Die Religion des Kapitals - Paul Lafargue - E-Book

Die Religion des Kapitals E-Book

Paul Lafargue

0,0

Beschreibung

In diesem Pamphlet stellt Paul Lafargue, einer der bedeutendsten Denker des Sozialismus in Frankreich, die Macht des Kapitals als religiöses System dar und regte damit an, die Religion im Rahmen der Geschichte der Entfremdungsformen umgekehrt als Vorläufer des Kapitals zu verstehen. Lafargue, der mit seinem Buch Recht auf Faulheit auch in Deutschland bekannt wurde, schlägt in seiner Kapitalismuskritik eine andere Richtung als sein Schwiegervater Karl Marx ein und geht in gewisser Weise über ihn hinaus. So sieht er das Religiöse nicht in der Ideologie, sondern im materiellen Aufbau des Kapitals. Jean-Pierre Baudet knüpft in seinem Nachwort an Lafargues Grundgedanken an und überführt sie in eine aktuelle Kapitalismuskritik.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 171

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Paul LafargueDie Religion des Kapitals

Paul Lafargue

DIE RELIGION DES KAPITALS

Aus dem Französischen von Andreas Rötzer Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jean-Pierre Baudet

INHALT

Der Kongress von London

Der Katechismus des Arbeiters

Die Predigt der Kurtisane

Prediger Salomo oder Das Erbauungsbuch des Kapitalisten

Das Wesen des Gott-Kapitals

Der Auserwählte des Kapitals

Die Pflichten des Kapitalisten

Maximen der göttlichen Weisheit

Ultima Verba

Die Gebete des Kapitalisten

Vaterunser

Glaubensbekenntnis

Ave Miseria

Anbetung des Goldes

Klagen des Kapitalisten Hiob Rothschild

Jean-Pierre Baudet:Zur Religion des Kapitals von Paul Lafargue

In memoriam Paul Lafargue

Der lustigen Satire todernster Inhalt

Anmerkungen

Verwendete Literatur

Das erstmals am 27. Februar 1886 in der Zeitschrift LE SOCIALISTE veröffentlichte Pamphlet inszeniert einen internationalen Kongress der bürgerlichen Elite, der noch nicht wie heute in Davos, sondern in London stattfand. Anliegen des Kongresses war es, das wuchernde gesellschaftliche Chaos durch eine Wiederbelebung der Religion in Griff zu bekommen. Wie sich indes herausstellt, kann die Krankheit der bestehenden Gesellschaft sich kein anderes Heilmittel vorstellen als sich selbst. Letztendlich werden sich die Teilnehmer des Kongresses bewusst, dass das Kapital die real existierende Religion, sowie deren höchste Entwicklungsform ist. J.-P. B.

DER KONGRESS VON LONDON

Die fortschreitende Ausbreitung sozialistischer Ideen beunruhigt die besitzenden Klassen Europas und Amerikas. Vor einigen Monaten sind daher Männer aus allen Teilen der zivilisierten Welt in London zusammengekommen, um gemeinsam zu beraten, welche Maßnahmen am besten dazu geeignet seien, das bedrohliche Umsichgreifen jener Ideen aufzuhalten. Unter den Vertretern des kapitalistischen englischen Bürgertums fielen Lord Salisbury, Chamberlain, Samuel Morley, Lord Randolph Churchill, Herbert Spencer und der Kardinal Manning auf. Bismarck, der durch eine akute Alkoholvergiftung verhindert war, hatte seinen vertraulichen Berater, den Juden Bleichroeder geschickt. Die großen Industriellen und die Geldgeber beider Kontinente, Vanderbilt, Rothschild, Gould, Soubereyan, Krupp, Dollfuß, Dietz-Monin und Schneider waren entweder persönlich anwesend oder wurden durch Männer ihres Vertrauens vertreten.

Noch nie hatten sich Männer so unterschiedlicher Gesinnung und Nationalität in einem derart brüderlichen Einvernehmen versammelt. Paul Bert saß an der Seite des Kardinals Freppel, Gladstone begrüßte Parnell, Clémenceau plauderte mit Ferry und Moltke unterhielt sich freundschaftlich mit Déroulède und Ranc über die Aussichten eines Vergeltungskriegs.

