebsten zwischen Algen oder in den Seegraswiesen auf. Seepferdchen verbinden wir meist mit tropischen Gewässern, doch zwei Arten kommen auch an den europäischen Atlantikküsten vor. Ganz anders offenbaren sich die Seenadeln. Ihre langen und schmalen Körper ahmen tatsächlich die Blätter von Seegras nach, eine Tarnung, die durch ihre bräunliche bis grünliche Färbung noch verstärkt wird. Meist stehen sie aufrecht im Wasser, Schnauze nach oben und warten zwischen den Stängeln auf Beute wie kleine Krebse. Die Breitnasen-Seenadel lebt auch in der unteren Gezeitenzone der Ostsee. Sie erreicht 30 Zentimeter Länge. In anderen Regionen der Erde werden Seegraswiesen regelrecht beweidet, etwa von den Seekühen, deren vier Arten alle in tropischen Meeren zu Hause sind. Ein wahrhaft maritimes Spiegelbild des so vertrauten Bilds an Land!

Ein gefährdeter Lebensraum

Einst gab es ausgedehnte Seegraswiesen in der Nordsee, doch sie wurden von einem eingeschleppten Pilz aus Nordamerika stark in Mitleidenschaft gezogen. Sie hatten als Laichgründe für Heringsschwärme eine ganz besondere Bedeutung. In der Ostsee gingen die Bestände seit den Dreißigerjahren dramatisch zurück; im Greifswalder Bodden verkleinerte sich die Fläche der Seegraswiesen zwischen 1930 und 1988 um etwa 95 Prozent. Was sind die Gründe? Der Meeresbiologe Philipp Schubert vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel meint: »Zu den größten Gefahren zählt aus meiner Sicht natürlich die Eutrophierung und dort vor allem die Landwirtschaft, die weiterhin kaum ihre Einträge reduziert hat – im Gegensatz zu häuslichen oder industriellen Abwässern. Des Weiteren ist eine Zunahme der Temperatur zu nennen. Unsere Forschergruppe konnte zeigen, dass Sommerhitzewellen mit mehr als 25 Grad Wassertemperatur für bestimmte flache Bestände tödlich sein können. Schließlich stellen auch Küstenschutz oder Sandverbringungsmaßnahmen eine große Gefahr für lokale Bestände dar.«
Eutrophierung oder Überdüngung sind auch auf dem Land der Grund für den Rückgang vieler Arten. Aber es gibt Grund zur Hoffnung. »Dem Seegras geht es zumindest in der deutschen Ostsee recht gut und es werden sogar Gebiete neu (oder erstmals?) besiedelt, die bisher nicht besiedelt waren«, sagt Schubert. Die Bemühungen, den Stickstoffeintrag zu vermindern, tragen also Früchte.
Dennoch gehören weltweit gesehen Seegraswiesen zu den am stärksten bedrohten Lebensräumen der Meere. Schleppnetze, Eindeichungen und trübes Wasser setzen den Pflanzen zu. Vom Schiffsverkehr aufgewühltes Wasser vermindert den Lichteinfall auf die Meereswiesen, sodass Seegräser nicht richtig wachsen können. Überdüngtes Meerwasser in Küstennähe lässt auf den Blättern der Seegräser Algen wuchern, die ebenfalls das Wachstum hemmen.
Weil die Bestände von Seegräsern rapide zurückgehen, bemühen sich Biologen um eine Wiederansiedlung der Pflanzen. Sie helfen dem Seegras, wieder auf eigenen Füßen zu stehen und sich zu vermehren. Zwischen Herbst 2009 und Frühjahr 2010 tat sich an der Küste des Gelben Meeres, unweit der nordostchinesischen Hafenstadt Qingdao, Erstaunliches. Chinesische Wissenschaftler und ihre Helfer pflanzten bei Ebbe auf einer Fläche von 1.700 Quadratmeter Seegräser. In langen Reihen steckten sie faustgroße Steine in den Schlick, um daran die Wurzelstöcke des Seegrases zu befestigen (die Wurzelstöcke holten sich die Biologen übrigens aus einem noch intakten Bestand an einem anderen Küstenabschnitt in der Region). Nur so konnten sie sicherstellen, dass die noch nicht angewachsenen Pflanzen bei einsetzender Flut nicht fortgerissen werden. Ein immenser Aufwand, wie man sich bei einem Pflanzabstand von lediglich 25 Zentimetern gut vorstellen kann – wobei ich es Ihnen überlasse, die Anzahl an Pflanzen auszurechnen, die für diese Fläche benötigt wurde. Aber die Mühen haben sich gelohnt, denn fast alle gesetzten Seegraspflanzen bildeten Wurzeln und es war eine neue Seegraswiese entstanden.

