Die Resonanzen - Helga Flatland - E-Book

Die Resonanzen E-Book

Helga Flatland

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Beschreibung

Mathilde, eine Lehrerin aus Oslo, verliert nach der Affäre mit einem ihrer Schüler den Job. Orientierungslos geworden sehnt sich Mathilde nach Einfachheit und einer natürlichen Ordnung der Dinge — kurzerhand mietet sie eine Hütte in den norwegischen Bergen im Landkreis Telemark. Johs entspricht genau der Vorstellung, die Mathilde von Leuten auf dem Land hatte: Er betreibt zusammen mit seinem Bruder einen Molkereibetrieb, der seit vierhundert Jahren im Besitz der Familie ist, und spielt norwegische Folkmusik. Mathilde kann damit wenig anfangen und isoliert sich schnell von der Hofgemeinschaft. Doch das scheint unmöglich, auf dem Hof hat jeder jeden im Blick. Eine brodelnde Mischung aus Traditions- und Generationsunterschieden, Träumen und Obsessionen macht das Buch zu einer einnehmenden Leseerfahrung, die auch auf eine Reise in die norwegische Wildnis einlädt.

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EPUB
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Seitenzahl: 401

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem TitelEtterklang bei Aschehoug, Oslo.

eccoverlag.de

© Helga Flatland

Deutsche Erstausgabe

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe

Ecco Verlag in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH

Coverabbildung von »Villa View« von Laura Gee

Autorinnenfoto von Niklas Lello

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783753000893

A

»Und die Füß!«

Die Gummisohlen von meinen leichten Joggingschuh waren wie am Laminatboden festgeklebt.

»Die Füß!«

Ich hab die Zehen eingekrallt, ihm in die Augen geschaut.

»Komm schon, Johs, Himmelherrgott, die Füß!«

Johannes hat meinen Blick unerbittlich erwidert und die harten Sohlen von seinen eignen Schuh dermaßen laut auf den Boden geknallt, dass ihr Echo von den Turnhallenwänden widergehallt ist.

Die Finger von meiner linken Hand sind flink gesprungen, das rechte Handgelenk ist locker, leicht und gefügig gewesen, ich hab den Rhythmus gespürt, in der Brust, im Bauch, in den Knien und Schenkeln, ich hab ihn an seinem Nicken gesehen, an der flachen Hand, die gegen die Hemdbrust geschlagen hat, ich hab ihn in beiden Fußknöcheln gespürt, aber die Füß haben sich nicht gerührt, nicht bis der Ton vom letzten Strich über die Saiten in dem großen Raum verklungen war. Da hat es lautlos und unwillkürlich ein paarmal im rechten Fuß gezuckt, meine Wangen sind heiß geworden.

»Ohne Füß kannst nicht Fiedel spielen, Johs.«

Der Rhythmus von vierhundert Füß, die im Takt auf den Boden knallen, schickt kleine Stoßwellen durchs Haus und mich. Ich trink mein Bier in großen Schlucken und starr auf die Fiedel, die noch im Kasten liegt und schlummert. Schau, wie gut sie schläft, die Kleine, hat der Johannes beim Aufmachen vom Fiedelkasten oft gesagt. Als Kind ist es mir irgendwie unangenehm gewesen, wie er über seine Fiedel geredet hat, aber erst als Erwachsener hab ich kapiert, dass das daher gekommen ist, weil er fürs Spielen immer rauschig war, und weil er über sie – und mit ihr – geredet hat, als wär sie ein Kind und gleichzeitig jemand, den er begehrt.

Ich hab vom Johannes nichts geerbt außer meinen Nam und diese Fiedel. Bei beidem wollt er kurz vorm Sterben, dass unsre Mutter was damit macht, kannst den Nam von ihm nicht ändern, hat er in seinen letzten Monaten öfters verzweifelt gebrüllt. Er ist fünfundzwanzig Jahr, Papa, da ist es alleweil zu spät dafür, hat unsre Mutter geantwortet und mich angelächelt. Was möchtest denn, wie wir ihn nachher sonst nennen, hat sie beim nächsten Mal gefragt. Mir wurscht, hat der Johannes geschrien, mir komplett wurscht, nur mein Nam soll er nicht haben.

»Bist so weit, Johs?«, sagt eine Stimm hinter mir.

Ich bück mich, nehm die Fiedel hoch, geh hinter der Frau her, von der ich nicht mehr weiß, wie sie heißt, geh aus dem Übungsraum, zur Hinterbühne, da hängt der Geruch von verbranntem Staub und Schweiß. Durch den Vorhang hör ich, wie ich angekündigt werd, und als Nächster kommt nicht irgendwer, nein, sondern aufgepasst, es kommt Sein Enkel, Sein Erbe, ja gar Seine Fiedel. Ich mach mich groß, lächel, tret ins Licht in der Bühnenmitten. Steh da, als der Applaus verebbt, in völliger Ruh, lang genug, dass ich hör, wie sich im Publikum ein paar Leut ungeduldig bewegen, mach es genau wie der Johannes das immer gemacht hat, damit sich die Spannung aufbaut.

»Kari Midtigard«, sag ich schließlich ins Mikrofon, lächel in den Saal, mach wieder eine Pausen, weiß, dass mein Spiel dem Selbstvertrauen von diesen Pausen und meinem schiefen Lächeln überhaupt gar nicht angemessen ist, »kennst du die Kari Midtigard aus Tinn, kein Bursch kommt der ins Zimmerchen rin. Kari ist lieb und Kari ist hold, und jetzt mein Schatz, der funkelt wie Gold.«

Die müssen die Geschichte, die du spielst, bildlich vor sich sehen können, hat der Johannes oft gesagt gehabt, die müssen die Verbindung zwischen deine Tön und der Saga hören, das muss einand stützen. Nicht so, hatte er zu mir gesagt, du erzählst, wie wenn du zum Einkaufen gehen tätest, furchtbar fad, deine Wort müssen tanzen, komm schon, noch mal, Rücken grad, erzähl und spiel, als wenn du es meinen würdest.

Ich heb die Fiedel an die Brust, spiel die Weisen von Kari Midtigard aus Tinn.

Ich schau mir nach einem Volksmusikwettstreit die Ergebnisse schon lang nicht mehr an, ich weiß eh, dass mein Nam weit unten auf der Listen steht, und das passt schon, ich spiel nicht deshalb, sag ich zu denen, die danach fragen mögen, heut ist das Ingrid.

»Warum spielst du dann?«, will sie wissen und tut sich schwer beim Aufknöpfen von meiner Trachtenwesten.

Ich bin zu rauschig fürs Helfen, spür meine Finger nicht, auch nicht den Rest von meinem Körper.

»Weils mir im Blut liegt«, sag ich, »du weißt, wer mein Ehnl gewesen ist?«

Dafür, dass ich den Johannes auf die Art benutz, schäm ich mich nicht, außerdem wär das vielleicht eines der wenigen Dinge an mir, für die er mich achten tät. Du musst aufpassen, dass du nicht plötzlich mit einer Verwandten von uns im Bett landest, hat Andres einmal gescherzt, weil es ist dermaßen unwahrscheinlich, dass der Johannes, so wie der unterwegs war, nur unsrer Ahnl Kinder gemacht hat. Zumindestens schön zum Anschauen bist, hat der Johannes zu mir gesagt, zumindestens, wennst sonst schon dermaßen kein Talent hast.