Die Angelegenheit, die sie zusammengeführt hatte, ließ sie ihre persönlichen Rachsucht, politischen Intrigen und patriotischen Eifersüchteleien vergessen.

Als erster ergriff der päpstliche Legat das Wort: »Man regiert die Menschen abwechselnd mit nackter Gewalt und mit so umsichtiger wie subtiler Ausübung der Macht. Früher war die Religion jene magische Macht, die über die Gemüter der Menschen herrschte: sie gebot dem Arbeiter, sich in Stille zu unterwerfen und lehrte ihn, für den Schatten der Beute diese selbst preiszugeben, sein irdisches Elend über den Traum von der himmlischen Glückseligkeit zu vergessen. Aber die Ideen des Sozialismus, der böse Geist der Neuzeit, treiben den Glauben aus den Köpfen der Menschen und nisten sich in deren verwaisten Herzen ein. Der Sozialismus verkündet das Paradies auf Erden und redet ihnen ein, dass das Glück nicht im Jenseits zu suchen sei. Er ruft ihnen zu: ›Man bestiehlt Dich, auf, erwache und erhebe Dich!‹ Er bereitet die einst so gefügige und duldsame Arbeitermasse auf einen allgemeinen Aufstand vor, der unsere zivilisierte Gesellschaft zerstören wird, indem die privilegierten Klassen entrechtet werden, die Institution der Familie aufgehoben und den Reichen genommen werden wird, um den Armen zu geben. Kunst und Religion werden vernichtet und über die Erde wird die Dunkelheit der Barbarei hereinbrechen ... Wie den Feind aller Zivilisation und allen Fortschritts bekämpfen? Bismarck, der Herrscher über Europa, der Nebukadnezar, der Dänemark, Österreich und Frankreich besiegte, wurde von sozialistischen Schustern und Schneidern geschlagen. Die Konservativen Frankreichs haben Paris ’48 und ’71 in ein großes Schlachthaus verwandelt und mehr Sozialisten niedergemetzelt als an St. Bartholomäus Ketzer getötet wurden, aber das Blut dieser gigantischen Schlachterei verwandelte sich in den Tau, der den Sozialismus in allen Ländern sprießen ließ. Jedes Blutbad bringt den Sozialismus noch mehr zum Blühen. Das Ungeheuer hat der brutalen Gewalt standgehalten. Was tun?«

Die Gelehrten und Philosophen der Versammlung, Paul Bert, Ernst Haeckel und Herbert Spencer, erhoben sich einer nach dem anderen und schlugen vor, den Sozialismus mit den Mitteln der Wissenschaft zu bändigen.

Der Kardinal Freppel zuckte die Achseln: »Aber es ist doch gerade Ihre verfluchte Wissenschaft, die den Kommunisten die stärksten Argumente liefert!«

»Mit Verlaub, die Naturphilosophie, die wir lehren, ist Ihnen unbekannt«, erwiderte Mr. Spencer. »Unsere wissenschaftliche Evolutionstheorie beweist, dass die Minderwertigkeit der Arbeiterklasse eine notwendige Folge der unveränderlichen und ewigen Gesetze der Natur und ebenso schicksalhaft wie das Gesetz der Schwerkraft ist. Wir beweisen außerdem, dass die Vorrechte der privilegierten Klassen die Folge besserer Anpassung sind und dass deren Mitglieder sich in einem Prozess der ständigen Vervollkommnung befinden und schließlich eine neue Rasse bilden werden. Die Menschen dieser Rasse werden in nichts jenen Bestien in Menschengestalt gleichen, die nur mit der Peitsche in der Hand zu regieren sind [...]«*