Seegräser und Schildkröten

Das Gewöhnliche Seegras wächst übrigens auch an den Küsten des östlichen Nordamerikas und hier kam es durch zwei Zoologen zu einer erstaunlichen Entdeckung. Die Samen des Seegrases werden nämlich nicht nur vom Meer verbreitet, sondern auch von Meeresschildkröten. Wie so oft in der Forschung half auch hier der Zufall mit. Im Rahmen einer Forschungsstudie zum Nahrungsspektrum der Diamantschildkröte fingen die Biologen einige Tiere in der Chesapeake Bay zwischen Baltimore und Norfolk und brachten sie für einige Tage in Aquarien unter. Während dieser Zeit wurden die Tiere nicht gefüttert und die Exkremente gesammelt, um sie auf pflanzliche und tierische Reste zu untersuchen.
Bei den eingehenden Analysen des Schildkrötenkots zeigten sich nun zahlreiche Samen des Seegrases und schon stand die Frage, ob es sich hier um »Zoochorie«, also um Tierverbreitung handeln könnte, im Raum. Nun musste man nur noch herausfinden, ob die Samen nach der Darmpassage durch eine Schildkröte immer noch keimfähig waren. Dies war einfach, denn die Wissenschaftler mussten die Samen lediglich reinigen, in Sand stecken und mit Meerwasser gießen. Und siehe da: Die Samen wuchsen zu neuen Pflänzchen heran – und Meeresschildkröten leisteten dem unscheinbaren Gras einen wertvollen Dienst. Ein schönes Beispiel für Symbiose in der Welt der Tiere und Pflanzen.
Seegräser sind tatsächlich außergewöhnliche Pflanzen. Dass sie zumeist unbeachtet bleiben, liegt an ihrem Lebensraum. Wie viel einfacher ist es da doch, küstennahe Pflanzen zu beobachten, die wenigstens zeitweise an der Luft stehen. Eine solche Pflanze suchen wir an der Nordsee auf.

Der Dicke am Rande des Watts

Europäischer Queller(Salicornia europaea)

Scharhörn, im Juli. Im Südwesten der kleinen Insel inmitten des Hamburgischen Wattenmeers erstreckt sich eine Salzwiese, die fast nach Nigehörn reicht, der benachbarten Insel. Zuvorderst in Richtung Meer, an Stellen, die etwas niedriger und bei Flut von Meerwasser bedeckt sind, wächst ein unscheinbares Pflänzchen mit auffallend geformten Stängeln. Blätter sucht man vergebens; die ganze Pflanze besteht nur aus verzweigten und im Sommer sattgrünen Stängeln, die sich bei genauem Hinsehen als eine Perlenkette aus einzelnen dicht aneinandergereihten Segmenten entpuppen. Jedes dieser Segmente wird gegen das obere Ende etwas breiter und bildet eine Pfanne wie bei einem Kugelgelenk, auf der das nächste Segment sitzt.
Der Europäische Queller ist keine gewöhnliche Pflanze. Auch er erträgt Meerwasser, traut sich aber nicht so weit in die See hinaus wie die Seegräser. Der Queller bleibt am Rande des Watts, wächst gerne in einem schmalen Bereich knapp unterhalb der mittleren Hochwasserlinie. Es macht ihm nichts aus, bei Flut zeitweise vollständig von Meerwasser überdeckt zu werden.
Der Lebensraum dieser Pflanze ist die Verlandungszone des Wattenmeers, dort, wo der Einfluss von Ebbe und Flut abnimmt und eine dichte Vegetation oberhalb der Hochwasserlinie entstehen kann. Am vordersten Rand der Salzwiese vollzieht sich ein abrupter Wechsel, was die Vegetation anbelangt – ein paar wenige Zentimeter Höhe machen hier enorm viel aus. An Stellen, an denen bei Flut immer noch Meerwasser über den Boden schwappt, wachsen keine der typischen Pflanzen einer Salzwiese; hier beherrscht der Queller das Bild. Er ist somit eine echte Pionierpflanze, die zur Verlandung der Küste beiträgt.

Was verbindet den Queller mit Kakteen?

