Die Rettung - Charlotte McConaghy - E-Book + Hörbuch

Die Rettung Hörbuch

Charlotte McConaghy

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Beschreibung

Ein existenzieller Roman über Liebe, Schönheit und Gewalt am äußersten Ende der Welt  Dominic Salt lebt mit seinen drei Kindern auf einer verlassenen Insel, irgendwo zwischen Australien und Antarktis. Weil das kleine Stück Land langsam vom steigenden Wasser verschlungen wird, ist das Forschungsteam, zu dem auch Dominic gehörte, längst abgereist, und bald soll auch die Familie ans Festland zurückkehren. Doch wird in einer folgenreichen Sturmnacht plötzlich eine Frau an die Küste gespült. Sie ist schwer verletzt, fast erfroren. Wer ist die Fremde? Und wie ist sie ausgerechnet nach Shearwater geraten? Während die Kinder sich von ihrer atemberaubend schönen Insel verabschieden müssen, von den Seelöwen und Albatrossen, den sturmumtosten Klippen und versteckten Senken, beginnen die fünf Menschen, einander zu umkreisen, ihre Sehnsüchte und Geheimnisse zu teilen und sich zu fragen: Welche Entscheidungen müssen wir treffen, um die Menschen zu schützen, die wir lieben? Mit »Die Rettung« ist Charlotte McConaghy, die Bestseller-Autorin von »Zugvögel« zurück in ihrem Element: dem wilden, wunderschönen und existenziell bedrohlichen Meer.

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Zeit:10 Std. 51 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Elisabeth Günther

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Charlotte McConaghy

Die Rettung

Roman

 

Aus dem Englischen von Jan Schönherr

 

Über dieses Buch

 

 

Dominic Salt lebt mit seinen drei Kindern auf einer verlassenen Insel, irgendwo zwischen Australien und Antarktis. Weil das kleine Stück Land langsam vom steigenden Wasser verschlungen wird, ist das Forschungsteam, zu dem auch Dominic gehörte, längst abgereist, und bald soll auch die Familie ans Festland zurückkehren. Doch wird in einer folgenreichen Sturmnacht plötzlich eine Frau an die Küste gespült. Sie ist schwer verletzt, fast erfroren. Wer ist die Fremde? Und wie ist sie ausgerechnet nach Shearwater geraten? Während die Kinder sich von ihrer atemberaubend schönen Insel verabschieden müssen, von den Seelöwen und Albatrossen, den sturmumtosten Klippen und versteckten Senken, beginnen die fünf Menschen, einander zu umkreisen, ihre Sehnsüchte und Geheimnisse zu teilen und sich zu fragen: Welche Entscheidungen müssen wir treffen, um die Menschen zu schützen, die wir lieben?

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Charlotte McConaghy, Jahrgang 1988, hat irisch-schottische Wurzeln und wuchs in Australien auf. Ihre Passion für die Natur und Tierwelt und ihre Erschütterung über die Auswirkungen des Klimawandels inspirierten sie zu »Zugvögel« (2020), ihrem literarischen Debütroman, mit dem sie den internationalen Durchbruch erreichte. 2022 erschien ihr zweiter Roman »Wo die Wölfe sind«. Sie hat einen Abschluss als Drehbuchautorin der Australian Film Television and Radio School. McConaghy lebt heute in Sydney.

 

Jan Schönherr lebt in München und hat Autor*innen wie Jack Kerouac, NoViolet Bulawayo und Scholastique Mukasonga übersetzt. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Bayerischen Übersetzerstipendium.

 

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Wild Dark Shore« bei St. Martin's Publishing Group, New York.

© Charlotte McConaghy

Published by arrangement with St. Martin's Publishing Group. All rights reserved.

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin's Publishing Group durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH,

Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Das Zitat von Thornton Wilder stammt aus »Die Brücke von San Luis Rey«, übersetzt von Brigitte Jakobeit, S. Fischer Verlag GmbH 2014.

Covergestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie, Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-10-492170-9

 

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Inhalt

[Widmung]

[Motto]

Rowan

Fen

Dominic

Dominic

Fen

Orly

Rowan

Dominic

Rowan

Dominic

Rowan

Dominic

Rowan

Dominic

Fen

Raff

Dominic

Orly

Rowan

Raff

Dominic

Rowan

Dominic

Raff

Rowan

Rowan

Orly

Dominic

Rowan

Fen

Dominic

Rowan

Raff

Dominic

Rowan

Dominic

Rowan

Dominic

Rowan

Orly

Rowan

Dominic

Alex

Rowan

Dominic

Dominic

Fen

Dominic

Raff

Rowan

Orly

Rowan

Dominic

Rowan

Rowan

Fen

Dominic

Rowan

Dominic

Orly

Rowan

Dominic

Rowan

Orly

Rowan

Fen

Raff

Dominic

Fen

Rowan

Dominic

Raff

Fen

Dominic

Orly

Anmerkung zum Schauplatz

Danksagung

Für meine Kinder Finn und Hazel

Es gibt ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe, sie allein überlebt, sie allein ergibt einen Sinn.

– Thornton Wilder, Die Brücke von San Luis Rey

Rowan

Die längste Zeit meines Lebens habe ich meine Mutter gehasst, und doch sehe ich ihr Gesicht vor mir, als ich ertrinke.

 

Das Gesicht, das ich sehe, als ich vom Ertrinken erwache, ist anders. Derb, windgepeitscht, zerkratzt. Ich habe es vor Augen, als der Schmerz mich überwältigt, und ich weiß, sein Anblick wird für immer eins mit diesem Schmerz sein. Wann immer ich es sehe, wird es mich daran erinnern, wie ich über Felsen geschleudert, zerschunden und zerschlitzt wurde, werde ich mich wieder fühlen, als würde meine Brust zerspringen; der Eindruck wird so lebhaft sein, als würde ich alles noch einmal durchleben. Sein Gesicht – eine Rückkehr. Ein Ertrinken.

Fen

Der Sturm spült sie an, drapiert auf ein Gewirr aus Treibholz. Das Mädchen sieht sie von ihrem Platz bei den Robben aus. Zwischen den fetten, schlafenden Leibern hindurch sucht sie sich einen Weg hinab zum ansteigenden Meer. Raue Wellen tragen das Bündel näher heran mit der Flut. Ein milchweißer Schemen im Mondlicht. Eine Schulter. Und Seetang als Haar. Eine Hand liegt anmutig auf Holz.