»Möge Gott verhüten, dass Ihre Evolutionstheorien jemals in der Arbeiterklasse bekannt werden. Sie würden sie in Wut versetzen, sie in Verzweiflung, der Anstifterin aller Volksaufstände, stürzen«, unterbrach ihn der Kardinal de Pressensé: »Tatsächlich aber sind Sie sehr naiv, meine Herren Weisen der Verwandlungslehre, wie können Sie ernsthaft glauben, dass man Ihre desillusionierende Wissenschaft dem verführerischen Zauber der sozialistischen Ideen entgegensetzen kann, die den auf diese Weise verhexten Arbeitern Träume von Gütergemeinschaft und freier Entwicklung aller individueller Fähigkeiten vorgaukelt? Wenn wir unsere Privilegien behalten und weiterhin auf Kosten derer, die arbeiten, leben wollen, dann müssen wir die Einbildungskraft befriedigen, und, während wir das Menschenvieh scheren, seinen Geist durch schöne Märchen und Gaukelbilder aus einer jenseitigen, besseren Welt unterhalten. Die christliche Religion erfüllte diese Aufgabe mit Bravour. Sie aber, meine Herren Freidenker, haben sie ihres Glanzes beraubt.«

»Sie haben Recht, wenn Sie eingestehen, dass Ihre Religion in Misskredit geraten ist«, warf ihm Paul Bert scharf entgegen, »sie verliert täglich an Boden. Uns Freidenker aber greift Ihr an, ohne genauer darüber nachzudenken. Wenn wir Euch nicht heimlich unterstützten, während wir den Dummen gegenüber den Anschein erwecken, Euch zu bekämpfen, wenn wir nicht Jahr für Jahr die Kultbudgets bewilligten, so würdet ihr und alle Priester, Pastoren und Rabbiner die heilige Bude schließen und vor Hunger krepieren müssen. Man entziehe Ihnen das Geld und der Glaube ist futsch ... Weil ich aber Freidenker bin, weil ich mich über den Teufel genauso lustig mache wie über Gott, weil ich an niemanden als mich selbst glaube und an die körperlichen und geistigen Freuden, die ich mir nehme, gerade deshalb erkenne ich die Notwendigkeit einer Religion an, die, genau wie Sie sagten, die Vorstellungskraft des Menschenviehs befriedigt, während man es schert. Die arbeitenden Massen müssen glauben, dass ihr Elend das Gold ist, mit dem sie sich einen Platz im Paradies erkaufen, und dass der liebe Gott ihnen hier die Armut auferlegt, um ihnen im Jenseits das Himmelreich zu schenken. Ich bin sehr für die Religion – solange sie für die anderen ist. Aber, zum Teufel, warum habt Ihr eine so lächerlich blöde Religion zusammengeschustert! Beim besten Willen kann ich nicht bekennen, dass ich an eine Taube glaube, die mit einer Jungfrau geschlafen hat, und dass die Frucht dieser Vereinigung ein Lamm war, das sich in einen beschnitten Juden verwandelte! Was für eine moralische und physiologische Widerwärtigkeit!«

»Ihre Religion folgt nicht einmal den Regeln der Grammatik«, ergänzte Ménard-Dorian, der sehr auf die Reinheit der Sprache achtete. »Ein in drei Personen vereinigter Gott ist in alle Ewigkeit zu schlimmsten Barbarismen verurteilt: ›ich denken‹, ich schnäuzen mich‹, ›ich wischen mich‹ ...!«

»Meine Herren, wir haben uns hier nicht versammelt, um über die Prinzipien des katholischen Glaubens zu diskutieren«, lenkte Kardinal Manning sanft ein, »sondern um uns mit den sozialen Gefahren zu beschäftigen. Sie können, um Voltaire zu zitieren, die Religion verspotten, aber Sie können nicht verhindern, dass sie das beste moralische Druckmittel ist, die Begehrlichkeiten und Leidenschaften der unteren Klassen zu zügeln.«

»Der Mensch ist ein religiöses Tier«, begann mit feierlicher Großspurigkeit der Papst des Positivismus, Herr Pierre Laffitte. »Die Religion Auguste Comtes enthält weder Tauben noch Lämmer, und, obwohl unser Gott weder Federn noch Haare hat, ist er dennoch ein wirklicher Gott.«

