Die Reichen und Hässlichen - Marco Höne - E-Book

Die Reichen und Hässlichen E-Book

Marco Höne

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Beschreibung

Kai Brommel lebt sein nutzloses Dasein als Millionärserbe auf Sylt. Die Nachfolgefrage im Familienunternehmen scheint ihm die Chance zu sein, der Existenz einen Sinn abzutrotzen. Sein exzessives Unvermögen endet aber in einer wahnwitzigen Katastrophe. Eine brutale Persiflage auf den leistungslosen Wohlstand der oberen 1% im heutigen, neofeudalen Zeitalter. Dieses gesellschaftskritische Buch ist für alle, die Satire im Angriffsmodus schätzen und die diese Zustände nicht akzeptieren.

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Seitenzahl: 440

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Die Reichen und Hässlichen

Gewidmet allen, die diese Zustände nicht akzeptieren

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 9783958942806

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2024

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Tag 8

Tag 9

Tag 11

Tag 14

Tag 15

Tag 16

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

1

Kai Brommel war wunschlos unglücklich. Er konnte sich alles bestellen, wollte aber nichts mehr. Bisschen Sodbrennen schon. Der 30 Jahre alte Erbmillionär betrachtete die blubbernde Champagnerflöte in seiner Hand. Für einen Moment hörte er nicht die platzenden Bässe und sah nicht die schreienden Lichter, die sich auf seiner gebräunten Stirnglatze vor dem blondierten Haarkranz spiegelten. Er sah nur die Bläschen, die eilig nach oben stiegen. Die Party war öde. Auf dem Tisch stand eine Magnumflasche Belvedere Wodka. Zwei Frauen mit Wunderkerzen tanzten im Kreis darum, als ob die Flasche ein heidnisches Feuer wäre, wobei sie sich vermutlich Brandflecken in ihre aus Jersey gefertigten Gucci-Kleidchen brannten.

Wer hatte das bestellt? Gut möglich, dass es Kai selbst gewesen war. Er sah auf seine Breitling Navitimer. Es war ein Uhr nachts und im Münchener Edelclub P1 dampfte der heiße Schweiß zur Decke. Überall um die VIP-Lounge, die Kai mit seinen Kumpels bezogen hatte, drängten sich die nicht ganz so Wohlhabenden, die nicht ganz so Reichen. Immer wieder wurde verschämt ein Handy gezückt und ein Foto gemacht – vor der roten VIP-Cordel. Sicher waren ein paar Mittelklasse-Aschenputtel darunter, die auf den großen Prinzen-Fick hofften.

„Ich war letztens auf dem Viktualienmarkt“, schrie Lars Jaster über den Tisch.

Genauso wie Kai trug er einen grauen und maßgeschneiderten Anzug von Brioni, der seinen schwammigen Kartoffelsack-Körper bestmöglich kaschierte. Kai beugte seinen Oberkörper leicht herüber, um zu signalisieren, dass er zuhörte. Er exte seinen Champagner und deutete den Ladys, ihm aus der Magnumflasche Wodka nachzugießen. Stattdessen ließ sich eins der Mädchen neben ihn auf das schwarze Leder gleiten und legte ihre Hand auf seinen weichen Bauch.

„Ich habe mir so eine scheiß Kochsendung angesehen und dachte, ich versuche das mal.“

„Was?“, fragte Kai und ließ seinen Blick dabei weiter auf die tobende Tanzfläche gerichtet.

Hier der König, dort das Volk.

„Na zu kochen!“, antwortete Lars, „Ich wollte mal selbst etwas kochen.“

„Du hast noch nie gekocht?“

„Nee, eigentlich nicht. Hast du schon mal gekocht?“

„Nein, wir haben einen Koch“, sagte Kai beiläufig.

Sein Blick war zu dem Dekolleté des Mädchens neben ihm gewandert. Er dachte, dass er diese Brüste schon mal gesehen hatte. Sie lächelte und streichelte ihn. Ab und zu rutschten ihre Finger zwischen die Knöpfe unter das Hemd und berührten seine bleiche Haut. Sie war bestimmt erst 20.

War sie wirklich reich oder hatte sie sich von ihrem Erspartem ein Gucci-Kleid gekauft, um Anschluss an die Oberklasse zu finden?

„Alter, wir haben auch einen Koch. Darum geht es doch!“

Dann kam das andere Mädchen auf sie zugetorkelt. Nun sah Kai keine Chance mehr an den Wodka zu kommen, außer eine Bedienung würde sich erbarmen – oder er stünde selbst auf. Davon sah er ab. Besorgt blickte er sich um. Die junge Frau streckte ihr von Armani designtes Samsung-Handy zu der Gruppe, sodass sie den Bildschirm sehen konnten. Kai warf einen kurzen Blick darauf und erkannte – trotz der Dunkelheit – einen Lastwagen, der neben einem Weihnachtsmarkt stand. Überall flackerte Blaulicht durch die Nacht.

„Putin wird diese Bastarde erledigen“, sagte sie entschlossen und steckte ihr Handy wieder in ihre Handtasche.

Sie verschwand auf die Tanzfläche. Das Girlie neben Kai lachte hysterisch, um wieder Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Früher haben wir viel mehr Geschäfte mit Putin gemacht. jetzige Regierung macht uns alles kaputt. Es ist ja nicht so, als baue Putin keine Gaspipelines mehr, aber die Kugelhähne meiner Familie stehen auf der Sanktionsliste. Danke!“, sagte Lars.

„Der Firma meines Vaters macht das auch Probleme. Ich hätte jetzt aber trotzdem gerne ein Glas von dem Wodka“, entgegnete Kai.

Er rang sich dazu durch, doch selbst aufzustehen, wobei das Mädchen ihn nicht loslassen wollte. In diesem verzweifelten Moment kam eine Servicekraft angeschossen und half beim Eingießen.

„Wenn ihr keine Kräne verkauft, verkauft ihr halt Betonmischer. Mein Vater hat nur die Kugelhähne“, sagte Lars.

Kai dachte, dass er sich über den unaufmerksamen Service beschweren würde. Zumindest wenn er die Rechnung bekam. Es war nie so klar, wer am Ende das alles bezahlte. Darauf kam es einfach gar nicht an.

„Naja, was ich auch eigentlich erzählen wollte“, setzte Lars wieder an, „ist, dass ich mit dem Cabrio in die Stadt bin und es offen stehen gelassen habe.“

Kurz stockte Lars, als er sah, wie das Mädchen anfing seinem Freund, die Hoden zu massieren, aber dann grinste er und fuhr fort:

„Und es ist tatsächlich passiert: Mir hat einer ins Cabrio geschissen. Einen richtigen Haufen, direkt in den Wagen!“

Kai guckte kurz interessiert auf. Lastwagen, Hand an den Eiern, ein Kackhaufen im Cabrio – es war eine interessante Mischung, die seine Aufmerksamkeit abzuarbeiten hatte. Auf der Tanzfläche flog eine Sektflasche durch die Luft und zerschellte an einem Betonpfeiler. All die jungen, perfekt gestylten Möchtegern-Rich-Kids tanzten einfach weiter und schwitzten die teuersten Düfte aus. Kai glaubte zu hören, wie jemand schrie:

„Putin wird sie alle töten!“

Es konnte aber auch ein abgefahrenes Sample sein.

„Das ist dir doch schon mal passiert?“, fragte Norbert Schinder lachend und ließ sich neben Lars auf das Leder fallen.

Er war genauso wie Lars und Kai Anfang dreißig, trug einen grauen Anzug ohne Krawatte, hatte aber sein Hemd sehr weit geöffnet. Dadurch kamen die schwarzen Brusthaare auf seiner kalkweißen Haut besonders zur Geltung.

„Nein, man hat mir schon mal Müll ins Cabrio geworfen, aber reinscheißen ist neu“, sagte Lars.

Kai nahm die Hand des Mädchens von seinen Hoden und legte sie auf ihr Knie.

„Süße, hol mir doch mal ´ne Packung Kippen.“

Irritiert sah sie ihn an, lächelte unsicher und stand auf, um auf High-Heels schwankend davon zu tippeln.

„Warum lässt du dein Cabrio auch immer offen?“, fragte Norbert.

„Ist das kein freies Land mehr?“, erwiderte Lars und rückte seine Rolex zurecht.

Kai legte sein Jackett zur Seite.

„Warum ist der Alarm nicht angegangen?“, fragte Norbert.