»Natürlich.« Ingrid kapituliert vor der Trachtenwesten, die Händ gleiten stattdessen runter zum Gürtel, finden das Messer. »Ui, so klein und süß«, sagt sie und zieht es aus der Scheiden.

»Wennst mich fragst, ist die Größ ziemlich normal«, sag ich.

»Das hör ich gern«, sagt sie und lächelt.

Am nächsten Morgen wach ich allein im Hotelbett auf, der Rücken tut mir weh, damit muss ich noch vor der Frühjahrsbestellung mit den endlosen Stunden auf dem Traktor was machen. Ich such mein Handy, riesige Schlagzeilen über neue Infektionen, Andres ist bestimmt grad komplett verängstigt, er hat Angst vor dem Coronavirus, seit er im Dezember zum ersten Mal davon gelesen hat. Seine Angst hat er vom Johannes geerbt – und die verursacht auch die ganzen kleinen Bewegungen in der Feinmuskulatur um den Mund, den skeptischen Blick und die nervösen Glieder, durch das schaut er dem Johannes ähnlicher, als er es eigentlich tut. Mehr als ich, du bist ein großer, sicherer Fels, hat unsre Mutter einmal gesagt, warst schon immer ruhig und schweigsam, und da drüber solltest froh sein. Aber die Musik liegt in den Nerven, hat der Johannes immer gesagt, also insofern hätten die Nerven von mir aus gern etwas gerechter verteilt werden können, weil Andres ist beinah schon demonstrativ an Musik uninteressiert, an Musik im Allgemeinen und an Volksmusik im Speziellen, und dabei hat er fast das absolute Gehör. Bei einem falschen Ton noppt sich die Haut von ihm vor Unbehagen, kannst verdammt noch mal nicht sauber spielen, hat er oft durch die Wand zwischen unsern Zimmern geschrien, als wir kleiner waren und ich Fiedel geübt hab. Ich hör den Unterschied zwischen sauber und falsch, aber nicht in den Feinheiten wie Andres, bei ihm ist das körperlich, es liegt in den Nerven.

Ich schick ihm eine Nachricht, dass ich zum Stallgehen am Abend zurück bin. Er antwortet innerhalb einer Minuten, ob ich auf dem Weg beim Baumarkt vorbeifahren und Kalk kaufen könnt. Ich beruhig mich damit, dass er offenbar zumindestens momentweis in einem Zustand ist, wo er die Aufmerksamkeit von allen Symptomen wenden kann, die im Takt mit den Schlagzeilen auftauchen, und geh unter die Dusche.

Der Hof, den Andres und ich bewirtschaften, ist seit dem 17. Jahrhundert im Besitz der Familie von unsrer Mutter. Sie hat zwei ältere Brüder, aber der Johannes hat sie schon als Kind zur Nachfolgerin bestimmt, und natürlich hat niemand Einspruch erhoben. Er war ein Pionier des Feminismus, erklärt sie manchmal. Auch dagegen sagt niemand was, aber bestenfalls ist das eine wohlwollende Umschreibung der diktatorischen und findigen Art, mit der der Johannes seine Umgebung gelenkt hat. Den Hof hat er nie selbst betrieben, sondern immer sein Bruder – der hat allein in dem kleinen Austragshaus gewohnt, während der Johannes und unsre Ahnl mit ihren drei Kindern im Haupthaus gelebt haben. Er wollt das selbst, hat der Johannes gesagt, das hat er selbst so haben wollen. Ich hab nie kapiert, wie zu der Zeit Betrieb und Einnahmen aufgeteilt worden sind, aber ich war auch erst vier Jahr alt, als 1987 der Bruder vom Johannes unerwartet gestorben ist und unsre Mutter offiziell übernommen hat. Der Johannes und unsre Ahnl sind ins Austragshaus gezogen und wir die drei Kilometer vom Elternhaus von unserm Vater zu dem von unsrer Mutter. Im Herzen von Telemark, hat der Johannes gesagt und den Hof mit allem, was er zu bieten gehabt hat, zur Inszenierung seiner selbst genutzt, obwohl er keinen Schimmer gehabt hat, wo bei einer Mähmaschin hinten und vorn ist. Oder bei einer Kuh. Auf und neben der Bühne hat er Geschichten über sein Familiengeschlecht erzählt, über Hof, Leut und Viecher, und sich selbst ins Zentrum gestellt, ein Großbauer in einer Ahnenreih von Großbauern. Er hat dermaßen viel Lügengeschichten über den Hof und meine Vorfahren erzählt, dass man überhaupt nicht mehr wissen kann, was davon stimmt – was nur seine Ausschmückung und Umdichtung von gehörten Geschichten und was tatsächlich passiert ist. Eine von seinen Lieblingserzählungen ist darum gegangen, wie mein Stammvater persönlich die Ursachen dafür war, dass Telemark so lang Terra incognita geblieben ist, er hat den Kartograf abgemurkst, hat der Johannes erklärt, und dann hat sich viele Jahr niemand mehr in die Nähe der Telemarkgrenzen getraut. Diese Geschicht hat er oft erzählt, voll Stolz, als würd das was Ehrenvolles über unsre Familie sagen, und hat auch dann noch damit weitergemacht, als Andres seine Historikerfreundin ihn bei einem Weihnachtsessen, an das sich alle erinnern und über das keiner je spricht, korrigiert hat.

Der Hof besteht aus einem Haupthaus und einem Austrag, einem alten Schafstall, den Andres grad für die künftige Fleischproduktion umbaut, und einem neuen, hoch technologisierten Milchstall. Außerdem gehören vierzig Hektar Ackerfläche und Wald dazu. Andres, der zwei Jahr älter ist als ich und das Anerbenrecht hat, hat sich in seiner typischen Art durch mehrere Studien und Berufe gebangt und gewurschtelt, bis er mit Ende zwanzig draufgekommen ist, dass das Sicherste trotz allem das Heimkommen und Übernehmen war, ganz im Einklang mit dem, was der Johannes sowieso lang davor schon beschlossen gehabt hat. Ich hab eine Ausbildung in Landwirtschaft gemacht und anderswo als Hofvertretung gearbeitet, und seit ich denken kann, ist das Betreiben von einem Hof mein klares Ziel gewesen, gleich ob den hier oder einen andern. Darin bin ich gut, das kann ich. Das hat der Johannes gewusst, das hat unsre Mutter gewusst, und das weiß auf jeden Fall Andres, der mit seiner Entscheidungsschwächen kein Leiter von einem Betrieb sein kann, bei dem im Takt von Jahreszeiten, Wind und Wetter jeden Tag ein Haufen Entscheidungen anfallen. Ich schaff das nicht ohne dich, hat er gesagt, bevor er sich entschieden hat, das weißt du. Ich will es nicht, hat er übers Haupthaus gesagt, ganz wirklich nicht, ich will lieber im Austrag wohnen, Kristin auch, sie findet das zu groß, zu viel zum Aufräumen. Man kann nicht wissen, ob das die Wahrheit oder das schlechte Gewissen da drüber gewesen ist, dass er von seinem Anerbenrecht so spät Gebrauch gemacht hat, während ich zu dem Zeitpunkt den Hof schon mehrere Jahr lang praktisch betrieben hab, aber ich hab den Preis, den er da zahlen hat müssen, gut gefunden, und wir haben nie mehr drüber geredet.

