Die Prophezeiung der Schwestern -  Magie und Schicksal - Michelle Zink - E-Book

Die Prophezeiung der Schwestern - Magie und Schicksal E-Book

Michelle Zink

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Beschreibung

Leidenschaftlich, schicksalhaft, voll erzählerischer Kraft und unsagbar spannend

Die Stunde der Entscheidung rückt näher und Lia weiß: Nicht mehr lange, dann wird der Dämon Samael durch sie den Weg in die Menschenwelt finden. Denn selbst wenn ihre neue große Liebe Dimitri Tag und Nacht über sie wacht – auf Dauer ist Lia Samaels Macht nicht gewachsen. Als ihre Schwester und Gegenspielerin Alice in London auftaucht, schöpft Lia neue Hoffnung, denn um das Tor zur Anderwelt für immer zu schließen, braucht sie die Hilfe der Schwester. Doch Alice ist nicht gekommen, um Lia zu unterstützen, sondern um ihre Hochzeit mit Lias Ex-Verlobtem James vorzubereiten. In ihrer Verzweiflung beschließt Lia, das gefährliche Ritual ohne ihre Schwester durchzuführen – selbst wenn es sie das Leben kosten sollte …

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Seitenzahl: 456

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Inhaltsverzeichnis

WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41DanksagungÜber den AutorCopyright

Für meinen Vater,Michael St. James:Danke für all dieherrliche Dunkelheit.

1

Mit den schweren Kleidern auf dem Arm verlasse ich mein Zimmer. Es gibt keine Fenster, durch die Licht hätte fallen können, und so gehe ich vorsichtig durch den Korridor, dessen mit kostbaren Tapeten verkleidete Wände nur spärlich vom flackernden Licht der Gaslampen erhellt werden. Milthorpe Manor befindet sich seit Generationen im Besitz meiner Familie, aber es ist mir trotzdem lange nicht so vertraut wie Birchwood, das Landgut in New York, wo ich geboren wurde und aufwuchs.

Aber immerhin leben in diesem Haus nicht die Geister der Vergangenheit. Hier erinnert mich nichts an meinen jüngeren Bruder Henry, der mir so grausam genommen wurde. Ich muss keine Angst haben, meine Zwillingsschwester im dunklen Zimmer vorzufinden, dem ehemaligen Gemach meiner verstorbenen Mutter, wo sie flüsternd entsetzliche, verbotene Dinge beschwört. Ich muss nicht fürchten, sie zu jeder Stunde durch das Haus schleichen zu sehen.

Jedenfalls nicht in Fleisch und Blut.

Es war Tante Virginias Idee, dass ich mir bei Sonia und Luisa Rat hole, welches Kleid ich zum Maskenball heute Abend tragen soll. Meine Tante versucht zu helfen, aber sie kann nichts daran ändern, dass unsere Freundschaft eine Veränderung erfahren hat, die mich nur noch selten die Gesellschaft der beiden Mädchen suchen lässt. Eigentlich geht es nur um Sonia. Es ist schon Wochen her, seit sie und Luisa aus Altus nach London kamen, aber die Spannung, die sich gleich am Anfang zwischen uns breitmachte, ist nicht gewichen. Im Gegenteil: Mit jedem Tag, der vergeht, scheint sie anzuwachsen. Ich habe versucht, Sonia den Verrat, den sie auf unserer Reise nach Altus an mir beging, zu verzeihen. Ich versuche es immer noch. Aber jedes Mal, wenn ich in ihre eisblauen Augen schaue, muss ich daran denken.

Ich denke daran, wie ich ihr liebes Gesicht über mir sah, wie ihre warmen Hände mir das verhasste Medaillon auf die weiche Haut an der Unterseite meines Handgelenks drückten. Monatelang tauschten wir jede Vertraulichkeit aus, und dann versuchte mir die Freundin, die ich mehr liebte als jede andere, fiebrig die Worte der Seelen einzuflüstern, die mich als Tor benutzen wollen, um Samael in unsere Welt zu bringen.

Ich muss an all das denken und merke, wie sich mein Herz noch ein wenig mehr verhärtet.

Der Maskenball ist eine der beliebtesten Veranstaltungen der Gesellschaft. Sonia, Luisa und ich freuen uns seit Wochen auf dieses Ereignis, aber während meine beiden Gefährtinnen keine Mühe hatten, ihre Kostüme zu erwählen, blieb ich unentschlossen.

Meine Maske bereitete mir keine Schwierigkeiten. Vor Längerem schon habe ich sie entworfen. Ich wusste sofort, wie sie aussehen sollte, obwohl ich noch nie an einem Maskenball teilgenommen hatte und in Modeangelegenheiten nicht besonders kreativ bin. Aber sie stand mir so deutlich vor Augen, als hätte ich sie in einem Schaufenster gesehen. Ich habe sie einer Näherin beschrieben, die sie auf ein Stück Papier aufzeichnete. Sie sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Weil ich mich nicht für ein Kostüm entscheiden konnte, war es nicht möglich, mir eins nähen zu lassen. Stattdessen muss ich mich nun mit einem Kleid begnügen, das bereits in meinem Schrank hängt. Wie Tante Virginia vorgeschlagen hat, will ich Sonia und Luisa um Hilfe bei meiner Entscheidung bitten, aber was früher eine Angelegenheit innigster Freundschaft gewesen wäre, die ich aus tiefstem Herzen genossen hätte, ist nun eine Last, vor der mir graut. Denn ich muss dabei in Sonias Augen schauen.

Und ich muss dabei lügen. Und lügen. Und lügen.

Vor Luisas Tür angekommen, hebe ich die Hand, um zu klopfen, halte aber inne. Ich höre laute Stimmen von drinnen. Eine davon gehört Sonia. Als sie meinen Namen ausspricht, klingt sie entmutigt. Ich beuge mich vor und lausche unverfroren.

»Mehr kann ich nicht tun. Ich habe mich immer und immer wieder entschuldigt. Ich habe mich klaglos den Ritualen der Schwesternschaft von Altus unterworfen. Lia will mir nicht vergeben, egal, was ich anstelle. Ich fange an zu glauben, dass sie mir niemals vergeben wird«, sagt Sonia.

Dem Rascheln von Röcken folgt das Zuschlagen einer Schranktür. Dann höre ich Luisas Antwort: »Unsinn. Vielleicht solltest du ein bisschen Zeit mit ihr verbringen. Hast du sie gefragt, ob sie mit dir in Whitney Grove ausreiten möchte?«

»Mehr als einmal, aber sie findet immer eine Ausrede. Wir waren seit unserer Rückkehr aus Altus nicht mehr dort. Seit … seitdem …«

Ich bin mir nicht sicher, ob Sonia wütend oder nur traurig ist, und einen Augenblick lang empfinde ich Schuldgefühle, wenn ich daran denke, wie oft sie mich gebeten hat, mit ihr nach Whitney Grove zu fahren. Ich habe sie abgewiesen und bin allein dort gewesen, um das Bogenschießen zu üben.

»Du musst ihr einfach noch mehr Zeit geben, das ist alles.« Luisas Stimme klingt sachlich. »Sie trägt die Last des Medaillons – zusätzlich zu der Sorge um die Entschlüsselung der letzten Seite der Prophezeiung.«

Ich schaue auf mein Handgelenk, das unter den Bahnen aus Seide und Spitze hervorlugt. Von dem schwarzen Samtband ist unter meinem Ärmelsaum nur ein schmaler Streifen zu sehen. Es ist Sonias Schuld, dass ich die Bürde des Medaillons allein ertragen muss. Ihre Schuld, dass ich Angst haben muss, es würde seinen Weg zu dem Zeichen der Jormungand finden, der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, und dem Buchstaben C in der Mitte – zu dem Zeichen, das sich auf meinem anderen Handgelenk befindet.

Egal, wie viele Entschuldigungen Luisa für Sonia auch finden mag, dies ist und bleibt die Wahrheit.

Meine Unfähigkeit zu vergeben geht mit einer schmerzvollen Mischung aus Abneigung und Verzweiflung einher.

»Ich bin es langsam leid, an ihr gutes Herz zu appellieren. Wir sind Teil der Prophezeiung. Wir alle. Sie ist nicht die Einzige, die ihre Last tragen muss.« Die Empörung in Sonias Stimme facht meinen Zorn erneut an. Als ob sie das Recht hätte, mich zu tadeln! Als ob Vergebung so leicht zu erlangen sei!