Schauen wir uns das Gewächs einmal genau an. Vielleicht ist der Vergleich gewagt, aber kleine Pflanzen des Quellers erinnern unweigerlich an den Saguaro-Kaktus in den Wüsten Nordamerikas. Es ist dieselbe Bauweise, die beide miteinander verbindet: blattlose Stämme, verzweigt und aneinandergesteckt. Beim Queller sind sie klein, beim Saguaro riesig groß.
Beide weisen das Phänomen der Sukkulenz auf, womit Botaniker fleischiges und dickes Gewebe, das viel Flüssigkeit enthält, bezeichnen. Dabei können die verschiedensten Organe, wie Blätter, Stängel oder Wurzeln, zum Dicksein neigen. Bei den Kakteen sind gar keine Blätter vorhanden, hier liegt ein klassischer Fall von Stammsukkulenz vor. Bei einem Kugelkaktus ist der Stamm zudem noch zu einer runden Kugel geworden.
Die vielen verschiedenen Kakteen in den Wüstengebieten der Neuen Welt sind der Inbegriff sukkulenter Pflanzen, aber sie sind bei Weitem nicht die einzigen! In anderen Pflanzenfamilien sind es die Blätter, die sukkulent geworden sind, wie beispielsweise bei der berühmten Aloe vera oder den Agaven. Auch die Dickblattgewächse zeigen Sukkulenz. Nomen est omen – die Vertreter dieser umfangreichen Familie haben dicke und sukkulente Blätter. Jeder kennt den Mauerpfeffer, auch Fetthenne genannt, der an trockenen Stellen und in praller Sonne wächst; da machen wasserspeichernde Blättchen auf jeden Fall Sinn. Oder die Berghauswurz in den Alpen, die sich mit ihren dicken Blättern an die Trockenheit angepasst hat. Ob sukkulentes Blatt oder Stamm, ein solches wasserspeicherndes und dickes Gewebe ist eine lebensnotwendige Anpassung an trockene Wuchsorte mit ihren spärlichen Regenmengen.
Was hat dies alles mit unserem Queller am Rand des Watts zu tun? Hier herrscht kaum Trockenheit, denn die Flut bringt regelmäßig neues Wasser. Der Queller ist aber die einzige Pflanzenart unserer Flora mit Stammsukkulenz, auch wenn das Gewächs nur kleine Stämmchen statt eines stattlichen Stamms besitzt. Dennoch ist die Pflanze eine Ausnahme.

Salzkünstler

Beim Queller liegen ganz andere Gründe zur Sukkulenz vor. Die Pflanze hat nicht mit Trockenheit zu kämpfen, sondern mit dem Salzgehalt des Meerwassers. Sie ist eine Salzpflanze schlechthin, ihre Anpassung an den anspruchsvollen Lebensraum ist erstaunlich.
Warum ist Salz für Pflanzen eine Herausforderung? Es sind im Wesentlichen dieselben Gründe, warum wir Menschen kein Meerwasser trinken können. Wir würden aufgrund des Ungleichgewichts zwischen der Salzkonzentration des aufgenommenen Wassers und unserem Blut verdursten.
Für Pflanzen bedeutet Salz im Boden zweierlei. Zunächst einmal ist es schwierig, dem Boden Wasser zu entziehen, wenn Salz vorhanden ist, da das Wasser osmotisch gebunden ist. Die gelösten Salzteilchen halten das Wasser gleichsam zusammen und die Wurzeln brauchen eine höhere Saugkraft, um dennoch Wasser aufnehmen zu können. Gelangt dennoch Salz in die Zellen, ist das gefährlich! Das gelöste Salz kann in den Zellen Schäden an Enzymen und Zellmembranen verursachen, was wiederum die Funktionstüchtigkeit des Stoffwechsels und damit das Wachstum beeinträchtigt. Eine Pflanze, die nicht an salzige Böden angepasst ist, zeigt charakteristische Veränderungen, wenn sie mit Salzwasser gegossen wird: Das Wurzelwachstum wird gehemmt, die Pflanze neigt zu Kleinwuchs, Knospen treiben nur kümmerlich, die Blätter bleiben klein und die Pflanze entwickelt überall Nekrosen – Flecken, an denen das Gewebe abstirbt. Die Blätter vergilben zusehends und Teile der Pflanze verdorren, bevor sie schließlich ganz eingeht.
Von den etwa 300.000 Blütenpflanzen weltweit haben sich nur eine Handvoll Arten an salzhaltige Bedingungen angepasst. Diese salztoleranten Pflanzen bezeichnet man auch als Halophyten. Im unmittelbaren Küstenbereich finden wir nur ganz wenige solche Arten. Eigentlich erstaunlich, haben Blütenpflanzen doch sämtliche andere Lebensräume erobert, von der eisigen Arktis bis zu dürren Wüsten. Aber Blütenpflanzen sind Landpflanzen, die im Laufe ihrer Stammesgeschichte eine enorme Artenvielfalt hervorgebracht, aber den Küstenbereich weitgehend ausgeklammert haben. Das zeugt von der Schwierigkeit, mit Salz umzugehen.
Unter den Salzpflanzen haben sich ganz verschiedene Mechanismen entwickelt, um dem Salzgehalt im Boden zu trotzen. Sie lassen sich in zwei Gruppen einordnen: Salzregulation und Salztoleranz. Die Wurzeln der ersteren sorgen dafür, dass die gelösten Salzteilchen gar nicht erst ins Innere der Pflanze gelangen; sie werden von vorneherein ausgeschlossen. Das Milieu in solch einer Pflanze entspricht dem einer ganz gewöhnlichen Pflanzenart. Andere Arten nehmen Salz sehr wohl auf, scheiden es aber aktiv wieder aus, um die Konzentration in den Zellen nicht zu hoch werden zu lassen. Ein Klassiker in Sachen Salzausscheidung ist der Strandflieder, der im August Salzwiesen mit einem lilafarbenen Blütenmeer überzieht. Die Blätter der Pflanze enthalten Drüsen, die nichts anderes machen als Salz auszuscheiden. Mikroskopisch kleine Pumpen, die sich dem Betrachter als weißliche Punkte zeigen. Die Salzkristalle lassen den Strandflieder wie mit Mehl bestäubt erscheinen.

Eine Selbstmordpflanze

Der Queller verfolgt im Umgang mit dem Salz eine Lebensstrategie, die einem vorprogrammierten Suizid gleicht. Das Pflänzchen wächst als Einjährige. Jedes Jahr keimen neue Samen und bilden eine neue Generation, die noch vor Einbruch des Winters eingeht. Während der kurzen Periode des aktiven Wachstums nimmt der Queller Meerwasser auf, um das Wasser für den Stoffwechsel zu bekommen. Das unbrauchbare Salz lagert sich in den Zellen ab. Damit der Queller weiterhin Wasser aufnehmen kann, muss er den Zellinhalt ständig mit neuem Meerwasser verdünnen, um die Salzkonzentration nicht zu hoch werden zu lassen. Das mag widersprüchlich klingen, aber Süßwasser steht dem Queller nicht zur Verfügung. Seine Wurzeln sind ständig von salzigem Wasser umgeben und er wird zweimal täglich geflutet. Steigt die Salzkonzentration in den Zellen an, weil das Wasser verbraucht wird oder verdunstet, wirkt neu hinzugefügtes Meerwasser zunächst einmal verdünnend. Durch Erweiterung des Zellvolumens wird Platz für neues Meerwasser geschaffen, der Queller quillt auf. Irgendwann jedoch erleidet der Queller eine akute Salzvergiftung und geht ein. Doch das macht nichts, denn als Einjährige ist das ganz normal. Schließlich ist es dasselbe Schicksal, das jeder einjährigen Pflanze widerfährt, wie die stolzen Sonnenblumen uns vor Augen führen. Ob der Zelltod nun infolge von Salzverstopfung oder einfach durch Vertrocknen eintritt, ist letztlich unbedeutend. In den Herbstmonaten, wenn seine Zeit gekommen ist, hat der Queller seine Blütezeit schon längst hinter sich und neue Samen angesetzt, die im nächsten Jahr den Fortbestand des Gewächses garantieren.

Ein Pionier

Die Salztoleranz des Quellers ist erstaunlich hoch. Im Gegensatz zum Seegras, das ständig untergetaucht wächst und somit einer konstanten Salzkonzentration ausgesetzt ist, kann der Salzgehalt zwischen den Wurzeln des Quellers in die Höhe schnellen. Dies geschieht dann, wenn sein Wuchsort bei Ebbe von der Sonne beschienen wird und der Boden langsam austrocknet. Das Wasser verdunstet, die Salzkonzentration im restlichen Bodenwasser steigt ins Unermessliche. Dem Queller macht dies alles nichts aus. Er ist sogar von Salz abhängig – in Kultivierungsversuchen auf Boden ohne Salzzugabe wuchs er wesentlich schlechter als auf Boden, der mit Meerwasser gegossen wurde. Wie erfolgreich der Queller ist, zeigt sich darin, dass er die Küsten des Mittelmeeres bis zu den kalten Küsten des hohen Nordens besiedelt hat. Stets bleibt er aber auf einen schmalen Bereich der Gezeitenzone beschränkt. Man mag sich aber fragen, warum sich die Pflanze nicht weiter ins Meer traut, in tiefere Zonen unterhalb der Hochwasserlinie vordringt?