Das Mädchen watet in das schwarze Tosen. Sie taucht ab und schwimmt hinaus. Greift nach dem wirren Bündel, lenkt es in Richtung Strand. Als sie Sand unter den Füßen spürt, steht sie auf, schleppt das Treibgut hinter sich her. Wellen klatschen ihr an Schenkel und Hüften, aber sie weiß sich im Wasser so zu bewegen, dass sie das Gleichgewicht nicht verliert. Die ganze Zeit macht sie sich auf etwas Furchtbares gefasst. Etwas Veränderndes. Dann schleudert eine letzte Welle das Bündel ans Ufer, und das Mädchen zieht den Vorhang aus Seetang von dem Gesicht, und es ist weder blau noch geschwollen oder zerfressen; es atmet.

 

Das Mädchen heißt Fen, und mittlerweile lebt sie hier, an diesem ungeschützten Küstenstreifen mit den Sturmvögeln, Robben und Pinguinen. Auf dem Hügel, in dem Leuchtturm, in dem ihre Familie wohnt, war sie schon lange nicht mehr. Nur ungern verlässt sie das Meer. Aber heute: das Unwetter, die Frau. Blitze am Horizont und Regen, den sie schnell näher kommen hört. Sie denkt sehr kurz und zieht, statt den Körper aus dem Gewirr zu befreien, das ganze Bündel, so weit sie nur kann, auf den schwarzen Sand. Noch einmal erlaubt sie sich einen Blick auf das Gesicht, auf dieses Geschöpf, hergetragen von einer See, die weiter ist, als irgendein Mensch begreifen kann. Ein Geschenk für ihre Familie und sie? Oder etwas Zurückgewiesenes? Dann rennt sie.

 

Es ist immer stürmisch hier, aber dieser Sturm wird einer der schlimmsten werden, die sie seit ihrer Ankunft haben überstehen müssen. Das weiß Fen, sobald sie den Hügelkamm erreicht und auf den Wind prallt. Er reißt sie fast von den Füßen. In der Ferne sieht sie die Lichter des Leuchtturms. Etwas Weißes flattert wild durch die Luft: ein Laken auf der Wäscheleine. Sie alle wissen, dass man nachts nichts draußen hängen lassen darf; irgendjemand wird dafür Ärger kriegen. Weiter hinten schaukelt ein Werkzeugwagen durchs Gras, kurz sind die Räder in der Luft, dann kracht er wieder zu Boden, schüttet sein Innerstes aus, und das – der Schaden an der wertvollen Ausrüstung – ist sogar schlimmer als das verlorene Laken.

Am Ende muss sich Fen nicht bis zum Haus durchkämpfen. Ihr Vater hat sie beobachtet, und sobald sie oben am Hügelkamm auftaucht, rennt er auf sie zu. Im Dunkeln, auf dem Pfad zum Ufer treffen sie zusammen. Nicht mal seine beachtliche Statur kann dem Wind etwas entgegensetzen, fast gebückt zieht er sie an sich, will sie zum Haus führen.

»Halt!«, ruft sie. »Dad! Wir brauchen Raff.«

»Schon da«, sagt ihr Bruder, taucht auf ihrer anderen Seite auf und legt einen Arm um sie, der fast so groß und kräftig ist wie die Arme ihres Vaters. Gemeinsam drängen sie Fen weiter.

»Wartet!«, sagt Fen und weiß, dass die Zeit von diesem Augenblick an in ein Vorher und ein Nachher aufgeteilt sein wird. »Da ist eine Frau.«

Dominic

Man soll ja kein Lieblingskind haben, aber mein Jüngster ist es trotzdem – wenn auch nur um Haaresbreite und mit Pistole auf der Brust. Wenn ich wirklich, wirklich wählen müsste. Allerdings nicht, weil er mir am ähnlichsten wäre: Das ist mein Ältester. Auch nicht, weil er am wenigsten nach mir käme: Das tut meine Tochter. Aber vielleicht weil er so neugierig und lieb ist, so klug, dass man davon ganz feuchte Augen kriegen kann. Oder weil er flüsternd mit dem Wind spricht und seine Antworten hört. Wahrscheinlich weiß ich selbst nicht, warum. Vielleicht liegt es daran, dass ich einmal – ganz kurz, vor langer Zeit – gewünscht habe, er wäre tot.

Ich lasse meinen Jüngsten sicher im warmen Bett zurück; er käme lieber mit, aber er ist noch zu klein, um ihn mit raus in den Sturm zu nehmen. Durch den Regen folge ich meinen zwei Großen zum Strand. Die Robben haben sich unter die Wellen zurückgezogen. Die Pinguine kauern sich in ihre Nester. Raff und ich hieven die Frau hoch und schleppen sie über den langen, gewundenen Pfad. Schützende Bäume gibt es hier nicht, genauso wenig wie auf der übrigen Insel, bloß silbrige Büschel von Tussockgras. Auf diesem Weg wird man mit jedem Schritt gegen den Wind nur immer langsamer. Er brüllt uns in die Ohren. Ein Sturm wie dieser könnte uns leicht von den Füßen reißen und den ganzen Hügel wieder hinabwehen.

»Immer weitergehen, Kumpel«, sporne ich Raff an, und das tut er auch, stapft beharrlich voraus.

Meine Tochter sagt, die Frau habe geatmet. Irgendwie habe sie tatsächlich geatmet, und ich weiß, dass Fen sie wortlos drängt durchzuhalten, unbedingt will, dass dieser Körper sich ans Leben klammert. Ich habe da weniger Hoffnung, obwohl ich ahne, dass diese Frau, wenn sie es geschafft hat, in dieser rauen See so lange zu überleben, wirklich stark sein muss.

Ich habe schon Tote aus dem Meer gesehen, und deren Anblick nimmt einem jeglichen Hochmut. Vor dem Wüten der See sind wir Menschen ernüchternd machtlos. Diese Frau, hergetragen von einer See, die mächtiger ist als die meisten, hält geradezu trotzig am Leben fest. Halb aufgeschlitzt ist sie, längs der ganzen linken Seite, hat garantiert Wasser in der Lunge, doch meine größte Sorge gilt der Unterkühlung; Atmung und Puls sind stark verlangsamt.