Luisa seufzt so laut, dass ich es draußen auf dem Gang höre. »Versuchen wir einfach, uns heute Abend zu amüsieren, ja? Helene wird übermorgen ankommen. Dies ist die letzte Gelegenheit, einen Abend zu dritt zu verbringen.«

»An mir soll’s nicht liegen«, murmelt Sonia. Blut schießt mir in die Wangen und ich versuche, meinen Zorn etwas zu besänftigen, ehe ich an die Holztür klopfe.

»Ich bin es«, rufe ich mit einem kaum merklichen Zittern in der Stimme.

Luisa öffnet mir die Tür. Ihre dunklen Haare glänzen im Lampenlicht und im Schein des Feuers im Kamin wie dunkler Burgunderwein.

»Da bist du ja!« Ihre Fröhlichkeit klingt gezwungen, und ich weiß, dass sie sich bemüht, das eben geführte Gespräch zu verdrängen. Einen Moment lang glaube ich fast, in ihr eine Komplizin für Sonias Verrat zu sehen. Dann erinnere ich mich an Luisas Treue und gemahne mich daran, wie schmerzvoll es für sie sein muss, zwischen Sonia und mir zu stehen. Meine üble Laune verfliegt, und plötzlich merke ich, dass es mir gar nicht so schwerfällt zu lächeln.

»In der Tat, da bin ich. Und ich habe zwei Kleider mitgebracht, die ihr euch anschauen sollt.«

Luisa betrachtet die Gewänder in meinen Armen. »Ich sehe schon, warum du dich nicht entscheiden kannst. Sie sind beide wunderschön! Komm rein.« Sie tritt beiseite und lässt mich ein.

Sonias Blick fängt meinen ein, als Luisa die Tür hinter mir schließt. »Guten Morgen, Lia.«

»Guten Morgen.« Ich versuche, das Lächeln, das ich ihr über das reich mit Schnitzereien verzierte Himmelbett hinweg zuwerfe, in meinem Herzen zu fühlen. Die Zurückhaltung, die meine einstmals engste Freundin an den Tag legt, passt nicht zu ihr. Früher redeten wir über Gott und die Welt, früher, als es nur Sonia und mich gab, während Luisa mit Tante Virginia und Edmund, unserem Kutscher, in New York zurückblieb. Wenn ich an die vielen Tage denke, an denen Sonia und ich in Whitney Grove ausritten, über unsere Zukunft sprachen oder über die zugeknöpften Dämchen der englischen Gesellschaft lachten, dann versuche ich, mich an meine Liebe für sie zu erinnern. »Ihr müsst mir helfen, mein Kleid auszusuchen.«

Sie geht zum Bett, auf dem ich die beiden Kleider ausbreite. »Sie sind herrlich.«

Ich trete zurück und betrachte die beiden Kleider mit kritischem Blick. Eins ist blutrot – eine gewagte Wahl für jede junge Dame – und das andere aus dunkelgrüner Seide, die gleiche Farbe wie meine Augen. Ich muss unwillkürlich an Dimitri denken, wenn ich diese beiden Kleider anschaue und mir vorstelle, wie ich in ihnen aussehe.

Als ob sie Gedanken lesen könnte, sagt Luisa: »Dimitri wird dich mit den Augen verschlingen, Lia, egal, für welches der beiden Kleider du dich entscheidest.«

Meine Laune wird merklich besser, wenn ich an Dimitris Augen denke, die vor Verlangen dunkel werden. »Na ja, genau das ist ja der Sinn der Sache.«

Sonia beugt sich vor und befühlt den Stoff, und in der nächsten halben Stunde reden wir nur über Kleider und Masken, bis ich mich schließlich für das rote Seidenkleid entscheide. In dieser halben Stunde tun wir so, als ob alles wäre wie früher und keine Bedrohung, keine Prophezeiung und kein Samael zwischen uns stünde. Wir tun so, weil es nichts nützen würde, wenn wir das aussprechen würden, was wir alle wissen: dass nichts je wieder so sein wird wie früher.

Ich sitze, nur mit einem Unterkleid und Strümpfen bekleidet, vor meinem Schminktisch und mache mich für den Ball fertig.

Die Tatsache, dass ich mich seit meiner Rückkehr aus Altus weigere, ein Korsett zu tragen, und mir auch nicht mehr von den Dienstmädchen beim Ankleiden helfen lasse, hat für einen kleinen Skandal unter den Bediensteten gesorgt. Ich hatte gar nicht die Absicht, den Fallstricken der Mode zu entsagen. Eine Zeit lang ließ ich mich von einem Dienstmädchen zu formellen Anlässen ankleiden, wie es sich für eine junge Dame der Gesellschaft ziemt. Ich stand still – und innerlich widerstrebend –, während sie mich in ein Korsett einschnürte und meine Füße in zierliche Schuhe zwängte, die mich sosehr drückten, dass ich sie beinahe quer durch das Zimmer geschleudert hätte.

Es hatte keinen Sinn.

Ich musste immerzu an die Seide von Altus denken, wie sie auf meiner nackten Haut flüsterte, und an die herrliche Freiheit von nackten Füßen oder flachen Sandalen.

Schließlich, nach einer besonders langen Nacht im Kreis der Druiden und Parapsychologen der Gesellschaft, kam ich nach Hause und verkündete, dass ich mich von diesem Tag an allein ankleiden würde. Die Proteste, die mir entgegenschlugen, waren nur halbherzig. Jedem war die Veränderung in mir aufgefallen. Nichts, was ich tat, konnte die Bediensteten noch überraschen; alle schienen sich damit abgefunden zu haben, einer exzentrischen Herrin zu dienen.

Ich nehme die Puderdose zur Hand und blicke in den Spiegel, während ich die feinen Partikel auf meiner Stirn, meinen Wangen und meinem Kinn verteile. In der jungen Frau, die mich aus dem Spiegel anblickt, kann ich kaum mehr das Mädchen erkennen, das vor etlichen Monaten nach London kam. Das Mädchen, das ihr Zuhause zurückließ, ihre Schwester, den Mann, den sie liebte.

Und doch ist mir diese neue Person vertrauter als mein altes Ich. Die smaragdgrünen Augen funkeln wie einstmals die meiner Mutter, die kantigen Wangenknochen sind eine ständige Erinnerung an die Entbehrungen, die ich für die Prophezeiung auf mich genommen habe.

Kein Wunder, dass das Mädchen mit dem rundlichen Gesicht, das ich früher war, nur noch eine Erinnerung ist.

Der dumpfe Glanz von Tante Abigails Schlangenstein im Spiegel zieht meinen Blick auf sich. Ich greife danach und umfasse ihn mit meinen Fingern, frage mich, ob ich mir seine Wärme bloß einbilde.

Es ist mir zur Gewohnheit geworden, täglich die Temperatur des mächtigen Steins zu überprüfen, den ich von meiner Großtante Abigail bekommen habe, denn obwohl meine eigene Macht ständig wächst, habe ich kaum mehr als diesen Stein zu meinem Schutz vor den Seelen. Tante Abigail hat ihr Leben für meinen Schutz hergegeben und den Stein mit der ganzen Kraft, die ihr als Herrin von Altus noch zur Verfügung stand, aufgeladen. Wenn der Stein erkaltet, wenn seine Wärme Vergangenheit ist, wird auch sein Schutz vergehen.

Und er wird jeden Tag kälter.

Ich wende mich vom Spiegel ab. Es hat keinen Sinn, über Dinge nachzudenken, die ich nicht ändern kann. Stattdessen gehe ich in meinem Zimmer auf und ab und grübele über das Rätsel der letzten Seite der Prophezeiung nach. Das Blatt Papier, das ich in der heiligen Höhle in Chartres fand, habe ich vernichtet, habe es verbrannt, damit es nicht in die Hände von Samael oder der Seelen fallen kann. Trotzdem sind die Worte, die auf diesem Papier standen, in mein Gedächtnis gebrannt. Sie sind mir eine ständige Mahnung daran, dass immer noch eine Zukunft möglich ist, in der die Prophezeiung nicht mehr mein ganzes Sein bestimmt.

Fast unbewusst rezitiere ich die Zeilen in Gedanken, während ich gleichzeitig über ihre Bedeutung rätsele.

Aber aus Chaos und Wahnsinn wird sich Eine erheben,Wird den uralten Zirkel führen und den Stein befreien,verborgen in der Heiligkeit der Schwesternschaft,sicher verwahrt vor den Augen des Untiers.Eine wird kommen und erlösen,wen die Prophezeiung bindetseit Anbeginn der Zeiten, bis zum drohendenVerhängnis.Der Heilige Stein, befreit aus dem TempelSliabh na Cailli’,Portal zu den Anderswelten.Schwestern des Chaos,kehrt zurück in den Bauch der Schlange,am Ende von Nos Galon-Mai.Dort, im Kreis des Feuers,erleuchtet von dem Stein,versammelt vier Schlüssel, mit dem Zeichen desDrachen,Engel des Chaos, Mal und Medaillon.Samael, das Untier, werde gebannt,einzig durch die Schwesternschaft, am Tor desWächters,mit dem Ritus der Gefallenen.Öffnet Eure Arme, Herrin des ChaosUnd bringt der Welt die Ewige VerwüstungOder schließt sie undVerbannt seine Gier immerdar.

Einige Bedeutungen haben wir entschlüsseln können. Etwa, dass ich die Auserwählte bin, die den Stein finden muss, der von der Schwesternschaft – von meinen Vorfahren – versteckt wurde. Wenn ich diejenigen befreie, die durch die Prophezeiung gebunden sind, befreie ich sowohl mich selbst als auch die Schlüssel – Sonia, Luisa und Helene. Und mit ihnen zukünftige Generationen von Schwestern und die gesamte Menschheit, die ansonsten dem dunklen Chaos anheimfallen würde, das Samael mit sich bringen würde.

Alice, meine Schwester, unternimmt jede Anstrengung, um dies zu verhindern.

Aber es ist das Versteck des Steins, das Dimitri und mir das größte Rätsel aufgibt. Und ich brauche den Stein, um das Ritual in Avebury zu vollziehen. Wir vermuten, dass »verborgen in der Heiligkeit der Schwesternschaft« auf ein Versteck an einem Ort hinweist, der von besonderer spiritueller Bedeutung ist. Vielleicht irren wir uns auch, aber schließlich war auch die letzte Seite der Prophezeiung in einer Krypta versteckt, in der sich in früheren Zeiten ein Heiligtum der Schwesternschaft befand. Also liegt die Vermutung nahe, dass es sich mit dem Stein ebenso verhalten könnte.

Die Uhr auf dem Kamin schlägt siebenmal, und ich trete zum Schrank, hole das scharlachrote Seidenkleid heraus, während meine Gedanken immer noch bei den Orten verweilen, die wir bereits ausschließen konnten. Neun sind noch übrig. Ich ziehe mir das Kleid über den Kopf, wobei ich mir Mühe gebe, meine Frisur nicht in Unordnung zu bringen, und kämpfe die Verzweiflung nieder angesichts der Gewissheit, dass wir nicht einmal die Orte, an denen wir bereits gesucht haben, vollständig von der Liste streichen können. Es muss ein Ort sein, der unseren Vorfahren wichtig war, einer, der in enger Verbindung zur Geschichte unseres Volkes oder zur Prophezeiung steht. Aber wir können unsere Vermutungen nur auf unser eigenes Wissen gründen. Jede Information, die im Laufe der Jahrhunderte möglicherweise verloren ging, könnte alles verändern.

Und dann gibt es noch etwas anderes, was uns die Entschlüsselung der letzten Seite bislang unmöglich machte.

Kehrt zurück in den Bauch der Schlange,am Ende von Nos Galon-Mai.

Der »Bauch der Schlange« befindet sich zweifellos in Avebury, aber was die Zeitangabe betrifft, den Moment, in dem wir das Tor schließen müssen – das »Ende von Nos Galon-Mai« –, sind wir noch keinen Schritt weitergekommen. Ich hatte gehofft, in den vielen wissenschaftlichen Büchern meines Vaters einen Hinweis zu finden, aber wir haben jedes einzelne Werk im Haus durchgesehen und noch dazu etliche Buchläden auf den Kopf gestellt. Vergeblich.

Es klopft an meiner Tür und ich zucke zusammen.

»Ja?«, rufe ich, während ich nach meinen Schuhen Ausschau halte. Sie wurden extra für mich angefertigt und sind sowohl bequem als auch einigermaßen modisch geschnitten.

»Edmund wartet mit der Kutsche«, verkündet Tante Virginia durch die Tür. »Brauchst du Hilfe beim Ankleiden? «

»Nein. Ich komme gleich.«

Erleichtert merke ich, dass sie nicht darauf besteht, mir zu helfen. Inmitten einer Wolke aus raschelnder Seide sinke ich vor dem Bett auf die Knie und entdecke die Schuhe in der hintersten Ecke. Nach einem kurzen Moment, in dem ich mich nach der Nacktheit meiner Füße sehne, schlüpfe ich hinein.

Es könnte schlimmer sein. Und es gibt nun einmal Dinge, die selbst ich nicht ändern kann.

2

Auf dem Weg zum Maskenball sehe ich sie. Oder glaube es zumindest.

Die Kutsche rollt durch die Straßen von London. Sonia und Luisa sitzen mir gegenüber, die Masken in der Hand, so wie ich. Unsere ausladenden Seidenröcke füllen fast die gesamte Kabine aus. Sonias tiefblaues Gewand reibt knisternd gegen das pflaumenfarbene von Luisa. Ich schaue an mir herab und betrachte die blutrote Seide. Ich bin froh, dass ich mich für dieses Kleid entschieden habe. Noch vor einem Jahr hätte ich das grüne Kleid gewählt. Ich rede mir ein, dass nur das rote Kleid der Maske, die ich habe anfertigen lassen, gerecht wird, aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Das Rot der Seide ist ein Spiegel des Bewusstseins meiner eigenen Macht, das mir eigen ist, seit ich in Chatres die gefährlichsten Mitstreiter Samaels in die Schranken gewiesen habe: seine Leibwache.

Gleichzeitig tadele ich mich, weil ich mich in der Gewissheit einer Macht sonne, von der ich nicht weiß, ob sie ausreicht, um mir eine Zukunft zu sichern.

Mit diesem Gedanken schaue ich zwischen den Vorhängen an dem Fenster hindurch nach draußen auf die geschäftige Straße. Dunkelheit senkt sich über die Stadt, sickert aus den Ritzen und Winkeln hinaus auf die Gassen und Alleen. Die Menschen fühlen wohl ihr Näherkommen, denn sie hasten durch die Straßen und beeilen sich, in die Häuser zu kommen. Es ist, als spürten sie die Gefahr im Nacken. Als ob sie wüssten, dass das Ende naht.

Ich schüttele diese düsteren Gedanken ab, als ich eine junge Frau unter einer Straßenlaterne an einer belebten Straßenecke sehe. Ihre Frisur ist kunstvoll, selbst nach den Maßstäben meiner Schwester, und ihr Gesicht ist schmaler, als ich es von Alice in Erinnerung habe. Allerdings habe ich sie ziemlich lange nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen, und jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel schaue, bin ich mir meiner eigenen Veränderung bewusst.

Ich beuge mich vor. Eine Hitze rast durch meine Adern, und ich hoffe, einen besseren Blick auf die Frau erhaschen zu können. Ich will schon ihren Namen rufen, als sie sich in Richtung der Kutsche wendet. Sie schaut nicht zu mir her, aber ich kann sie gut genug erkennen, um zu sehen, dass es nicht Alice ist.

Sie geht die Straße entlang und verschwindet in dem Rauch, der den Straßenlaternen entströmt und vom Wind durch die Stadt getrieben wird. Ich lehne mich wieder in meinem Sitz zurück und bin mir nicht sicher, ob das, was mein Herz zusammenpresst, Erleichterung oder Enttäuschung ist.

»Lia? Alles in Ordnung?«, fragt Luisa.

Ich bemühe mich um eine gelassene Stimme, wohl wissend, dass mein Puls rast. »Aber gewiss.«

Sie nickt und ich zwinge mich zu einem Lächeln. Dann schließe ich die Augen und atme tief durch.

Es war nur meine Einbildung, sage ich mir. Ich werde schon zu lange von Alice und den Seelen heimgesucht. Ich sehe sie bereits an jeder Straßenecke.

Plötzlich wünschte ich mir, Dimitri säße neben mir, und ich könnte seine muskulösen Schenkel neben mir spüren und seine Hand, die in den Falten meines Kleids mit meinen Fingern spielt. Aber noch während ich mir das wünsche, zwinge ich mich zur Mäßigung. Es ist unklug, sich so gänzlich auf andere zu verlassen.

Selbst wenn es um Dimitri geht.

Als Edmund die Kutsche vor der St. John’s Kirche anhält, registriere ich – wieder einmal – mit Erstaunen, wie normal alle aussehen. Natürlich sind die Mitglieder der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht tatsächlich normal, aber dennoch habe ich noch nie so viele von uns auf einmal gesehen. Ich erwarte fast, ein Glühen oder ein Summen wahrzunehmen, irgendetwas, das der großen Anzahl jener mit übernatürlichen Kräften Rechnung trägt.

Aber nein. Alles wirkt wie eine Zusammenkunft von wohlhabenden und reich gekleideten Londoner Bürgern.

»Wie um alles in der Welt hat es Elspeth geschafft, eine Kirche zu mieten?« Sonias Stimme erklingt nah an meinem Ohr. Alle drei haben wir uns vorgebeugt und verrenken uns die Hälse, um die Damen und Herren, die aus den Kutschen steigen und die Stufen zum Portal hinaufgehen, besser sehen zu können.

»Ich habe keine Ahnung, wie Elspeth es immer wieder schafft, das Unmögliche möglich zu machen!«, lacht Luisa. Es ist das unbekümmerte, fröhliche Lachen, das mich in Gedanken zu den Anfängen unserer Freundschaft zurückführt.

»Ich muss zugeben, dass ich mir über die Räumlichkeiten, in denen der Ball abgehalten wird, keine Gedanken gemacht habe«, sage ich. »Aber jetzt bin ich doch neugierig. Die Königin wäre vermutlich nicht erfreut, wenn sie wüsste, dass sich ein solcher Haufen Heiden in einer Londoner Kirche versammelt!«

Sonia zischt mir ein »Pst!« zu, ehe sie kichert und sagt: »Byron hat mir erzählt, dass in St. John’s viele Konzerte und Bälle abgehalten werden.«

Ihre Worte strahlen eine derartige Gelassenheit aus, dass ich einen Moment brauche, um zu begreifen, was sie da gerade gesagt hat. Luisa ergeht es wohl ebenso, denn wir beide drehen uns nach einem Augenblick gemeinsam zu Sonia um.

»Byron!«

Sie errötet, und ich verspüre einen Anflug von Fassungslosigkeit, dass Sonia nach allem, was geschehen ist, noch immer bei der simplen Erwähnung eines Gentlemans rot wird.

»Ich sah ihn auf einer Veranstaltung der Gesellschaft, nachdem wir von Altus zurückgekehrt waren.« Ihr Blick huscht zu Luisa. »Er ist derjenige, der mir zuerst von dem Maskenball erzählt hat.«

Ein kalter Windstoß fegt in das Innere der Kutsche, als Edmund, der in seiner formellen Uniform sehr fesch aussieht, den Wagenschlag öffnet. »Meine Damen.«

Zitternd zieht sich Luisa ihren Umhang enger um die Schultern. »Gehen wir? Es scheint, als ob Dimitri nicht der einzige Herr ist, der unsere Ankunft sehnsüchtig erwartet.«

Es ist so leicht, sie mit einem Lächeln zu beschenken. Niemand außer Luisa wäre so großzügig, um Sonia und mir unsere Amouren zu gönnen, nachdem sie ihren eigenen Liebhaber auf Altus zurücklassen musste.

Der Gedanke an die Insel ist wie eine warme Brise in meinem Herzen. Wie Blitze zucken die Impressionen durch meinen Sinn: Der Duft der Orangen, die Brandung, die sich an den Felsen unterhalb des Heiligtums bricht, Seidengewänder auf nackter Haut.

Ich schüttele den Kopf und lenke meine Sinne auf die eine Person, die mir all das näherbringen kann, obwohl mich eine ganze Welt von Altus trennt.

Wir legen noch in der Kutsche unsere Masken an, ehe wir hinaus in die Kälte treten und eilig in Richtung des großen Saals hasten. Ich schiebe mich durch die Menge, die sich am Straßenrand versammelt hat, und habe mit einem Mal den Eindruck, mich in einer Art Kuriositätenkabinett zu befinden. Die kostümierten Gestalten ringsum kommen mir geschmacklos und grell vor, meine eigene Maske sitzt zu fest auf meinem Gesicht. Durch die Masken sind Gespräche kaum möglich, und ich bin erleichtert, als ein groß gewachsener, spindeldürrer Mann seine Verkleidung lüftet und sich als Byron zu erkennen gibt. Er verbeugt sich, nimmt Sonias Hand, und sie lächelt scheu, als er sie auf die Tanzfläche führt. Kurz darauf entschwindet Luisa mit einem blonden Herrn, der seine Augen nicht von ihr abwenden kann. Ich sehe, wie meine Freundinnen unter den bewundernden Blicken der Männer, die sie über die Tanzfläche wirbeln, erblühen, und kann es kaum fassen, dass wir uns vor gar nicht allzu langer Zeit als schüchterne Mädchen in New York kennenlernten.

Ich überlege gerade, ob ich mich auf den Weg machen soll, um mir eine Erfrischung zu holen, als ich einen Mann bemerke, der mitten in einer Menschenansammlung ein Stück weit entfernt steht. Ich weiß sofort, dass es Dimitri ist, obwohl wir einander nichts über unsere Masken verraten haben. Vielleicht sind es seine Schultern und seine ganze Haltung – als ob er jeden Augenblick angegriffen werden würde und sich (und mich) verteidigen müsste –, die mir die Gewissheit geben, dass er es ist.

Er dreht sich um und seine Augen fangen meinen Blick ein. Dann schreitet er durch die Menge auf mich zu, ohne seine Augen ein einziges Mal von mir abzuwenden.

Seine Maske ist herrlich, besetzt mit Onyx-Steinen inmitten von silbernem Flitter und tiefroten Federn.

Als ob er gewusst hätte, dass ich das blutrote Kleid wählen würde.

Als er bei mir angekommen ist, nimmt er meine Hand, aber er beugt sich nicht darüber, um sie zu küssen. Dimitri gibt nicht vor, die Regeln der Londoner Gesellschaft zu befolgen. Seine große Hand umfasst meine kleinere und er zieht mich an sich, bis ich die harten Muskeln seines Körpers spüre. Er schaut mir tief in die Augen und senkt dann seinen Mund auf meine Lippen. Sein Kuss ist leidenschaftlich und lang, und ohne nachzudenken hebe ich meine Hand und lege sie auf das dunkle Haar an seinem Nacken. Nur widerstrebend lösen wir uns voneinander. Einige der Gäste in unserer Nähe heben die Augenbrauen, ehe sie sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zuwenden.

Seine Stimme, die mir ins Ohr flüstert, ist nur für mich bestimmt: »Du siehst hinreißend aus.«

»Ich muss schon sehr bitten, Sir! Sie nehmen sich ja allerhand heraus!« Ich hebe das Kinn, schaue ihm in die Augen und klimpere mit den Wimpern, als wäre ich ein schüchternes Mädel vom Lande. Einen Moment später kann ich nicht mehr an mich halten; ich muss lachen. »Woher wusstest du, dass ich es bin?«

»Ich könnte dich dasselbe fragen.« Er grinst mich an. »Oder muss ich annehmen, dass du jedem Mann mit einer juwelenbesetzten Maske schöne Augen machst?«

»Niemals.« Meine Stimme wird ernst. »Ich habe nur Augen für dich.«

Dimitris Augen verdunkeln sich – ein Zeichen seines Verlangens, das ich in den vielen Stunden, die wir einander in den Armen liegend verbracht haben, kennenlernen durfte.

»Komm.« Er streckt die Hand aus. »Lass uns tanzen. Es wird zwar nicht so sein wie auf Altus, aber wenn wir die Augen schließen, können wir uns vorstellen, wir wären dort.«

Er zieht mich durch die Menge, wobei er allein durch seine Präsenz eine Gasse bahnt. Als wir uns der Tanzfläche nähern, sehe ich Sonia in Byrons Armen vorbeiwirbeln. Sie sieht glücklich aus, und in diesem Augenblick gönne ich ihr ihre Freude.

»Guten Abend, Miss Milthorpe. Ich hörte, Sie benötigen in einer sehr speziellen Angelegenheit die Hilfe eines Fachmanns.« Die Stimme, die direkt hinter mir erklingt, ist nicht laut, aber sie hat meine volle Aufmerksamkeit.

Ich zupfe Dimitri am Arm und bleibe stehen, wende mich zu dem Mann um, der inmitten der Tanzenden steht. Das weiße Haar und die Falten auf seinem Gesicht bezeugen sein hohes Alter. Seine Maske ist schwarz und grün und mit Pfauenfedern geschmückt, aber das mitternachtsblaue Gewand verrät ihn, denn er trägt es bei jeder Zusammenkunft der Gesellschaft.

»Arthur!« Ich lächele, als ich den bejahrten Druiden erblicke. »Wie haben Sie mich nur erkannt?«

»Ach, Miss Milthorpe. Meine Sinne sind zwar nicht mehr das, was sie einmal waren, aber ich bin dennoch ein Druide von Kopf bis Fuß. Selbst Ihre extravagante Maske kann nicht Ihr wahres Gesicht vor mir verbergen.«

»Sie sind wahrhaftig weise!« Ich wende mich zu Dimitri und gebe mir Mühe, mich ihm verständlich zu machen, ohne zu schreien. »Ich vermute, du kennst Mr Frobisher von der Gesellschaft?«

Dimitri nickt und streckt die Hand aus. »Wir sind uns bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet. Ich konnte mich, da ich mich in den Räumen der Gesellschaft einquartiert habe, von seiner Gastfreundschaft überzeugen. «

Arthur schüttelt Dimitris Hand und seine Augen glänzen bewundernd. Er beugt sich vor und sagt leise: »Es ist jedes Mal eine Ehre, ein Mitglied der Bruderschaft zu Gast zu haben.«

Nachdem die Freundlichkeiten ausgetauscht sind, erinnere ich mich wieder an Arthurs erste Worte. »Sie erwähnten einen Fachmann?«

Er nickt, zieht etwas aus seiner Tasche und hält es mir hin. »Es wird gemunkelt, dass Sie nach bestimmten Informationen suchen. Dies ist die Adresse von Bekannten, die Ihnen möglicherweise helfen können.«

Ich nehme das Stück Papier, das sich glatt in meiner Hand anfühlt.

»Arthur, wer hat Ihnen gesagt, dass wir auf Informationen aus sind?« Die Sorge beschattet Dimitris Augen. »Unsere Nachforschungen hätten eigentlich streng vertraulich bleiben sollen.«

Arthur nickt und legt dann beruhigend seine Hand auf Dimitris Schulter. »Keine Angst, Bruder. Nachrichten verbreiten sich nur langsam und äußerst diskret in unseren Kreisen.« Er richtet sich wieder auf und deutet auf das Blatt Papier in meiner Hand. »Sie sollten die beiden aufsuchen. Sie erwarten Sie.« Dann wendet er sich um und verschwindet ohne ein weiteres Wort in der Menge. Ich würde den Zettel zu gerne gleich auseinanderfalten, um nachzusehen, wer es ist, der möglicherweise die Antwort auf unsere Fragen hat, aber Name und Adresse werden in diesem Trubel, während ich von allen Seiten angerempelt werde, nur schwer zu lesen sein. Dimitri schaut zu, wie ich den Zettel noch zweimal falte und ihn dann in den Seidenbeutel stecke, der an meinem Handgelenk baumelt, und sorgfältig die Schnur zuziehe, die den Beutel verschließt.

Der Zettel stiehlt die Leichtherzigkeit, die ich eben noch empfand. Er ist eine Mahnung, dass immer noch viel Arbeit vor mir liegt. Dass kein Maskenball, kein Vergnügen, kein dunkeläugiger Mann mir die Last der Prophezeiung nehmen kann. Das ist etwas, das nur ich allein tun kann.

Als ob er meine Niedergeschlagenheit spüren würde, nimmt Dimitri meine Hand. »Dazu ist morgen noch Zeit.« Seine Augen halten meine fest. »Komm. Tanzen wir.«

Ich lasse mich von ihm in die Mitte des Saals führen, geradewegs zur Tanzfläche. Für Sorgen bleibt kein Raum mehr, als wir uns zwischen den bunten Seidengewändern im Kreis drehen. Mit Juwelen und Federn besetzte Masken huschen wie ein Reigen aus prächtigen Vögeln vorbei. Dimitris starke Hand liegt auf meiner Taille, und ich gebe mich ganz der Bewegung hin, lasse mich treiben und bin froh, dass jemand anderer die Führung übernommen hat, und sei es auch nur für einen Tanz.

Die Musik steigert sich zu einem Crescendo und wechselt dann die Melodie. Diesmal bin ich diejenige, die Dimitri mit sich zieht, weg von der Tanzfläche.

»Ich möchte gerne etwas trinken«, spreche ich ihm ins Ohr, um mir Gehör zu verschaffen.

Er nickt und grinst. »Habe ich dich durstig gemacht, Mylady?«

Ich hebe die Augenbrauen. »Das kann man so sagen.«

Er wirft den Kopf zurück und lacht. Ich höre den Hall über die Musik und die Gespräche im Saal hinwegfliegen.

Wir schieben uns zwischen den Gästen hindurch in Richtung der Erfrischungen, als ich ein Profil entdecke, das mir vertraut ist. Ein Wangenknochen, zart und kantig zugleich, unter grünen Augen, die mir durch den Raum hinweg zufunkeln. Wie konnte ich sie überhaupt erkennen – aus dieser Entfernung und wo doch ihr Gesicht fast vollständig hinter einer Maske aus Goldflitter und lilafarbenen Edelsteinen verborgen ist?

Aber ich bin mir meiner Sache sicher und schiebe mich auf sie zu, ohne ein Wort der Erklärung zu Dimitri.

»Lia? Wohin gehst …?« Ich höre seine Stimme hinter mir, aber meine Füße haben ein Eigenleben entwickelt und tragen mich ohne Umschweife zu der Frau, deren Haltung ich wohl überall erkennen würde.

Ich greife nach ihrem Arm. Mir kommt überhaupt nicht in den Sinn, dass ich mich irren könnte.

Sie scheint nicht im Mindesten überrascht zu sein. Sie blickt nicht einmal auf meine Hand, die ihren schmalen Oberarm umfasst hält. Nein. Sie wendet sich langsam zu mir um, als ob sie erwartet hätte, dass ich sie ausfindig machen würde.

Ich sehe mich in meiner Vermutung bestätigt, noch ehe sie sich ganz umgedreht hat. Ich erkenne die stolze Linie ihres Kinns. Das herausfordernde Blitzen in ihren Augen.

»Alice«, hauche ich. Kein Zweifel, sie ist es. Ich habe sie in den Anderswelten gesehen und in der wirklichen Welt. Ihr Geist hat mich in den vergangenen Monaten heimgesucht, während derer sie immer mächtiger wurde und schließlich gelernt hat, ungehindert zwischen den Welten zu wandern. Ich habe als Kind neben ihr geschlafen und nachts ihrem sanften Atem gelauscht. Trotz der Maske weiß ich genau, dass es Alice ist.

Ihr Lächeln ist träge und wissend. Meine Schwester hat schon immer die lässige Überlegenheit genossen, mehr zu wissen als andere. Und doch liegt in ihren Augen noch etwas anderes. Etwas Wachsames, Unergründliches.

»Guten Abend, Lia. Ich dachte schon, dass ich dich hier treffen würde.«

Ihre Augen bergen ein dunkles Geheimnis, und das ängstigt mich mehr als die Tatsache, dass ich es nun hier in London mit der wahrhaftigen Alice zu tun bekomme – nicht länger mit dem Geistwesen – und dass sie mächtiger ist als je zuvor.

Ich blinzle und versuche noch immer, den Schock, sie von Angesicht zu Angesicht vor mir zu sehen, zu überwinden. »Was machst du hier? Ich meine … Ich … Warum bist du hier?«

Es gibt so vieles, was ich sagen sollte. Ich sollte sie anschreien, Erklärungen verlangen. Aber der Maskenball und mein Schock arbeiten Hand in Hand und ermöglichen mir, höflich zu bleiben, obwohl mir ein unterdrückter Schrei die Kehle zusammenpresst.

»Ich will Einkäufe machen. Vorbereitungen treffen.« Sie sagt es, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre, aber ich habe das Gefühl, dass mich ein Wirbelwind in die Anderswelten getragen hat, an einen Ort, der genauso aussieht und genauso klingt wie meine eigene Welt, aber in Wahrheit eine verdrehte und verquere Version davon ist.

»Vorbereitungen? Wofür?« Ich komme mir vor wie ein Dorftrottel. Es ist offensichtlich, dass Alice mich an der Nase herumführt, und trotzdem kann ich sie nicht einfach stehen lassen. Sie hat mich fest im Griff, wie immer.

Selbst hier. Selbst jetzt noch.

Sie lächelt, und einen Moment lang glaube ich, dass sie keine Spielchen mit mir spielt. »Für meine Hochzeit, wofür sonst?«

Ich schlucke die düstere Vorahnung herunter, die in mir aufsteigt, während sie sich einem Herrn an ihrer Seite zuwendet. Ich hatte nur Augen für sie, sodass ich ihren maskierten Begleiter überhaupt nicht bemerkt habe.

Aber jetzt sehe ich ihn. Ich sehe ihn und fühle, wie mein Inneres hohl wird.

Er ist schon dabei, seine Maske abzulegen. Er tut es langsam, zögernd, sodass sein Gesicht Zentimeter für Zentimeter freigelegt wird, bis ich nicht länger hoffen kann, dass ich mich irre.

»Lia? Bist du es wirklich?« Der Schreck ist ihm vom Antlitz abzulesen, und seine Augen suchen in meinem Gesicht nach einer Antwort, die ich ihm schuldig bleiben muss.

»Du erinnerst dich doch noch an James Douglas, nicht wahr?« Alice nimmt seinen Arm, steckt mit einer eindeutigen Geste ihren Claim ab. »Wir werden im Frühling heiraten. «

In diesem Moment neigt sich der Saal zur Seite, und die Masken-Gesichter der Gäste verschwimmen zu etwas Fremdartigem und Beängstigendem.

3

Ich bin keine Frau, die leicht in Ohnmacht fällt. Ich habe schreckliche und gefährliche Dinge erlebt. Ich habe mein Leben und das der Menschen, die ich liebe, gegen die schlimmste Art von Bedrohung verteidigen müssen. Ich habe alles im Namen der Prophezeiung und für die Rettung der Welt aufgegeben.

Aber Alices Worte zwingen mich fast in die Knie.

Ich merke nicht, wie Dimitri zu uns tritt, aber er ist da, als ich unwillkürlich meinen Arm ausstrecke und irgendwo Halt suche, damit ich nicht umfalle.

»Oh!«, sagt Alice. »Ist dies dein Verehrer?«

Ich kann James nicht in die Augen schauen, aber als ich mich Dimitri zuwende, sehe ich, dass die Verwirrung seine Wangen rot färbt, während er von mir zu James blickt und wieder zurück. Ich kann auch ihn nicht anschauen. Und so richte ich meinen Blick auf Alice und muss gegen den unpassenden Drang zu lachen ankämpfen. Die Situation ist grotesk.

»Das ist Dimitri. Dimitri Markov.« Ich schlucke meine Scham herunter und spreche weiter. Das schulde ich Dimitri. Und James. »Und ja, er ist mein Verehrer.«

Alice streckt Dimitri ihre Hand entgegen. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr Markov. Ich bin Alice Milthorpe, Lias Schwester.«

Dimitri ist nicht überrascht, denn wer sonst würde mit einem Gesicht wie dem meinen herumlaufen? Aber er ignoriert ihre ausgestreckte Hand. Stattdessen beugt er sich so weit vor, dass die Umstehenden ihn nicht verstehen können.

»Ich habe keine Ahnung, was Sie hier tun, Miss Milthorpe, aber ich schlage vor, dass Sie sich von Lia fernhalten. « In seiner Stimme liegt der Hauch einer Drohung.

»Also hören Sie mal!«, mischt sich James ein. »Es gibt keinen Grund, unhöflich zu sein. Ich würde mir wünschen, dass wir uns alle wie zivilisierte Menschen benehmen – trotz der etwas merkwürdigen Situation. Und ich kann mir nicht vorstellen, was Sie dazu veranlasst, meine Verlobte zu beleidigen.« Seine Stimme ist zögernd, verwirrt. Und dann weiß ich es.

Er hat keine Ahnung, denke ich. Alice hat ihm nichts über uns gesagt. Über die Prophezeiung. Über alles, was zwischen uns steht.

Die Vorstellung, dass James mit meiner Schwester verlobt ist, ist schwer genug zu akzeptieren, aber dass er mit ihr verlobt ist, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, in die er sich damit begibt, ist ungeheuerlich.

Ich wende mich Alice zu und forsche in ihrem Antlitz nach der Boshaftigkeit, die ich dort zu sehen erwarte. Sie hat James verführt, hat ihn nach London gebracht, hat mir die Wahrheit über ihre Verlobung ins Gesicht geschleudert. Nur, um mich zu verletzen. Es gibt für sie nur einen Grund, sich dem Mann hinzugeben, den ich einstmals liebte, den ich heiraten wollte: Sie will ihn haben, weil er mir etwas bedeutete. Als ob sie mir nicht schon genug genommen hätte.

Aber als sie James anschaut, sehe ich nichts dergleichen. In ihren Augen liegt nur Sanftheit.

Doch dann denke ich an Henry. Ich denke an sein liebes Lächeln, an den Kleinjungen-Duft, und wieder wird mir klar, wozu Alice fähig ist.

Ich straffe die Schultern und nehme Dimitris Arm. »Ich möchte jetzt bitte gehen.«

Er nickt und legt seine Hand über meine.

Als wir uns abwenden, erklingt hinter uns James’ Stimme. »Lia.«

Ich blicke mich um und sehe meine eigene Resignation in seinen Augen.

Er seufzt. »Ich freue mich, dass du wohlauf bist.«

Ich nicke nur. Und dann bringt mich Dimitri eilig aus dem Saal.

»Aber was will sie hier?«

Es ist dunkel in der Kutsche auf dem Heimweg nach Milthorpe Manor, und Sonias Stimme dringt durch die Schatten zu mir. Dimitri bot sich an, uns nach Hause zu begleiten, aber es fällt mir schwer genug, mich den Fragen von Sonia und Luisa zu stellen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Mut aufbringe, den unausgesprochenen Vorwürfen in Dimitris Augen standzuhalten. Nicht heute Nacht.

Ich bin dankbar, dass Luisa an meiner Stelle antwortet: »Ich bin sicher, dass Lia keine Ahnung hat, was Alice hier tut. Woher soll irgendjemand wissen, was Alice im Sinn hat? Haben wir das jemals gewusst?«

»Nein. Du hast recht«, sagt Sonia.

»Mit allem, was Alice tut, verfolgt sie ein Ziel«, sage ich. »Ich weiß bloß noch nicht, welches es dieses Mal ist.«

»Ich kann nicht glauben …«, beginnt Luisa, verstummt dann aber.

Im Dunkeln ungesehen, schüttele ich den Kopf und betrachte die nebligen Straßen und die schemenhaften Gestalten, die auf den Gehsteigen entlanglaufen. »Ich auch nicht.«

»Ich hätte Alice ja viel zugetraut – aber … James Douglas heiraten?« Luisa knirscht mit den Zähnen. »Wie kann sie nur? Wie kann er nur?«

»Ich habe ihn verlassen.« Meine Stimme ist nur ein Murmeln, und ich frage mich, ob ich überhaupt will, dass Sonia und Luisa mich verstehen. Ob ich will, dass sie die Wahrheit über mich und James erfahren. »Ich bin ohne ein Wort gegangen. Ich habe keinen seiner Briefe beantwortet. Er schuldet mir nichts.«

»Vielleicht nicht«, erwidert Sonia. »Aber von allen Mädchen in New York, wie kann er da ausgerechnet Alice heiraten?«

Ich wende mich vom Fenster ab. Diesseits und jenseits der Glasscheibe ist nur Dunkelheit.

»Er weiß es nicht.«

Luisas Schock ist förmlich spürbar. »Wie kannst du so sicher sein?«

»Ich bin es einfach. Er hat keine Ahnung, was zwischen Alice und mir steht. Er weiß nicht, was für eine Art Leben ihn erwartet, wenn Alice die Oberhand behält.«

Sonia beugt sich so weit vor, bis ihr Gesicht von dem durch das Fenster fallenden Licht der Straßenlaternen beleuchtet wird. »Dann musst du es ihm sagen, Lia. Du musst es ihm sagen, musst ihn retten.«

Verzweiflung steigt wie eine Flutwelle in mir auf. »Was, wenn er mir nicht glaubt?«

Sonias Seidenkleid raschelt, als sie den Arm ausstreckt und meine Hand fasst. »Du musst dafür sorgen, dass er dir glaubt. Du musst einfach.«

Ich schaue hinunter auf unsere verschränkten Hände, bleich vor dem Blau von Sonias Kleid und dem Rot von meinem. Ich lehne den Kopf gegen die Rückenlehne des Sitzes und schließe meine Augen. Sehe Alice vor mir, wie sie da wie eine Königin in ihrem prächtigen Gewand aus smaragdgrüner Seide steht, ein lebhafter Kontrast zu dem blutroten Kleid, das ich trage.