„Wenn interessiert das? Vielleicht sind die Sensoren nicht auf Kackwürste eingestellt. Die Frage ist: Warum? Kackt? Jemand? In MEIN Cabrio?“

„Einfach Neid“, warf Kai gelangweilt ein, um ohne Ansatz anzufügen: „War heute irgendwas mit einem Laster?“

„Ja, du kannst nicht mal mehr deinen Wohlstand genießen. Alle nur von Neid zerfressen“, geiferte Lars und spuckte dabei ein bisschen.

Zur Beruhigung entnahm er seinem Jackett ein kleines Döschen, schüttete etwas Pulver auf die Fläche zwischen Daumen und Zeigefinger und zog es durch die Nase wie Schnupftabak.

„Ein Terroranschlag“, sagte das Mädchen mit einer Packung Zigaretten (Marlboro) in der Hand.

Kai nahm sie ihr achtlos aus den Fingern. Sie ergänzte:

„Der Weihnachtsmarkt in Berlin.“

Kai steckte sich einen Glimmstengel an, lehnte sich zurück und blies den Rauch in die feuchte Diskoluft. Eigentlich war Rauchen hier verboten. Eigentlich interessierte ihn das nicht.

„Was hast du denn gekocht?“, wollte Norbert schließlich wissen.

Lars schaute starr auf die Brüste eines Mädchens, dessen mit Pailletten verziertes Kleid auf der Tanzfläche schimmerte wie ein goldener Fisch in der Sonne. Norbert stieß ihn an die Schulter.

„Ey!“

„Was du gekocht hast, will ich wissen?“

Kurz starrte Lars ihn entgeistert an, dann sagte er: „Nichts, ich habe diesen Tennisprofi getroffen und wir sind zu Schuhbeck gegangen.“

Dann stand er auf und verschwand auf der Tanzfläche.

Norbert schaute ihm kopfschüttelnd nach und sah auf seine (billige!, wie es Kai durchfuhr) Holzkammeruhr. Das namenlose Mädchen unklarer Herkunft lehnte sich zu Kai:

„Bist du jetzt soweit, dir einen blasen zu lassen?“

Kai ließ sie umgehend sitzen. Ohne ein Wort zum Abschied griff er sein Jackett. Der VIP-Kellner leuchtete ihm mit einer Taschenlampe den schnellen Weg zum Hinterausgang, wo sein Chauffeur seit vier Stunden nutzlos wartete und sein Audiobook „Mindset der Millionäre“ hörte. Kai fiel auf den Rücksitz und fühlte sich wieder sicher.

Diese Disko-Weiber sind tückische Sprengfallen. Du kannst als Mann ab einem gewissen Vermögen leider nicht unbeschwert in einen öffentlichen Club gehen. Du willst nur Spaß haben, mal ein bisschen den Stress vergessen, einen kleinen Rausch genießen. Aber dann wirst du eben auch verletzlich. Unaufmerksam. Das wissen die Biester. Sie sehen, wenn du taumelst und schwubs kriechen sie dir unter den Arm. Lächeln dich an, berühren sanft deine Haut und viel zu oft passiert es im Suff, dass du dir irgendwie einbildest, dass da so was wie Wärme für dich ist. Sonst ist ja immer alles so kalt, aber da zwischen den Armen dieser Frauen im Suff, fühlst du dich plötzlich: angenommen. Und dann traust du deinem Verstand nicht mehr, weil der Alkohol das Herz so stark gemacht hat. Habe ich echt schon oft gesehen: Alle Männer mit einer Libido fallen regelmäßig auf so was Herzloses rein. Sie guckt dir beim Blasen nicht auf den Schwanz – sondern auf die Kreditkarte. Im schlimmsten Fall ist ihre Muschi eine Falle. Effektiver als jede gottverdammte Knarre. Mit einer Knarre kannst du mir einmal das Portemonnaie leer machen, mit einer Muschi schaffst du dir für Jahre Unterhalt. Ich bin da echt auch fassungslos, wie gewissenlos diese Frauen sind. Klar, Geld ist wichtig, aber sonst heißt es doch auch: All you need is love. Selbst Kinderkriegen ist eine taktische Option. Kinder, nur für die Kohle – ohne Liebe. Unfassbar.

Diese Irren gehen so weit, sich das Sperma aus dem Mund in die Muschi zu stopfen. Du kannst leider niemandem vertrauen. Das ist Vampirland da draußen. Ein paar Promille können dich schon so schwach machen, dass eine Muschifalle zubeißt und dann blechst du wie blöde, für Jahre. Du wolltest vielleicht nur nett sein, du wolltest vielleicht nur, dass sie aufhört, dich zu nerven. Hast halt deinen Schwanz rausgeholt. PENG! AUSGEFICKT!

Und hast wieder gelernt, dass Liebe eine Waffe sein kann. Du kannst eigentlich niemandem vertrauen, dessen Konto nicht mindestens genauso schwer ist wie deins. Für alle anderen Geier bist du ein Wanderer in der Wüste. Sobald du stolperst, stürzen sie sich hinab und hacken dir die Haut vom Fleisch. Dann pissen sie auf dich und erzählen dir, es sei Regen.

Nun gut, du kannst einer Schlange nicht übel nehmen, dass sie beißt. Sie ist eine Schlange und beißt nun mal. ABER du kannst wachsam sein.

2

„Entweder ist man berühmt oder man bleibt unauffällig“, notierte Britta in ihr digitales Notizbuch von Remarkable. Kais Kopf rutschte zur Brust. Die quälende Frage war, ob er nach links auf ihre Schulter oder nach rechts auf die Schulter des fremden Jungmanagers knicken würde?

Der Flug von München nach Westerland war total ausgebucht. Unmöglich, sich zusätzlichen Platz zu kaufen. Der Brommel-Firmenjet war irgendwo auf der anderen Welthalbkugel. Britta wäre unter diesen Umständen nicht geflogen, aber ihr Mann hatte darauf bestanden. Nun schlief er in dieser rasenden Viehkammer der Lufthansa seinen Rausch aus und nur sein grobmaschiges Jackett von Lardini (im maritimen Blau) bewahrte ihn davor gewöhnlich zu wirken.

Britta hatte sich ein Glas Rotwein bringen lassen und starrte Würde wahrend ins Nichts. Das faltenfreie Gesicht umschmeichelt von rot-blonden Haaren. Die ewige Langeweile fest im Blick nippte sie das Glas leer und schrieb von Zeit zu Zeit einen Gedanken auf. Viele Frauen reicher Männer schrieben Lebensphilosophien, warum nicht auch sie?

Die Königin der Nordsee kam in Sichtweite. Sylt. Mit dem von Mittelmaß zerfressenem Tinnum, dem vom Pöbel überlaufenen Westerland, aber auch den exklusiven Adressen in Kampen oder Keitum. Kais Kopf fiel nach einem Ruck des Flugzeugs auf die Schulter seiner Frau. Sie war angeekelt und erleichtert zugleich, als sie seinen Säuferatem roch. Wäre er zum Sitznachbar gependelt; es hätte eine peinliche Szene geben müssen. So konnte die Fassung für alle gewahrt bleiben. Britta versuchte ihre Gedanken auf das Rote Cliff zu konzentrieren. Dieser magische Ort, an dem sie Weihnachten verbringen würden. Dort, wo man – besonders bei schlechtem Wetter – eine Zeit lang einsam und ohne Ballast stehen konnte und vor nichts als Wellen und Gischt. Abgesehen davon wusste sie schon, was passieren würde: Sie würde den ganzen Tag in der Friesen-Villa sitzen, Instagramfotos von Freundinnen angucken und dreimal am Tag irgendwo einkehren, um Champagner und Austern zu schlürfen. Gegen Abend würde Kai anfangen, den moderaten Alkoholismus in eine vulgäre Sauferei zu verwandeln. Schließlich war man auf Sylt. Stößchen!