Im Haus ziehen meine drei Kinder und ich ihr behutsam aus, was von ihren Kleidern noch übrig ist. Ich setze Orly auf die Schuhe und Strümpfe an und lasse mir von Raff und Fen mit dem Rest helfen; nur ihren Schlüpfer rühren wir nicht an. Fen zieht sich ebenfalls aus (»Das musst du nicht«, sage ich) und steigt stumm zu der Fremden ins Bett, schmiegt ihren warmen Körper an sie. Sie hat ja recht, anders kriegen wir sie nie warm. Meine Jungs und ich breiten Decken über den beiden aus und behalten die Temperatur der Frau im Auge. Langsam steigt sie. Stunden vergehen, während wir an ihrem Bett warten, und ich frage mich, was meine Tochter wohl dabei denkt, ihren eigenen Körper so zu gebrauchen, um den einer anderen zu retten.

Später, als die Frau einigermaßen aufgewärmt wirkt, zieht Fen sich wieder an. Blut ist auf dem Bettzeug und auf ihrer Haut; Fen tut, als merke sie nichts. Wir versorgen die Wunden, picken vorsichtig mit Pinzetten Stofffetzen heraus. Die Frau ist schlank und stark, ihr Kopf rasiert. Ihr Gesicht, das ich bisher kaum angesehen habe, wirkt kantig und verkrampft. Der kräftige Kiefer presst die Zähne zusammen. Sobald Schmutz und Stoff entfernt sind, nähe ich die ärgsten Wunden, auch wenn meine dicken Finger zur Ungeschicklichkeit verdammt sind. Wir tupfen Desinfektionsmittel auf die Kratzer und packen all unseren Mull darauf, ehe wir sie verbinden. Mittlerweile hat sie Fieber. Sie ist glühend heiß und gibt beängstigende Laute von sich, so dass ich schließlich meinen Neunjährigen aus dem Zimmer schicken will. Er sträubt sich, will helfen, und ich weiß, dass er sich vor dem Sturm noch mehr fürchtet als vor den Geräuschen der Frau. Also gebe ich nach, lasse ihn bleiben. Diese Nacht dürfte wohl eine werden, in der man besser beisammenbleibt.

Wir sitzen bei ihr und bewachen ihr Ringen. Draußen der tollwütige Sturm. Die Fenster zittern, Orly wimmert, aber die alten Steine halten. Drinnen kämpft die See noch immer um ihr Recht an der Frau, lässt nicht von ihr ab. In den finstersten Stunden denke ich: Selbst wenn sie die Nacht übersteht, kriegt das Meer sie früher oder später doch.

Dominic

Vor acht Jahren bin ich mit meinen Kindern auf Shearwater Island angekommen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Insel sich so gespenstisch anfühlen würde, aber der Leuchtturm, in dem wir wohnen, hat jahrhundertelang Männer hierhergeführt, die vom Blut der Geschöpfe dieser Welt lebten. Die Hinterlassenschaften dieser Walfänger und Robbenjäger sind bis heute an der schwarzen einsamen Küste und den silbrig schimmernden Hügeln präsent. Als Orly zum ersten Mal zugab, dass er die Stimmen hört, das Flüstern der hier getöteten Tiere – einschließlich einer Robbenart, die totgeschlagen wurde bis aufs letzte Tier –, habe ich ernsthaft überlegt, die Kinder wieder wegzubringen. Andererseits, sagte ich mir, könnten die Stimmen auch ein Geschenk sein. Eine Weise, sich zu erinnern, und irgendjemand müsse das doch tun. Ich weiß zwar nicht, ob diese Bürde einem Kind zufallen sollte, aber hier sind wir jetzt, sind geblieben, und ich glaube, meine Frau hatte recht, die wilden Tiere spenden meinem Jungen Trost.

Meistens ist es ruhig. Unser Alltag besteht aus einfachen Pflichten. Ein Leben aus Gras und Hügeln, aus Meer und aus Himmel. Aus Wind, Regen und Nebel, aus lächelnden, um die Heizung gedrängten Gesichtern und Abenden mit guten Büchern. Aus Händen um eine Tasse heiße Schokolade oder vor Wind und Wetter geduckten Köpfen, aus nassen, an der Tür abgestreiften Kleidern und dem Versuch, aus der Ferne einen Riesensturmvogel von einem Albatros zu unterscheiden. Aus Tiefkühlkost und ab und zu mal einem runtergeladenen Film, aus Hausaufgaben, Sport und Musik. Aus dem gurgelnden Röhren eines See-Elefanten oder der Bananenpose eines Seebären – und aus den leuchtend orangen Augenbrauen der weltweit letzten Kolonie von Haubenpinguinen. Aus Pflanzensamen. Aus Vatersein. Daraus, sich ständig zu fragen, was ich den dreien von der Welt erzählen soll, der wir den Rücken gekehrt haben.

Hin und wieder bringt ein Schiff Vorräte und Forscher. Trotz ihrer Wunder ist Shearwater keine Touristeninsel: Sie ist zu abgelegen, zu schwer erreichbar. Außer den Wissenschaftlern, die die Fauna, das Wetter und die Gezeiten studieren, kommt so gut wie nie jemand her. Und definitiv wird niemand einfach angespült. Dass diese Frau noch am Leben ist, will mir kaum in den Kopf – das Meer ringsum ist kalt und gefährlich, das nächste Festland ein paar tausend Kilometer entfernt. Sie muss mit einem Boot gekommen sein, aber ein Boot so nah bei unserer Insel ergibt auch nicht mehr Sinn. Das Versorgungsschiff erwarten wir erst in einigen Wochen, und die einzigen anderen Schiffe, die hier vorbeikommen, fahren weitab der Küste in Richtung Antarktis – über Bord zu gehen, wäre da draußen der sichere Tod. Bleibt nur die Möglichkeit, dass ihr Boot zu uns unterwegs war, nach Shearwater.

 

Am Morgen prüfen Raff und ich die Schäden. Regenrinnen wurden abgerissen, unter den Türen ist Wasser eingedrungen, aber sogar dieser Abreibung hat unser Leuchtturm standgehalten. Von der Stromversorgung kann man das leider nicht behaupten. Die zwei Windräder auf dem Hügel wurden glatt von den Masten gerissen. Eins liegt ein paar hundert Meter entfernt auf dem Boden, muss dort wohl hingesegelt sein, das andere ragt aus der Erde wie zu einem letzten Gruß. Die Solarzellen sind zerkratzt, das Dach der Hütte mit den Batterien wurde weggefegt, und die Batterien hat es übel erwischt. Das Dach muss ich ersetzen, aber vorerst schützen wir die restlichen Batterien mit einer Plane – es wäre zu kompliziert, sie woanders hinzubringen und neu zu verkabeln. Die Hälfte ist ohnehin im Eimer. Die anderen speichern noch ein wenig Strom, und der muss lange vorhalten.

Wer an entlegenen Orten überleben will, muss auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Geht etwas kaputt, muss Ersatz bereitstehen. Aber auf die Idee, dass sämtliche Solarzellen, beide Windräder und die Hälfte der Batterien sich gleichzeitig verabschieden könnten, wäre ich nie gekommen.

»Wir haben ja noch den Diesel«, sagt Raff auf dem Heimweg. Angst ist ihm nicht anzuhören, nur Konzentration.

Gar nicht verzichten können wir auf die Heizung. Ohne sie würden wir die bevorstehende Kälte vermutlich nicht überleben. Normalerweise würden wir in dieser Lage sofort das Festland anfunken und um Hilfe rufen. Handwerker, Ersatzteile, mehr Benzin, mehr Diesel. Normalerweise.

 

Raff und ich gehen über die Landzunge nach Hause. Einen Grund haben wir dafür eigentlich nicht, aber ich habe Raff vorausgehen lassen, und seine Wege führen ihn oft hierher. Shearwater ist lang, schmal und zweigeteilt: Die Nordinsel ist gebirgig und größtenteils unerforscht, die Südinsel kleiner und etwas weniger unwirtlich. Dort stehen Gebäude, unser Leuchtturm, die Hütten, die Funkstation und der Saatgutbunker. Verbunden werden die beiden Seiten durch eine schmale, flache Landenge, die wir die Zwinge nennen. Dort befindet sich die Forschungsbasis: mehrere lange weiße Container aus Aluminium, das in der salzigen Luft nicht rostet, dazu einige Holzhütten. Ein Sammelsurium von siebzehn kleinen Bauten, aufgestellt im Lauf vieler Jahrzehnte. Ein Speisesaal und eine Küche. Die Labore. Eine Krankenstation. Die Werkstatt. Die Unterkünfte. Was bis vor kurzem eine lebhafte Gemeinschaft beherbergt hat, ist jetzt nur noch ein Haufen leerer Kästen auf der Zwinge. Besser so, zumal das Wasser mittlerweile an Türen und Wänden leckt. Die Basis sieht aus, als treibe sie auf einem Teich.

»Krass«, sagt Raff.

Die Flut stand noch nie so hoch.

Ich bin erschüttert, aber das soll er nicht merken.

 

Wir haben noch etwas Gas zum Kochen und für warmes Wasser und genug Diesel im Generator, um die Gefriertruhe zu betreiben, die unsere Lebensmittel frisch hält. Alles andere ist abgeschaltet. Kein Licht mehr, keine Computer und Ladegeräte, keine Stereoanlage, keine Waschmaschine, kein Staubsauger, keine Elektrowerkzeuge. Die Kinder klagen nicht; diesen Laden am Laufen zu halten, ist eine ständige Übung im Problemlösen, und das verstehen sie. Sorgen macht mir aber die Stromversorgung des Saatgutbunkers unten am Südufer. Ich beauftrage Raff damit, die kaputten Regenrinnen zu reparieren, und packe meinen Rucksack. Bis zum Bunker sind es zehn Kilometer Fußmarsch. Heute Nacht muss ich wohl in einer der Hütten dort unten schlafen.

Vorher sehe ich noch einmal nach der Frau. Orly sitzt am Fußende ihres Bettes und liest ihr aus einem Botanikbuch vor, das sein erstaunliches Hirn sicher längst auswendig kennt. Seit sie hier ist, weicht er ihr kaum von der Seite.

»Wie geht’s ihr?« Ich nehme auf dem Stuhl neben dem Fenster Platz.

Er zuckt die Achseln. »Ganz okay. Sie atmet.«

»Du musst nicht die ganze Zeit bei ihr bleiben.«

»Weiß ich.« Er zupft an einer Buchseite, knickt ein Eselsohr hinein und streicht es wieder glatt. »Ich finde nur, es sollte jemand da sein, wenn sie aufwacht.«

Ich überlege, was ich ihm über meine Sorgen wegen des Bunkers erzählen soll. Schließlich sage ich nur: »Ich bin bis morgen weg, im Süden.«

»Kann ich mit?«

»Diesmal nicht, Kumpel.«

Die Frau murmelt irgendwas vor sich hin, und obwohl sie nicht tot ist, hat das etwas Unnatürliches. Wie eine wiederbelebte Leiche. Ihre Hand ballt sich kurz zur Faust, dann entspannen sich die langen Finger wieder.

»Versteif dich nicht zu sehr darauf«, rate ich Orly.

»Auf was?«

»Dass sie überlebt. Tut sie vielleicht nicht. Verstehst du?«

»Ja, klar.« Er betrachtet ihr Gesicht, und ich betrachte seins. »Aber … wieso wacht sie nicht auf?«

»Ich weiß es nicht, Kumpel. Sie ist weit geschwommen. Womöglich schwimmt sie immer noch.«

 

Der Shearwater Global Seed Vault, der Saatgutbunker auf unserer Insel, wurde dazu konstruiert, allem standzuhalten, was die Welt gegen ihn aufbietet; er soll die Menschheit überdauern, bis weit in eine Zukunft, in der unsere Nahrungsgrundlage möglicherweise neu angepflanzt werden muss. Größtenteils kleine Körnchen. Winzige schwarze Pünktchen, mehr nicht. Der Schatz, den wir hier tief unter der Erde aufbewahren, am absoluten Arsch der Welt. Die letzte Hoffnung der jeweiligen Arten – und zugleich unsere.

Ein großes Vorhaben: die Rettung der Menschheit. Aber ehrlich gesagt sind wir nicht deswegen hier. Ich brauchte einfach einen Job, und zwar weit weg von allem anderen. Mit einem tieferen Sinn wurde er erst später erfüllt – in Wahrheit erst, als mein Jüngster seine Tragweite erkannte.

Der Saatgutbunker gehört den Vereinten Nationen, aber seine Verwaltung wurde dem Tasmanian Parks and Wildlife Service übertragen, der auch für das Naturschutzgebiet und die Forschungsbasis auf der Insel zuständig ist (aufgrund seiner Lage gehört Shearwater Island zu Australien). Ich wurde als Verwalter für sämtliche Gebäude auf der Insel angeheuert, einschließlich des gewaltigen Gefrierbunkers ganz im Süden. In der ersten Zeit nach unserer Ankunft überquerte ich die Insel deshalb oft. Ich war genervt von den ständigen Wanderungen, sie raubten mir Zeit, die ich gut für Arbeiten an der Forschungsbasis oder dem Leuchtturm hätte gebrauchen können. Orly war damals noch so klein, dass ich ihn jedes Mal mitnehmen musste. Mit der Zeit wuchs sein Forscherdrang, unterwegs tastete, schnupperte und zupfte er. Kaum dass er sprechen konnte, nannte er all die Pflanzen, die wir sahen, beim Namen, auch die der Samen im Bunker. Durch seinen Blick auf die Dinge ging mir auf: Der Job war wichtig. Zum ersten Mal stellte ich mir vor, wie man das Saatgut einsetzte, malte mir eine Welt aus, die es brauchte. Hier zu sein, auf der Insel, die diese letzte, kleine Hoffnung barg, statt auf dem zu rettenden Festland, fiel mir jetzt leichter. Und bei jeder Gefahr, die uns auf Shearwater bedrohte, bei jeder Mühe dachte ich: Zumindest sind wir nicht dort und müssen uns mit Waldbränden und Hochwasser rumschlagen, mit Nahrungsmittelknappheit und dem ganzen Rest.

Zumindest sind wir hier an einem Ort, der einem nur feindselig vorkommt, bis man genauer hinschaut. Bis man seine Schönheit und Zartheit erkennt. Seinen verborgenen Reichtum.

Noch nie zuvor hatte ich einen Ort geliebt.

Und jetzt ist alles vorbei. Der Bunker wird dichtgemacht. Er war für die Ewigkeit gedacht, jetzt sortieren und verpacken wir das Saatgut zum Transport. In nicht einmal zwei Monaten gehen auch wir fort, gemeinsam mit den glücklichen Samenkörnchen, die als wichtig genug gelten, um ein neues Zuhause zu bekommen.

 

Der Tunnel ist trocken. Immer. Das muss auch so sein, dafür ist er angelegt. Doch als ich heute den langen Schlund hinab in die Tiefe betrete, platscht es unter meinen Stiefeln. Ich bleibe stehen, spähe ins Dunkel. Die Nackenhaare stellen sich mir auf: Das stimmt so nicht, das ist doch nicht möglich.

Platschend steige ich tiefer unter die Erde bis zum vakuumversiegelten Eingang des Saatguttresors. Wie eine große Kühlschranktür. Wenn das Wasser unter ihr hindurchgelangt ist, haben wir ein ernsthaftes Problem. Ist es aber nicht, und ich atme auf. Also nur der Tunnel. Okay. Das wird schon. Im Tresor ist es trocken. Ein Blick aufs Thermometer bestätigt jedoch meine Sorge. Das Licht funktioniert zwar, aber die Kühlung nicht, vermutlich ein Kurzschluss. Schon jetzt ist es hier drin ein Grad wärmer, als es sein sollte.

Man hat uns unmissverständlich eingeschärft, dass die Sicherheit des Saatguts noch wichtiger ist als unsere eigene. Insgeheim, tief drinnen, wäge ich ab, ob ich imstande wäre, Tausende Arten aussterben zu lassen, um das Leben meiner drei Kinder zu retten. Wenn ich den Strom umleite, mit dem wir den Leuchtturm heizen, könnte ich den Samen etwas Zeit verschaffen. Aber die Antwort ist leicht. Vermutlich war es ein Fehler, jemanden hier rauszuschicken, der Kinder hat. So einer würde nie die Entscheidung treffen, die von ihm erwartet wird.

Ich stelle eine Pumpe im Tunnel auf, rolle den langen, dunklen Schlauch ab bis hinaus ins Tageslicht. Erreicht das Wasser einen bestimmten Stand, schaltet sich die Pumpe automatisch ein. Zum Schluss noch ein letzter Kontrollgang durch die dreißig Gänge des Tresorraums. Alles trocken; kein Grund, noch länger zu bleiben. Trotz allem, trotz der Bedeutung dieses Orts und der Körnchen, bin ich nicht gern hier. Wieso nicht, kann ich auch nicht sagen. Vielleicht wegen all dieser Prälebendigkeit, die letztlich doch dasselbe ist wie Tod. Auch wenn Orly das für verrückt halten und sagen würde, dieser Ort sei das genaue Gegenteil von Tod. Vielleicht ist es auch einfach der Stillstand, die Art, wie das Leben hier im Kälteschlaf gehalten wird. Vielleicht hat es auch gar nichts mit den Samen zu tun, sondern bloß mit der Lage unter der Erdoberfläche oder mit der tiefen, tiefen Kälte. Was es auch sein mag, dieser Ort macht mich nervös, also stapfe ich platschend wieder nach oben.

 

Ich steige auf den Hügelkamm, wo das Gestrüpp langem Tussockgras weicht, drehe mich um und schaue zum Horizont. Es ist, als würde man über den Rand der Welt blicken. Irgendwo dort unten liegt die Antarktis, doch vor mir erstreckt sich vor allem ein grenzenloser Ozean. Der Rand ist steil. Ein falscher Schritt, und ich stürze ab, und das kann ich nie, nicht einmal einen für Augenblick, vergessen.

 

Die Hütte liegt inmitten moosbedeckter Hügel an der Küste und ist nur über eine windschiefe Metalltreppe in den Felsen erreichbar. Der Weg dorthin kostet mich den restlichen Tag. Hier werde ich übernachten; nach Einbruch der Dunkelheit gehen wir nirgendwohin und sowieso niemals allein. Ich habe also eine Regel gebrochen, aber was mich hier erwartet, kann ich den Kindern nicht zumuten. Die Hütten wurden vor vielen Jahren voll möbliert von einem Frachter geliefert. Die blaue Hütte (den Namen hat sie wegen der blauen Tür) liegt mir am nächsten, die rote etwas weiter weg, näher am Wasser. Früher lebten hier vier Wissenschaftler, heute stehen sie leer. Und es gab damals noch eine dritte Hütte, mit einer grünen Tür.

Die blaue Hütte ist der letzte Ort, den ich betreten will. Die bewusstlose Frau wird so bald nirgendwo hingehen, aber wenn sie aufwacht, könnte sie hier früher oder später aufkreuzen. Ich darf es also nicht aufschieben. Meine Augen brauchen ein wenig, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Geruch ist grässlich.

Vorbei an den zwei Schlafzimmern gehe ich in die Küche.

Es ist nicht so schlimm, wie ich es in Erinnerung hatte, aber doch ganz schön übel.

In meinem Rucksack habe ich eine Bürste, Lappen und Bleiche. Ich gehe auf die Knie und fange an, das Blut wegzuschrubben.

Fen

Der Trick ist Ruhe. Das hat sie in all den Jahren im Wasser gelernt, hat diese Fähigkeit weiterentwickelt und ist mittlerweile richtig gut darin. Angefangen hat sie damit, weil sie auch unter Wasser noch bei den Robben bleiben wollte – ihr Körper sollte zu mehr imstande, sollte so wie der ihre, wie der der Robben sein. Also hat sie trainiert. Sie lernte, länger aus- als einzuatmen, um ihre Herzfrequenz zu reduzieren. Sie lernte, ihren Sauerstoffverbrauch zu minimieren. Sie lernte, den Druck zu ertragen, aus dem Schmerzen werden, und weiß, dass man Schmerzen nicht fürchten muss. In Sachen Ruhe ist sie eine Meisterin.

Außer natürlich, wenn es um ihren Vater geht.

Der ist dickköpfig, streng und unbeugsam. Will nie über irgendwas reden. Er frustriert sie. Vielleicht ist das ja ganz normal für eine Siebzehnjährige, aber Fen würde wetten, die wenigsten Siebzehnjährigen müssen sich mit einem Vater rumschlagen, der mit ihrer toten Mutter spricht und sich weigert zuzugeben, dass daran irgendwas verkehrt ist.

Fen liebt ihren Vater. Und sie liebt Shearwater, womöglich mehr als die anderen, doch sie begreift auch, dass diese Insel sie alle nach und nach umbringt.

 

Fen schläft nicht viel; ohne Wände und Vorhänge ist das auch nicht leicht, so richtig dunkel wird es auf Shearwater um diese Jahreszeit kaum. Morgens steht sie auf, geht schwimmen mit den Männchen und den hochträchtigen Weibchen. Sie weitet die Lunge und streckt die Muskeln, folgt mit strampelnden Beinen den Bahnen der Robben, die sich mit so viel mehr Kraft und Eleganz bewegen, als Fen jemals aufbringen wird. King Brown, wie Alex ihn getauft hat, vollführt einen angeberischen Looping und kitzelt ihr zum Abschluss mit dem Bart über die Wange, als wollte er sagen: »Na, kannst du das auch?«, und Fen lacht unter Wasser. Silver, ein junges Weibchen, umkreist sie einmal, zweimal und streicht ihr dann herausfordernd mit der Schwanzflosse durchs Haar. Fen strampelt der schlanken blassen Robbe hinterher, gibt alles, um mitzuhalten – Silver will um die Wette schwimmen, aber Fen kann nicht gewinnen, sie ist allzu menschlich und muss wieder an die Oberfläche. Neben ihr taucht Silvers Kopf aus dem Wasser auf, und Fen meint fast, ein Grinsen zu erkennen, Triumph und Schalk in ihrem Blick zu sehen. »Hast gewonnen«, sagt sie. »Mal wieder.«

Sie will los und nach der Frau im Leuchtturm sehen; der angespülte Körper, der irgendwie noch am Leben ist, geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Doch da erhebt sich Lärm am Strand, und Fen weiß sofort, was das bedeutet.

Sie schwimmt zum Ufer und durchquert die Kolonie, sucht nach dem Weibchen, das als Erstes dran ist. Es gehört zu einem der größeren Harems, dem von King Brown, und ist daher umringt von vielen anderen Weibchen. Es ist Freckles – Fen erkennt sie an den dunklen Punkten im Gesicht. Sie watschelt schwerfällig umher, wiegt den Kopf vor und zurück, und ein paar andere Weibchen versuchen immer wieder, den Kopf unter sie zu schieben, an die Stelle, wo eine kleine dunkle Gestalt aus ihr herauswill.

Fen bleibt auf Abstand, lässt sie in Frieden, ist aber bereit zu helfen, wenn nötig. Als sie das Köpfchen zuerst herausschauen sieht, ist sie beunruhigt, denn die Jungen kommen gewöhnlich mit den Flossen voran zur Welt. Das Junge scheint nicht zu atmen, Mund und Augen sind geschlossen. Aber Freckles watschelt weiter und presst. Sie dreht sich um, streckt die Schnauze nach dem reglosen Kleinen und leckt ihm das Gesicht. Um die eigene Achse kreisend, presst sie weiter, ringt darum, ihr Junges zu befreien. Fens Sorge wächst und wächst: Das Kleine zeigt kein Lebenszeichen, die Geburt dauert schon viel zu lange. Sie denkt darüber nach einzugreifen, doch irgendetwas hält sie davon ab.

Endlich ist der kleine Körper frei, purzelt in den Sand und regt sich, hebt den Kopf. Lächelnd sieht Fen zu, wie die Mutter das nasse, pelzige Geschöpf anstupst und ableckt. Die anderen Jungen werden nicht lange auf sich warten lassen. Alle Weibchen werden werfen, und der Strand wird übersät sein mit blökenden Welpen. Es ist Fens liebste Zeit im Jahr. Wenn sie fortgehen, wird ihr das am meisten fehlen. Zur Wurfsaison ist sie immer schon an den Strand gekommen, auch bevor die unwirtliche Küste ihre Heimat wurde. Ihre Zuflucht. Bevor sie gelernt hat, dass es noch eine andere Art Angst gibt als die, die man verspürt, wenn man die Luft anhält.

Die Luft in Shearwater ist voller Geister der Toten. Das weiß Fen, und es stört sie nicht. Raff glaubt ihr kein Wort, doch in den Stunden tiefster Nacht hat sie es gesehen: die Gespenster, grün flackernde Lichter über dem Meer und in den Bergen – und einmal sogar dicht am Strand. Sie fragt sich, ob das heißt, dass sie für ein anderes Leben ausersehen ist, ob auch das eine der vielen Seltsamkeiten sein mag, die dafür sorgen werden, dass sie sich auf dem Festland nie mehr wird einfügen können. Doch vor den Toten hat sie keine Angst. Weh tun können einem nur die Lebenden.

Orly

Beginnen wir mit dem größten Wanderer von allen, okay?

In Gang E, Reihe 34, liegt Taraxacum officinale, besser bekannt als der Gewöhnliche Löwenzahn. Man findet ihn auf der ganzen Welt in fast jeder Umgebung. Er ist ein Überlebenskünstler, wächst auf Wiesen und Feldern, auf felsigen Hügeln und im Wald. Er kann das Erste sein, was in einem neuen Ökosystem sprießt, oder der älteste Bewohner eines seit langem bestehenden.

Die Geschichte dieses besonderen Löwenzahns ist toll, also hör gut zu.

Sein Leben beginnt auf einer Apfelwiese in Nordamerika, sagen wir in Wisconsin. Dutzende Male wird er beinahe zertreten, aber das Glück ist auf seiner Seite. Weil er schon so früh im Jahr zum Leben erwacht, viel früher als die meisten anderen Blumen, ist er eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel und Insekten. Seine Pollen bleiben an einer Bauchsammlerbiene haften, die sie zu einer weiblichen Pflanze trägt. Die Biene wird noch viele weitere Wildblumen bestäuben, aber bleiben wir erst mal bei unserem Löwenzahn. Sein Nektar ernährt die ersten Schmetterlinge und Motten, wenn sie aus ihren Kokons schlüpfen. Heute versorgt er außerdem einen Kolibri und einen Specht. Nach einer Weile geht die leuchtend gelbe Blüte in den Fruchtstand über. Anders gesagt: Sie wird zur Pusteblume. Pusteblumen bestehen aus einer Menge einzelner Samen mit kleinen Härchen obendrauf. Diese Samen fliegen auf eine ganz spezielle Art und Weise. An einem lauen Nachmittag reißt ein Windstoß sie von ihrer Blume. Ein paar landen ganz in der Nähe und werden von Spatzen und Goldzeisigen aufgepickt. Andere reisen weiter und landen im Bauch einer Wachtel, eines Truthahns oder eines Moorhuhns. Einer wird von einer Feldmaus gefuttert, ein anderer von einem Streifenhörnchen.

Einer schafft es allerdings noch viel, viel weiter als seine Geschwister. Er fliegt so richtig! Über die Staatsgrenze bis nach Minnesota. Er schwebt und tanzt in der Luft. Hundert Kilometer weit reist er. Einhundert! Eine irre Entfernung für ein winziges Samenkorn, das nur vom Wind getragen wird. Kannst du dir das vorstellen? Weiter ist kein Samenkorn je durch die Luft gereist.

Aber es ist noch nicht fertig. Das letzte Samenkorn hat noch was zu tun.

In Minnesota landet es direkt vor der Nase eines hungrigen Weißwedelhirschs. Dem dient es als Futter, ehe er einem anderen Tier begegnet: einer Wölfin, die schon lange nach Nahrung sucht. Gierig verschlingt die Wölfin den Hirsch, frisst sich für viele Wochen satt und überlässt den Rest ihrem Partner und ihren Welpen. Ihr schwieriges, vom Hunger geprägtes Leben kann weitergehen. Die im Rudel jagenden Wölfe halten die Hirsche auf Trab, so dass die Bäume und Pflanzen der Gegend gedeihen können. Sie halten Flüsse und Erdreich gesund, locken Insekten, Säugetiere und Vögel ins Ökosystem. So bleibt es intakt, weiterer Löwenzahn kann sprießen und seine Samen verbreiten, wodurch der ganze Kreislauf wieder von vorn losgeht.

Und trotzdem gilt dieser Löwenzahn, diese kleine Blume, die so viele Lebewesen ernährt hat, als Unkraut.

Rowan

In der Dunkelheit kommt es mir vor, als hätte ich das Gesicht eines Mannes gesehen. Das Gefühl seiner Anwesenheit hallt in der krachenden See meines Körpers nach, so dass es sich anfühlt, als wäre er es, der da auf mich einschlägt.

 

Irgendwann, ein paar Sekunden oder tausend Jahre später, verändert sich der Schmerz. Kein Ozean mehr, sondern Brennen. Das Brennen wird zur Flamme, wird zum Feuer. Ich kenne dieses Feuer. Ich dachte, ich sei ihm entkommen.

Aber. Und das ist das Seltsamste. Das Feuer ist nicht allein. Da ist noch etwas. Etwas, das versucht, das Feuer einzudämmen.

Eine Stimme.

Beginnen wir mit dem größten Wanderer von allen, okay?

Eigenartig.

Die Stimme ist hoch und hell, und inmitten der Flammen klammere ich mich an sie.

Aber es ist noch nicht fertig. Das letzte Samenkorn hat noch was zu tun.

Ich höre Geräusche im Zimmer und begreife dann, dass sie von mir kommen, ich weine vor Schmerzen. Etwas fasst mich an. Wo, weiß ich selbst nicht. Mühsam zwinge ich die Lider auf, das Licht peinigt mich. Ich blinzle, bis ich sehen kann: Eine kleine Hand hält meine, drückt sie, und vielleicht bin ich ja doch gestorben. Die Stimme, diese süße kleine Stimme sagt: Ich bin bei dir, ich lass dich nicht allein, und jetzt weine ich aus einem anderen Grund.

Er scheint allein hier zu sein. Zu diesem Schluss komme ich erst, als mein Gehirn zu Schlüssen wieder in der Lage ist, und das ist es erst, nachdem er mir Schmerzmittel gegeben hat. Er ist noch klein. Ich bin schlecht darin, das Alter von Kindern zu schätzen, aber ein Kind ist er jedenfalls noch. Er wirkt eindrucksvoll im durchs Fenster fallenden Licht. Hellblaue Augen und fast weißes Haar, womöglich nordisch. Wie ein kleiner Wikinger sieht er aus, hat sogar schmale Zöpfchen im langen, glatten Haar. Und er erzählt mir irgendetwas über Pflanzensamen. Jetzt weiß ich, dass ich hier richtig bin.

»Ist das die Forschungsbasis?«, frage ich.

»Nein, der Leuchtturm.«

Ich stutze, versuche, daraus schlau zu werden. »Wo sind deine Eltern?«

»Dad ist auf der anderen Seite der Insel.«

»Wieso?«

»Der Sturm, der dich hergebracht hat. Wegen dem haben wir fast den ganzen Strom verloren. Er muss das überprüfen.«

Der Sturm, der mich hergebracht hat. Ich bin wieder mittendrin. Werde ans Kajütendach geschleudert und krache auf den Boden. Höre durch das Tosen schwach die Schreie vom Deck. Keine Ahnung, was er mir sagen will: Soll ich unten bleiben? Oder sofort rauskommen? Ich will nicht mit diesem Kahn absaufen, also kämpfe ich mich die Stufen hinauf, und bevor ich auch nur Luft holen kann, werde ich emporgehoben und ins Meer geschleudert. Ein Winzling im Maul eines Ungetüms. Ich werde nie vergessen, wie schwach mein Körper da war. Dieser Körper, den ich stets so hingebungsvoll gestählt habe. Diese Ohnmacht werde ich niemals begreifen – und auch nicht, dass ich noch am Leben bin.

»Gibt’s hier irgendwo einen Erwachsenen?«, frage ich.

»Nein.«

Ich reibe mir die schmerzenden Augen, versuche zu begreifen, was hier vor sich geht, weshalb ich offenbar allein mit einem Kind in einem Leuchtturm bin.

»Wie heißt du?«, will der Junge wissen.

Gute Frage. Erst fällt es mir selbst nicht ein.

»Rowan«, sage ich dann.

»Ich bin Orly Salt. Und du bist auf einer Insel mitten im Südpolarmeer, fünfzehnhundert Kilometer entfernt vom nächsten Land. Und das wäre dann die Antarktis. Daher meine Frage: Wie bist du hier gelandet, Rowan?«

Ich sehe ihn an. »Darüber können wir reden, wenn dein Vater zurück ist.«

»Der kommt erst morgen wieder.«

»Hat er denn um Hilfe gerufen? Die Küstenwache?«

Orly zuckt mit den Schultern.

»Kannst du mir was zu trinken besorgen? Was Starkes?«

»Den Alkohol darf ich nicht anfassen.«

»Ich verrat’s auch keinem.«

Er mustert mich kurz, dann springt er auf. »Sind wohl mildernde Umstände, hm?«

»Vermutlich schon, ja.«

»Wenn Dad fragt, sag ich, du hättest mich manipuliert.«

»Mach das.«

Er stapft los, und ich sehe mich in dem schiefen, beengten Zimmer um. Niedrige Decke mit schweren Holzbalken. Wände und Fußboden aus Stein. Ein dicker Wollteppich, Kleiderschrank und Bücherregal zum Bersten gefüllt. Das Fenster ist klein, der Himmel zu grell, um irgendwas zu erkennen, aber nach dem ersten Blick will ich das ohnehin nicht mehr, mir hämmert der Kopf.

Der Junge kommt mit Wodka wieder, und ich betrinke mich. Gut gegen den Schmerz, aber nicht gegen die Erinnerungen. Außerdem hat er mir ein Sandwich gebracht, Vegemite und Käse auf nicht ganz aufgetautem Brot, dazu eine Tasse Tee mit H-Milch und um die sechzehn Stückchen Zucker, dem Geschmack nach zu urteilen. Alles ziemlich unerfreulich.

Hinterher liege ich reglos da, bin so kraftlos, dass ich nichts anderes tun kann, als den Schatten auf der Wand beim Wandern zuzusehen. Orly plappert weiter über Samen. Es dauert ewig, bis es dunkel wird, und ich wünsche die Minuten fort.

»Wie lang liege ich hier schon?«, frage ich Orly.

»Wir haben dich gestern Abend gefunden. Ab und zu bist du halb aufgewacht. Erinnerst du dich gar nicht?«

Ich schüttle den Kopf. Nur an das Gesicht eines Manns im Dunklen. »Was ist überhaupt … Was ist mit mir passiert?« Eine Kerze flackert, und ich brauche eine Verschnaufpause von den Samen, muss wissen, was unter diesen Verbänden los ist. Ich habe Angst davor, nachzusehen, und Angst davor, es nicht zu tun.

»Du meinst …?« Er deutet auf die Verbände. »Du warst unterkühlt, das war das Schlimmste. Irre war das, du hast kaum noch geatmet. Und du bist ziemlich zerschunden. Vor der Küste gibt es jede Menge Felsen, über die haben die Wellen dich zum Strand geschleift. Aber du hast Glück gehabt. Wenn die Trift dich gekriegt hätte, wärst du tot. Keine Chance. Mausetot wärst du.«

»Mausetot, hm.«

»Die Trift ist gnadenlos. Aber sie hat dich nicht gekriegt, sondern Fen.«

»Fen?«

Er grinst. »Meine Schwester. Sie ist rausgeschwommen und hat dich an Land gezogen. Sie ist die beste Schwimmerin auf der Welt! Fürs Wasser geboren, sagt Dad.«

»War da …?« Ich beiße mir auf die Zunge. Besser nicht zu viele Fragen stellen. Hätten sie ein Boot gefunden, hätte der Junge es mir erzählt. »Du solltest schlafen, Kleiner.«

»Ja«, sagt er, kuschelt sich wie ein Hündchen ans Fußende meines Betts und döst sofort ein. Ich sehe ihn ungläubig an, trinke den Wodka aus und lege mich auf die Seite. Das Zimmer dreht sich. Vielleicht war es doch nicht so schlau, mich zu betrinken, denn es fühlt sich an wie die wogende See und das schaukelnde Boot. Es fühlt sich an, als riefe er nach mir, doch ich finde ihn nicht und weiß, dass er tot ist, dass die Trift ihn gekriegt hat, und es waren mein Wollen, meine Arroganz und die Dummheit dieses ganzen Unternehmens, die ihn ertränkt haben.

Sein Name ist Yen. Man sagt mir, er sei der Einzige, der mutig oder verrückt genug wäre, mich zu fahren. Jemand anderen bräuchte ich gar nicht erst zu fragen. Früher war er mal Walfänger. Was ich auf einer so weit entfernten, so gut wie menschenleeren Insel will, interessiert ihn gar nicht, er fragt mich nur, wie viel Geld ich habe, und als ich ihm den Betrag nenne, nickt er einmal und sagt, wenn das Wetter halte, würde es schon gutgehen. Und wenn nicht?, will ich wissen, und er sagt, das liege allein bei der See. Eine nervige Seemannsantwort.

Auf der viertägigen Fahrt spricht er kaum ein Wort mit mir, aber seine Stimme werde ich nie vergessen. Ich werde nie vergessen, wie sie meinen Namen rief, der dann von Wind und Wellen verschluckt wurde.

Mitten in der Nacht wache ich auf und muss schmerzhaft dringend pinkeln. Keine Ahnung, wann ich zuletzt auf dem Klo war, aber da ich hier schon zwei Tage liege, darf ich wohl davon ausgehen, dass irgendein armer Mensch mir hinterherputzen musste. Die aufrechte Haltung tut weh. Der Schmerz sitzt zugleich tief und an der Oberfläche. Ich gebe keinen Laut von mir, will keinesfalls den Jungen wecken und schon wieder mit ihm reden müssen.

Mir ist schwindlig, und ich bin nicht sicher, ob meine wackligen Beine mich tragen werden. Das Haus ist dunkel. Ich probiere mehrere Lichtschalter, doch nichts passiert, kein Strom. Die Treppe hat ein Geländer, an das ich mich klammern kann. