Die Präsidentin - Randy Singer - E-Book

Die Präsidentin E-Book

Randy Singer

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Beschreibung

Sie rückten aus, um zu befreien. Und bezahlten mit ihrem Leben. Für das SEAL-Team von Patrick Quillen ist es eigentlich ein Routineeinsatz, den Die Präsidentin der USA persönlich befiehlt: Zwei Geiseln sollen aus einem Gefängnis der Huthi Rebellen befreit werden. Doch die Mission scheitert und die ganze Einheit wird getötet. Die junge Anwältin Paige Chambers, die Verlobte von Patrick, ist geschockt. Als sie auf Geheiminformationen zu dem Einsatz stößt, entschließt sie sich, zu handeln. Sie bringt einen Fall ins Rollen, der das Land spaltet, politische Seilschaften aufdeckt und die Verfassung auf die Probe stellt. Sind vor dem Gesetz wirklich alle gleich?

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7498-5 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5977-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2020SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in the U.S.A. under the title: Rule of Law, by Randy SingerCopyright © 2017 by Randy SingerGerman edition © 2020 by SCM Verlagsgruppe GmbH with permission ofTyndale House Publishers, Inc. All rights reserved.

Übersetzung: Dr. Friedemann LuxUmschlaggestaltung: Oliver Berlin, www.oliverberlin.bizTitelbild: Bilder: Adobe StockSatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Dieses Buch ist fünf Männern und ihren Familien gewidmet:

US-Armee-Veteran John Hamen, der nach einem mutigen Fluchtversuch von Huthi-Rebellen gefangen genommen und hingerichtet wurde. Er kämpfte bis zum Schluss.

Mark McAlister, der als Bauunternehmer für die UNO sechs Monate als Gefangener in der Gewalt der Huthis verbrachte und sich weigerte, seinem christlichen Glauben abzusagen.

SEAL-Kämpfer Jeremy Wise, ein Mitglied meiner Gemeinde. Jeremy gab sein Leben im Dienst für sein Land in Camp Chapman, einer CIA-Basis in Afghanistan. Er hatte sein Medizinstudium abgebrochen, um SEAL zu werden.

Dane Paresi, der als Green Beret 27 Jahre in der Armee diente, wo er sich den Bronze Star und andere Medaillen verdiente. Wie Jeremy starb er als Held in Camp Chapman.

Ryan Owens vom SEAL-Team 6, ein weiterer Kämpfer, der den Tod nicht scheute. Im Jemen opferte er sein Leben für seine Freunde.

Die Geschichte unserer Freiheit wird von Männern wie diesen geschrieben.

Inhalt

Vorwort

Hauptpersonen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Anmerkungen

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

____________ Vorwort

Ich schrieb dieses Buch im Jahre 2016, um diverse schwierige Fragen anzusprechen, die sich am Horizont abzeichneten. Steht der US-Präsident in der Außenpolitik über dem Gesetz? Darf die CIA Schattenkriege mit Drohnen und Spezialeinheiten in Ländern führen, denen die USA nicht den Krieg erklärt haben? Und was ist, wenn das Leben eines Angehörigen der Streitkräfte um politischer Vorteile willen geopfert wird?

Um nicht in die politische Polarisierung hineingezogen zu werden, die unser Land erfasst hat, schuf ich eine Präsidentin, ein Kabinett und einen Obersten Gerichtshof, die aus Personen bestehen, die wenig Ähnlichkeit mit den aktuellen Amtsinhabern haben. Dieses Buch soll ja letztlich ein Roman sein, obwohl es bisweilen schwer ist, den Unterhaltungswert der realen Welt zu toppen. Um die Geschichte trotzdem an die Realität anzubinden, basieren alle historischen Angaben – politische, militärische und juristische – auf tatsächlichen Ereignissen.

Die meisten meiner Geschichten sind vom wirklichen Leben inspiriert. Ich lasse einen Teil dieses Romans im Jemen spielen, weil ich als Rechtsanwalt Antiterror-Klagen erhoben habe für Klienten, die von den Huthis entführt und gefoltert worden waren. Ich habe ein SEAL-Team in den Mittelpunkt gestellt, weil ich in Virginia Beach wohne, dem Heimatstandort mehrerer dieser Teams, und die allergrößte Hochachtung vor diesen Elitekämpfern habe. Einige von ihnen sind meine Freunde – und als Pastor betreue ich sie in meiner Gemeinde. Ich habe miterlebt, wie die Leben vielversprechender Menschen viel zu früh im Tod endeten und die Hinterbliebenen sich nicht unterkriegen ließen. Ich hoffe, dass dieses Buch einen Eindruck von diesem Heldenmut vermittelt.

Als ich diese Geschichte schrieb, ahnte ich nicht, dass ihr Hintergrund so bald Realität werden würde. Im Januar 2017 führte ein SEAL-Einsatz im Jemen zu tragischen Verlusten an Menschenleben. Es gab Berichte, dass der Einsatz möglicherweise verraten wurde.

Obwohl dieses Buch ein Roman ist, sind die Themen und Probleme in ihm real. Wir sind es unseren Brüdern und Schwestern im Militär schuldig, gründlich über diese Themen nachzudenken.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

____________ Hauptpersonen

Die Hamilton-Regierung

Amanda Hamilton – US-Präsidentin

Leroy Frazier – US-Vizepräsident

Philip Kilpatrick – Stabschef des Weißen Hauses

John Marcano – Direktor der CIA

Seth Wachsmann – US-Justizminister

Roman Simpson – US-Verteidigungsminister

Rechtsanwälte und Richter

Paige Chambers

Wyatt Jackson

Wellington Farnsworth

Kyle Gates – Anwalt für John Marcano

Dylan Pierce – Anwalt für Philip Kilpatrick

Landon Reed – Anwalt für Paige Chambers

Thea Solberg – Amtsrichterin, mit dem Fall Anderson betraut

Mitchell Taylor – US Attorney für den Eastern District of Virginia

Militärangehörige und ihre Verwandten

Patrick Quillen – Marine-SEAL

Bill Harris – Patricks Großvater

Troy Beef Anderson – Marine-SEAL

Kristen Anderson – Troys Ehefrau

Justin und Caleb Anderson – Söhne von Troy und Kristen

Brandon Lawrence – Drohnenpilot

Admiral Paul Towers – befehlshabender Offizier des Joint Special Operations Command

Commander Daniel Reese – Admiral Towers' Stabschef

Oberster Gerichtshof der USA

Cyrus Leonard – Oberster Bundesrichter

Augusta Augustini – liberal

Kathryn Byrd – konservativ

Barton, der Bart, Cooper – konservativ

Taj Deegan – Wechselwähler

William Martin Jacobs III. – liberal

Reginald Murphy – liberal

David Sikes – konservativ

Evangelina Torres – liberal

Patricia Ross-Braxton – im Ruhestand

Andere

Abdullah Fahd bin Abdulaziz – Mitglied der saudischen Königsfamilie

Mokhtar al-Bakri, alias Pinocchio – jemenitischer CIA-Informant

Yazeed Abdul Hamid – iranischer Geistlicher

Cameron Holloman – Journalist der Washington Post

Gazala Holloman – Frau von Cameron

Harry Coburn – Reporter der New York Times

Saleet Zafar – jemenitischer Geistlicher

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

____________ Kapitel 1

Sana'a, Jemen

Sie stürzten wie Geier aus der C-17-Transportmaschine, vage Silhouetten vor dem Viertelmond im pechschwarzen Himmel. Unsichtbare, stumme Raubvögel. Arme und Beine ausgebreitet, die ersten paar Sekunden im freien Fall. Der Wind blies mit 190 Stundenkilometern an ihren Körpern vorbei, durch die mit jedem Pulsschlag das Adrenalin pumpte.

Die zwanzig Männer waren 9 500 Meter über der Erde aus dem Frachtraum in die kalte Luft über dem Jemen hinausgestiegen. 21 Sekunden später, bei 8 200 Metern, ließen sie ihre Fallschirme aufschnappen, schauten auf ihre Navigationsgeräte, korrigierten ihren Kurs. Fast zwanzig Minuten würden sie durch die dünne, beißende Luft schweben, bevor sie wenige Hundert Meter von ihrem ersten Checkpoint auf einer öden Hochfläche knapp fünf Kilometer von Sana'a entfernt landeten.

Die Männer gehörten zu einer Kampfgruppe der Spezialeinheiten, zur Crème de la crème, dem Besten, was Amerika zu bieten hatte. Unter ihnen waren ein Farmer aus New York, ein Schwimmer aus Kalifornien, ein Jäger aus Texas und ein Lacrosse-Spieler aus Connecticut. Ihr ganzes Erwachsenenleben hatten sie für einen Augenblick wie diesen trainiert; für einen Einsatz, den die Präsidentin persönlich befohlen hatte und den die hohen Tiere in Washington in Echtzeit verfolgen würden. Die Präsidentin selbst würde im mahagonigetäfelten Situation Room im Weißen Haus das Video von der Kamera des Teamleiters mitverfolgen und jedes gesprochene Wort auf der Funkfrequenz mithören, die der Teamleiter und das Hauptquartier benutzten.

Diese Männer gehörten zu dem berühmten SEAL-Team 6 – einer Marine-Spezialgruppe, die offiziell Naval Special Warfare Development Group, kurz DEVGRU, genannt wurde. Dieses Team war aus Männern der geheimnisvollen Black Squadron1 zusammengesetzt und würde in dieser Nacht Geschichte schreiben. Es ging zwar nicht um bin Laden, aber anders als andere Geheimoperationen würde diese Aufsehen erregen. Falls alles nach Plan lief, würde später die ganze Welt ausgewählte Auszüge der Videodokumentation zu sehen bekommen. Sie würde die tödliche Präzision dieses Teams bestaunen. Sie würde sehen, wie wichtig es den USA war, ihre Gefangenen in anderen Ländern zu befreien. Dies war eine klare Botschaft und sie lautete: Mit Amerika kann man nicht spielen.