Am Flughafen wartete ein Chauffeur mit schwarzem Maybach und fuhr sie die letzten Kilometer aus dem Einfallstor der Gewöhnlichen (Westerland) durch die Dünen der Millionäre nach Kampen. Einem Refugium der Reichen. In diesem Ort war man reich oder man war draußen. 35.000 Euro kostete ein Quadratmeter Wohnfläche. Wie Reihenhausbesitzer sich auf dem Campingplatz begegneten, so reihten sich hier die Feriendomizile der Industriemagnaten und des Geldadels aneinander. Dazwischen hatten sich ein paar Sportler und Showstars gemogelt, aber man war im Grunde unter sich. In der „Whiskeymeile“ genannten Straße Strönwai drängten sich die Porsches vor Gucci- und Prada-Geschäften. In der hochnäsigen Gastronomie bezahlte man für eine kleine Flasche Becks zehn Euro. So was gewährleistet, dass sich der Westerländer Prollkult nicht bis Kampen ausdehnen konnte. Lediglich die Flüchtlingskrise und ihr Verteilungsproporz hatten dazu geführt, dass vier Asylbewerber in einem Container am Ortsrand untergebracht waren und daran zu Grunde gingen, mit ihrer Zeit nichts anfangen zu können, als zuzusehen, wie Menschen nicht nur Sicherheit, sondern auch unerreichbaren Wohlstand genossen. Im Winter war davon in der Regel weniger zu sehen, aber um die Weihnachtstage wurden auf der Whiskeymeile die Heizpilze ausgepackt.

Überhaupt hatte sich Sylt gewandelt. Im Sommer schon immer überlaufen von mehr als einer halbe Millionen Touristen, genossen die wenigen tausend echten Einwohner im Winter für gewöhnlich eine wohltuende Einsamkeit. Zunehmend wurde Sylt aber als Winterziel entdeckt. Durch die getönten Scheiben erblickte Britta eine radelnde Familie. Im Sommer zogen diese Menschen wie Büffelherden auf ihren billigen Mieträdern schwitzend, die 40 Kilometer lange Insel rauf und runter. Aber nun auch noch im Winter ...

Und für einen kurzen, unmöglichen Moment hatte Britta das Gefühl, als würde der Familienvater auf seinem klapprigen Fahrrad, sie direkt durch die getönten Scheiben taxieren. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen unter einem hässlichen Fahrradhelm berührte sein Blick sie direkt an der Stirn. Britta schrak von der Scheibe zurück und warf einen Blick zu Kai. Der tippte zusammengesunken im braunen Leder eine Nachricht in sein Handy, vermutlich an den fetten Chinesen. Sie blickte wieder aus dem Fenster, aber die Familie war verschwunden. Nervös notierte Britta in ihr digitales Notizbuch: „Wenn du reich bist, verstößt dich die Gesellschaft.“

Der Chauffeur machte sich diskret bereit, Kai aufzufangen, als dieser im Hobooken Weg schwankend aus dem Auto stieg. Langsam gewann er wieder an Farbe. Britta stöckelte auf Higheels von Valentino um die schwarze Limousine und stellte sich ungeduldig vors hohe, mit altem grünem Lack bemalte Gartentor. Es gab keinen Namen – weder an der Klingel noch am Tor – aber das gab es hier nirgends. Kai folgte ihr zurückhaltend.

„Das wird schon nicht so übel werden. Weihnachten und Familie gehört ja irgendwie zusammen“, sagte Kai.

Britta nahm sich vor, zu schmollen, bis er mit ihr zum Schmuckhändler gehen würde. Irgendeine Gegenleistung musste er erbringen für diesen grässlichen Flug.

„Deine Mutter schnippt und alle müssen tanzen“, zischte sie.

Kai rieb sich unsicher die Stirnglatze.

„Und jetzt stehen wir vor diesem Tor und niemand erwartet uns.“

Ihr Ton wurde schriller. Kai drückte schnell auf den Klingelknopf.

„Ach was, wir waren bestimmt nur zu schnell.“

Britta meinte zu spüren, wie sich die Blicke des Chauffeurs in ihren Rücken bohrten. Dann als sie den Drang zu Schreien verspürte, öffnete sich das bescheidene Tor zwischen den hohen Friesenwällen und den noch höheren Büschen. Der Chauffeur stieg in den Wagen und fuhr davon. Als Britta mühselig auf dem Kiesweg den weitläufigen Garten betrat, fühlte sie sich schon wieder ein bisschen besser. Als das Tor wieder hinter ihr schloss: beinahe erleichtert. Begrüßt wurden sie von der Haushälterin, ihr folgte sofort Isabelle, Kais birnenförmige Schwester, und tat überschwänglich.

„Kai, Britta, so gut euch zu sehen. TOLL! Hattet ihr einen guten Flug?“

Kai gab ihr ein Küsschen und erwiderte:

„Das musst du Britta fragen.“

„Er hat nur geschlafen“, fügte Britta an und ließ sich dazu hinreißen, dem Satz ein leises Seufzen anzufügen.

Isabelle kreischte und bedeutete ihnen ins Haus zu gehen.

„Nur immer herein in die gute Stube, haha.“

Die Haushälterin ging eilig zu den am Tor stehenden Koffern. Das Haus hatte auf den ersten Blick nur zwei bescheidene Stockwerke unter Reetdach. Dies war der Bauordnung von Kampen geschuldet. Der Charakter des Friesendorfes sollte erhalten bleiben, deswegen war überall einzig roter Backstein unter Reetdach zu entdecken. Nur das exquisite Hotel „Sturmhaube“ stand so weit über den Dorfrand hinaus, dass es von dieser Ordnung verschont geblieben war. Der Schein der Bescheidenheit war nur äußerlich. Um alle Annehmlichkeiten genießen zu können, hatten die Reichen einfach in die Tiefe gebaut. Die meisten der kleinen Villen waren mit mehreren Stockwerken unterkellert. Ein äußerst aufwendiges Verfahren, bei dem das Haus auf Stahlträgern abgesetzt wird, während der Ausbau nach unten von statten geht. Und so verfügte das Haus der Familie Brommel über einen großen Empfangsbereich – für den Fitnessraum mit Pool, das Heimkino, das Arbeitszimmer mit künstlichem Ausblick, die vier Schlafzimmer und drei Bäder, dem Essraum und der Küche mit modernsten Gerätschaften, war trotzdem noch genug Platz vorhanden.

Kai ließ Britta und Isabelle einfach stehen und begab sich ins Wohnzimmer, wo ein Innenarchitekt einen wunderschönen, äußerst symmetrischen Weihnachtsbaum geschmückt hatte. Die beiden Frauen hörten um zwei Ecken seine Frage:

„Ist Mutter noch gar nicht da?“

Isabelle versteinerte und sagte nur an Britta gerichtet:

„Mutter wird gar nicht kommen. Sie ist geschäftlich in Brasilien und hat ihren Aufenthalt dort über den Jahreswechsel verlängert.“

Britta wich alles Blut aus dem Gesicht.

„Aber wir sind doch jetzt hier?“

Isabelle griff beruhigend ihren Arm:

„Und wir werden es richtig schön gemütlich haben.“

Ihr kaltes Grinsen schnitt sich von Ohr zu Ohr. Offenbar hatte sie schon eine Tavor genommen, eventuell sogar mit Rotwein runtergespült. Konsterniert blickte Britta ihrer Schwägerin in die Augen und sagte nichts. Isabelle ließ sie los und ging ins Wohnzimmer, wo Kai vor dem Fernseher saß und sich die Berichterstattung über den Terroranschlag in Berlin ansah. Niemand kümmerte sich um Britta. Nach kurzem Zögern (sie hatte keine Lust sich deprimierende Nachrichten anzusehen) ging sie in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Im Türfach war eine angebrochene Flasche Moët.

Auch das gehörte in Sylt zum guten Ton: Die Stimmung der feinen Gesellschaft war nicht von Natur aus so aufgekratzt. In ihrem ersten Jahr mit Kai hatten sie einen berühmten Schlagersänger, der nicht weit weg wohnte, in seinem Haus besucht. Es war 11 Uhr und er begrüßte sie bereits mit dem zweiten Glas Champagner in der Hand. Das hatte nichts mit Alkoholismus zu tun, man feierte das Leben. Wer ein Glas Wodka um 11 Uhr in der Hand gehabt hätte, wäre nicht so toleriert worden. Aber beim Frühstück das erste Glas Schampus und kontinuierlich über den Tag zwischen jedem Bussi ein weiteres – das war normal.

Das Glück wurde perfekt mit einer Flasche Aperol, die Britta auf einer Anrichte zwischen diversen anderen Likören entdeckte. Nicht ganz nach Rezept, aber brauchbar würde dieser Drink trotzdem werden.