Natürlich, denke ich. Natürlich.

In dem dunkelgrünen Kleid, mit James am Arm, ist Alice die Lia, die ich hätte sein können. Vor meinem geistigen Auge sehe ich uns Seite an Seite inmitten des prächtigen Saals stehen, und selbst ich kann kaum erkennen, welches der beiden Mädchen meine Schwester ist und welches ich.

Nur mit meinem Nachthemd und dem Morgenmantel bekleidet, bleibe ich vor der Tür stehen. Die Kälte des Bodens dringt durch die Sohlen meiner Pantoffeln, und ich zögere, als ich von drinnen Stimmen höre.

Ich habe geduldig gewartet, bis alles im Haus ruhig war, ehe ich mich zu Tante Virginias Zimmer begab, aber es scheint, als hätte ich doch nicht lange genug gewartet. Aber in mein Zimmer zurückkehren will ich nicht. Ich brauche den Rat meiner Tante. Mehr noch: Ich sehne mich nach ihrem Verständnis, denn nur Tante Virginia kann das Entsetzen verstehen, das ich empfand, als ich neben Alice stand und sie mir ihre Verlobung mit James verkündete.

Ich klopfe so leise wie möglich an. Das gedämpfte Säuseln der Stimmen verstummt, und kurz darauf öffnet Tante Virginia mit einem überraschten Ausdruck auf dem Gesicht die Tür.

»Lia! Ich dachte, du wärst längst zu Bett gegangen!« Ihr gelöstes Haar fällt ihr fast bis zur Taille. Sie sieht so jung aus, und mir zuckt das Bild meiner Mutter durch den Sinn, das in Birchwood Manor über dem Kamin hängt. »Komm herein, Liebes.«

Sie tritt zurück, öffnet die Tür noch ein Stück weiter und ich trete ein, wobei ich unwillkürlich nach ihrem Gesprächspartner Ausschau halte. Ich weiß nicht, wen ich erwarte, aber ganz gewiss nicht Edmund, der gemütlich in einem Lehnsessel und mit einer dicken, dunkelroten Decke über den Beinen vor dem Kamin sitzt.

»Edmund! Was machen Sie denn hier?«

Tante Virginia lacht leise. »Edmund hat mir gerade von Alices Auftauchen auf dem Maskenball erzählt. Ich bin froh, dass du gekommen bist, Lia. Du wirst mir Näheres darüber berichten können.«

Sie wirft Edmund einen Blick zu, und ich habe das Gefühl, dass dies nicht das erste Mal ist, dass sich die beiden mitten in der Nacht zu einem vertraulichen Gespräch in Tante Virginias Zimmer zusammengefunden haben.

Tante Virginia und ich nehmen auf dem kleinen Sofa vor dem Kamin Platz. Wir schweigen eine Weile und hängen unseren Gedanken nach, bis Tante Virginia schließlich mit zärtlicher Stimme anfängt zu sprechen.

»Es tut mir wirklich leid, Lia. Ich weiß, wie viel dir James bedeutete.«

»Bedeutet«, verbessere ich sie und schaue in die Flammen, »nur weil ich gezwungen war, ihn freizugeben – und weil ich jetzt Dimitri habe –, heißt das noch lange nicht, dass mir egal ist, was mit James passiert.«

»Natürlich.« Sie nimmt meine Hand. »Und du hattest keine Ahnung von einer intimen Beziehung zu Alice? Hat er nichts davon in seinen Briefen erwähnt?«

Ich schüttele den Kopf. »Wir schreiben uns seit geraumer Zeit nicht mehr.«

»Ich begreife einfach nicht, wie er sich mit Alice verloben konnte. Als ich sie das letzte Mal sah – bevor ich nach London aufbrach –, war sie mir schon so weit entglitten, dass ich keinerlei Einfluss mehr auf sie nehmen konnte.«

»James Douglas ist ein guter Mann. Ein kluger Mann«, sagt Edmund. »Aber er ist ein Mann. Alice sieht aus wie Sie, Lia. Und James war sehr einsam, nachdem Sie New York verlassen hatten.« In seinen Augen liegt kein Vorwurf. Er listet lediglich die Tatsachen auf.

»Edmund meint, du glaubst nicht, dass James über die Prophezeiung Bescheid weiß«, sagt Tante Virginia. »Was bringt dich auf die Idee?«

Ich starre weiter in die Flammen und denke an James. An sein sanftes Lächeln, wenn er mich küsste. An seinen Eifer, mich vor jeder Art von Gefahr zu beschützen. An seine Güte, die sein ganzes Herz ausfüllt.

Ich wende mich Tante Virginia zu, bin meiner Sache ganz sicher. »James würde sich niemals auf so etwas einlassen. Nicht auf das, was Alice vorhat.«

Tante Virginia nickt. »Wenn das stimmt, kannst du nicht einfach mit ihm reden? Sag ihm alles und bitte ihn, sich von Alice fernzuhalten, zu seinem eigenen Besten.«

Ich beiße mir auf die Lippe und versuche mir vorzustellen, wie ich James von der Prophezeiung erzähle.

»Sie denken nicht, dass er Ihnen glaubt?«, sagt Edmund.

Ich blicke ihn an. »Würden Sie mir glauben?«

Er spricht langsam und wählt seine Worte sorgfältig. »Sie haben ihm schon einmal nicht vertraut, und es sieht nicht so aus, als ob Ihre Entscheidung etwas Gutes bewirkt hätte. Vielleicht ist es Zeit, dass Sie etwas anderes versuchen.«

Ich schaue auf meine Hände, auf das verhasste Zeichen auf einem Handgelenk und auf das Medaillon am anderen. »Vielleicht.«

Wieder sitzen wir schweigend da, bis Tante Virginia weiterspricht. »Und was machen wir mit Alice? Glaubst du, sie ist gekommen, weil wir der Komplettierung der Schlüssel näherkommen?«

»Selbst wenn sie davon wüsste, scheint es mir keine Rechtfertigung für eine so lange Reise. Fast alle Schlüssel beisammenzuhaben, ist kaum etwas, worüber sich Alice Sorgen machen würde. Es könnte Jahre dauern, bis wir den vierten Schlüssel gefunden haben, von dem Stein ganz zu schweigen.«

»Und dem Ritual«, ergänzt Tante Virginia. Sie meint damit die Worte der Beschwörung, die in Avebury abgehalten werden muss, um das Tor endgültig zu schließen – eine Beschwörung, von der anscheinend niemand je gehört hat. »Aber ich werde mich morgen mit Elspeth zum Tee treffen. Wir wollen ein paar alte Bücher über Zaubersprüche durchsehen. Vielleicht finden wir etwas.«

»Hoffentlich.« Ich stehe auf. Ich bin mit einem Mal todmüde; selten habe ich die Last der Aufgaben, die vor uns liegen, als so niederdrückend erlebt. »Arthur Frobisher gab mir die Adresse von jemandem, der vielleicht über das Versteck des Steins Bescheid weiß. Dimitri und ich werden die Person aufsuchen. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass uns Arthur auch einen Namen genannt hätte, nicht nur eine Adresse. Ich möchte schließlich wissen, mit wem ich mich einlasse.«

»Nun, jedenfalls werden Sie sich nicht allein auf die Sache ›einlassen‹«, erklärt Edmund. »Ich kann nicht zulassen, dass Sie sich mit irgendeinem Fremden treffen, ohne jemanden zu Ihrem Schutz dabeizuhaben. Besonders jetzt nicht.«

Ich erwähne nicht, dass ich in Chartres ganz allein mit dem Leibwächter Samaels fertig geworden bin. Ich lächle ihn nur dankbar an, wünsche den beiden eine Gute Nacht und wende mich zum Gehen.

»Lia?« Tante Virginias Stimme hält mich auf, als ich gerade durch die Tür treten will.

»Ja?«

»Was wirst du wegen Alice unternehmen? Sie wartet zweifellos darauf, dass du den ersten Zug machst.«

Ich überlege, bevor ich antworte.

»Ich weiß es noch nicht«, sage ich schließlich mit fester Stimme. »Ich werde mich nicht von Alice zu einer unbedachten Handlung hinreißen lassen. Ich werde gründlich über die Sache nachdenken.«

Tante Virginia nickt. »Vielleicht werden wir beide morgen Abend klüger sein.«

»Vielleicht.« Ich ziehe die Tür hinter mir zu, ohne den Gedanken auszusprechen, der mir in den Sinn kommt. Hoffentlich. Wir müssen weiterkommen. Koste es, was es wolle. Uns läuft die Zeit davon.

4

Die kalte Morgenluft raubt mir schier den Atem. Ich will gerade die Haustür schließen, da höre ich hinter mir Luisas Stimme. »Wo willst du denn so früh schon hin?«

Sie steht in der Eingangshalle, am Fuß der großen Treppe. Das mitternachtsblaue Kleid lässt ihre vollen Lippen noch roter erscheinen als sonst. In ihrer Stimme liegt ein anklagender Unterton.

»Ich habe etwas mit Dimitri zu erledigen.« Ich lächle sie an, wobei ich von Schuldgefühlen gepackt werde. »Es wird nicht lange dauern. Zum Tee werde ich wieder zurück sein, sodass wir Helenes Ankunft morgen besprechen können.«

»Hat es vielleicht irgendetwas mit der Prophezeiung zu tun?«

Ihre Missbilligung ist offensichtlich, und plötzlich werde ich zornig.

»Was spielt das für eine Rolle, Luisa? Wenn es dich und Sonia betrifft, werde ich euch darüber informieren.« Ich weiß, wie sehr sie meine Worte verletzen, wie sehr sie mich selbst verletzen würden, wenn sie sie aussprechen würde.

Ein bitteres Lachen steigt aus ihrer Kehle. Es ist anders als das fröhliche Gelächter, das ich sonst von ihr zu hören bekomme. »Was für eine Rolle es spielt? Wie kannst du so etwas sagen, Lia? Es spielt eine Rolle, weil wir früher alles miteinander geteilt haben, was die Prophezeiung betraf. Früher hast du die Last, die auch wir tragen, ernst genommen, und hast versucht, unsere Ängste ebenso zu zerstreuen wie deine eigenen.«

Ihre Worte dringen bis tief in mein Herz. Ich weiß, dass sie recht hat, auch wenn ich es leugnen möchte.

»Lia? Stimmt etwas nicht?« Dimitri ruft von der Kutsche aus nach mir. Ich wende mich zu ihm, dankbar für die zusätzlichen Sekunden, in denen ich vielleicht eine Antwort auf Luisas Vorwurf finden kann. Mit einer kurzen Handbewegung bitte ich ihn zu warten.

Mich wieder Luisa zuwendend, gibt es nur eins, was ich sagen kann: »Es tut mir leid. Ich versuche wirklich, Sonia zu vergeben, damit wir alle wieder Freundinnen sein können. Es ist…« Ich blicke auf meine Stiefelspitzen, während ich um Worte ringe. »Es ist nicht so einfach, wie es vielleicht klingt.«

Luisa kommt durch die Eingangshalle auf mich zu. Ich denke, sie will mich trösten, will mich voller Freundschaft und Nachsicht umarmen, wie früher.

Aber Luisa ist mit ihrer Geduld am Ende. »Ich bin nicht Sonia. Ich habe dich nicht verraten. Ich muss von dir keine Vergebung erflehen.« Ihre Stimme ist so eisig wie der Wind, der aus den Londoner Straßen ins Haus fegt. »Aber wenn du nicht aufpasst, wirst du mich bald um Vergebung bitten müssen.«

Sie macht kehrt und marschiert zurück ins Haus, lässt mich in der kalten Morgenluft stehen. Ihre Worte fallen schwer wie Steine auf mein Herz, und die Scham lässt mir – trotz der Kälte – die Hitze in die Wangen steigen.

Ich hebe mein Kinn, schließe die Tür und gehe die wenigen Schritte bis zur Kutsche.

Sie versteht mich nicht, denke ich. Ich halte Informationen vor ihr geheim, weil ich sie schützen will. Weil ich sie nicht beunruhigen will.

Aber noch während mir der Gedanke durch den Kopf schießt, weiß ich, dass es eine Lüge ist.

Dimitri und ich sitzen Seite an Seite, während Edmund die Kutsche durch die Stadt lenkt. Es dauert eine Weile, bis Dimitri das Wort ergreift.

»Ich bin seit Langem über deine frühere Verbindung mit James Douglas im Bilde, noch aus der Zeit, als ich dich im Auftrag der Grigori hier in New York überwachte.«

Ich nicke und schaue aus dem Fenster. »Ich weiß.«

»Es gibt nichts, dessen du dich schämen müsstest, nichts, was dir peinlich sein muss«, sagt er.

Empört wende ich mich um. »Das ist es nicht. Und es kränkt mich, dass du so etwas denkst. Soll ich mich schämen, weil ich vor dir bereits jemanden liebte? Soll es mir peinlich sein, dass ich keine zarte englische Blume bin, für die alle Männer fremde und rätselhafte Wesen sind?« Meine Worte beißen sich durch den Schatten der Kutsche.

Er nimmt meinen Ausbruch mit Gelassenheit hin, und es ärgert mich, dass er mich so gut kennt. »Natürlich nicht. Ich habe dich nie für eine … wie hast du es genannt?« Ein belustigtes Grinsen stiehlt sich in seine Mundwinkel. »Ich habe dich nie für eine englische Blume gehalten, für die alle Männer fremde und rätselhafte Wesen sind.«

Die Art, wie er es sagt, reizt mich zum Lachen. Ich versuche, es zu unterdrücken, aber vergeblich. Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, obwohl ich es ihnen streng untersagen will. Gleich darauf erbeben meine Schultern vor unterdrücktem Gelächter.

»Nein!«, sagt er und lässt seiner eigenen Heiterkeit freien Lauf. »So habe ich wirklich nie über dich gedacht!«

Mittlerweile lachen wir beide aus vollem Hals. Ich gebe ihm einen leichten Klaps auf den Arm. »Vielen Dank auch! Aber …« Ich muss so heftig lachen, dass ich kaum sprechen kann, »… aber das sagst du wahrscheinlich zu allen Mädchen.«

Wir lachen und lachen und ich muss mir den Bauch halten, bis unsere Heiterkeit schließlich versiegt.

»Lia.« Dimitri rückt näher. Sein Atem geht noch schwer von der Lachsalve. Er greift nach meiner Hand. »Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass mir die Sache mit gestern Abend leidtut. Und auch das, was zwischen deiner Schwester und James entstanden ist. Das muss schwer für dich sein. Und ich möchte nicht, dass irgendetwas schwer für dich ist.«

Ich schaue ihm in die Augen. »Danke. Aber … Nun, es ist lange her, dass ich mir eine Zukunft an James’ Seite ausgemalt habe.«

Er führt meine Hand zu seinen Lippen, öffnet sie und küsst meine Handfläche. Die Berührung jagt eine Feuerzunge durch meinen Bauch und meinen Rücken empor. »Ja, aber alte Gefühle sind nicht so leicht auszulöschen, könnte ich mir vorstellen. Ich könnte meine Gefühle für dich niemals verleugnen. Niemals, hörst du? Ich würde dir keinen Vorwurf machen, wenn von deinem früheren Gefühl für James noch etwas übrig wäre, selbst nach so langer Zeit und nach allem, was passiert ist.«

Unter dem Deckmantel seines Verständnisses höre ich sein Zögern. Ich entziehe ihm meine Hand und nehme sein Gesicht in beide Hände. Dann schaue ich ihm in die Augen. »Ich habe James geliebt. Früher. Aber diese Liebe war auf einen Teil von mir gegründet, der nicht mehr existiert. Selbst wenn ich der Prophezeiung ein Ende setze, bin ich nicht mehr derselbe Mensch. Ich kann niemals mehr zu der Lia zurückkehren, die ich einmal war. Zu viel hat sich verändert. Und diese Lia hier, die über die sanften Hügel von Altus wanderte und mit dir unter den blühenden Bäumen lag und dich küsste – diese Lia könnte mit James niemals glücklich werden.«