Der Einsatz lief unter dem Codenamen Operation Exodus, den Patrick Quillen und seine Männer eigentlich nicht mochten. Sie wollten das Ding ursprünglich Alcatraz nennen, nach dem berühmten ehemaligen Gefängnis in der Bucht von San Francisco. Denn schließlich handelte es sich ja um eine spektakuläre Gefangenenbefreiung. Aber dann hatte die Präsidentin sich eingeschaltet, gefolgt von den Öffentlichkeitsexperten, und man wählte einen vornehmeren Namen. Die beiden Zivilisten, die das SEAL-Team befreien sollten, waren von den Huthi-Rebellen vor kein offizielles Gericht gestellt worden. Die Rebellen beherrschten den Jemen und sie hatten angekündigt, die Gefangenen am Ostersonntag zu erhängen, ganz gleich, was die USA und Saudi-Arabien dazu sagten. Die Präsidentin hatte nun dieses Team in den Jemen geschickt, um die beiden Gefangenen herauszuholen. Operation Exodus war geboren.

Der erste Gefangene war ein amerikanischer Journalist namens Cameron Holloman, ein etwas extravaganter Reporter für die Washington Post, einer jener smarten Knaben, die sich in Kriegsgebiete begeben und davon träumen, für ihre Arbeit den Pulitzer-Preis zu bekommen. Holloman war nach Saudi-Arabien geflogen und hatte heimlich die Grenze in den Jemen passiert, um aus erster Hand über das Los der Menschen zu berichten, die zwischen dem Hammer der Luftangriffe der Saudis und dem Amboss der Gegenangriffe der Huthis festsaßen. Nach nicht einmal zwei Wochen im Jemen war er als angeblicher amerikanischer Spion verhaftet worden. Jetzt wartete er auf seine Hinrichtung.

Im selben Gefängnis wie Holloman – zwei Zellen entfernt – saß Abdullah Fahd bin Abdulaziz, ein Mitglied der saudischen Königsfamilie, ein rebellischer Neffe, der im Rahmen einer eigenmächtigen diplomatischen Mission in den Jemen gereist war. Auch er war verhaftet und der Spionage bezichtigt worden. Auch er sollte am Ostersonntag hängen. Die Saudis wollten ihn unter allen Umständen freibekommen und das Unternehmen wäre ein Fehlschlag, wenn er starb oder im Gefängnis blieb.

Die diplomatischen Kanäle zu den vom Iran unterstützten Huthis waren seit Langem mausetot. Die für die Mission benötigten Informationen kamen von einem jemenitischen Informanten, den die CIAPinocchio getauft hatte, weil er sich als zuverlässig erwiesen hatte. Er hatte eine komplette Beschreibung des Gefängnisses geliefert, bis hin zu den Nummern der Zellen der beiden Gefangenen. Die Außenanlagen und die täglichen Routinen der Wärter hatte man per Drohnen und Satellit ermittelt.

Während er durch seine Sauerstoffmaske atmete, das Navigationsgerät bediente und zeitgleich durch die Luft nach unten glitt, dachte Patrick Quillen an die nächsten Stunden seines Lebens. In dieser Nacht befehligte er 16 SEALs sowie zwei Combat-Control2-Spezialisten der Air Force und mehrere PJs – Fallschirmspringer, die als die besten Sanitäter des amerikanischen Militärs galten. Wenn alles nach Plan lief, hätte man genügend Feuerkraft, um die nichtsahnenden Huthi-Wärter zu überwältigen und die Gefangenen aus dem Zentralgefängnis von Sana'a herauszuholen.

Als vor einigen Jahren noch eine vom UN-Sicherheitsrat sanktionierte Militärallianz den Jemen kontrollierte, hatten al-Qaida-Kämpfer mit einer Autobombe die Mauern eben dieses Gefängnisses durchbrochen und 19 ihrer Leute befreit. Was al-Qaida konnte, konnten amerikanische Spezialeinheiten ja wohl erst recht. Ein nächtlicher Überraschungsangriff auf ein befestigtes Gefängnis in feindlichem Territorium – ein Spaziergang.

Ein paar Hundert Meter über dem Boden löste Patrick den Rucksack zwischen seinen Beinen und ließ ihn an seinem Seil herunterhängen, damit er bei der Landung nicht im Weg war. Sekunden später breitete er seinen Fallschirm aus und kam rennend auf dem Boden auf. Er entledigte sich mit einigen eingeübten Griffen seiner Kälteschutzkleidung und der Sauerstoffmaske und hakte den Fallschirm aus. Wie seine Kameraden sprach er kein Wort. Die Gegenstände, die sie nicht mitnehmen konnten, vergruben die Männer rasch im Sand.

Als alle Männer da waren, aktivierte Patrick sein Mikrofon und informierte seinen befehlshabenden Offizier, dass sie ihren ersten Checkpoint erreicht hatten. »Verstanden!«, bestätigte sein Chef.

Los ging's. Die Männer waren bereit, Patrick sah es in ihren Augen. Dies waren seine Jungs, jeder Einzelne, und sie konnten auf ihn zählen. Der Start von Operation Exodus hatte gut geklappt. Aber – das wusste Patrick – das war erst der Anfang.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

____________ Kapitel 2

Das Terrain war steinig und trocken. Es bestand aus vom Wind gewellten Sand, schütterem Wüstengras und spitzen Felsen. Der Wind war bissig, die Höhenluft dünn. Eine Eidechse huschte vorbei. Die Szenerie erinnerte Patrick an einige Trainingseinsätze, die er in New Mexico absolviert hatte – eine Mischung aus Bergen, Wüste und verfallenen Hütten.

Das Gefängnis lag an einer unbefestigten Straße am Rande der Stadt. Wie eine Festung trotzte es den umliegenden Slums und felsigen Hügeln. Fast eine ganze Vorbereitungswoche hatte Patrick über sich ergehen lassen, mit dreidimensionalen Computersimulationen des Gebäudes zu üben. Die massiven Außenmauern des Gefängniskomplexes waren um die zehn Meter hoch und von Stacheldraht gekrönt. Ein riesiges, nach oben bogenförmiges Stahltor diente als Haupteingang. Die Mauern maßen auf jeder Seite mindestens 400 Meter und waren durch mehrere Rundtürme unterbrochen – wie bei einer Burg aus dem Mittelalter. Die Türme hatten auf jeder Etage schmale Schießscharten und ganz oben den Beobachtungsstand für die Wächter.

Doch das war nur die erste Verteidigungslinie. Innerhalb der Mauern lag ein Labyrinth von Betongebäuden, das von einem Maschendrahtzaun umgeben war. In der Mitte thronte ein offener Scharfschützenturm über der ganzen Einrichtung – mit Scheinwerfern und Sirenen. Hier hausten über tausend Gefangene, in Einheiten zu 40 bis 50 Männer. Je Einheit gab es nur zwei Wärter. Die Huthi-Wärter waren zum größten Teil schlecht ausgebildete Grünschnäbel, viele noch im Teenageralter. Sie waren mit alten AK-47-Kalaschnikows bewaffnet. Nachtsichtbrillen und Raketenwerfer – Fehlanzeige. Möglich, dass sie ein paar Handgranaten hatten. Die meisten hatten keinerlei Kampferfahrung.

Patrick und seine Männer erreichten den Rand des Gefängnisses auf die Minute pünktlich, die Scharfschützen gingen in Position. Zwei Felsformationen boten gute Deckung und gleichzeitig gute Sicht auf die Wachtürme. Ein dritter Scharfschütze kletterte die Feuerleiter zu dem Flachdach eines leer stehenden Mietshauses hoch. Ein vierter stieg auf das Dach eines Lagergebäudes und kauerte sich hinter einem Schornstein auf dem Flachdach.

Die übrigen Teammitglieder bezogen ebenfalls ihre Positionen – in vier Teams, wobei jedes Team eine Seite des Gefängniskomplexes abdeckte. Trotz der kühlen Luft spürte Patrick den Schweiß in seinem Nacken und den keuchenden Atem des Mannes hinter ihm. Sie hielten an, schauten sich sichernd um, dann sprinteten sie geduckt von einem Felsen zum nächsten. Sie liefen durch enge Gassen zwischen dicht an dicht stehenden Lehmziegelhäusern, dann über eine Straße. Hinter einigen Gebäuden bezogen sie ihre Positionen, keine hundert Meter von der äußeren Gefängnismauer entfernt.

Die Scharfschützen und Teamleiter nahmen über den SEAL-Funkkanal Verbindung miteinander auf, Patrick konnte ihre Absprachen über seinen rechten Ohrstöpsel mitverfolgen: »Sind am Checkpoint Neptun.«

»Verstanden, Checkpoint Neptun.«

»Tex hier. Checkpoint Neptun.«

»Verstanden.«

Und so weiter, einer nach dem anderen. Die Nachtluft war beißend, Patricks Atem kurz. Er sprach ruhig, aber sein Herz raste. In einigen Augenblicken würden sie die Hölle loslassen und in weniger als dreißig Minuten wäre alles vorbei. Er drehte sich zu dem Mann hinter ihm um, seinem besten Freund bei den SEALs und dem unbestrittenen Fitness-Champion des Teams – Troy Anderson, den seine Kameraden Beef nannten. Beef war stämmiger als Patrick und einige Zentimeter kleiner, mit breiten Schultern und quadratischem Gesicht. Sein Körperfett lag bei lächerlichen 5 Prozent. Beef war der Clown des Teams, aber er war auch äußerst ehrgeizig – und jetzt war er in seinem Element. Patrick schaute ihn an und nickte. Es war Zeit.