Britta hatte sich schnell angepasst. Sylt war Neuland für sie gewesen, als sie mit Kai zusammengekommen war. Wie eine Schimpansenforscherin eignete sie sich ein künstliches Lachen an, konnte nunmehr freundlich und zugleich doch voller Arroganz gucken und verstand die Regeln des Smalltalks: Einfach schrill und zusammenhangslos Blödsinn reden. Am besten darüber, dass man es als Mensch mit Geld auch immer schwerer habe im Leben. Für Kai war das Muttermilch gewesen. Als Enkel des Baumaschinenkönigs Franz Brommel war Kai schon bei Geburt mit einem Stahlimperium ausgestattet worden. Der „mittelständische“ Familienbetrieb umfasste knapp 80.000 Mitarbeitende, über die ganze Welt verstreut. Es war eine geniale Idee von Franz Brommel gewesen, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf den Verkauf und die Fertigung von Baumaschinen zu setzen. Ganz Deutschland und halb Europa mussten wieder aufgebaut werden. Die Beschäftigten fertigten Mischfahrzeuge für Beton, Baukräne sowie große Bohrmaschinen und riesige Trucks für den Abtransport beim Minenbau. Fast zehn Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftete das in dutzende GmbHs aufgespaltene Firmenkonglomerat, wovon viele Millionen Euro jedes Jahr als Gewinn in den Schweizer Firmensitz flossen, über den alleine das Einzelkind von Firmengründer Franz, Uwe Brommel mit seiner Frau Gertrude, herrschte. Deren Kinder wiederum dankbare Küken waren, die über stimmlose Anteile am Unternehmen gefüttert wurden.

Zwei Teile Moët, ein Teil Aperol und ein Spitzer Soda. Das Glück sprudelte im Glas und Britta konnte kaum das warme Gefühl erwarten, wenn der Alkohol in die Blutbahnen überging. Diese Vorfreude vertrieb die düsteren Gedanken, ob sie nach Erfüllung ihres Jugendtraums (traumreich zu werden) mit 28 ihren Lebensantrieb schon abgewürgt hatte. Es war ja alles erreicht. Sie hatte Kai geheiratet und das ohne Ehevertrag. Ihnen gehörte nicht nur das Anrecht auf eine gesunde Firmengruppe mit Milliardenumsatz, sondern hunderte Immobilien, weitere Firmenanteile, Weingüter und Schließfächer voller Gold auf der ganzen Welt. Sicher, Kai machte sich einen Spaß daraus, mit einem Teil seines Vermögens riskant zu spekulieren (wobei er in der Regel noch reicher wurde), aber irgendwo ab einem Kontostand von 100 bis 200 Millionen Euro machte es keinen Unterschied mehr. Es ging immer nur nach oben. Es gab keine Schlacht mehr zu schlagen, nur noch auf der Rolltreppe ans Ende zu fahren. Zwischendurch konnte man sich annehmlich die Zeit mit Pelz, Maserati und Traumstränden vertreiben – oder eben unter Reetdach.

Kurz bevor das Kristallglas ihre mit Calvin-Klein-Rot bemalten Lippen berührte, ließ sie das Getränk vor Schreck fallen. Vor dem Fenster war ein Terrorist. Wie im Fernsehen sah er aus. Die ockerfarbene Haut, die schwarzen Haare, die Augen dunkel wie eine Leichengrube. Britta widerstand dem Drang zu Schreien, stieß aber, als sie hastig vom Fenster wegsprang, eine Keramikdose für Tee von der mit Granit belegten Küchenzeile. Der Mann mit dem südländischen Aussehen blickte verwundert durch das Fenster, sah aber nur noch den Hauch einer Bewegung an der Küchentür.

Britta hastete in die Wohnstube, das Gesicht verzerrt von dem Versuch, trotz Panik die Contenance zu behalten. Im Wohnzimmer saß Isabelle stocksteif auf einem kleinen Sessel, während Kai sich auf ein wuchtiges Samtsofa mit edlen, goldenen Stickereien gefläzt hatte. Das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht und seine Wampe schaute heraus.

„Hey, Liebste, sieh dir das an“, sagte Kai und deutete auf den riesigen Plasmabildschirm.

„Das sieht doch aus wie diese Videoinstallation, die du in Stuttgart letztens so toll gefunden hast.“

Der Bildschirm zeigte über der dahinrasenden Nachrichtenzeile das Luftbild, das die Öffentlichkeit schaudern ließ: Ein Berliner Weihnachtsmarkt in der Nacht, eine Schneise geplatzter Glühweinstände, am Ende ein verkrümmter Lastwagen. Überall Blaulicht. Keine Menschen.

„Da ist ein Nafri im Garten“, stieß Britta hervor.

Kai und Isabelle blickten zu ihr herüber.

„Er ist im Garten, wir müssen die Polizei rufen.“

Brittas Stimme zitterte. Sie fürchtete, auf den Teppich zu pinkeln. Kai schaute zu seiner Schwester. Isabelle hatte kurz vergessen, Luft zu holen, und schaffte es dann, ihrem Dämmerzustand zu entfliehen:

„Das ist Abudi.“

Von diesem Satz breitete sich eine große Verständnislosigkeit im Raum aus. Kai verzog das Gesicht.

„Er ist ein syrischer Flüchtling. Wurde auf Sylt einquartiert. Mutter hat ihn eines Tages angeschleppt.“

Isabelle macht mit einer abweisenden Handbewegung deutlich, dass sie diese Aktion missbilligt hatte.

„Sie hatte vermutlich eine Tagesdosis zu wenig – oder zuviel – aber irgendwie hat sie diesen Typen gefunden oder er sie und sie hat ihn hergebracht.“

„Und was macht er hier?“, fragte Kai.

„Er legt im Garten Zeitschriften auf den Tisch oder lässt den Gartenschlauch liegen, anstatt ihn aufzurollen. Er hat auch schon am Tisch draußen gefrühstückt und dann alles stehen lassen“, sagt Isabelle.

„Ist er ihr Lover oder so was?“, fragt Britta unschön.

„Natürlich nicht. Dieses Haus steht ja die meiste Zeit leer und Mutter dachte, es wäre eine gute Idee, wenn es auch in den Zeiten, wo wir nicht hier sind, bewohnt aussieht. Du verstehst? Damit niemand denkt, es ist leer“, führte Isabelle aus.

Kai schien kurz darüber nachzudenken und diese Antwort zu akzeptieren, fragte aber dennoch:

„Darf er ins Haus?“

„Nein, er darf nur in den Garten. Mutter überwacht das sehr genau. Er schläft in seinem Flüchtlings-Container. Ein oder zweimal hat sie ihn zum Tee nach oben eingeladen. Ihr Herz ist einfach zu gut.“

Isabelle zeigte mit einem Finger an die Decke hinter einem großen Buchregal aus Teakbaum, wo sich erst beim genauen Hinsehen eine kleine schwarze Kugel offenbarte. Wie die Kameras in den Supermärkten und Kaufhäusern. Diese Information stellte Kai vollends zufrieden und er widmete sich wieder dem Nachrichtenprogramm.

„Warum ein Nafri?“, fragte Britta.

„Er ist aus Syrien. Du weißt? Da wo dieser Krieg mit diesen Typen in Schwarz und den langen Bärten ist. Mutter hatte da irgendwas von gelesen und wieder tagelang geweint. Sie hörte erst auf, als sie Abudi eingestellt hat. Aber erzähl das nicht rum. Ich glaube, er arbeitet hier schwarz.“

Auch Isabelle begann ihren Blick wieder tief in das flackernde Blaulicht auf dem Plasmaschirm zu versenken. Britta drehte sich auf dem Punkt um und ging zurück in die Empfangshalle. Von dort führte eine Treppe in das Obergeschoss, aber an der Seite dieser Treppe gab es eine Tür, die wiederum den Abstieg in die unterlegten Stockwerke freigab. Mit eiliger Ruhe ging Britta zwei Stockwerke tiefer, in den als nackte Backsteinröhre gebauten Weinkeller. Ohne den edlen Flaschen einen Blick zu schenken, ging sie in eins der anderen Zimmer auf der Ebene. Es war ein Arbeitszimmer mit einem riesigen Wandbild, das die Dünenlandschaft von Sylt zeigte. Es war von hinten beleuchtet, um auch hier – knapp zwei Meter unter der Erde – den Eindruck zu erzeugen, man könnte aus dem Fenster gucken. Britta schloss die Tür ab und setzte sich in den Bürostuhl. Sie entnahm dem Tisch einen Schreibblock und einen Bleistift. Dann begann sie Mickey und Mini Maus zu zeichnen. Ihr Atem wurde flacher.

3

Perle in der Auster, so nannte man einst den Kampener Nachtclub „Pony“. Normalerweise öffnete der Club seine Pforten für gelangweilte Millionärssöhne, gestraffte Stars und nimmermüde Lebemänner mit ihrem ganzen Nuttenanhang nur in der Saison von Mai bis September, aber an Weihnachten und Ostern gab es eine kleine Ausnahme.

Draußen, in der Nacht, peitschte ein leichter Sturm die Gischt an den Strand. Mit jedem Atemzug, den das Meer tat, spülten die Wellen ein Stück Land von der Insel hinaus in die See. Tagsüber versuchten Pumpschiffe die Zeit zurückzudrehen und spuckten Sand aus dem Meer wieder auf den Strand. Die Nordsee wird dieses Tauziehen irgendwann gewinnen. Es ist vorherbestimmt. Jedes Jahr griffen sich die Wellen ein Stück der Küste. Zu viel, um es mit Sand wieder aufzuschütten. Schon ganze Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg waren so zuerst ans Tageslicht und später ins Meeresdunkel gezogen worden. Irgendwann würde der Durchbruch gelingen. Dann würden weite Teile von Sylt zu tief liegen. Nur für einen Teil der Insel bestand Hoffnung. Das Millionärsdorf Kampen steht auf einem Geestkern und dürfte den Untergang überleben. Man würde auf der Uwe-Düne stehen können, den Schampus köpfen und sich in behaglicher Sicherheit ansehen können, wie Westerland absäuft.

„Der da vorne, mit dem weit aufgeknöpften Hemd und dem weißen Sakko“, sagte Sascha.

„Wer?“, fragte Kai.

Er sah mindestens drei ältere und blondierte Herren, die ihre braungebrannte Brust zur Schau trugen. Weiße Sakkos gehörten zum guten Ton. Kai trug selbst ein maßgeschneidertes von Dolce und Gabbana.

„Ich meine den, mit der goldumrahmten Brille und den falschen Zähnen“, konkretisierte Sascha.

Kai entdeckte ihn. Er war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, hatte auch jenseits der 60 noch blondierte Haare und einen Mund voller Keramikzähne.

„Der ist ein Fake!“, bestimmte Sascha und entnahm dem Sektkübel die Ginflasche.

Seine Wurstfinger schlossen sich schwerlich um den Flaschenhals. Kai musterte den Mann, der offensichtlich schon ein paar Drinks hatte, wie er sich an HP-Baxter, den Frontmann von Scooter, vorbeidrängelte.

„Kann sein, muss aber nicht“, erwiderte Kai und hielt Sascha sein Glas hin, damit dieser ihm nachschenken konnte.

„Ich finde, er sieht fast aus wie der Besitzer.“

„Auf keinen Fall!“, widersprach Sascha, „Ferdinand hat schwarze Haare. Wie oft bist du eigentlich hier?“

„Die Frage ist, wie oft bin ich hier und kann mich daran erinnern?“, erwiderte Kai. Dann wieder zum Thema: „Im Ernst: Ich glaube, der ist wirklich reich. Der hat einen Pissfleck im Schritt. Der ist einfach nur ein bisschen übertrieben.“

Sascha ließ sich das Argument durch den Kopf gehen.

„Ja, nicht übel. Gut beobachtet Sherlock.“

Kai musste grinsen. Die Bescherung war grauenhaft steif gewesen. Britta hatte sich artig für den Schmuck bedankt und anschließend im Schlafzimmer versucht, ihm einen zu blasen, aber er war sich fast sicher, dass sie dabei auf die Uhr geguckt hatte. Er hatte es getan. Nichts war passiert. Ansonsten hatte seine Frau den ganzen Tag Disneyfilme geguckt und war kaum ansprechbar gewesen. Jetzt, im nahenden Vollrausch, fühlte Kai sich erwacht. Als wäre der Winterschlaf vorüber.

„Siehst du die Milchbubis dahinten?“, sagte er zu Sascha. Sein Kumpel blickte kurz in die Sitzgruppe, die Kai mit einem Kopfnicken adressierte.

„Ich glaube, die halten dich für Fake.“

Kai kicherte betrunken. Sascha blickte kurz unsicher an sich herab. Er trug einen dunklen Tom-Ford-Anzug für knapp 3.000 Euro. Der Leichtigkeit wegen kombiniert mit einem Paar Phillip-Plein-Schuhe für weitere 450 Tacken. Zugegeben, das war bei weitem nicht die teuerste Garderobe in dieser mit Reichtum verstopften Kaschemme, aber alles andere als Blendwerk. Er antwortete:

„Bin mir sicher, die glotzen dich an, weil du keine Haarimplantate hast.“

Kurz wurde Kai unsicher, dann fasste er sich wieder.

„Vielleicht mache ich das mal, wenn ich Zeit habe.“

Es herrschte ein kurzes Schweigen, in dem beide der Lounge-Musik lauschten, die das besinnliche Ambiente unterstrich. Die jugendliche Schnöselgang hatte sich wieder ihren Handys zugewendet.

„Ich glaube, an Weihnachten schleichen sich hier gar keine Blender ein“, sagte Sascha schließlich.

„Mmh“, murmelte Kai und meinte es als Zustimmung.

„Vielleicht“, hob Kai doch nochmal an, „vielleicht, ist er aber auch nur ein gut bezahlter Manager?“

Sascha sah Kai verblüfft an und zog die Stirn in Falten.

„Ja, das kann sein ... Einerseits dieser verzweifelte Drang dazuzugehören, auf der anderen Seite aber genug Geld, um hier mit Sicherheit aufzutreten. Nicht schlecht.“

Er hielt Kai seine Hand hin. Dieser schlug ein.

„So besitzlos wie ein Angestellter, aber dennoch reich genug, um hier ohne Taschenrechnerei einen Sektkübel zu bestellen.“

„Nicht arm, aber trotzdem armselig“, ergänzte Kai trocken. Dann lachten sie beide und bedeuteten der Bedienung, ihnen

eine neue Flasche Tonic zu bringen. Dabei funkelte der Edelstahl von Kais 10.000 Euro teuren Master-Geographic-Uhr im Diskokugellicht. Viele umliegende Gäste bestaunten das Funkeln aus den Augenwinkeln, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Die Rich Kids gegenüber schienen von der Demonstration beruhigt zu sein. Sascha griff das Gespräch wieder auf.

„Im Sommer war hier mal einer, der hat den ganzen Abend mit nur fünf Flaschen Becks verbracht. Also gerade mal 50 Euro! Und das Beste: Er trug ein Camp-David-Polo und versuchte so zu tun, als sei er Dieter Bohlen – ohne zu wissen, dass der die Scheiße auch nur vor der Kamera trägt.“

Kais Handy vibrierte. Er zog es kurz aus der Tasche und entsperrte den Bildschirm. Eine neue WhatsApp-Nachricht von seiner Schwester war eingegangen:

„Vater hatte einen Herzinfarkt. Es sieht nicht gut aus.“

Kai guckte irritiert auf den Bildschirm. Dann drückte er das Handy aus und wandte sich wieder an Sascha.

„Hat man ihn rausgeschmissen?“, fragte Kai.

Sascha verzog das Gesicht.

„Nee. Ferdinand meinte, dass er Angst hatte, die Situation könnte unangenehm werden, wenn er ihn rausbittet.“

Kai zog angewidert die Augenbrauen hoch.

„Un-fucking-fassbar ...“

Dabei dachte er an seinen Vater, wie er in einem Sarg lag.

„Jaaaa.“

Sascha zog das Wort sehr lang, um ihr gemeinsames Verständnis zu unterstreichen.

„Die Prolls trauen sich immer mehr. Sie hängen nicht mehr nur am Roten Cliff rum und werfen einen Geier-Blick auf die Porsches, jetzt trauen sie sich hier schon herein.“

Beide schüttelten synchron den Kopf und genossen die betrunkene Einmütigkeit.

„Lass mal kurz draußen eine rauchen“, schlug Sascha vor.

„Du rauchst wieder?“, fragte Kai.

„Seit es teurer geworden ist“, antworte Sascha und wendete sich in Richtung Ausgang.

Kai war überhaupt nicht danach, den Stehtisch zu verlassen, aber er folgte. Sie mussten sich durch eine Clique Hamburger Werbeagenturbesitzer, die alle die Haare streng zurück gegelt hatten, drängeln, bevor sie an der Außenbar ankamen. Unter weißen Regenschirmen hielten hier Heizstrahler die erlesene Kundschaft bei wohligen Temperaturen warm. Sascha zündete sich eine Zigarette an. Kai folgte seinem Vorbild. Ein junger Mann, der schon deutlich die Anzeichen wachsender Kahlheit zeigte, ging strahlend an ihnen vorüber. Kai dachte an die Glatze seines Vaters.

„Kennst du den?“, fragte Sascha irgendwie düster.

„Nee“, sagte Kai.

„Das ist der Sohn vom Besitzer. Er lässt ihn die Außenbar führen. So als wären das zwei getrennte Clubs. Vermutlich steht er die ganze Zeit nur im Weg und macht das Personal wahnsinnig.“

Kai blickte sich nach dem Personal um, er hatte seinen Drink drinnen stehen lassen. Seine Hand war merkwürdig leer. Er dachte an den Konferenzraum in der Firmenzentrale. An den Stuhl am Kopfende.

„Aber immerhin hat er etwas zu tun“, fügte Sascha im Selbstgespräch an.

Böswillige Gedanken an seinen Hollywood-Vater kamen auf, für den er nur ein Sexunfall war, der ihn ein paar Millionen in einem gerichtlichen Vergleich gekostet hatte. Im Grunde war Sascha im großen Schicksalsplan der Erdgeschichte nicht vorgesehen. Irgendwie war er aber reingekommen und als tröstende Abfindung mit einem dicken Bankkonto ausgestattet worden, mit dem er sich stilvoll totfeiern konnte.

„Ich habe auch nichts zu schaffen“, seufzte Kai und schnipste der Bedienung, die ihn und deswegen auch seinen Wunsch sofort erkannte.

„Du bist Firmenerbe!“, sagte Sascha ärgerlich, „deine Zeit wird kommen.“

Kai bekam einen Gin Tonic in die Hand gedrückt und spürte eine kleine Welle Glück.

„Vielleicht werde ich Schmuckdesigner“, brachte Sascha schließlich auf, „das machen viele und es geht nicht darum, wirklich zu designen, sondern vielmehr darum, Designer zu führen, ihnen eine Vision zu vermitteln.“

Verträumt zog er an seiner Zigarette. Kai überlegte, ob er mit dem Rauchen aufhören sollte. Dachte er an Zigaretten, sah er vor seinem inneren Auge immer häufiger adipöse Arbeitslose, die sich am Fliesentisch eine Tupperdose Kippen stopften.

Fetttriefende Dämonen aus der RTL2-Hölle.

„Vielleicht werde ich auch Schmuckdesigner“, sagte Kai als Scherz, behielt aber einen ernsten Ton.

Bis jetzt führte sein Vater den Gesellschafterkonzern. Kai besaß wie alle Familienmitglieder seinen kleinen Aktienanteil, aber bestimmen durfte nur Uwe. Nun würde die Zeit kommen, an die Enkel-Generation zu übergeben. Insgesamt fünf Sprösslinge. Kai träumte nur selten davon, durch eine der riesigen Stahlbauhallen zu gehen, in der verrußte Arbeiter in Schweißfunken standen. Doch wenn, wollte er dort entlanggehen, in der Gewissheit, mit einem Fingerschnippen den ganzen Laden an die Wand fahren zu können und tausende Familien mit ihren Kindern und Enkeln ins Unglück zu stürzen, die, solange er das nicht tat, dafür sorgten, dass jedes Jahr Millionen von Euro in die Schweiz wanderten.

Das Gefühl von Kaisern und Königen, dachte er, als sich plötzlich ein ehemaliger Partykönig zwischen die beiden Raucher warf. Ein Schwall Kotze spritze auf den Boden. Hustend wischte sich der feiste Mann den Mund mit seinem handbestickten Einstecktuch ab.

„Schnaps, das war sein letztes Wort! HAR HAR.“

Kai und Sascha sahen ihn erschrocken an, was der Betrunkene völlig ignorierte. Er schlug ihnen freundschaftlich auf die Schulter und ging wieder in den Club. Dabei lachte er wie der Weihnachtsmann auf seinem Todesflug. Alle anderen Gäste der Außenbar blickten pikiert herüber, taten aber so, als sei nichts passiert. Nach der Insolvenz und dem Prozess wegen Vergewaltigung war das Partykönig-Geschäft ein Trümmerhaufen, aber er hatte in den Jahrzehnten als Eventveranstalter so viele Ehen geschmiedet und dreckige Geheimnisse gesehen, dass er hochkarätige Gönner hatte, die ihn wie ein Maskottchen mit sich rumschleppten und abfüllten. Er war immer noch drinnen, obwohl er eigentlich draußen war. Kai hatte sich noch nicht vom Schock erholt, da zog Sascha seine weißen Sneaker aus und warf die Schuhe nach draußen auf die Straße.

„Ich glaube, da ist Kotze rangekommen. Ich trage die nicht mehr, wenn sie dreckig geworden sind.“

„Wie teuer sind Zigaretten eigentlich jetzt geworden?“, fragte Kai, aber Sascha antwortete nicht, sondern ging auf Socken zurück in den Club. Sein Tripper juckte.

4

Der Gastgeber (irgendein Hotelerbe mit Namen Stefano), hatte sich wahrlich Mühe gegeben, seiner New Yorker Silvesterfeier Extravaganz zu verleihen. Zwischen den in Eierschalenfarben gestrichenen Wänden stand auf dem alpinweißem Teppich ein ebenfalls weißes Pferd und trug den schwitzenden Kellner durch die Räume, des für Millionärskreise bescheidenen Appartements im 60. Stock des Trump Tower. Es war dem Kellner zwar unmöglich, den Gästen das Tablett mit den Speisen zu reichen, aber extravagant sah es aus.

Stefano war nicht zufrieden. Er versuchte seit einigen Jahren seine nichtsnutzige Existenz damit aufzuwerten, der erste männliche „It-Boy“ zu werden. Aber zu dieser absurden Feier waren keine Boulevardjournalisten erschienen. Nur einige verarmte Fashion-Blogger stopften sich am Büffet die Taschen voll. Unwirsch beäugt von der ansonsten erlauchten Gästeschar aus Reichen und Promis. Kai war unzufrieden. Die Feier war grundsätzlich geeignet in Erinnerung zu bleiben, aber der beiläufige Satz eines anderen Gastes hatte ihn in eine Krise gestürzt:

„Marrakesch ist jetzt total hip. Tom Cruise und Ronaldo sind dieses Jahr dort.“

Er war mal wieder zur falschen Zeit am falschen Ort. Sicher, New York war zeitloser Silvesterspaß. Besonders in einem Appartement vollgestopft mit der feierwütigsten Oberschicht, aber zugleich war Kai sich der Zweitklassigkeit bewusst. In Marokko feierte der Weltfußballer mit einem der größten Hollywoodstars im Schein von arabischen Glitzernächten und er stand an einer übergroßen Zimmerpalme, roch Pferdearsch und beobachtete einen abgehalfterten Schriftsteller, wie er auf einen blutjungen Kellner starrte und heimlich masturbierte. In einer anderen Ecke saß ein europäischer Prinz, versunken in einem antiken Sessel, und versuchte ein Glas Whiskey auf seinem royalen Bauchfett zu balancieren. Dazwischen dieses Pferd, das jeden Moment durchdrehen und eine der austauschbaren Millionärsgattinnen tot trampeln konnte. Das Glas wackelte auf dem Monarchenbauch, das Pferd kackte auf den Teppich (ein Diener entfernte den Haufen diskret und besprühte alles mit Paco Rabanne) und die Hand eines ehemaligen Skandalschriftstellers wühlte sich durch dessen Hose, wie durch einen Sack Murmeln – das war Kais Silvester 2016.

Britta kam zu ihm herüber. In der Hand zwei Gläser Champagner. Kai griff zu und spülte den Frust hinunter. Noch 0,5 Promille und die Welt bekäme einen besseren Anstrich. Britta lächelte und nach einer kleinen Weile spürte er wieder diese merkwürdige Liebe zu ihr aufkommen. Diese Liebe kam immer wie eine Welle am Strand. Er sah sie warm auf sich zurollen, wurde völlig umschlungen und trieb halb aufs Meer raus, bevor er sich wieder fangen konnte. Bis heute hatte er es nicht verstanden, aber irgendwie machte Britta, dieses mittelmäßige Mädchen, ihn glücklich. Zumindest für eine kurze Weile. Das war mehr, als so viel anderes Nutzloses. Dennoch ließ er sie stehen und mischte sich unter einige Investmentbanker, die alle mit ihren Hosenträger-Outfits Michael Douglas aus dem Film „Wall Street“ in den 80ern nacheiferten. Kai fühlte sich überall willkommen und den Menschen zugeneigt. So bewegte er sich ganz natürlich in die fremde Gruppe, die ansonsten – wie auf dem Schulhof – unter sich blieb. Ein paar Gesichter kannte er aber auch schon.

„Kunst oder Rotwein?“, fragte einer.

„Wenn du große Summen schnell waschen willst, dann Kunst. Wenn du Zeit hast und keine Aufmerksamkeit willst, leg eine Weinsammlung an“, antwortete ein Anderer.

„Aber ist die Weinsammlerszene nicht viel zu klein?“, sagte ein Dritter.

„Nein“, antwortete der Vierte, „nur nicht so öffentlichkeitssüchtig.“

„Wenn ich Wein höre, muss ich immer daran denken, wie ich bei diesem französischem Schauspieler auf dem Weingut war. Er fuhr mit mir auf einem klapprigen Mofa durch die Weinreben und wollte mich überzeugen, eine Handvoll Erde in den Mund zu nehmen, um zu schmecken, wie fruchtbar der Boden sei. Da hatte er schon eine ganze Flasche Pernod getrunken. Als ich wieder in Moskau war, habe ich meinem Klienten den Teil der Geschichte verschwiegen“, sagte wieder der Erste und alle mussten ernsthaft lachen.

Kai stimmte selbstverständlich mit ein. Einer der vier musterte ihn.

„Gentlemen, wir haben einen Stahltycoon in unserer Mitte.“

Kai bemerkte den zynischen Ton, aber fühlte sich dennoch geschmeichelt. Ein zweiter musterte ihn und nickte dann:

„Familie Brommel?“

„Darauf trinke ich!“, sagte Kai, leerte sein Glas und warf es an die Wand hinter sich.

Ein Fashion-Blogger schreckte auf, lachte dann aber hysterisch.

„Für Sie hätte ich zahlreiche Investoren, denen ich nichts vormachen müsste. Alle würden sofort Aktien zeichnen“, führte der Zweite fort.

Kai lachte und antwortete: „Bevor die Familie ihre Aktien aus der Hand gibt, wird der Papst evangelisch.“

„Das ist die Haltung von Uwe Brommel. Ist das auch die Haltung der ganzen Familie?“, fragte der Dritte.

Kai sah ihn starr an.

„Es ist Uwes Haltung.“

Alle vier nickten.

„Ein sturer Knochen vom alten Schlag. Immer die kleinen Schritte, immer alles in der eigenen Hand“, sagte einer.

„Das hat uns reich gemacht“, erwiderte Kai.

Mit Lust beobachtete er die Schmerzen der Broker. Sicher, die meisten würden vielleicht zwei, vielleicht vier Millionen Boni kassieren, aber an den Reichtum einer echten Industriellenfamilie würden sie nie heranreichen. Diese Brut zehrte ihre Energie aus dem Traum einmal wirklich besitzend sein zu können. Bis dahin lasen sie Netzwerker-Zeitschriften, um ja jeden wichtigen Namen zu kennen. Die Forbes-Liste der reichsten Männer war ihre Wichsvorlage und sie waren immer auf der Suche nach diesem einen kleinen Vorsprung, der ihnen den Hauptgewinn bringen konnte. Es mag wie eine beiläufige Bemerkung geklungen haben, aber natürlich hatten sie sein reiches Blut gerochen und umflogen ihn wie eine Horde blutsaugender Fledermäuse. Vielleicht würde dem betrunkenen Milliardenerben ja ein entscheidendes Geschäftsgeheimnis rausplumpsen?

Nützliche Idioten, dachte Kai. Solange du nach Geld stinkst und dir regelmäßig mal ein Bündel davon aus der Tasche fällt, würden sie sich, vor ihrer Freundin (!), von dir in den Arsch ficken lassen.

„Aber vielleicht würde ich das anders machen, wenn ich am Ruder wäre“, ließ Kai verträumt fallen, um ihre Gier zum Kochen zu bringen.

Der Brommel-Konzern und seine vielen untergliederten GmbHs wären ein Eldorado für jeden kurzsichtigen Glücksritter. Es war ein gewaltiges Buffet, das man zerschlagen konnte, um es in teuren Einzelgerichten der hungrigen Investorenmeute zum Fraß vorzuwerfen. Und jedes Mal würde der Kaufpreis eine bescheidene siebenstellige Provision beinhalten.

„Und wann wird das Ruder frei?“, fragte der Dritte.

„Bleiben wir doch in Kontakt.“

Kai händigte allen Vieren seine Visitenkarte aus, wohl wissend, dass in diesem Augenblick ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf um seine Gunst starten würde. Natürlich ließ sich niemand etwas anmerken. Alle steckten die Visitenkarte in ihre mit Kreditkarten überfüllten Portemonnaies und bedankten sich mit einem schmalen Lächeln. In jenem Moment – es war noch eine halbe Stunde bis Mitternacht – begann Stefano, den Teppich seiner Wohnung kreischend vom Boden zu reißen.

„Hinaus mit der Pferdedecke, hinaus!“

Wie ein wild gewordener Entrümpler warf er Blumenvasen und Stühle um, während er mit unbändiger Kraft Stück für Stück den Teppich emporriss. Die Wall-Street-Kids verdrückten sich auf die Toilette zum Koksen und der dicke Prinz schlich sich zum Ausgang. Allen war klar, was gerade passierte: Im Übermut wirkten die Drogen, die der Hotelerbe genommen hatte, einfach prächtig. Wer in solcher Stunde keinen Freund hatte, der nüchtern das Schlimmste verhinderte, endete im Wahn. Kai wie auch die Fashion-Blogger (von denen einer sich mittlerweile selbst überzeugt hatte, auf Food-Blogger umzusteigen, um derartigen Wahnsinn nicht mehr ertragen zu müssen) beobachten die Szene ebenso gelassen, wie die meisten anderen Gäste. Interessant wurde es, als ein Diener angewiesen wurde, die Ecke, die sich in mühevoller Arbeit vom Boden getrennt hatte, mit einer Haushaltsschere abzuschneiden. Wie ein althergebrachtes Ritual übergab der ausdruckslose Bedienstete seinem Chef den Teppichfetzen und entfernte sich unauffällig. War wahrscheinlich noch nicht der wildeste Abend in seiner Karriere gewesen. Mit einer Zufriedenheit, die eigentlich nur Kinder haben konnten, warf Barron den teuren Stoff aus dem Fenster. Er hatte ein Ergebnis produziert. Alleine. Aus eigener Kraft.

„Flieg Pferdedecke, flieg!“

Kai empfand derweil eine große Liebe zu allen Menschen, die sich gerade in diesen Räumen befanden. Sogar das Pferd war wunderschön, seine Flatulenzen von hypnotischem Klang. Kai verfiel in eine hingebungsvolle Stimmung. Alles war möglich, kein Gedanke wurde verworfen. Zwei Dinge tat er, um diesen Zustand auszukosten:

1. Er textete seinem Chauffeur und auch der Crew des gecharterten Privatjets: Er wollte umgehend zum JFK-Airport, um von dort dem Silvester in den Zeitzonen hinterherzufliegen. Großartige Ideen mussten sofort umgesetzt werden. John Travolta hatte so was mal getan. Das fiel ihm jetzt ein.

Erst jetzt, verdammt!

2. Er öffnete die Amazon-App und kaufte alles, was der Algorithmus ihm empfahl. Betrunken einkaufen steigerte seine Glücksgefühle. Dabei war es unwichtig, was er kaufte und wie teuer es war. Ein weiterer Kick folgte, wenn er dann in irgendeiner seiner Eigentumswohnungen die ganzen Pakete präsentiert bekam und sie wie Wundertüten aufriss. Schließlich hatte er längst keine Ahnung mehr, was in ihnen war.

An diesem Silvesterabend kaufte er ein T-Shirt mit dem Spruch „Eure Armut kotzt mich an“, eine Biografie von Bill Clinton, das Buch „Die Zelle“ über die Naziterroristen vom NSU, einen Handstaubsauger, eine Skimaske, die DVD „Black Anal Mayhem“. Außerdem suchte er in einem kurzen Anfall von Genialität bei Youporn den Begriff „Nafri“, fand aber nichts. Plötzlich stand Britta vor ihm und er wollte vor lauter Liebe zerschmelzen. Er wollte sogar weinen, konnte es aber nicht.

„Was ist los, wem schreibst du so aufgeregt?“, fragte sie.

„Wir müssen los. Die Wichtigen sind auch schon weg“, antwortete Kai.