»Ach was, euer Humanitätsgott«, warf Huxley ein, »ist weniger real als der blonde Jesus, die soziale Gefahr aber geht von den Religionen unseres Jahrhunderts aus. Fragen sie Monsieur de Giers, der uns lächelnd zuhört, ob nicht die in Russland aber auch in den Vereinigten Staaten neu entstehenden Sekten vom Kommunismus infiziert sind. Ich erkenne die Notwendigkeit einer Religion an, ich gebe außerdem zu, dass das Christentum, das in Europa etwas aus der Mode geraten ist, bei den Eingeborenen Papua-Neuguineas und den Wilden Australiens noch famose Dienste leistet. Wenn es aber einer neuen Religion bedarf, müssen wir darauf achten, dass sie kein Plagiat des Katholizismus ist und nichts enthält, was irgendwie nach Sozialismus riecht.«

»Warum«, unterbrach ihn Maret, glücklich, auch ein Wort an den Mann bringen zu können, »ersetzen wir nicht die theologischen Tugenden durch die liberalen Grundsätzen? An die Stelle von Glaube, Liebe und Hoffnung setze man Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«

»Und das Vaterland«, fügte Déroulède abschließend hinzu.

»Diese liberalen Tugenden sind in der Tat die schönste religiöse Erfindung unserer Zeit«, nahm Monsieur de Giers das Wort wieder auf. »Sie haben hervorragende Dienste in England, Frankreich und in den Vereinigten Staaten geleistet, überall dort also, wo man sie einsetzte, um die Massen zu lenken. Wir werden uns ihrer eines Tages auch in Russland bedienen. Ihr Männer des Westens habt uns die Kunst der Unterdrückung im Namen der Freiheit gelehrt, die Kunst der Ausbeutung im Namen der Gleichheit und die Kunst des Niedermetzelns im Namen der Brüderlichkeit. Sie sollen unser Vorbild sein. Aber diese drei Tugenden des liberalen Bürgertums reichen nicht aus, um eine Religion zu gründen, überdies sind es alles nur Halbgötter. Der höchste Gott muss noch gefunden werden.

»Die einzige Religion, die die Bedürfnisse unserer Zeit befriedigen kann, ist die Religion des Kapitals«, erklärte mit Nachdruck der große englische Statistiker Giffen1. »Das Kapital ist der wahrhaftige, allgegenwärtige Gott, er offenbart sich in den unterschiedlichsten Gestalten: Er ist glänzendes Gold und stinkender Guano, Hammelherden und Kisten voller Kaffee, Stapel von heiligen Schriften ebenso wie von pornografischen Bildern, gigantische Maschinen ebenso wie Unmengen kleiner Präservative. Das Kapital ist der Gott, den die ganze Welt kennt, sieht, berührt, riecht, schmeckt, er erregt all unsere Sinne, er ist der einzige Gott, der noch auf keinen Atheisten gestoßen ist. Salomon betete ihn an, selbst als er alles für eitles Nichts hielt. Schopenhauer entdeckte selbst dann noch berauschende Reize an ihm, als ihm schon längst alles zur Enttäuschung geworden war. Hartmann2, der unbewusste Philosoph, ist einer seiner bewussten Glaubensanhänger geworden. Die anderen Religionen sind nichts weiter als Lippenbekenntnisse, im tiefsten Herzen des Menschen aber regiert der Glaube an das Kapital.«

Bleichroeder, Rothschild, Vanderbilt, alle Christen und alle Juden der Goldenen Internationalen klatschten in die Hände und riefen: »Giffen hat recht. Das Kapital ist Gott, der einzige, lebendige Gott.«

Als sich die Begeisterung etwas gelegt hatte, fuhr Giffen fort: »Den einen verkündet er seine Anwesenheit auf furchtbare Weise, anderen mit der Zärtlichkeit einer jungen Mutter. Wenn das Kapital über ein Land herfällt, ist es, als ob ein Orkan über es hinwegfegte, der alles vernichtet und zerstört, was ihm im Weg steht, Menschen wie Tiere, Lebendiges wie Totes. Als sich das europäische Kapital in Ägypten niederließ, da ergriff es die Fellachen mit ihrem Zugvieh, ihren Karren und ihren Hacken und versetzte sie, als wären sie Strohhalme, an die Landenge von Suez. Mit seiner eisernen Hand beugte es sie unter das Joch der Fronarbeit, von der Sonne verbrannt, vor Fieber zitternd, von Hunger und Durst gepeinigt, bedeckten 30.000 von ihnen die Ufer des Kanals mit ihren Knochen. Das Kapital greift sich die jungen, starken, gesunden, freien und heiteren Menschen und sperrt sie zu Tausenden in die Fabriken, die Spinnereien und Bergwerke. Dort verbrennen sie wie Kohle in einem Schmelzofen, das Kapital saugt sie aus, nährt sich von ihrem Blut und ihrem Fleisch und verwandelt es in Steinkohle, Webstühle und Eisen für die Maschinen, es verwandelt ihre Lebenskraft in tote Materie. Wenn es sie aus seinen Fängen lässt, sind sie verbraucht, gebrochen und vor der Zeit gealtert, sie sind nur noch unnütze Gerippe, schwindsüchtig, blutleer und skrofulös. Die menschliche Vorstellungskraft, die sich doch sonst so erfindungsreich immer neue grauenhafte Ungeheuerlichkeiten ausdenkt, hätte sich niemals einen so grausamen wie schrecklichen, einen ebenso mächtigen wie bösen Gott ausdenken können. – Aber wie fürsorglich, zart und liebevoll ist er seinen Erwählten gegenüber! Für die Lieblinge des Kapitals kann die Erde nicht genug angenehme Dinge hervorbringen. Das Kapital foltert den Geist des Arbeiters, damit er immer neue Freuden erfinde, damit er immer neue bis dahin unbekannte Mittel bereitstelle, um die übersättigten Gaumen seiner Lieblinge zu reizen, es verschafft ihnen immer wieder jungfräuliche Kinder, um ihre erschlafften Sinne zu wecken. Es liefert ihnen zu ihrer freien Verfügung Lebendiges und Totes nach Belieben.«

Erregt vom Geist der Wahrheit tobten die Anwesenden vor Begeisterung und riefen:

»Das Kapital ist Gott.«

»Das Kapital kennt weder Heimatland noch Grenzen, weder Hautfarbe noch Rasse, weder Alter noch Geschlecht, es ist der internationale Gott, der universelle Gott, es wird alle Menschenkinder unter sein Gesetz zwingen«, rief der Legat des Papstes, der schutzlos seiner göttlichen Verzückung ausgesetzt war. »Brechen wir mit allen Religionen der Vergangenheit, vergessen wir den Hass auf andere Nationen und unsere religiösen Streitigkeiten, lasst uns gemeinsam mit Herz und Verstand die Dogmen des neuen Glaubens ausarbeiten, der Religion des Kapitals.«

Der Kongress von London, der als Wendepunkt in die Geschichte eingehen wird wie die großen Konzilien, aus denen die katholische Kirche hervorging, dauerte zwei Wochen. Es wurde eine Kommission ernannt, die sich aus Repräsentanten aller Länder zusammensetzte, und die damit beauftragt war, Protokolle zu verfassen und die während des Kongresses entwickelten Ansichten und Ideen in einer einheitlichen Lehre zusammenzufassen. Es ist uns gelungen, verschiedene Arbeiten dieser Kommission zu beschaffen und wir übergeben sie hiermit der Öffentlichkeit.

* Bedauerlicherweise erlaubt uns der beschränkte Platz nicht, die bedeutenden Reden wörtlich wiederzugeben, die auf diesem Kongress, an dem die Spitzen der Wissenschaft, der Philosophie, der Religion, der Politik, der Finanzwelt, der Industrie und des Handels teilnahmen, gehalten wurden. Wir verweisen daher alle des Englischen mächtigen Leser auf den von Mister Spencer 1884 im Aprilheft der CONTEMPORARY REVIEW veröffentlichten Artikel »The coming slavery«. Darin empfiehlt dieser berühmte bürgerliche Philosoph Kerker und Peitsche als Regierungsmethode für die niederen Gesellschaftsklassen und sagt den Kommunismus als kommende Sklaverei voraus.

DER KATECHISMUS DES ARBEITERS

Wie heißt Du?

Lohnarbeiter.

Wer sind deine Eltern?

Mein Vater war Lohnarbeiter ebenso wie mein Großvater und mein Urgroßvater, aber meine Vorväter waren Leibeigene und Sklaven. Meine Mutter heißt Armut.

Woher kommst Du, wohin gehst Du?

Ich komme aus der Armut und ich gehe in das Elend, mein Weg führt mich über das Hospital, wo mein Körper als Experimentierfeld für neue Medikamente dient und Studienobjekt von Ärzten ist, die sich um die Privilegierten des Kapitals kümmern.

Wo bist Du geboren?

In einer Mansarde unter dem Dach eines Hauses, das mein Vater mit seinen Arbeitskameraden erbaut hat.

Was ist deine Religion?

Die Religion des Kapitals.

Welche Pflichten legt Dir die Religion des Kapitals auf?

Zwei Hauptpflichten: Die Pflicht zu entsagen und die Pflicht zu arbeiten.

Meine Religion gebietet mir, auf das Eigentumsrecht an der Erde, unserer gemeinsamen Mutter, zu verzichten, auf den Reichtum ihres Inneren und auf den Ertrag ihrer Oberfläche, auf die Ernte des Ergebnisses ihrer geheimnisvollen Befruchtung durch die Wärme und das Licht der Sonne. Sie gebietet mir, auf das Eigentumsrecht am Produkt meiner Hände und meines Geistes zu verzichten. Darüber hinaus gebietet sie mir auf das Eigentumsrecht an meiner eigenen Person zu verzichten, von dem Moment an, in dem ich die Schwelle meines Arbeitsplatzes überschreite, gehöre ich mir nicht mehr, bin ich die Sache des Vorgesetzten. Meine Religion gebietet mir, von der Kindheit bis zum Tod zu arbeiten, sowohl bei Sonnenlicht wie im Schein der Gaslampe, Tag und Nacht, auf dem Meer ebenso wie auf und unter der Erde, immer und überall zu arbeiten.

Legt sie dir noch andere Pflichten auf?

Ja, die Fastenzeit auf das ganze Jahr auszudehnen, von Entbehrungen zu leben, den Hunger nur zur Hälfte zu stillen, meine fleischlichen Bedürfnisse einzuschränken und alle meine geistigen Bestrebungen zu unterdrücken.

Verbietet sie dir bestimmte Nahrungsmittel?

Sie verbietet mir den Genuss von Wild, Geflügel und Rindfleisch erster, zweiter und dritter Qualität, sowie Lachs, Hummer und feinere Fischsorten zu kosten. Wein dürfen wir ebenso wenig trinken wie echten Branntwein oder frische Kuhmilch.

Was für eine Nahrung erlaubt sie dir?

Brot, Kartoffeln, Bohnen, Kabeljau, geräucherte Heringe, Fleischerei-Abfälle, Ziegenfleisch, Pferdefleisch und minderwertige Wurstwaren. Um meine erschöpften Kräfte wiederherzustellen, erlaubt sie mir künstlichen Wein, Kartoffelschnaps und Rachenputzer aus Runkelrüben.

Welche Pflichten dir selbst gegenüber legt sie dir auf?

Meine Ausgaben einzuschränken, in Unrat und mit Ungeziefer zu leben, zerrissene, zerstückelte und geflickte Kleidung zu tragen, sie zu tragen, bis sie fadenscheinig ist, bis sie mir in Fetzen vom Leib fällt, ohne Strümpfe in löcherigen Schuhen zu laufen, durch die das eiskalte schmutzige Wasser der Straße dringt.

Welche Pflichten deiner Familie gegenüber legt sie dir auf?

Sie verbietet meiner Frau und meinen Töchtern, sich elegant, reizvoll und modisch zu kleiden. Sie gebietet ihnen, sich in derart erbärmliche Lumpen zu hüllen, dass sie damit fast das Schamgefühl der Sittenpolizei erregen. Ich habe sie zu lehren, wie man im Winter in dünnen Baumwollstoffen gekleidet nicht zittert und im Sommer nicht in ungelüfteten Dachstuben erstickt. Ich habe meinen Kindern die heiligen Prinzipien der Arbeit einzutrichtern, damit sie von klein auf ihren Unterhalt selbst verdienen können und der Gesellschaft nicht zur Last fallen. Ich habe ihnen beizubringen, wie man sich ohne Abendessen und Licht schlafen legt, und sie an das Elend, das Los ihres Lebens zu gewöhnen.