Er sprach leise in sein Mikrofon. »Räumt die Türme.«

Sekunden später meldeten die Scharfschützen ihre Treffer. Sie hatten den Wächtern auf den Türmen Codenamen gegeben, frei nach amerikanischen Patrioten.

»Jefferson down.«

»Madison down.«

»John Adams down.«

»Franklin.«

»Thomas Paine.«

Patrick wurde nervös. Fünf tot. Aber hatten die Informanten nicht von sechs Wächtern gesprochen? Jetzt fluchte einer der Schützen und von einem der Türme kam ein Antwortschuss. Ein kurzer Blitz riss durch die Nacht. Jetzt, leiser, wieder der SEAL-Schütze.

Eine Sekunde später die Meldung: »Down. John Hancock.«

Patrick hob die Faust an seinen Helm und bedeutete Beef, in Aktion zu treten. »Sprengstoff«, befahl er in sein Mikrofon.

Wie die Mauerbrecher in den anderen Teams hatte Beef die Aufgabe, zu der Mauer zu rennen und an ihrer Basis sein Sprengstoffpaket zu deponieren. Vier koordinierte Explosionen würden Löcher in die Außenmauer sprengen, durch die die Angreifer aus allen Richtungen gleichzeitig auf das Gefängnisgelände stürmen könnten. Sie würden durch den Maschendrahtzaun brechen, die Gefängnistüren aufsprengen und drinnen das Chaos ausbrechen lassen – Handgranaten, Blendgranaten, Schüsse auf die Wärter, aus allen Richtungen. In wenigen Minuten wollten sie wieder draußen sein.

Doch bevor Beef die Straße überquert hatte, zerriss schrilles Sirenengeheul die trockene Nachtluft, die Kegel der Suchscheinwerfer schwenkten in Richtung des Teams. Ein Kugelhagel schlug auf dem Boden ein, während Beef rasch zurück hinter die Ziegelgebäude sprintete.

»Danke für die Deckung, Q«, keuchte er, während er sich zwischen Patrick und die anderen duckte. »Nächstes Mal sag mir gleich, wenn du abbrechen willst.«

Patrick hielt seinen Kopf gesenkt, aber er sah die Mündungsfeuer der Kalaschnikows in den Schießscharten der Türme. Die Informationen stimmten nicht. Sechs Leute sollte es auf den Türmen geben, aber es schienen Dutzende zu sein, die jetzt wie wild auf die SEALs schossen, die versucht hatten, den Sprengstoff an der Mauer anzubringen.

Jetzt meldeten sich die anderen Teams. Sie standen ebenfalls unter Feuer. Man fluchte ausgiebig.

»Heftige Gegenwehr.« Mit ruhiger Stimme machte Patrick der Einsatzzentrale seine Meldung. »Ersuchen Abbruch der Operation und Beginn Schleuder.«

Eine kurze Pause im Kopfhörer, wie ein enttäuschtes Zögern. Die Order Schleuder bezog sich auf den Kampf Davids gegen Goliath. Patricks Anweisungen waren klar: So wenig Blutvergießen wie möglich. Erledigt die Wachturmschützen, durchbrecht die Mauer, holt die Leute aus den Zellen und geht wieder. Politisch war eine gezielte Operation einem Rundumschlag vorzuziehen. Der Befehl Operation war besser als Schleuder. Aber nicht, wenn es bedeutete, dass SEALs starben.

»In Ordnung.«

Patrick schaute auf seine Armbanduhr. Die Drohnen würden mindestens zwei Minuten brauchen. Zwei lange Minuten in diesem Kugelhagel. Patrick hob eine halbe Sekunde seinen Kopf und schoss auf die Türme.

Jetzt würde gleich ein heilloses Durcheinander ausbrechen …

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____________ Kapitel 3

Najran, Saudi-Arabien

Der Raum sah wie ein Kontrollzentrum der NASA aus. Dutzende Drohnenpiloten saßen in Reihen vor hochauflösenden Bildschirmen, die Augen fest auf sie geheftet. Vorne im Raum war ein großer IMAX-Bildschirm, der die von verschiedenen Drohnen gelieferten Bilder zusammenführte – Drohnen, die knapp 4 600 Meter über der Aktion am Zentralgefängnis von Sana'a flogen. Ein CIA-Agent tigerte nervös hinter den Piloten mit ihren Joysticks hin und her.

Der 21 Jahre alte Brandon Lawrence war einer der besten Piloten im Raum. Der schlaksige, blasse junge Mann war schon immer ein Computerfreak gewesen. Nach der Highschool hatte er ein Jahr damit verbracht, sich in seinen Lieblings-Videospiele zu perfektionieren, dann war er zur Air Force gegangen. Nach der Grundausbildung hatte man ihn dazu auserkoren, die MQ-9 zu fliegen, die modernste Drohne, eine Weiterentwicklung der Predator3. Brandon stand unter dem Kommando der CIA und arbeitete in Ländern außerhalb deklarierter Kriegsgebiete. In den letzten zwei Jahren hatte er Tausende von Einsatzstunden und über dreißig Kampfeinsätze absolviert. Er war die Ruhe selbst am Computer, klinisch präzise bei der Zerstörung der Ziele und nonchalant danach. Er ließ es sich nie anmerken, wie ihn die Einsätze aufwühlten.

Die Licht- und Radarsensoren seiner Drohne waren bei Tageslicht so empfindlich, dass er aus über 4 000 Metern Höhe Gegenstände erfassen konnte, die nur eine Handbreit lang waren. Er sah, was für eine Waffe ein feindlicher Soldat trug, wenn nicht sogar, welche Zigarettenmarke er rauchte. Mit der neuesten Gesichtserkennungs-Software und den 1,8-Gigapixel-Kameras seiner Drohne konnte er selbst auf belebten Innenstadtstraßen gegnerische Kämpfer identifizieren. Nachts und mit Infrarottechnologie waren die Bilder, die man vom Boden bekam, verschwommener – ein Mix aus grünen Farbtönen und unscharfen Umrissen.

Brandons Job war es, den Wachturm in der Mitte des Gefängniskomplexes außer Gefecht zu setzen, samt dem halben Dutzend Männern, die sonst das Feuer auf die SEALs eröffnen würden, sobald diese die Mauer durchgebrochen hatten. Er musste präzise treffen. Einige Meter daneben und er würde einen Teil des Gefängnisses zerstören und Dutzende Insassen töten.

Brandon zoomte sich an den Turm heran, dann drückte er einen Knopf, der ein Gitter mit exakten Koordinaten auf den Bildschirm holte – Abstand, Richtung, Flugbereich. Der CIA-Mann stellte sich hinter Brandon und brummte zustimmend. Brandon erfasste das Ziel. Der IMAX-Monitor blendete eine Maske ein, die den voraussichtlichen Wirkungsradius der Hellfire-Rakete zeigte. Brandon und die anderen Piloten bestätigten, dass sie bereit waren.

»Feuer!«

Auf dem großen Bildschirm vorne im Kommandozentrum waren die Explosionen fast gleichzeitig – zehn Blitze, stumm und unwirklich vor dem gespenstischen Grün des Infrarot-Videos. Die sechs Türme in der massiven äußeren Mauer des Komplexes bekamen alle Volltreffer ab; die Raketen äscherten die Wächter ein, zerstörten die Türme und rissen gähnende Löcher in die Mauer. Weitere Treffer schalteten Stromleitungen und Generatoren aus; das Gefängnis lag abrupt im Dunkeln und die Sirenen verstummten. Brandons Rakete hinterließ da, wo der Zentralwachturm gewesen war, einen rauchenden Krater mit den verbrannten Leichen von sechs Huthi-Kämpfern.

»Gute Arbeit«, lobte der Mann hinter Brandon.

»Danke, Sir.« Brandon starrte auf den Bildschirm vor ihm; die Hand, die auf dem Joystick lag, zitterte fast unmerklich. Hier saß er – sicher wie in Abrahams Schoß – und richtete nichtsahnende Fremde hin. Es war ihm schmerzlich bewusst, dass dies hier kein Videospiel war, und er schämte sich ein bisschen, dass er andere Menschen tötete, ohne selbst in Gefahr zu sein. Er war zur Air Force gegangen, weil er seinem Land dienen wollte. Es schien die perfekte Lösung zu sein, die ideale Kombination zwischen Vaterlandsliebe und Technologiebegeisterung.

Aber dass es so sein würde, hätte er nie gedacht. Er arbeitete für die CIA, saß an einem Computerterminal in Saudi-Arabien und gerade hatte er sechs Soldaten im Jemen getötet, Hunderte Meilen entfernt. Er war Richter, Jury und Henker in einer Person. Nun sah er auf dem Bildschirm zu, wie die echten Soldaten den Komplex stürmten. Die Wunder moderner Kriegsführung machten es möglich.

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____________ Kapitel 4

Sana'a, Jemen

Patrick Quillen spürte die Druckwellen der Explosionen. Er wartete auf das Entwarnungssignal, dann winkte er seine Männer nach vorne. Tief geduckt rannten sie über die Straße und um die rauchenden Schutthaufen herum, die die Rakete aus der Mauer gerissen hatte. Er schulterte sein Heckler-&-Koch-Maschinengewehr und musterte den Gefängnishof, während seine Männer ausschwärmten, um etwaige Verteidiger niederzukämpfen.

Der Hof sah mehr wie ein Flüchtlingslager aus als wie ein Hochsicherheitsknast. An Wäscheleinen hingen staubige Kleidungsstücke und zwischen den Leinen und dem Maschendrahtzaun waren Teppiche gespannt, die wohl Schatten spenden sollten. Keine Bäume, nur der nackte Boden und an einem Ende ein Stück Zementboden und ein Basketballkorb. Basketball – hier?

Patrick und seine Männer durchquerten den Hof, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die Huthis schienen sich in das Innere des Komplexes zurückgezogen zu haben. Die vier Teams sammelten sich, eine Handvoll Männer blieb zur Sicherheit an strategischen Punkten im Hof positioniert. Ein Mauerbrecher brachte eine kleine Sprengladung am Zaun an. Die Explosion riss ein Loch in ihn und die Männer schoben sich hindurch. Sie teilten sich in zwei Sechserteams auf, Patricks Team blieb am Eingang des Hauptgebäudes.

Das dicke Stahltor vor ihnen erforderte eine größere Sprengladung. Beef kniete sich hin, legte den Klebestreifen an der gut fünf Zentimeter dicken Minibombe frei und klebte diese ans Tor. Er schaute prüfend um sich, die anderen Männer traten zurück.

»Ladung angebracht, Südeingang Gebäude 1«, meldete Beef.

Er trat ebenfalls zurück und betätigte den Zünder. Die Explosion riss das Tor auf. Ein Kamerad warf eine Blendgranate hindurch. Patrick ging als Erster hinein. Nur schnell weg vom Eingang! Er schwenkte sein Gewehr in einem Bogen durch die Luft.

Da! Auf einer Art Steg standen zwei Wärter, die gerade versuchten, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Sie schossen aufs Geratewohl. Einen Sekundenbruchteil später hatten Patrick und ein anderer aus dem Team sie mit mehreren Schüssen erwischt. Der eine flog zurück gegen die Wand, der andere sackte über dem Geländer zusammen, hing einen Augenblick dort und plumpste dann hörbar auf den Boden unter dem Steg.

Die SEALs verteilten sich im Raum. Er schien eine Art Büro zu sein, das der Abfertigung der Insassen diente.

»Eingangsraum sicher«, sagte Patrick.

Der zweite Teamleiter antwortete: »Alpha Zwei drinnen.«

Der Plan sah vor, dass die beiden Teams sich in dem Zellenblock im zweiten Stock wiedertrafen, wo die zu befreienden Häftlinge waren. Aber zuerst mussten sie die Treppe hoch und im zweiten Stock eine zweite Stahltür durchbrechen.

Patrick trat zu der Tür, die ins Treppenhaus führte. Er blieb stehen und hielt inne.

Er hatte gelernt, auf seine Instinkte zu hören. Die nicht erwarteten zusätzlichen Wächter in den Türmen hatten seinem Team den Überraschungseffekt genommen. Patrick war sicher, dass die Huthis jetzt am oberen Ende der Metalltreppe warteten.

Sein Funkgerät meldete sich. Der andere Teamleiter war außer Atem. »Alpha Zwei im Treppenhaus unter Beschuss. Adler down.«

Patrick hörte, wie Beef hinter ihm fluchte.

»Bringt ihn hierher!« Patrick zeigte auf den Wärter, der von dem Steg auf den Boden gefallen war.

Zwei seiner Männer packten den Mann unter den Armen und schleiften ihn zur Treppenhaustür. »Werft ihn rein, wenn ich die Tür aufgetreten hab«, fuhr Patrick fort. »Geht in Deckung und dann los!«

Die Männer nickten. Patrick trat die Tür auf und sie warfen den toten Wärter hindurch. Eine Gewehrsalve, aber keine Granaten. Zwei der SEALs schlüpften ins Treppenhaus und erwiderten das Feuer der Wärter oben. Zwei weitere SEALs folgten rasch.

Die Huthis zogen sich zurück und Patrick und seine Männer rannten die Treppe hoch, die Läufe ihrer Waffen auf die Türen im ersten und zweiten Stock gerichtet.

Zwei Männer blieben unten, um die Eingänge zu sichern. Die übrigen vier erreichten den Treppenabsatz vor der Tür zum zweiten Stock. Beef brachte wieder eine Sprengladung an, die Männer zogen sich einen halben Treppenlauf zurück. Die Tür flog auf und Patrick warf die nächste Blendgranate hinein. Die anderen folgten ihm durch die Tür.

Sofort Schüsse. »Allahu Akhbar!«

Patrick ließ sich auf den Boden fallen. Die Kugeln pfiffen über seinen Kopf. Es war stockdunkel und er wusste, dass die Huthis keine Nachtsichtbrillen hatten. Sie waren am anderen Ende des Zellenblocks und zogen sich zurück, während sie wild in Richtung der Tür schossen. Die Gefangenen kauerten an den Wänden ihrer Zellen und schrien auf Arabisch. Patrick und seine Männer duckten sich und erwiderten das Feuer. Wenige Sekunden, dann lagen die Wärter mit dem Gesicht nach unten in ihrem eigenen Blut.

Patrick und Beef hasteten an das andere Ende des Blocks, stießen mit ihren Gewehrläufen in die Wärter, um sicherzugehen, dass sie tot waren. Dann traten sie die Kalaschnikows von ihren Leichen weg. Die Insassen in den Zellen waren starr vor Schreck; die meisten saßen zusammengekauert so weit von der Tür entfernt wie möglich. Ein paar traten vorsichtig zu den Zellentüren, streckten die Hände durch das Gitter und riefen den SEALs irgendetwas zu.

Das Team ging zügig die Zellen entlang. Es war keine zwanzig Meter mehr von der Zelle entfernt, in der Holloman und Abdulaziz saßen, als die Hiobsbotschaften begannen.

»Sieben Hotspots nähern sich dem Ziel«, kam es aus Patricks Kopfhörer. »Transportfahrzeuge. Alpha Eins und Zwei, verstanden?«

»Verstanden«, sagte Patrick.

»Verstanden!«, schrie der Leiter des Teams Zwei. Er klang atemlos, man hörte Gewehrfeuer. Patrick und seine Männer würden im nördlichen Treppenhaus aushelfen müssen, sobald sie die Gefangenen hatten.

Keiner wusste, wie viele Huthi-Kämpfer in den Militärfahrzeugen waren, die unterwegs zu dem Gefängnis waren. Was, wenn sie Granatwerfer dabeihatten? Würden die Hubschrauber, die zur Evakuierung der Gefangenen und der SEALs vorgesehen waren, dann überhaupt landen können? Wie kam es, dass die Rebellen so schnell Verstärkung herbeigeschafft hatten?

Mehr Funksprüche.

»Alpha Zwei weiter unter Beschuss. Heftiger Widerstand.«

»Neptun Eins unter Beschuss«, meldete einer der Scharfschützen.

»Neptun Drei unter Beschuss.«

Zwei Scharfschützen unter Beschuss, das zweite Befreiungsteam im Treppenhaus festgenagelt, mehr Wärter als erwartet in den Türmen, Huthi-Verstärkung unterwegs. Die Wärter hatten Patrick und seine Männer tief in das Gefängnis hineingezogen. Das Ganze war eine Falle!

Ein paar Sekunden später, als Patrick und Beef die Zelle erreichten, in der Holloman sein sollte, wurden Patricks schlimmsten Befürchtungen wahr.

»Alpha Eins an Falke«, sagte Patrick. Falke war der Codename für Admiral Paul Towers, den befehlshabenden Offizier des Joint Special Operations Command4. Towers war der Mann, der letztlich für den Einsatz verantwortlich war. Er stand in direktem Kontakt zur CIA und zur Präsidentin. Patrick verehrte diesen Mann – genau wie alle SEAL-Teamleiter.

»Falke hier.«

»Das hier müssen Sie sehen«, sagte Patrick.

Er schaltete das Licht auf seinem Helm an, und die Zelle, wo Holloman hätte sein sollen, wurde hell. Patricks Kamera funkte das Bild ins Hauptquartier. Da war es, in der einen Ecke der Zelle. Eine lebensgroße Pappfigur, die eine lächelnde Präsidentin Amanda Hamilton zeigte.

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____________ Kapitel 5

Zwei Monate zuvor – Chesapeake, Virginia

Paige Chambers hörte, wie die Tür zu den Toiletten aufging, aber es war zu spät. Sie stand über der Schüssel in ihrer Kabine gebeugt, die Tür zum Glück verschlossen, und erbrach sich in hohem Bogen. Sie würde halt warten müssen, bis die andere wieder weg war. Sie hatte gelesen, dass es dem großen römischen Redner Cicero ähnlich ergangen war. Sie hasste es, dass sie kurz vor einer wichtigen Verhandlung immer so nervös wurde. Dass sie sich selbst so unter Druck setzte, dass ihr buchstäblich schlecht wurde.

Das bist nicht du. Du schaffst das!

Sie schob mit der einen Hand ihr Haar aus ihrem Gesicht, während sie sich mit der anderen den Mund mit einem Stück Toilettenpapier sauber wischte. Dann betätigte sie die Spülung und mit dem Rest ihres Frühstücks verschwand auch ein Teil ihrer aufgewühlten Nerven kreisend im Abfluss.