Dann küsste er Britta heftig auf den Mund. Sie erstarrte für einen Moment, ließ es sich dann aber gefallen. Die Wall-Steet-Kids gingen an ihnen vorüber. Nummer Zwei sah auffallend intensiv zu Britta herüber. Die Gruppe unterhielt sich jetzt über die Chancen von TTIP.

„Einer von denen kam vorhin zu mir herüber und gab mir seine Visitenkarte“, sagte Britta.

Das ist der Kluge, dachte Kai und küsste Britta wieder.

Er wollte sie am liebsten in einen Wandschrank zerren und ablecken. Es könnten andere zusehen und sich dabei wichsen, aber er wollte sie als Leckstein missbrauchen. Sie bemerkte seine Erektion und lächelte zufrieden.

„Lass uns gehen“, schlug sie vor.

Seltene Gelegenheiten sind sofort zu nutzen.

„Die Limousine steht schon unten“, sagte Kai und sie gingen zur Tür.

Draußen startete der Raketenreigen, wodurch das Pferd in Raserei geriet, gegen eine Wand rannte und ohnmächtig auf ein dürres Model stürzte. Am nächsten Tag sollte auf einem neuen Foodblog ein Artikel über alte Canapé als bestes Katermittel erscheinen. Vice Magazin würde den Artikel kaufen und eine Woche später noch mal veröffentlichen. Barron wurde darin nicht erwähnt. Er bestellte sich einen neuen Teppich und betrat die Wohnung nie wieder.

Kai hatte seine abendliche Vision aufgegeben müssen. Er hatte auf der Rückbank des Rolls-Royce Britta gefingert, als sie es irgendwie schafften, Manhattan zu verlassen. Der Chauffeur hatte mehrfach vorsichtig darauf hingewiesen, am Flugfeld konnte Kai nicht abheben. Seine Crew hatte keine Bereitschaft gehabt und war nicht zu erreichen gewesen. In einem Wutanfall fragte Kai im VIP-Bereich, ob der Flughafen etwa „keine verschissenen Notfallpiloten hat, um – sagen wir mal – ein Spenderherz zu transportieren?!“

Seine Ausfälle waren mit einem kühlen Lächeln quittiert worden. Schließlich hatte er aufgegeben. Das Einzige, was der Wahn der Nacht dem nüchternen Tag hatte abtrotzen können, war die Swimming-Pool-Idee.

Für lächerliche 600 Dollar hatte Kai die Schwimmhalle im Sportspark auf der Mainstreet für vier Stunden gemietet. Dort schwamm er an Neujahr sanft rücklings auf und ab und sah seinen Gedanken zu, die wie Luftballons an die Decke schwebten und sich dort sammelten. Er versuchte sich selbst Mut zu machen, um die postnarkotischen Depressionen zu vertreiben. Die Gedanken an den großen Durst in ihm. Dem Durst der alles in ein schwarzes Loch spülte und nichts als Vernichtung kannte.

Er war ein toller Typ. Schwerreich ohnehin, aber auch voller Fachwissen über Modetrends, Luxusmarken und teure Autos. Er konnte jeden Smalltalk mühelos bestehen. Letzte Nacht hatte er es sogar fast geschafft, seine Frau zu penetrieren. Sein Schwanz kann also doch, wenn er wollte. Vielleicht.

Britta beobachtete seinen bleichen Körper, der wie eine rasierte, tote Robbe im Wasser trieb. Die Rosenblätter, die er vorher noch ins Wasser hatte streuen lassen, wirkten wie Laub. Aber Kai war ein bisschen glücklich. Die Ohren unter Wasser, glaubte er die Weltmaschine im Erdkern schnaufen zu hören. Dieses gedämpfte Rauschen ließ ihn an das Schicksal glauben. Daran, dass er sich keine Sorgen machen müsste. Er konnte in die Schweiz fliegen und einfach teilnahmslos zusehen, was das Schicksal ihm servierte. Er brauchte sich nicht nervös zu machen, brauchte niemanden etwas zu beweisen. Entweder der Weltgeist hatte ihn auf der Rechnung oder er würde sich halt auf diesem mit verwahrlosten Gestalten überfüllten Planeten zugrunde richten. So oder so kein schlechtes Leben.

Eigentlich hatte ich immer Künstler werden wollen. Eigentlich war das aber natürlich total unmöglich. Ich weiß nicht mehr wie, aber mir war die Geschichte von einem Filmemacher begegnet, der im Alter von acht Jahren seinen ersten Super-8 Film gedreht hatte. Ich fand das toll. Man musste sich nicht beschränken, nur weil man noch ein Kind war. Man konnte etwas erschaffen. Die Frage auf alles ist: Warum nicht?

Naja, warum nicht? Weil man in der Familie Brommel nicht zum Künstler geboren wird. Es war eines der seltenen Abendessen gewesen, wo wir mit Vater gemeinsam aßen. Er ließ sich das sonst kaum im Kalender blocken. Wir aßen öfters mit Mutter, aber in der Regel mit der Nanny. Sie war die einzige vom Personal, die sich mit an den großen Eichentisch setzen durfte, der das Esszimmer ausfüllte. Schade, dass sie nach ihrer Kündigung noch so einen Terz gemacht hat, ich würde ihr gerne mal eine Postkarte schreiben.

Ich war damals elf Jahre. Der Filmemacher war mir den ganzen Tag durch den Kopf gespukt. Seine Tatkraft. Etwas einfach machen. Mich interessierte auch die Inszenierung. Ich hatte Lust den Alltag zu sezieren und kleinste Szenen in Slow-Motion auszubreiten. Ich stellte mir eine Szene vor, in der ich versuchte, verschiedene Sachen zu tun. An den Kühlschrank zu gehen, ein Glas Saft zu holen. Die Fernbedienung fürs Heimkino-System vom Glastisch zu nehmen. Eine Gießkanne aus der Kammer in der Küche zu nehmen, um die Pflanzen zu gießen. Und immer, eine Sekunde bevor sich meine Hand um den Henkel, die Bedienung, den Griff schloss, schoss von der Seite eine andere Hand heran und übernahm das für mich. Ich war so überzeugt von der Idee und deswegen auch von meiner Zukunft als Filmemacher. Ich guckte auch einfach viel Fernsehen.

Jedenfalls bin ich an diesem Abend zu meinem Vater. Er saß schon am Tisch. Die anderen waren dabei, Platz zu nehmen. Ich wollte eine intime Sekunde für mich abknapsen und bin zu ihm hin. Habe ihn um einen Moment seiner Aufmerksamkeit gebeten und gesagt:

„Herr Vater, ich will Filmemacher werden.“

Noch bevor ich den Satz zu Ende sprach, war mir klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Der alte Sack löste sich wirklich vom Tisch und schenkte mir seine ganze Aufmerksamkeit. Seine blauen Augen rasierten meinen Körper. Am liebsten hätte ich die Worte wieder eingefangen und zurück in den Korb mit den ungesagten Sachen gepackt. Jetzt waren sie gesprochen und sie wirkten. Nach einer ganzen Weile nahm mein Vater meine Arme in seine großen behaarten Hände.

„Versuchst du mir zu sagen, dass du schwul bist?“

Ich wurde supernervös. Schlechte Vorbereitung ist das Schlimmste. Natürlich stritt ich das ab. War ja auch nicht so. Sexualität interessierte mich gar nicht. Mich interessierte der Film. Er ließ es dann erst mal gut sein. Aber wenn man sich am Herd verbrennt, macht man auch erst mal einen Bogen um die Küche. Ich ließ das Thema ruhen und bemühte mich Wenn man der Jüngste ist, hat man es eh schon nicht so leicht.

Jahre später kam der Moment, als es um die Frage der akademischen Bildung ging. War ja selbstverständlich. Erst das Abitur, dann das Diplom. Da ist meine Familie sehr eingefahren. Ökonomische Studien stehen im Fokus. Naturwissenschaft geht auch noch.

„Geld verdient sich nicht von selbst“, hat mein Vater immer gesagt und dementsprechend ging es nie um einen humanistischen Bildungsansatz, sondern um eine klare Kosten-Nutzen-Rechnung.

Ob wir mal die Firma übernehmen würden oder nicht, war gar nicht das Thema. Das Thema war, dass wir keine Gammler sind, die sich in nutzlosen Gedanken verlieren. Wir sind Pragmatiker, die wissen wie das Leben läuft. Realpolitik auf allen Ebenen sozusagen.