Welche Pflichten der Gesellschaft gegenüber legt sie dir auf?

Zunächst durch meine Arbeit, dann durch meine Ersparnisse den Reichtum der Gesellschaft zu mehren.

Was gebietet sie dir, mit deinen Ersparnissen zu tun?

Sie in den Sparkassen des Staates zu deponieren, damit sie zum Ausgleich des Staatsdefizits verwendet werden können* oder sie den philanthropischen Finanzunternehmen anzuvertrauen, die es unseren Arbeitgebern leihen. Unsere Ersparnisse müssen wir stets zur Verfügung unserer Herren halten.

Erlaubt dir deine Religion, dein Erspartes anzurühren?

So selten wie möglich, sie empfiehlt uns, nicht darauf zu bestehen, wenn der Staat die Rückzahlung verweigert** und ruhig Verzicht zu leisten, wenn die philanthropischen Finanziers unserem Wunsch zuvorgekommen sind und erklären, dass sich unsere Ersparnisse in Rauch aufgelöst haben.

Hast Du politische Rechte?

Das Kapital gewährt mir die unschuldige Zerstreuung der Wahl einer Regierung, nach deren Gesetz wir bestraft werden. Aber sie verbietet uns die Beschäftigung mit der Politik und die Auseinandersetzung mit den sozialistischen Ideen.

Warum?

Weil die Politik das Privileg unserer Herren ist. Weil die Sozialisten, die uns aufstacheln, Schufte sind und uns hinters Licht führen. Sie sagen uns, dass derjenige, der nicht arbeitet auch nicht essen muss, dass alles den Arbeitern gehört, weil sie es sind, die alles produzieren, dass der Unternehmer ein Parasit ist, der bekämpft werden muss. Die heilige Religion des Kapitals lehrt uns, dass es im Gegenteil die Prasserei der Reichen ist, die uns Arbeit verschafft und zu essen gibt, dass die Reichen die Armen unterhalten, dass, wenn es keine Reichen gäbe, die Armen zugrunde gingen. Sie bringt uns darüber hinaus bei, nicht so dumm zu sein zu glauben, unsere Frauen und Töchter wollten die feinen Tücher, die sie weben, auch selbst tragen, da sie sich doch viel lieber in schäbige Fetzen kleiden. Sie bringt uns auch bei, dass wir, die wir doch schwere Zeiten durchzumachen gewöhnt sind, nicht Weine trinken und gutes Fleisch essen, sondern verdorbenes Fleisch und gepanschte Getränke zu uns nehmen sollen.

Wer ist dein Gott?

Das Kapital.

In Ewigkeit?

Unsere gelehrtesten Priester, die offiziellen Ökonomen, sagen, er existierte von Anbeginn der Welt, dass er aber über lange Zeit ganz klein war und dass Jupiter, Jehova, Jesus und die anderen falschen Götter ihm seinen Thron streitig machten, dass er aber seit etwa 500 Jahren an Bedeutung gewann und dass seine Macht und Herrlichkeit unaufhörlich wächst. Heute regiert er die Welt nach seinem Willen.

Ist dein Gott allmächtig?

Ja. Seine Gnade gewährt alle Genüsse der Erde. Wenn er sein Antlitz von einem Menschen, einer Familie, einem Land abwendet, so müssen sie in Kummer und Elend ihr Dasein fristen. Die Macht des Gottes Kapital wächst mit dem Umfang seiner Masse: täglich erobert er neue Länder, täglich vergrößert er die Schar seiner Diener, die ihr Leben der Aufgabe weihen, seine Masse zu vermehren.

Wer sind die Auserwählten des Gottes Kapital?

Die Kapitalisten, Kaufleute und Rentiers.

Wie belohnt Dich dein Gott, das Kapital?

Indem er mir täglich zu arbeiten gibt, mir, meiner Frau und den Kindern, sogar den Jüngsten.