Sie wartete, bis die andere Toilettenbenutzerin ihre Hände gewaschen hatte und gegangen war, dann nahm sie ihre Jacke vom Haken an der Innenseite der Kabinentür und trat nach draußen. Sie schaute prüfend in den Spiegel, zog ihr Nadelstreifenkostüm zurecht, dessen Rock knapp über den Knien endete, und beugte sich zum Wasserhahn, um einen Schluck zu trinken. Einen Augenblick blieb sie so stehen. In ihrem Kopf spielte sie die Last-Minute-Motivationsschallplatte ab. Sie sah gut aus, obwohl sie ihre grünen Augen nicht perfekt fand. Ihr schulterlanges schwarzes Haar trug sie heute offen, anstatt es zu einem unordentlichen Knoten zu flechten oder durch ein Stirnband zu bändigen, wie sie das meistens tat. An Make-up hatte sie nur eine dünne Grundierung aufgetragen, dazu etwas Lipgloss, Lidschatten und Wimperntusche – nichts Besonderes. Sie wollte als die Expertin auftreten, die von den anderen ernst genommen wurde.

Paige hatte vor vier Jahren ihr Studium der Rechtswissenschaft beendet und mittlerweile bereits fast fünfzig Mal ein Plädoyer vor dem Berufungsgericht von Virginia gehalten. Sie war die drittbeste Absolventin in ihrem Jahrgang an der Uni gewesen. Jetzt arbeitete sie für den Generalstaatsanwalt des Staates Virginia. Sie konnte das, es gab niemand Besseren.

Sie nickte ihrem Spiegelbild kurz zu, griff nach ihrer Aktentasche, straffte die Schultern und verließ die Toilette. Sie schaute sich rasch um, ob sie auch bestimmt niemand sah, dann nahm sie Kurs auf den Gerichtssaal.

Die üblichen Leute waren bereits da. Man sah mehrere Anwälte wie Paige, die Berufungsspezialisten waren. Das Gericht bestand jeweils aus drei Richtern. Diese hatten zu entscheiden, ob das Erstgericht die Gesetze korrekt angewandt hatte. Die meisten der Verurteilten wurden nicht durch Berufungsspezialisten wie Paige vertreten, sondern durch Pflichtverteidiger, die für vom Gericht festgelegte Honorare arbeiteten und sich selten ein Bein ausrissen. Paige hatte bisher nur drei Fälle verloren und jedes Mal hatte sie es kommen gesehen.

Ganz hinten saß ein Reporter der Tidewater Times. Paige wusste, dass er wegen ihres Falles gekommen war: Markell vs. Staat Virginia. Es war der bisher kitzligste Fall ihrer kurzen Karriere.

Austin Markell war der 28-jährige verwöhnte Sohn eines schwerreichen Immobilienhändlers in Portsmouth, Virginia. Er war wegen der Vergewaltigung einer 19-jährigen Studentin der Old Dominion University vor Gericht gekommen und verurteilt worden. Die Studentin war noch am gleichen Abend zur Polizei gegangen, der DNA-Befund war eindeutig. Die junge Frau, Grace Hernandez, hatte blaue Flecken an beiden Armen und am Hals, angeblich, weil Markell sie mit seinem Arm gewaltsam nach unten gedrückt hatte. Markell selbst gab an, dass der Sex heftig, aber freiwillig gewesen sei. Nach knapp einer Stunde befand die Jury ihn für schuldig.

Einige Wochen nach dem Urteil kam ein pikantes Gerücht auf. Es stand im Zusammenhang mit einer Verhandlung in einer Scheidungsangelegenheit mit einem der stellvertretenden Generalstaatsanwälte der Regierung. Offenbar hatte Markells Verteidigerin, ein junger Superstar namens Lori Benton, eine Sexaffäre mit einem Anwalt der Staatsanwaltschaft gehabt. Daraufhin hatte Markell ihr prompt den Laufpass gegeben und mit dem 65-jährigen Wyatt Jackson weitergemacht, der die Regierung hasste und aus jedem Fall den Dritten Weltkrieg machte.

Jackson plädierte auf Unwirksamkeit der Verteidigung, da Benton Markell nicht über ihre Affäre infomiert hatte. Benton – so Jackson – hatte nicht ihr Bestes gegeben. Sie hatte zum Beispiel nicht nach der sexuellen Vergangenheit des Opfers gefragt. Sie hatte keine Leumundszeugen beigezogen, die Markell hätten helfen können. Jackson brachte sogar eine eidesstattliche Erklärung von Markell bei, dass dieser niemals Ms Benton engagiert hätte, wenn er von ihrer Beziehung zum Anwalt der Staatsanwaltschaft gewusst hätte.

Paige schob sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund, legte ihren Wintermantel über das Geländer hinter ihrem Anwaltstisch und ließ sich neben der kampfbereiten Generalstaatsanwältin für die Stadt Portsmouth nieder. Die Stadt war tief nach Rassen gespalten und Destiny Brown hatte den Zuschlag gegenüber ihren beiden weißen Mitbewerbern erhalten. Als erste Amtshandlung hatte sie die Hälfte der Mitarbeiter in ihrem Büro gefeuert; die anderen verließen sie in Scharen. Auch der an der Sexaffäre beteilige Anwalt hatte gehen müssen. Verteidiger wie Wyatt Jackson versuchten nun, sich dieses Chaos zunutze zu machen.

Austin Markell war bereits im Gefängnis und würde heute nicht vor Gericht erscheinen, aber Jackson war es gelungen, eine ganze Reihe im Gerichtssaal mit Markells Verwandten und Freunden zu füllen. Bevor die Sitzung begann, ging er zu Paige, um ihr die Hand zu schütteln. Der 65-Jährige war einen Kopf größer als Paige. Sie drückte seine Hand fest, wohl wissend, dass die ihre kalt und klamm war.

»Nervös?«, fragte Jackson.

»Eigentlich nicht«, erwiderte Paige. Ihre Worte überzeugten sie selbst nicht.

Jackson war spindeldürr und hatte ein scharf geschnittenes Gesicht. Seine beeindruckende weiße Mähne schob er gern hinter seine Ohren. Er hatte sich einen imposanten Schnurrbart wachsen lassen, über seinen stahlblauen Augen hingen buschige graue Brauen. Sein Lächeln war halb süffisant, halb belustigt. »Ich wär auch nervös, wenn ich Ihre Seite vertreten müsste«, sagte er.

»Viel Glück«, versetzte Paige. »Sie werden's brauchen.«

Jacksons Grinsen wurde noch breiter. »Ah, der Schwung der Jugend.« Er nickte zu Destiny Brown hin, die demonstrativ nicht aufgestanden war und so tat, als sei er Luft.« »Nett, Sie wiederzusehen, Ms Brown.«

»Sparen Sie sich's«, entgegnete Destiny.

Wyatt schüttelte den Kopf. »Wusste nicht, dass Sie mit dem falschen Fuß aufgestanden sind. Aber gut, Sie haben ja gerade ein wenig Personalmangel.«

Er drehte sich um und ging zurück zu seiner Seite des Saales. Paige setzte sich wieder. Destiny murmelte, bevor sie sich bremsen konnte: »Was für ein arrogantes Arschloch!« Laut genug, dass die, die hinter ihnen saßen, es mitbekamen.

Paige wusste, dass Jackson nicht zu unterschätzen war. Knapp auf der hiesigen Seite der Grenze zwischen Virginia und West Virginia geboren, verband er den Charme eines Südstaaten-Gentlemans mit der Dickfelligkeit eines Bergsteigers. Man sagte, dass er in einem Wohnwagen hauste, aber auch, dass er mehr Geld auf seinem Schweizer Konto hatte als die meisten Silicon-Valley-Manager. Er war die Art Rechtsanwalt, den jeder so lange hasste, bis er ihn brauchte. Und dann engagierte er ihn.

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____________ Kapitel 6

Wyatt Jackson stand wie eine Eins vor den drei Richtern, die über den Berufungsantrag zu entscheiden hatten. Er zeigte wenig Respekt; manchmal unterbrach er sie sogar in ihrem Frageschwall. Paige bewunderte seine zähe Art, aber sie hatte den Eindruck, dass er die Richter verärgerte. Dennoch half es ihrem Nervenkostüm nicht, dass der Vertreter der Gegenseite sich so kämpferisch gab.

Jacksons Hauptgegner war Richterin Anna Colson, die wahrscheinlich die entscheidende Stimme in dem Richtergremium hatte. Sie schien das Plädoyer auf Unwirksamkeit der Verteidigung nicht zu akzeptieren.

»Ich verstehe, dass da diese Beziehung war«, sagte sie und linste über den Rand ihrer Drahtbrille. Richterin Colson hatte ein rundliches Gesicht und schütter werdendes graues Haar. »Aber ich verstehe nicht, was das mit Ms Bentons Behandlung des Falles zu tun gehabt haben soll. Was hätte sie denn Ihrer Meinung nach anders machen sollen?«

»Alles«, sagte Wyatt fest. »Sie hat keine Leumundszeugen beigezogen. Sie hat kein Kreuzverhör des Opfers über dessen sexuelle Vorgeschichte vorgenommen.«

Colson ließ sich nicht beeindrucken. »Haben Sie schon mal etwas von dem Gesetz zum Schutz von Vergewaltigungsopfern gehört?«

»Doch wenn die Anklageseite von sich aus die sexuelle Vorgeschichte des Opfers zur Sprache bringt, gilt dies nicht«, schoss Wyatt zurück.

»Ich habe mir das gesamte Protokoll angesehen und kann nicht erkennen, dass das hier passiert ist«, erwiderte Colson.

»Band 1, Seite 372«, sagte Wyatt Jackson, ohne seine Notizen zu konsultieren. »Als Ms Hernandez gefragt wurde, ob der Sex freiwillig gewesen sei, antwortete sie – ich zitiere –: ›So einen Sex würde ich nie freiwillig mitmachen.‹ Zitat Ende. Das ist eine klare Aussage über ihre sexuelle Vorgeschichte, bei der die Verteidigung sofort hätte einhaken sollen.«

»Soll das ein Witz sein?«, sagte Colson. »Wenn ich die Erstrichterin gewesen wäre, hätte mir das nicht genügt, um jemanden wie Ihnen zu gestatten, ein Vergewaltigungsopfer einem Kreuzverhör bezüglich seiner sexuellen Vergangenheit zu unterziehen.«

»Ein guter Verteidiger hätte es wenigstens versuchen sollen, Euer Ehren. Dieser Fall ist noch schlimmer als der Fall Thornburg – und bei dem bekam der Angeklagte einen neuen Prozess.«

Colson lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, die Arme skeptisch gekreuzt. Paige war überrascht, dass Wyatt den Fall Thornburg zur Sprache brachte. Es handelte sich um das Urteil eines Erstgerichts in Richmond, das für das Berufungsgericht keinerlei bindende Wirkung hatte. Im Fall Thornburg hatte ein Verteidiger, der mit einer Anwältin in der Staatsanwaltschaft verheiratet war, seinen Klienten nicht nur nicht darüber informiert, sondern auch den einzigen Zeugen nicht beigezogen. Während des Plädoyers der Anklage war er glatt eingeschlafen. Kein Wunder, dass der Richter damals das Verfahren neu aufgerollt hatte.

Paige war bei ihren Recherchen auf Dutzende ähnlicher Fälle gestoßen, aber keinen beim Berufungsgericht Virginia oder beim Obersten Gerichtshof von Virginia, den einzigen beiden Gerichten, deren Entscheidungen für diese drei Richter hier bindend waren. Paige fand, dass es ein Fehler war, dass Wyatt Thornburg überhaupt erwähnte.

Sie sah, dass das rote Licht am Rednerpult aufleuchtete; das Signal, dass Wyatts 25 Minuten zu Ende waren. Aus Respekt vor dem Gericht machte Paige dann immer Schluss und sagte nur noch einen Satz. Doch Wyatt machte sich noch größer und fuhr fort, ohne die Richter um Erlaubnis zu fragen.

»In Shakespeares Drama Wie es euch gefällt sagt eine der Personen: ›Die Liebe hat dich zu einer zahmen Schlange gemacht.‹ In diesem Fall war Ms Benton die lahme Schlange. Sie biss nicht zu, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Deshalb hat mein Klient ein erneutes Verfahren verdient, mit einem Verteidiger, der zubeißt.«

»Wir danken Ihnen«, sagte Richterin Colson knapp.

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____________ Kapitel 7

Paige stellte sich ans Rednerpult. Noch bevor das erste Wort aus ihrem staubtrockenen Mund kam, befand sie sich in der Defensive.

»Finden Sie nicht, dass die Verteidigung diese Beziehung dem Klienten wenigstens hätte mitteilen sollen?« Die Frage kam von Richter Rahul Patel, einem ehemaligen Pflichtverteidiger. Paige wusste: Er wäre unter den drei Richtern die härteste Nuss.

»Nach den ethischen Regeln: Ja. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass das Mr Markell ein Recht auf ein erneutes Verfahren gibt.«

»Warum haben Sie keine eidesstattliche Erklärung des Anwalts, der die Affäre hatte, vorgelegt, in der er verneint, je mit der Verteidigerin über den Fall gesprochen zu haben?« Richter Patel beugte sich auf der Richterbank nach vorne. »Das wäre doch ein naheliegender Weg gewesen, Ihr Argument zu stützen, oder?«

Paige hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde und dass sie darauf keine gute Antwort hatte. »Er hat sich geweigert, mit uns zu reden.«

Mehrere Augenbrauen auf der Richterbank gingen nach oben. »Tatsächlich?«

»Ja, tatsächlich«, lag es Paige auf der Zunge. Ihr Frust war dabei, stärker zu werden als ihre Nervosität. »Aber das ist nicht so wichtig. Mr Markell hatte eine gute Verteidigung. Es gibt nichts, was seine Verteidigerin anders hätte machen können oder sollen.«

In den nächsten Minuten hatte Paige festen Boden unter den Füßen. »Es war klug von Ms Benton, keine Leumundszeugen beizuziehen. Der Angeklagte hatte ein langes Sündenregister verwerflicher Handlungen, das die Anklage hätte nutzen können, falls Ms Benton durch das Beiziehen von Leumundszeugen die Tür dazu geöffnet hätte. Und was die sexuelle Vorgeschichte des Opfers betrifft, so bringt Ms Hernandez' Aussage, dass sie einen Sex, der ihr blaue Flecken an den Armen und am Hals einbrachte, niemals freiwillig mitgemacht hätte, kaum ihre sexuelle Vorgeschichte ins Spiel. Würde dieses Gericht das anders sehen, könnte jedes Mal, wenn ein Vergewaltigungsopfer blaue Flecken hat und verneint, dass der Geschlechtsverkehr freiwillig war, die Verteidigung die gesamte sexuelle Vorgeschichte des Opfers vor Gericht zerren. Das kann ja wohl kaum dem Gesetz entsprechen.«

Paige merkte, wie sie ruhiger wurde. So war das jedes Mal. Erst die Nerven, Ängste, ein holpriger Start. Aber dann machte sich ihre geradezu manische Vorbereitung bezahlt und ihr Adrenalin steigerte ihre Konzentration und nicht ihre Angst.

Richter Patel befragte Paige über den Fall Thornburg. Stand dieser Fall nicht für den Vorschlag, dass jedes Mal, in denen ein Verteidiger eine Intimbeziehung mit jemandem in der Staatsanwaltschaft hatte, die er nicht offenlegte, mindestens eine Beweisaufnahme erfolgen musste, um zu sehen, ob der Beklagte ein Recht auf einen erneuten Prozess hatte?

»Thornburg ist falsch entschieden worden«, sagte Paige selbstbewusst. »Wenn dieses Gericht der Argumentation in Thornburg folgt, wird es eine Riesen-Pandorabüchse öffnen.«

Richterin Colson beugte sich vor. »Das müssen Sie genauer erläutern.«

Kichern. Paige spürte, wie es ihr unangenehm den Rücken hinunterlief. Sie kam sich vor, als hätte jemand im Saal einen Witz gemacht, den sie als Einzige nicht begriff.

Sie holte Luft. »Bei Thornburg wurde zu Unrecht behauptet, dass jegliche nicht offengelegte Beziehung zwischen einem Verteidiger und jemandem aus der Staatsanwaltschaft ausreicht, um dem Beklagten das Recht einzuräumen, seinen Fall hinsichtlich eines erneuten Prozesses prüfen zu lassen. Was, wenn der Staatsanwalt und die Verteidigerin drei Monate vorher ein Date gehabt hatten? Oder wenn sie gemeinsam studiert hätten? Was, wenn sie in dieselbe Kirche gingen? Oder zusammen Tennis spielten? Oder …«

Richterin Colson unterbrach sie. »Aber darum geht es hier doch gar nicht. Es gibt keinen Zweifel, dass die Verteidigerin und jemand aus der Staatsanwaltschaft seit geraumer Zeit eine Affäre hatten.«

»Das sehe ich auch so, Euer Ehren. Aber ich finde, dass der Hauptverteidiger eine Benachteiligung seines Klienten nachweisen müsste, bevor dieser ein Recht auf eine erneute Verhandlung hätte.«

»Aber wie soll er wissen, ob sein Klient benachteiligt wurde, wenn es keine Verhandlung gibt, in der er Ms Benton, die Verteidigerin, unter Eid befragen kann?«

Paige fühlte sich in die Ecke gedrängt. »Wir müssen uns hier den gesamten Vorgang ansehen. In einem Fall wie diesem gibt es keinen Zweifel, dass der Beklagte gut vertreten wurde.«

»Aber woher wollen wir wissen, dass Mr Markells Anwältin sich nicht mit ihrem Liebhaber über den Fall unterhalten hat?«

»Es gibt keinerlei Indizien, dass sie es getan hat.«

»Aber es gibt Hinweise darauf, dass sie ihrem Klienten nichts von dieser Affäre erzählt hat. Warum hat sie ihn nicht einfach von der Beziehung unterrichtet?«

Das rote Licht leuchtete auf. »Ich sehe, meine Zeit ist um«, sagte Paige. »Darf ich die Frage noch beantworten?«

»Da wollen wir doch sehr drum bitten«, witzelte Richter Patel.

»Ich finde, es gehört nicht zu den Aufgaben von Gerichten, Hauptverteidiger im Nachhinein zu kritisieren wegen angeblicher Motive des früheren Anwalts. Was, wenn Mr Jackson dort hinten andere Klienten hat, die mehr bezahlen als Mr Markell – obwohl es wahrscheinlich keine gibt? Sollte das dem Beklagten erlauben, Mr Jacksons Einsatz hier zu hinterfragen und zu behaupten, dass er sich nicht genug angestrengt hat? Sicher nicht. Wir sollten uns die Protokolle anschauen und das Verhalten des Verteidigers während des Prozesses. Ms Benton hat dabei einen guten Job geleistet. Daher sollte das Urteil aufrechterhalten werden.«

Einige Minuten später erfuhr Paige, was der Grund des Kicherns in dem Gerichtssaal gewesen war. Während seines Gegenplädoyers stürzte Wyatt Jackson sich genüsslich auf ihren Fehler.