Wer ertragreich wirtschaften will, muss groß wirtschaften, hat unsre Mutter unser ganzes Leben lang gesagt und ständig um mehr Tiere erweitert, ständig mehr Maschinen gekauft, mehr Milchquoten und mehr Äcker zu Weiden und Futter gemacht. Wo der Johannes nicht grad eben ein Pionier gewesen ist, war es in vielerlei Hinsicht unsre Mutter. Weil ich eine Frau bin, hat sie öfters gesagt, Frauen machen sich besser als Bauern, wir haben bessere Intuition – und in dem Beruf steckt nicht zuletzt genauso viel Intuition wie Muskelkraft. Neben Intuition hat meine Mutter auch einen enormen Wettbewerbsgeist, sie hat immer das Gefühl gehabt, sie muss mehr beweisen beziehungsweise zurückweisen, und das an sich ist wahrscheinlich der Grund für mindestens die Hälfte von unserm Maschinenpark und mehreren von den Plaketten für besonders gute Milch an der Wand im Büro.

Als ich das Auto daheim in der Einfahrt park, steht unser Vater auf dem Hofplatz und ist mit den Welpen am Spielen. Er und unsre Mutter wohnen jetzt im Haus von seinen Eltern, aber sind mehr hier auf dem Hof als bei sich. Unser Vater ist auf dem einen Ohr taub und hat auf dem andern eine Höreinschränkung. Auch wenn er ein wirklich kleines Hörgerät hat, meint er, das stört bei jeder körperlichen Aktivität, und benutzt es nur drinnen, in sozialen Kontexten, wie er es nennt. Weil weder unsre Mutter, Andres noch ich die Anforderungen von sozialem Kontext erfüllen, wie er ihn definiert, benutzt er das Hörgerät ungefähr einmal im Halbjahr.

Er hört nicht, dass ich komm. Ich bleib eine Weile im Auto sitzen und beobacht ihn durch die Windschutzscheiben, er ist fünfundsiebzig, aber in den Bewegungen noch immer schnell und geschmeidig, hat keine steifen Glieder, er bückt sich nach einem Spielzeug, wirft es, geht in die Hocken und sagt was zu den drei Welpen, deutet, lacht und wirft die Arm in die Höh, als sie sich auf ihn stürzen, die kurzen Schwänzchen vibrieren vor Begeisterung. Seit ich denken kann, züchtet er Elchhunde, hat aber vor vielen Jahr selbst mit dem Jagen aufgehört. Ich glaub, dass er nie einen Elch geschossen hat, das kann er nicht. Er mag Tiere zu gern, schon immer und lang bevor man sich mit einem Sinn fürs Tierwohl schmücken hat können.

»Das kannst, glaub ich, aufgeben«, sag ich in sein gutes Ohr, sobald ich nah genug bin.

Vielleicht hat er mich kommen hören oder es, wie ich ihm oft unterstell, gespürt, jedenfalls ist er nicht zusammengezuckt, wirkt nicht überrascht. Er lächelt den Welpen zu, schaut mich nicht an.

»Vielleicht. Sie sind sowieso zu klein, vor allem möcht ich ja ihr ein wenig Ruh gönnen.« Er nickt Richtung Hundemutter, die vor der Stallwand liegt und sich sonnt. »Wie war die Straß?«

Immer wenn ich irgendwo unterwegs war, fragt er nach den Straßenverhältnissen, auch mitten im Sommer, es ist eine offene Einladung zum Erzählen, wie es mir geht, was ich gemacht hab, oder eben einfach zum Reden über die Straßen.

»Die Straß ist jetzt schneefrei«, sag ich.

»Wird wohl eine Zeit lang dauern, bist wieder rauskommst«, sagt er. »Jetzt soll alles dichtgemacht werden.«

»Alles?«

»Ja, wegen dem Coronavirus.«

Er spricht Corona englisch aus.

»Hast du mit Andres gesprochen?«, frag ich.

»Ja, der klebt quasi vorm Fernseher und den Nachrichten, ich hab ihm gesagt, er soll ausmachen, ich würd ihm schon Bescheid sagen, wenn was ist, was er wissen muss«, sagt mein Vater. »Aber du weißt ja …«

Ich lach.

»Bis es zu uns hier rauskommt, muss viel passieren«, sag ich, »willst du mit mir abendessen? Ich hab aber nur gekaufte Pizza.«

»Nein, das trau ich mich nicht«, sagt er, »Mama macht ihre Fischsuppe.«

»Ich fühl mit dir«, sag ich und geh rein.

Das Haus ist noch so wie damals, als Andres und ich übernommen haben und unsre Eltern ausgezogen sind. Mit seinen drei Stuben, drei Bädern, fünf Schlafzimmern plus Keller und Dachboden ist es für mich allein viel zu groß. Das merk ich, wenn die andern da sind, dran, wie die Kinder von Andres die Zimmer füllen, oder wenn sich unsre Eltern auf ihre angestammten Plätze am Esstisch setzen.

Ich hab Renovierungspläne gehabt, zumindestens für das eine Bad, aber das Geld ist in den Betrieb geflossen, und Renovieren nur für mich allein kommt mir sinnlos vor. Außerdem kann ich abgesehen vom Bad nicht viel ändern, das Haus steht größtenteils unter Denkmalschutz. Die Wänd aus Rundholzbalken sind original aus dem 17. Jahrhundert, und in allen Stuben stehen mit Rosen bemalte Einbauschränk an den Wänd, zusätzlich zu Wandbänk, Eckschränk und Holzhimmelbetten. Als Kind hab ich das Haus hässlich gefunden, altmodisch. Altmodisch, hat meine Mutter jedes Mal, wenn ich drüber gejammert hab, wiederholt und laut gelacht, die Hand oder manchmal die Wange an die runden Baumstämm gelegt, hörst mich, hat sie zu dem Stamm gesagt, altmodisch bist du nicht, aber alt, das wohl.

Vor seiner Geigenstund sitzt Viggo immer vorm Gemeindehaus und wartet auf mich. Ich hab ihm gesagt, dass er reingehen kann, drinnen warten, vielleicht allein ein wenig üben, bis ich da bin, aber das tut er nie. Ich weiß, er sitzt zwei Stund auf dieser Bank, von Schulschluss, bis ich komm. Wenn ich um die Ecke bieg, leuchtet sein ganzes Gesicht auf, das versetzt mir jedes Mal wieder einen Stich. Er kann nicht Geigen spielen, er wird nicht besser. Hast geübt, frag ich jede Stund. Er nickt. Gut möglich, dass er das wirklich getan hat, nur schlägt es sich nicht nieder, es bringt nichts. Seine Finger sind kurz und dick, sie treffen die Saiten nicht richtig, ihm zuhören ist Folter, noch schlimmer ist aber, dass ich mich furchtbar über sein ganzes Erscheinungsbild ärger, ich kann einfach nicht anders als ihm kurz angebunden oder sogar verächtlich antworten. Ich bin die ganze Zeit am Schwanken, weil einerseits möcht ich ihn am liebsten mit heimnehmen, waschen und ihm die Haar schneiden, und andrerseits möcht ich ihm irgendwie wehtun.

Aber als wir die Information über die Schulschließung und das Einstellen von sämtlichen Freizeitangeboten, also auch der Musikschule, bekommen, ist Viggo der Erste, an den ich denk. Ich schick ihm eine Nachricht, schreib, dass ich hoff, er wird in der Zwischenzeit üben, benutz YouTube, darin bist du doch Profi, schreib ich und einen Daumen hoch.

Für mich ist es ein Tag wie jeder andre, ich spür einfach nicht den Ernst, den alle um mich rum offenbar verinnerlicht haben. Andres traut sich nicht vor die Tür, er ruft bei mir an, als ich zum Siloballenholen unterwegs bin.

»Du warst doch erst am Wochenend bei dem Volksmusikwettstreit«, ruft er.

Ich muss lachen.

»Da wimmelt es nicht grad von Weltenbummlern«, sag ich und halt den Traktor an, weil ich hör, wie viel Angst er hat.

Er antwortet nicht.

»Ich hab Halsweh, und ich hab die ganze Nacht gehustet«, sagt Andres.

Ich zweifel nicht dran, dass das wahr ist. Andres hat immer die Symptome von Krankheiten, vor denen er Angst hat, und weil ich es besser weiß, sag ich nicht, dass er sich das nur einbildet. Das tut er auch nicht, er kann sich so verrückt machen, dass er tatsächlich Fieber oder Ausschlag kriegt, und irgendwie führen solche handfesten, körperlichen Beweise eher zur Abmilderung von seiner Angst als zur Eskalation.

»Wie machen wir jetzt weiter?«, fragt er. »Wenn wir im Haus bleiben sollen.«

»Jetzt bist du irrational«, sag ich, auch wenn ich weiß, dass ihn das wütend machen wird. »Im Stall gibt es jedenfalls keine Ansteckungsgefahr.«

»Das Virus kommt von einer Fledermaus, Johs, es überträgt sich vom Tier auf den Mensch, also bestimmt auch andersrum. Jeder kann die Küh angesteckt haben, und war diese Scheißstädterin von einer Tierärztin nicht im Skiurlaub in Italien?«

»Nein, sie war in Schweden«, sag ich.

Unsre ganze Kindheit und Jugend über hat sich Andres weggesehnt. Er hat den Ort gehasst, all das Kleine hier, das engstirnige Denken, die geringen Ambitionen; er hat ausländische Magazine abonniert, schwedisches Fernsehen geschaut, die amerikanische Basketballliga verfolgt, sich im Rhythmus von Dennis Rodman die Haar gefärbt, sich als Erster hier Skateboard, Snowboard und übergroße Mighty-Ducks- und Chicago-Bulls-Pullover gekauft und seine weiten DC-Hosen dermaßen tief unter der Hüften getragen, dass er keine Treppen hat steigen können. Es ist so eng hier, hat er gesagt, so scheißeng. Richtig eng scheint es mir in deiner Hosen da nicht, hat unsre Mutter erwidert. Unser Vater und sie haben ihn machen lassen, sich ausprobieren, wie sie das zum großen Ärger von Andres genannt haben, bis er an einem Morgen angefangen hat, dass er auf Bokmål redet. Also jetzt reicht es, hat unsre Mutter gesagt und auf die Arbeitsfläche in der Küchen gehauen, als Andres keine Milch zum Frühstück haben hat wollen. Es hat sich rausgestellt, dass unser Vater hinter der liberalen Haltung zu Andres seiner Auflehnung gesteckt hat, denn nachdem sie erst mal zerbröselt war, ist unsre Mutter gnadenlos geworden. Wer glaubst du eigentlich, dass du bist, hat sie zuerst gesagt. Reg dich ab, hat Andres geantwortet und einen Saft aus dem Kühlschrank genommen. Ich meins ernst, wer glaubst du eigentlich, dass du bist, hat unsre Mutter noch mal gesagt. Andres hat nichts geantwortet. Weißt du überhaupt, wer du bist, hat sie weitergeredet. Weißt du, was in diesen Wänd hier steckt, von was du abstammst? Ich möchte dort sein, wo es passiert, hat Andres schließlich gesagt. Wo es passiert, hat unsre Mutter wiederholt. Was tut sich da, hohle Meinungsmache? Hier passiert es, hier hat alles seinen Anfang, hat unsre Mutter gesagt. Da hat Andres mit den Schultern gezuckt. Das war der Beginn von einem mindestens drei Wochen dauernden stummen Streit, bei dem unsre Mutter Andres konsequent eine Antwort schuldig geblieben ist, wenn er nicht auf Nynorsk geredet hat. Am End ist er derjenige gewesen, der sich geschlagen geben hat müssen, aber jahrelang hat er mit niemand anderm als unsrer Mutter Nynorsk gesprochen.

Ich weiß nicht, wann sich das bei ihm gedreht hat, es ist nach und nach im vorigen Jahr vor seiner Rückkehr passiert, eines Tages ist in seiner Facebook-Bio plötzlich gestanden, woher er kommt, und zugleich hat er sein Titelbild in ein übertrieben idyllisches Bild vom Ort und vom Hof geändert. Er ist öfters heimgekommen, hat unsrer Mutter Fragen über die Familie gestellt, über unsre Geschichte, hat alte YouTube-Videos vom Johannes seinen Konzerten gepostet. Nachdem er heimgezogen war und den Hof übernommen gehabt hat, ist es dann komplett gekippt, jetzt macht er sich über alles lustig, was irgendwie nach Urbanität riecht, und beteiligt sich in Onlinekommentaren an sinnlos polarisierenden Debatten über Stadt und Land, Wolf und Schaf, Schneemobil und Kulturlandschaft. Wenn er zu rechthaberisch wird, schaff ich es nicht immer, dass ich ihm nicht widersprech oder ihn nicht ein bisschen aufzieh. Aber ich kommentier nie den offensichtlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Zunahme von seiner Angst und von seinem Patriotismus.

»Beruhig dich, das geht bald wieder vorbei«, sag ich zu Andres.

»Da liegst du komplett falsch«, sagt er leise, »das geht erst richtig los.«

Als wir am Flughafen von Tromsø abheben, winkt im Osten zum Abschied das Polarlicht. Die japanischen Touristen, die auf der falschen Seite des Flugzeugs an ihren Sitzen festgeschnallt sind, strecken verzweifelt ihre Selfiesticks über den Mittelgang, ein Handy trifft mich an der Schläfe, und ich drehe mich verärgert zu der Frau am anderen Ende der Stange um.

»Hallo, was ist dein Problem«, blaffe ich sie auf Norwegisch an, obwohl ich sehr genau weiß, was ihr Problem ist: Seit zwei Wochen wurden täglich Polarlichter vorhergesagt, ohne dass sich am bewölkten Nachthimmel von Tromsø auch nur andeutungsweise Lichtbewegungen gezeigt hätten, bis SAS vorhin mit dem Boarding von Flug 4424 nach Oslo begonnen hat.

Ich stelle fest, dass der Selfiestick zu der Frau des Pärchens gehört, mit dem ich vor ein paar Abenden an der Hotelbar ins Gespräch gekommen bin. Ihr Freund und sie waren zur Zeugung ihres ersten Kindes im Polarlichturlaub. Kinder, die unterm Polarlicht gezeugt werden, sind besonders hübsch und begabt, erklärte sie mir und legte ihrem Freund die Hand auf den Oberschenkel. Das weiß ich, antwortete ich lächelnd, ich wurde nämlich selbst unterm Polarlicht gezeugt, sagte ich und breitete dabei die Arme aus, als wollte ich mich zur Schau stellen. Zuerst wirkte sie enttäuscht, dann beschloss sie wohl, mir nicht zu glauben, zumindest lachte sie laut und sagte auf Japanisch etwas zu ihrem Freund, woraufhin auch er in Gelächter ausbrach. Es ist wahr, sagte ich, und ich glaube auch, dass es wahr ist, aber natürlich kann ich es nicht wissen, und überdies wurde ich spontan eifersüchtig auf ihre offen demonstrierte Verliebtheit, war so voller Sehnsucht, dass ich keine Lust hatte, noch länger sitzen zu bleiben.

Wann immer ich Norwegen der Länge nach überfliege, oder meinetwegen auch der Breite nach, und auf die endlosen Quadratkilometer unbewohnter Wald- und Gebirgslandschaften blicke, denke ich das Gleiche: Für wie viele Menschen wir hier noch Platz hätten, wie leicht es in diesem Land bei entsprechendem Einsatz wäre, eine Leiche zu verstecken – und fliege ich bei Tageslicht, verfolge ich den Verlauf der Stromleitungen und denke an die viele Arbeit hinter der Infrastruktur, all das Abholzen, Transportieren und Errichten, Unterhalten und Modernisieren, Maschinen und Muskeln. Dann schlafe ich ein. Die völlige Abgabe der Kontrolle, das Ausschalten des Handys, nicht erreichbar zu sein, ist das einzige Mittel gegen meine Schlaflosigkeit, unter der ich schon mein ganzes Leben leide. Vielleicht löst auch das Gefühl von Ausgeruhtheit beim Anflug auf den Flughafen Gardermoen diese Wohligkeit aus, aber wenn ich langsam über Nordmarka oder den Mjøsa fliege, werde ich immer von einer stillen Vorfreude erfüllt. In den Flughafenexpresszug steigen und auf den Schienen durch Romerike gleiten, vorbei an Bauernhöfen und Feldern, dem Hammering Man und der bemalten Wand des Sportklubs Lillestrøm, ein kurzer Blick auf Kværnerbyen und Vålerenga kurz vor dem Tunnel zum Osloer Hauptbahnhof. Die längste Etappe ist immer die vom Osloer Hauptbahnhof nach Hause, sagt eine Freundin von mir, die zwischen Zürich und Oslo pendelt, gedanklich endet die Reise irgendwie im Flughafenexpresszug, und dann stellt man fest, dass noch eine verdammte Etappe aussteht. Ich bin nicht ihrer Meinung, ich liebe geradezu jede Form von öffentlichem Nahverkehr, und vor dem Hauptbahnhof in den Bus oder in die Straßenbahn zu steigen, bildet für mich einen Höhepunkt, allein und von Menschen umringt zu sein, die mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind, unterwegs zu dem, was auch immer ihr Ziel ist.

Als ich in Mamas Wohnung komme, sitzt sie am Küchentisch vor dem Laptop, trinkt Tee und liest die Nachrichten im Netz, rote Versalien leuchten mir entgegen.

»Wie war Tromsø?«, fragt sie, ohne sich vom Bildschirm abzuwenden.

»Gut«, sage ich, »aber es tut auch gut, wieder daheim zu sein.«

Zum Glück fragt sie nicht weiter nach.

»In Norwegen sind jetzt schon zehn Leute an diesem chinesischen Virus erkrankt«, sagt sie.

»Das habe ich gesehen«, sage ich, nehme mir eine Tasse aus dem Schrank und schenke mir aus ihrer Kanne ein, setze mich ihr gegenüber.

»Hast du nicht gerade mit einem Haufen Chinesen im Flieger gesessen?«, fragt sie.

»Das waren Japaner, Mama«, sage ich.

Sie holt tief Luft, schweigt einen Moment zu lang.

»Willst du sagen, dass das keinen Unterschied macht?«, frage ich lachend.

»Du bist blöd«, sagt Mama, setzt die Lesebrille ab und sieht mich an. »Mensch, heute siehst du deiner Mutter aber furchtbar ähnlich.«

Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie wischt sie mit übertriebener Gründlichkeit weg. Mama, die in Wahrheit die Schwester meiner leiblichen Mutter ist, hat vor dreißig Jahren das Sorgerecht für mich übernommen, als ich vier Jahre alt war und meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. An sie habe ich nur vage Erinnerungen, die mich manchmal im Halbschlaf überkommen und bei bestimmten Gerüchen, Tönen oder Berührungen. Bei Mama hingegen sind die Erinnerungen, insbesondere an ihre Schwester, die Trauer um sie, stets sehr präsent. Um sie zu trauern, ist zu einem Projekt, einem Lebensstil, einem Charakterzug geworden. Und sie zu überhöhen die Verlängerung daraus: Kein Mensch kann dem Bild, das sie von ihr geschaffen hat, gerecht werden, am wenigsten ich selbst. Mit den Jahren habe ich, nicht ohne eine gewisse Traurigkeit, aber auch mit Erleichterung, erkannt, dass meine Mutter keineswegs nur die außergewöhnlich begabte Heilige war. Trotzdem ist dieser überhöhte Eindruck von ihr hängengeblieben.

Mama war entschlossen, mir die Erziehung zu geben, die ich ihrer Überzeugung nach von meinen Eltern bekommen hätte. Das hieß, Unterricht in klassischem Klavier, Bücher, die sie selbst niemals lesen würde, Theateraufführungen und Opernvorstellungen. Ihr Interesse für Kunst ist begrenzt, wie sie sagt, ich bin eher die Pragmatikerin, damit kokettiert sie gern. Ich habe oft darauf hingewiesen, dass das nicht zwangsläufig ein Gegensatz sei, aber sie wischt meinen Einwand einfach beiseite, deine Mutter war die Künstlerin in unserer Familie, sagt sie. Damit beugt sie jeglichen eigenen künstlerischen Ambitionen vor; als Kind habe ich unter ihrem Bett einmal eine Schachtel voller Aquarelle entdeckt, mit ihren Initialen am unteren Rand, ich habe die Bilder als schön und märchenhaft in Erinnerung, aber als Erwachsene habe ich sie nicht mehr gesehen und mich auch nicht getraut, danach zu fragen.

Mehrmals habe ich Mama in erbitterten Streitereien vorgeworfen, sich mit der Trauer zu schmücken, sie zu benutzen, sie zu missbrauchen, sich dahinter zu verstecken, und hinter den meisten Äußerungen stehe ich bis heute, aber womit sie sich nie geschmückt hat – und was sie wirklich hätte anführen können –, ist ihre bedingungslose und hingebungsvolle Fürsorge für mich, ihre Ausdauer und ihr Einsatz.

»Macht dir das Angst?«, frage ich und nicke zu dem Bildschirm.

»Nein, so schlimm wird es schon nicht werden«, sagt Mama.

Mitte April wird die digitale Verzögerung von einer halben Sekunde unerträglich, dass Dinge nicht zu dem Zeitpunkt erfolgen, zu dem ich sie auf dem Bildschirm sehe, Reaktionen verpuffen, alles ist aus dem Takt. Ich lege den Zeigefinger auf Jakobs Kachel, er scheint sich zu langweilen, genau wie die anderen vierundzwanzig Gesichter um ihn herum.

Ich habe Kopfschmerzen, das Licht der Lampe, die ich direkt hinter den Laptop gestellt habe, blendet mich.

»Und was, glauben wir, ist der Grund, zumindest der Hauptgrund, für den Rückgang von Nynorsk als zweiter norwegischer Schriftsprache nach dem Krieg?«, frage ich und streiche mit dem Zeigefingernagel über Jakobs Wange.

Keine Reaktion.

»He, Leute, die Frage könnte in der Abiprüfung drankommen«, sage ich.

Das Wort Abiprüfung erhöht die Aufmerksamkeit, mehrere Schüler melden sich.

»Ja, Anna?«, sage ich, stelle ihr Bild auf groß.

Sie sitzt in einem geräumigen Zimmer, höchstwahrscheinlich in einem Haus, nicht in einer Wohnung, zumindest fällt durch alle Fenster hinter ihr ungehindert grelles Licht. Der Onlineunterricht gewährt mir einen ungewohnten und zeitweise unangenehmen Einblick in die häusliche Situation meiner Schülerinnen und Schüler. Könntest du dich vielleicht in ein ruhigeres Zimmer setzen, hatte ich, ohne nachzudenken, bei dem von mir vehement eingeforderten Feedbackgespräch zu Sigve gesagt – im Hintergrund waren laute Stimmen zu hören, Kindergeschrei und ein Schimpfen, dass ich die Lautstärke am Laptop runterdrehen musste. Zuerst schwieg er, dann nickte er und nahm sein Gerät mit in ein winziges Bad. Mich hat gewundert, was die Jugendlichen im beziehungsweise vom Hintergrund zu zeigen bereit waren, Berge von dreckigem Geschirr, teure Kunstwerke, Adventssterne im Fenster im April, Bilder von IKEA über dem Sofa, schmutzige Aquarien, ungemachte Betten in klassischen Teenagerzimmern, Instrumente, Terrassen mit Aussicht auf den Oslofjord. Ich selbst hatte einen ganzen Tag damit verbracht, die Möbel umzustellen und den Bildschirm so zu positionieren, dass ich möglichst wenig Hintergrund preisgab und gleichzeitig schmeichelhaftes Tageslicht in mein Gesicht fiel, das in meiner kleinen Wohnung den Eindruck von Raumtiefe erzeugte.

Die Wohnung im Stadtteil Sagene habe ich von dem Geld gekauft, das ich beim Tod meiner Eltern geerbt hatte und auf das ich zugreifen konnte, als ich fünfundzwanzig wurde. Ich war noch nie so stolz gewesen wie beim Kauf dieser Wohnung. Dass man sich von Geld, für das man keinen Finger krummmachen musste, eine Wohnung kauft, ist eigentlich nichts, worauf man stolz sein kann, hat mein Ex-Freund in einem der vielen Streits einmal gesagt, die wir wegen meines – seiner Ansicht nach – hemmungslosen Konsums beziehungsweise seiner – meiner Ansicht nach – zwanghaften pietistischen Nüchternheit hatten. Richtig wütend wurde ich bei unseren Streits nie, oft verwies ich auf das Paradoxe daran, dass er in meiner abbezahlten Wohnung stand und mich über Ökonomie belehren wollte, während er selbst nach wie vor in einer Fünfer-WG wohnte. Und dazu noch deine dusselige Tante, die das Geld über zwanzig Jahre lang auf einem Bankkonto vergammeln ließ, schrie er, überleg mal, was für eine Wohnung du dir hättest leisten können, wenn einer von euch auch nur einen Funken von ökonomischem Gespür gehabt hätte. Daran denke ich überhaupt nie, es käme mir auch gar nicht in den Sinn, denn die Wohnung in Sagene ist mein größter Schatz, ich liebe jeden Quadratzentimeter davon.

»Kann das im Abi drankommen?«, fragt Jakob drei Stunden später und küsst mich auf den unteren Rücken.

»Ja«, sage ich, liege regungslos auf dem Bauch, die Arme unter dem Kopf verschränkt.

»Und das hier?«, fragt er und küsst sich weiter nach unten.

»Das erst recht«, sage ich.

Er lacht, bevor er die Stellung ändert, sich auf mich legt und sich mit den Armen neben meinem Kopf abstützt, seine Unterarmmuskeln spannen sich vor meinen Augen an, ich habe solche Lust auf ihn, auf mehr von ihm, ich könnte in seine Muskeln hineinbeißen, mein Begehren ist grenzenlos, ich kriege nicht genug von ihm.

»Hast du was zu trinken da?«, fragt er anschließend, wir liegen nach wie vor im Bett, es ist früher Nachmittag, noch habe ich nicht mit den Vorbereitungen für den morgigen Unterricht begonnen.

»Was zu trinken?«

»Ja, eine Cola zero wäre zum Beispiel extrem gut«, sagt er. »Oder was Fruchtiges?«

»Ich glaube nicht, aber schau am besten selbst, was du im Kühlschrank findest«, sage ich.

Er steht auf und läuft nackt in die Küche, ich blicke ihm hinterher, bis er im Flur um die Ecke verschwindet. Ich erinnere mich, wie ich selbst im Alter von achtzehn Jahren Bettdecken oder Plaids um mich gewickelt habe, wenn ich nackt aus dem Bett geklettert bin, sogar nachdem ich mit Karsten schon mehr als ein Jahr lang eine Beziehung hatte. Jakob geniert sich überhaupt nicht, läuft gern nackt durch meine Wohnung, kocht Kaffee oder steht an der Küchenzeile und checkt sein Handy. Sein Selbstvertrauen ist attraktiv, hin und wieder frage ich mich aber, ob es eigentlich am ehesten etwas über die körperliche Hierarchie zwischen uns aussagt. Sein wohlgeformter symmetrischer Körper hat in mir Scham wie auch Selbstvertrauen ausgelöst, er hat die Auswahl, denke ich nachts oft, er kann sich aussuchen, wen er haben will, und es besteht kein Zweifel daran, dass die Wahl auf mich gefallen ist.

Er kommt mit zwei Gläsern Orangensaft zurück.

»Hast du auf das Haltbarkeitsdatum geschaut?«, frage ich.

»Nein, sollte ich das? Das war alles, was du im Kühlschrank hattest«, sagt er. »Vielleicht solltest du über so ein Abonnement für Kochboxen nachdenken?«

Ich muss lachen.

»Ernsthaft, es gibt ja auch welche für Singles«, sagt er und leert das Glas in drei großen Schlucken.

Ich muss mich anstrengen, um mein Lächeln beizubehalten. Er hebt die Boxershorts vom Boden auf, fängt an, sich anzuziehen.

»Willst du gar nicht duschen?«, frage ich schnell.

»Auf keinen Fall«, sagt er und lächelt, hält die Nase an seinen Oberarm und atmet meinen Geruch ein, dabei sieht er mich an.

»Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben?«, frage ich.

»Du hast doch gesagt, du hättest einen Haufen Arbeit vor dir? Ich erwarte ein fundiertes Feedback auf die Gliederung, die ich abgegeben habe«, sagt er und lacht.

»Das ist nicht witzig«, sage ich.

Er hebt die Hände hoch, als wollte er sich verteidigen. Wir haben vor langer Zeit vereinbart, nicht über Schulisches oder Fachliches zu sprechen, aber er setzt sich ständig über die Abmachung hinweg, immer mit dem gleichen Gesichtsausdruck. Mit der Zeit ist mir klar geworden, dass er es absichtlich tut. Warum musst du jetzt alles kaputt machen, habe ich mehrmals gefragt. Daraufhin lacht er, entspann dich, ich necke dich nur, antwortet er. Gerade das macht es ja besonders schön, hatte er andere Male gesagt, das quasi Verbotene daran. Es ist nicht verboten, antworte ich jedes Mal.

An einem Nachmittag letzten Herbst, kurz nachdem ich als Vertretungslehrerin für Norwegisch die Abschlussklasse 3-STD übernommen hatte, stand er vor der Schule auf der Treppe, als ich mich gerade auf den Heimweg machen wollte. Was Sie heute über Hamsun gesagt haben, war interessant, sagte er, als ich an ihm vorbeiging. Ich blieb stehen. Findest du, fragte ich. Ja, unbedingt, sagte er, aber ich weiß natürlich nicht, ob es wirklich fürs Abi relevant ist, sagte er. Das nicht, aber es könnte ja sein, dass es noch ein Leben nach den Abiturprüfungen gibt, sagte ich, bereute es jedoch sofort, ich war dieses ewige Gerede über die Abiprüfungen als Endpunkt allen Lernens leid.

Ich weiß nicht mehr, ob es früher, als ich auf die weiterführende Schule ging, genauso war, ich weiß nur, dass ich keine Ahnung hatte, was im Lehrplan stand. Von meinen Schülerinnen und Schülern verweist ständig jemand auf den Lehrplan, sie melden sich und fragen, steht das im Lehrplan, wobei ihr Blick und ihre Selbstsicherheit davon zeugen, dass sie die Antwort ganz offensichtlich wissen, sie treten auf wie bewusste, anspruchsvolle Kunden. Das stresst mich total, hat ein Kollege einmal bei einem Bier freitags nach der Schule gesagt, und er hat erzählt, ich sei als Vertretungslehrerin eingestellt worden, weil die vorherige Norwegischlehrerin sich krankgemeldet hat, nachdem die ganze Klasse einen Beschwerdebrief über ihre Unterrichtsgestaltung unterzeichnet hatte, demzufolge die Schüler die Kompetenzziele nicht erreichen würden, wenn der Unterricht von derart schlechter Qualität sei.

Kann schon sein, aber so fühlt es sich gerade nicht an, antwortete Jakob. Meinst du nicht, der Unterricht wäre interessanter, wenn ihr etwas weiter als bis zu den Abiprüfungen denken würdet, fuhr ich fort. Er zuckte ungeduldig mit den Schultern, bevor er mich anlächelte, Sie machen ihn zumindest interessanter, sagte er, bis morgen. Ich glaube, er hat damals schon etwas in mir ausgelöst, schwer zu sagen, ich habe vergessen, wie es war, ihn nicht ständig präsent zu haben. Vielleicht kam es auch erst ein paar Wochen später, als er nach der Stunde mit mir über seine Facharbeit sprechen wollte und ich mich direkt vor ihm aufs Pult setzte. Als sein Blick meine Beine streifte, wurde mir bewusst, wie eng die Hose anlag. Am selben Abend suchte ich ihn auf allen Kanälen, eine graue Silhouette auf Facebook, ein privates Konto auf Instagram, bei der Google-Bildersuche nur ein unscharfes Foto von ihm als Zwölfjähriger beim Norway Cup. Nach dem letzten Treffer klappte ich den Laptop zu; 2014 war er zwölf Jahre alt gewesen. Ich kenne keine Kinder in dem Alter, meine einzige Referenz für Zwölfjährige bin ich selbst, aber ich weiß noch, dass ich an Nora denken musste, die siebenjährige Tochter einer Freundin – dass er altersmäßig näher an ihr dran war als an mir.

Er fing an, mich im Unterricht anzustarren, ich fing an, darüber nachzudenken, wie ich von hinten aussah. Drehte mich um und schrieb öfter etwas an das Whiteboard. Er meldete sich, stellte Fragen, auf die er, wie ich später herausfand, die Antwort bereits wusste, lächelte. Er wartete nach dem Unterricht, wollte seine Facharbeit mit mir besprechen, hatte beschlossen, über allegorische Literatur zu schreiben, das, was Sie über Der Keim gesagt haben, hat mich total inspiriert, sagte er, das war echt krass. An einem Morgen Anfang Dezember fand ich beim Aufwachen eine Nachricht auf Teams vor, dass er zum Zahnarzt müsse und den Norwegischunterricht versäumen würde. Ich habe versucht, den Termin zu verlegen, aber das ging leider nicht, schrieb er mit einem altmodischen Zwinkersmiley am Ende. Mich überraschte, wie enttäuscht ich war, wie wenig ich mich den Rest des Tages zu etwas aufraffen konnte. Habe ich heute etwas Wichtiges verpasst, schrieb er noch am selben Abend. Selbstverständlich, antwortete ich. Die Aufgaben liegen auf OneNote, fügte ich hinzu. Die letzte zu Obamas Rede verstehe ich nicht, schrieb er zehn Minuten später. Darf ich Sie anrufen?

Jakob klingelte an meiner Tür, nachdem wir zuvor anderthalb Stunden telefoniert hatten. Ich glaube nicht, dass Sie das am Telefon erklären können, sagte er schließlich mit Blick auf eine einfache Rhetorikaufgabe, kann ich nicht einfach bei Ihnen vorbeikommen? Soweit ich mich erinnern kann, glaubte ich damals wirklich, er bräuchte Hilfe bei der Aufgabe, die Argumentation in meinem Innern drehte sich um Kompetenzziele und Lernstoff. Doch als er fünfzehn Minuten später bei mir klingelte, hatte er keinen Laptop dabei, nicht einmal ein Notizheft. Er war es, der auf dem Sofa näher an mich heranrückte, er war es, der mir die Hand in den Nacken legte, mir tief in die Augen schaute, die andere Hand auf meinem Oberschenkel nach oben gleiten ließ, der mich küsste. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, ob ich Widerstände hatte, aber ich weiß noch, dass ich reglos auf dem Sofa saß, die Arme im Schoß, bis er mich küsste und ich sie reflexhaft um seinen Hals schlang. Ich weiß, dass ich ihn nicht ausgezogen habe, dass er damit bei mir anfing – ich erinnere mich nur daran, wie ich dachte, wenn er nicht weiß, wie man einen BH aufmacht, beende ich das Ganze – und dass er anschließend aufstand und sich selbst auszog.

Ich hatte schon seit der ersten Norwegischstunde im Herbst Lust auf dich, sagte er an dem Abend in meiner Wohnung. Du bist achtzehn, du hast Lust auf alle, antwortete ich. Nein, sagte er, eigentlich habe ich auf niemanden Lust, ich bin in sexuellen Dingen von Natur aus sehr selektiv, fuhr er fort. Obwohl ich mich daran gewöhnt hatte, dass seine ganze Generation locker und hemmungslos über sich selbst sprach, egal, worum es ging, hielt ich es für einen Scherz oder zumindest für eine Art Kompliment an mich, aber als ich mich umdrehte und seinen Gesichtsausdruck sah, wurde mir klar, dass es lediglich eine neutrale Information sein sollte.

Kein Mensch käme auf die Idee, mich selektiv zu nennen, ich habe keine Ahnung, was ich attraktiv finde, es gibt keine offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen Ulrik, Karsten, Vegard und all den anderen dazwischen. Das stimmt nicht, sagte Maren, meine beste Freundin, als wir nach dem Aus meiner Beziehung mit Vegard darüber sprachen, damals absolvierte sie gerade ein einjähriges Psychologiestudium. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass sich eigentlich keiner von ihnen für dich interessiert hat, sagte sie, ich glaube, dass du unbewusst danach suchst, zurückgewiesen zu werden, da deine Eltern dich in vielerlei Hinsicht zurückgewiesen haben. Sie haben mich nicht zurückgewiesen, sie sind gestorben, sagte ich. Ja, und daher gibt es eine Lücke in deinem Leben, die gefüllt werden will, sagte sie selbstbewusst, du suchst immer nach einem Ersatz für deine Eltern. Unbewusst suchst du immer nach der Zurückweisung, der sie dich ausgesetzt haben, versuchst immer, ihren Platz zu füllen. One size fits all, antwortete ich, die Antwort liegt immer in der Kindheit, es ist echt unglaublich, was du aus deinen drei Monaten Psychologiestudium mitgenommen hast, das muss ich schon sagen. Ja, sicherlich wollen alle genau das haben, was sie nicht bekommen können, fuhr ich fort, für diese Erkenntnis muss man nicht Psychologie studieren. Ja, aber nicht alle reagieren gleichermaßen verzweifelt, wenn sie es nicht bekommen, sagte Maren, und die meisten lernen aus ihren Fehlern.

Ich weiß nicht, wie ich lernen soll, mich nicht zu denen hingezogen zu fühlen, die mich im nächsten Schritt zurückweisen, das kann man Leuten ja nicht ansehen, sagte ich. Doch, durchaus, sagte Maren, Ulrik hat man den Narzissten schon von Weitem angesehen, und Vegard, mal ganz ehrlich, ein Typ, der Extremsport betreibt, das sagt schon alles, Mathilde. Wildnisskifahren ist doch kein Extremsport, sagte ich. Kann schon sein, jedenfalls hat er sich von Anfang an mehr für seine Skier interessiert als für dich, sagte sie. Und Karsten hast du ja quasi schon in der Schule dazu gezwungen, mit dir zusammen zu sein, o Mann, wie viele Abende haben wir vor seiner Tür gestanden und darauf gewartet, dass er auftaucht? Hast du nicht sogar einmal im wahrsten Sinne des Wortes einen Fuß in seine Tür gestellt, fuhr Maren fort und lachte. Es hat zumindest funktioniert, sagte ich.

Ich weiß auch nicht, wie ich mir das Gefühl, dass sich ein tiefer Abgrund unter meinen Füßen auftut, aberziehen soll, die Angst, die mich packt, sobald ich glaube, jemand will mich verlassen. Alle Instinkte fordern mich auf, dagegen anzukämpfen, ich büße jegliche Form von Rationalität und Impulskontrolle ein, ich schäme mich beim Gedanken an alles, was ich getan und gesagt habe, wie ich mich regelrecht an Karstens Bein geklammert habe, als er Schluss gemacht hat und auf dem Weg zur Tür war, wie ich in Vegards Wohnung eingebrochen bin, was ich Ulrik an den Kopf geworfen habe.

Manchmal stehe ich während einer Freistunde eine kleine Ewigkeit im Lehrerzimmer am Fenster und betrachte Jakob, seine Körperführung, die wunderschönen Bewegungen von Rücken und Nacken, wenn er lacht, den blonden Hinterkopf, ich betrachte seine Arme, die Handgelenke unter den Jackenärmeln, seine Hände, diese Hände, und dann muss ich mich anders hinstellen. Er ist objektiv attraktiv, das entnehme ich auch den Blicken der Mädchen, die ihn zu jeder Zeit umringen, er ist eine Augenweide, es gibt keine asymmetrischen Makel, die stören oder für Unruhe sorgen, und doch hat er nichts Sanftes an sich, er ist markant und klar.

Ich wollte keine Lehrerin werden, ich will keine Lehrerin werden, ich bin keine Lehrerin. Du kannst es dir nicht leisten, so kindisch zu sein, sagt Mama jedes Mal, wenn sie mir vorschlägt, Pädagogik zu studieren, und ich immer dasselbe antworte, ich will keine Lehrerin werden. Du bist eine Lehrerin, sagt sie und versteht den Widerstand nicht, den sie mir während meiner gesamten Kindheit und Jugend selbst eingeimpft hat, durch absurd haushohe Ziele für mich. Sie war sich sicher gewesen, dass ich etwas Künstlerisches machen würde, so wie meine Eltern, was sich als Rastlosigkeit und Ungeduld in mir niedergeschlagen hat, nichts fühlt sich sinnvoll genug, groß genug, echt genug an. Du weißt, dass alle so empfinden, sagt Maren, es ist ein Phänomen unserer Generation, das wiederum hat nichts mit deinen Eltern zu tun. Du bist da nichts Besonderes, sagt sie in bester Absicht. Ich protestiere nur im Stillen, aber dass auch Mama ihre ehrgeizigen Ziele aufgegeben zu haben scheint, dass sie nun wohl schon zufrieden ist, wenn ich nur irgendetwas mache, bestärkt mich in meinem Bestreben, ihnen zu beweisen, dass sie irren. Letzten Herbst habe ich endlich die Aufnahmeprüfung für den Studiengang literarisches Schreiben an der Uni Tromsø geschafft, nachdem ich jahrelang an sämtlichen Schreibschulen des Landes abgelehnt worden war. Ich habe Mama nichts davon erzählt, verkrafte ihre Erwartungen und Vergleiche nicht noch zusätzlich zu meinen eigenen.

Meine Mutter hat mit fünfundzwanzig Jahren ihr erstes Buch veröffentlicht, und sie hat es bis zu ihrem Tod auf sieben Romane gebracht. Eine der klarsten Erinnerungen, die ich an sie habe, ist, wie sie dasitzt und schreibt, nicht ansprechbar für mich, mit großen Kopfhörern über den Ohren, die in ihrem Discman stecken. Ich habe ihre Bücher nie gelesen, obwohl die norwegischen und ausländischen Ausgaben in Mamas Wohnung fast das halbe Bücherregal in Anspruch nehmen – eine englische Ausgabe ihres fünften und meistverkauften Romans hat immer auf dem kleinen Sideboard im Wohnzimmer gelegen, wie eine Art Coffee Table Book. Nachdem sie mich bekommen hatte, konnte meine Mutter drei Jahre lang nicht schreiben, und mehrere Kapitel in ihrem dritten Buch handeln von der Ambivalenz des Kinderkriegens, aber es geht darin doch nicht um dich, sagt Mama, du wirst in diesen Büchern mit keinem Wort erwähnt. Ich wurde auch in keinem der Interviews erwähnt, die ich von ihr gelesen habe, außer in einem kurzen Abschnitt bei einem Porträt in Aftenposten, wo sie den Abstand von vier Jahren zwischen ihrem zweiten und dritten Buch erklärt. Deine Mutter war völlig unsentimental, sagt Mama oft. Ich halte das nicht für die zutreffendste Beschreibung, aber ich frage nicht mehr weiter nach ihr. Ich habe gelernt, damit zu leben, dass es keine Fragen oder Antworten gibt oder überhaupt Worte, die den Hunger nach ihr stillen könnten oder danach, die noch so kleinen Regungen in ihr zu kennen. Mein inneres Bild von ihr ändert sich von Tag zu Tag, mal ist sie anerkennend und lobend, mal kritisch und herablassend. Schon vor langer Zeit habe ich eingesehen, dass man ihr nicht trauen kann, aber ich glaube an ihren herablassenden Blick, wenn ich im Klassenzimmer vergeblich versuche, die Schüler zu mehr Engagement zu bewegen – und ich bin keine Lehrerin.

»Es fühlt sich an, wie aus einem digitalen Gefängnis entlassen zu werden«, sagt Jeanette, eine Kollegin, eines Abends im Mai, als wir zusammen ein Bier trinken, um die Wiedereröffnung der Schule und den Anfang vom Ende der Pandemie zu feiern. »An dieses Frühjahr werden wir uns immer erinnern. Nach dem Motto, wo warst du am 12. März 2020?«

Ich nicke. Das Einzige, was mir vom 12



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