»Man sollte die Meinung Eurer Ehren im Fall Thornburg nicht so schnell beiseiteschieben«, sagte er, an Richterin Colson gewandt.

Paige fühlte, wie sie rot wurde. Sie überlegte hektisch. Sie hatte die Akte intensiv studiert und sie hätte bestimmt Colsons Namen erkannt, wenn diese bei Thornburg die Richterin gewesen wäre. Doch dann wurde ihr plötzlich ganz anders zumute. War da nicht eine Scheidung gewesen, bevor Colson zur Richterin beim Berufungsgericht ernannt wurde? Natürlich! Beim Lesen der Thornburg-Akte hatte Paige nicht an Richterin Colsons Namen in ihrer früheren Ehe gedacht. Sie hatte ja noch nicht einmal geahnt, dass sie an diesem Morgen eine der drei Richter sein würde. Jetzt begriff sie plötzlich, warum die Richter es so mit Thornburg gehabt hatten.

Der Rest von Wyatt Jacksons Plädoyer rauschte an Paige vorbei. Sie musste die ganze Zeit daran denken, wie wegwerfend sie die Thornburg-Entscheidung behandelt hatte. Sie wäre anders vorgegangen, hätte sie gewusst, dass Colson damals die Richterin gewesen war. Sie hätte sich weniger kritisch geäußert und nur die nackten Fakten genannt.

»Und so ersuchen wir dieses Gericht, wenigstens das Erstgericht anzuweisen, eine Beweisaufnahme vorzunehmen, um festzustellen, ob der Beklagte das Recht auf ein erneutes Verfahren hat«, schloss Jackson. Das rote Licht leuchtete. Diesmal dankte er den Richtern und setzte sich.

Als die Richter die Richterbank verlassen hatten, schüttelte Destiny Brown Paige die Hand und sagte ihr, dass sie ihren Job gut gemacht habe. Doch sie wussten beide, dass das eine Lüge war. Wyatt Jackson kam dazu und sagte Paige, dass sie es nicht einfach gehabt habe. Sie schüttelte seine Hand und gratulierte ihm. Dabei widerstand sie dem Drang, ihn zu fragen, wie er überhaupt noch in den Spiegel schauen konnte. Sie packte ihre Siebensachen und schnappte sich ihren Mantel, wild entschlossen, auf dem Weg nach draußen niemanden anzusehen.

Doch das erwies sich als unmöglich. Erst kam der Reporter von der Tidewater Times zu ihr, aber sie konnte ihn mit einem raschen »Kein Kommentar« abfertigen.

Und dann, als sie über die Schulter des Reporters schaute, sah sie ihn – den letzten Menschen, den sie an diesem Tag ihrer Demütigung sehen wollte. Er stand in der hintersten Reihe, in einem überweiten grauen Kapuzenpullover, die Hände in den Taschen. Er musste bei der gesamten Verhandlung dabei gewesen sein. Er war ein absoluter Fremdkörper hier, jemand, der in eine ganz andere Schublade von Paiges säuberlich geordnetem Leben gehörte.

Als sie zu ihm kam, trat ein breites Lächeln auf sein Gesicht.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie.

Patrick Quillen zuckte die Achseln. »Mir die besten Anwälte raussuchen, falls ich je ein Knöllchen kriege.«

Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie kämpfte bereits mit Frustrationstränen, aber jetzt stieg ein ganz neuer Schwall an Gefühlen in ihr hoch.

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____________ Kapitel 8

Sie hatten sich über ein Online-Dating-Portal kennengelernt. Ihr erstes Rendezvous beschrieb Paige später gegenüber einer Freundin als »halb peinlich, halb faszinierend«. Patrick war für Paiges Geschmack ein wenig zu sehr von der alten Schule. Er wirkte, als sei er einem alten Western entsprungen, in dem die Männer den Frauen noch die Türen aufhielten und sie allgemein beschützten. Er schien ein etwas simples Weltbild zu haben, dessen Motor die ungebremste Begeisterung für Gott und sein Vaterland war – ein scharfer Gegensatz zu Paiges zynischen Freunden aus der Juristenszene.

Das Faszinierendste an ihm war aber sein Lächeln. Er hatte tief liegende Augen, das Kinn und die Wangenknochen eines männlichen Models und kurzes schwarzes Haar. Selbst wenn sie nicht sein Profil gelesen hätte, hätte Paige auf Anhieb gewusst, dass er Soldat war. Aber wenn er sie so anlächelte, dann war er ganz Hollywood.

Das Zweite, das sie auf Anhieb an ihm mochte, war, dass Patrick – anders als die übrigen Männer, die sie über diesen Dating-Service kennengelernt hatte – sich keine besondere Mühe gab, Eindruck zu schinden. Es schien ihm wichtiger, mehr über Paige zu erfahren, als von sich selbst zu erzählen. Erst bei ihrem dritten Rendezvous erfuhr sie, dass er ein SEAL war.

»Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »So ticken wir halt.«

Am gleichen Abend erzählte Patrick ihr auch von seinen Eltern, die beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als er gerade einmal drei Jahre alt war. Er war bei seinen Großeltern aufgewachsen, die Milchbauern im Norden des Bundesstaates New York waren. Seine Großmutter war drei Monate vor Beginn seiner SEAL-Grundausbildung an Krebs gestorben.

»Sie war der tapferste Mensch, den ich je kannte«, sagte Patrick. »Es waren Höllenstrapazen mit Chemo, Haarausfall und Co, aber kein einziges Mal hat sie gejammert oder ist wütend auf Gott geworden. Wenn jemand sie fragte, wie es ihr ging, antwortete sie immer, dass sie von Gott gesegnet sei.«

»Das klingt ja unglaublich«, sagte Paige. »Schade, dass ich sie nicht kennenlernen konnte.«

»Ja, das ist echt schade«, antwortete Patrick.

Sie kannten sich jetzt seit über einem Monat – lange genug, dass Paige ihren Online-Dating-Account geschlossen hatte und echte Gefühle für Patrick empfand. Aber noch nicht lange genug, dass er sie in einem solchen Moment der Schwäche erleben sollte.

Sie fuhren im Aufzug ins Erdgeschoss hinunter. Er sagte ihr, wie sehr ihn ihr Plädoyer beeindruckt hatte.

»Danke, aber können wir über was anderes reden?«

Er fragte, ob er sie zum Mittagessen einladen könne. Sie lehnte höflich ab. Sie hatte zu viel am Hals, es warteten bereits die nächsten Fälle. In Wirklichkeit aber wollte sie allein mit sich und ihrem Frust sein.

Doch Patrick war hartnäckig, und der Zauber seines Lächelns setzte sich durch. Sie einigten sich auf einen Kompromiss. Er würde ihr am Hotdog-Stand vor dem Gerichtsgebäude einen Hotdog spendieren. Den könnte sie dann mit ins Büro nehmen und dort ihre Wunden lecken.

Er hielt ihre Aktentasche, während sie ihren Mantel anzog, und half ihr mit einem der Ärmel. »Danke«, sagte sie. Patrick hielt ihr die Tür auf und sie traten hinaus in den Januarwind. Es war ein heller Tag mit einigen dünnen Wolken und einer kräftigen Brise, die einem glatt durch die Kleider schnitt. Der arme Kerl, der den Hotdog-Stand betrieb, trug eine Daunenjacke und darunter ein Sweatshirt mit Kapuze. Patrick kaufte drei Hotdogs, dazu zwei Tüten Pommes und zwei Getränke. Er tat Senf auf seinen Hotdog.

»Willst du noch einen Keks?«, fragte er sie.

»Nein, danke.«

Sie gingen Seite an Seite zum Parkplatz. »Für 'ne Rechtsanwältin kostest du nicht viel an Restaurantspesen«, sagte Patrick.

»Woher wusstest du, dass heute diese Verhandlung war?«

»Du hattest vor ein paar Tagen davon gesprochen. Klang interessant. Wollte dich mal live in Aktion erleben.«

Paige musste unwillkürlich lächeln. Der Mann da neben ihr war ein Marine-SEAL. Unter Aktion verstand er bestimmt etwas anderes als ihre Anwaltskollegen.

»Nicht mein bester Tag heute«, sagte Paige.

»Also, ich fand dich super.«

Entweder wollte er ihr schmeicheln oder er hatte nichts mitbekommen. »Na ja«, sagte sie, »wenn man mal davon absieht, dass ich nicht wusste, dass Colson die Richterin war, die die Entscheidung zu dem Fall Thornburg verfasst hatte, wegen der sie mich gelöchert haben.«

»Also, ich finde, du hast dich gut geschlagen«, erwiderte Patrick. »Du hattest doch auf alles eine Antwort. Undenkbar, dass die diesen Fall noch mal neu aufrollen.«

Das war mit das, was sie an Patrick anzog. Wie sie war auch er ein Kämpfer für das Gute. Es war letztlich ganz simpel: Es gab die Guten und es gab die Bösen. Und Paige und Patrick setzten sich in ihren Jobs beide für das Gute ein – jeder auf seine Weise. Ihnen beiden ging es dabei nicht um Geld oder Ruhm. Es wäre undenkbar, dass sie einen Serienmörder verteidigte oder dass er für den IS kämpfte.

Es war schön, ihn an ihrer Seite zu haben. Sie fühlte sich schon ein bisschen besser. Lunch zusammen mit Patrick war definitiv besser, als alleine vor sich hinzubrüten.

»Vielleicht können wir die Hotdogs in deinem Auto essen«, schlug Paige vor. »Dann kannst du mir genauer erklären, wie toll ich war, und mich ein bisschen aufbauen.«

»Machen wir doch glatt.«

Es dauerte noch drei weitere Wochen und acht Treffen, bevor Patrick Paige das erste Mal küsste. Aber nach zwei Filmen, drei Dinnerverabredungen, einem Strandspaziergang und zwei 10-Kilometer-Läufen war es so weit. Er machte es am gleichen Abend, an dem er ihr eröffnete, dass er in gut einem Monat einen Einsatz hätte. »Im Wesentlichen 'ne Mittelmeerkreuzfahrt. Nicht weiter gefährlich.«

Es geschah, als er Paige nach ihrem neunten Date nach Hause brachte. Er kam mit ihr an die Tür zu der Tür ihrer Eigentumswohnung. Schon länger umarmten sie sich am Ende jedes Dates, aber Patrick hatte noch nie versucht, sie zu küssen. Andere von dem Dating-Portal hatten bereits beim allerersten Rendezvous wesentlich mehr versucht, vor allem, wenn sie ein paar Drinks intus hatten.

An diesem Abend also umarmte er sie wieder, aber dann trat er nicht zurück wie sonst, sondern schob behutsam eine Locke ihres Haares hinter ihr Ohr und ließ seinen Finger sanft über ihre Wange gleiten. Sie fixierte sein Gesicht, ihr Atem stockte.

Als er sich zu ihr hinunterbeugte, um sie zu küssen, schloss Paige erwartungsvoll die Augen. Dann nach erfolgreichem Abschluss seines kleinen romantischen Einsatzes strahlte er sie an, und Paige sah es wieder, sein unwiderstehliche Lächeln.

»Na, war das okay?«, fragte er.

Sie konnte kaum atmen. Um sie drehte sich noch alles. »Das war auch Zeit«, sagte sie. Dann beugte sie sich nach vorne und erwiderte seinen Kuss.

Als er gegangen war, trat sie in ihre Wohnung, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Sie merkte, wie ihre Knie weich wurden und sie langsam zu Boden rutschte.

Reiß dich zusammen, das ist doch nur so ein Gefühl, dachte sie. Aber es war ein Gefühl und ein Abend, die sie beide für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen würde.

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____________ Kapitel 9

Die richterliche Entscheidung zum Fall Markell vs. Virginia wurde am Dienstag, dem 13. März, bekannt gegeben und war genauso, wie Paige befürchtet hatte. Alle drei Richter fanden, dass Lori Benton sich in einem Interessenkonflikt befunden hatte, über den sie ihren Klienten hätte informieren müssen. Die Richter verwarfen die von Paige vertretene Deutung, dass es sich um ein harmloses Versehen handelte. »Angesichts der unbedingten Vordringlichkeit des Rechtes eines Beklagten auf kompetente, unvoreingenommene juristische Beratung im Sinne des Sechsten Artikels der amerikanischen Verfassung und angesichts der mangelhaften Handhabung dieses Falls durch die Verteidigung sind wir der Meinung, dass der Schuldspruch fehlerhaft ist und der Beklagte ein Recht auf ein neues Verfahren hat.«

Paige grübelte eine Stunde über die Entscheidung nach, dann rief sie Generalstaatsanwältin Destiny Brown an. »Sie haben getan, was Sie konnten«, sagte Destiny; aber es klang nicht überzeugend. »Doch es wird kein zweites Verfahren geben. Das Opfer ist nicht bereit, noch einmal so etwas über sich ergehen zu lassen, vor allem nicht mit Wyatt Jackson als Anwalt der Verteidigung.«

Der Anruf und vor allem die Entscheidung riefen bei Paige ein Gefühl der Übelkeit hervor. Das Büro der Staatsanwaltschaft war in Richmond, zwei Stunden von ihrem Wohnort entfernt. Daher erlaubte man ihr, von zu Hause aus zu arbeiten. Normalerweise mochte Paige diese Lösung. Sie konnte sich leger anziehen, mitten am Tag joggen gehen und war frei von allen Büroklüngeleien. Aber an einem Tag wie diesem hätte sie gern ein paar Kollegen um sich gehabt. Stattdessen saß sie mit ihrem Frust allein zu Hause.

Am Abend hatte sie eine Verabredung mit Patrick – Dinner im Haus eines seiner Kumpels. Patrick redete oft über Beef Anderson und dessen Familie – und heute also würde er Paige zu ihnen mitnehmen. Normalerweise wäre Paige Feuer und Flamme gewesen, aber nach der Lektüre der Gerichtsentscheidung fiel es ihr schwer, mit einem fröhlichen Lächeln auf dem Gesicht zu Beef, seiner Frau Kristen und den beiden kleinen Jungen mitzukommen. Aber andererseits waren es nur noch wenige Tage bis zu Patricks Einsatz. Wenn sie heute nicht mitging, würde sie sich später eventuell Vorwürfe machen.

Am Nachmittag schickte sie Patrick eine SMS, dass sie sich nicht gut fühle.

Er antwortete sofort. »Sollen wir einfach chillen und das Dinner sausen lassen?«

Sie starrte lange auf die SMS. Ein Abend alleine mit Patrick – der Gedanke war verführerisch. Aber sie wusste: Es bedeutete ihm viel, dass sie seine Freunde kennenlernte. Sie hatte gehört, dass die SEALs wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Also textete sie zurück: »Nein, ich komme mit.«

Am Abend um halb acht war Paige froh, dass sie mitgekommen war. Die Andersons wohnten, von Nachbarn umgeben, in irgendeiner Sackgasse in Virginia Beach. Ihre beiden Jungen, der vier Jahre alte Justin und der ein Jahr jüngere Caleb, hatten das kleine Haus komplett in Beschlag genommen. Überall sah man Spielzeug, Schuhe und Plastikgewehre. Die Wände und Regale waren voll mit Bildern. Einen großen Schäferhund namens Tiny hatten die Andersons auch. Er war entgegen seinem Namen gar nicht winzig und leckte an allem und jedem.

»Das ist der Grund, warum Patrick dich mitgebracht hat«, erklärte Kristen Anderson Paige. »Er will sehen, ob Tiny dich mag.«

Paige mochte Kristen vom ersten Augenblick an. Sie war etwas kleiner und hausbackener, als Paige erwartet hatte. Die gängige Vorstellung war, dass die Ehefrauen von SEALs alle bildhübsch und athletisch waren. Kristen entsprach diesem Klischee nicht. Sie war schlicht, unkompliziert und bodenständig und hieß Paige herzlich willkommen. Sie trug ein tailliertes T-Shirt und trotz des kühlen Wetters Bermudashorts und Sandalen. Sie konnte nicht kochen, was Paige gefiel. Beef und Patrick verbrachten die ersten zwanzig Minuten am Grill.

»Auf wie vielen Einsätzen war dein Mann schon?«, fragte Paige, während sie zusammen mit Kristen an der Küchentheke stand und einen Salat richtete.

»Ich schätze, so zehn bis fünfzehn«, antwortete Kristen. Sie warf Tiny, der brav an ihrer Seite saß, eine Gurkenscheibe zu. »Einige waren nur kurz.«

»Und was ist das Schwierigste bei so was?«

»Der dritte Tag, wenn er wieder da ist. Die ersten beiden Tage und Nächte sind wahnsinnig gut.« Kristen lächelte versonnen. »Aber dann fängt Troy an, den Tagesablauf, der sich eingespielt hatte, während er weg war, durcheinanderzubringen. Er will wieder der Boss sein, als wenn nichts geschehen wäre, und ich denke unwillkürlich: ›Also, ohne dich ging es eigentlich ganz gut.‹ Dazu kommt noch, dass er die ersten paar Tage den Jungen alles durchgehen lässt. Tja, und am dritten Tag müssen wir uns halt neu zusammenraufen. Wenn das geschafft ist, läuft's wieder.«

Ein paar Sekunden später musste Kristen einen Streit zwischen den Jungen schlichten und Paige machte alleine beim Salat weiter. Sie versuchte, sich in Kristens Rolle hineinzuversetzen. War es möglich, mit einem SEAL verheiratet zu sein und trotzdem ein normales Familien- und Berufsleben zu haben? Die herzliche, so erfrischend normale Atmosphäre in diesem Haus, bis hin zu den zwei kleinen Jungen, die um Paiges Aufmerksamkeit wetteiferten, sie hatte etwas Gesundes, Tröstliches.

Man setzte sich zum Abendessen. Die Jungen stellten pausenlos Fragen. Justins Haarschopf war blond und zerzaust, als ob Kristen ihn geschnitten hatte, während der Junge die ganze Zeit zappelte. Er hatte große, blaue Augen und ein halb charmantes, halb spitzbübisches Lächeln. Sein kleiner Bruder Caleb war fast genauso groß, aber rundlicher. Er war auch sensibler als Justin, sah seiner Mutter ähnlicher und hatte bis zum Beginn des Abendessens Paige schon dreimal umarmt.

Ein Großteil der Unterhaltung drehte sich um Beefs Abenteuer, die Kristen so umschrieb, dass kleine Ohren nicht auf falsche Gedanken kamen. Es waren etliche Wirtshausschlägereien dabei sowie einige Streiche, die aus dem Ruder gelaufen waren. Patrick grinste verlegen, als Kristen ein paar von seinen eigenen Faxen zum Besten gab.

Doch der eigentliche Spaß kam erst nach dem Essen. Er kam auf das Bitten und Betteln des vierjährigen Justin, obwohl Patrick und Beef zuerst höflich ablehnten. Doch Justin ließ nicht locker. »Bitte, Papa! Bitte, Onkel Q!«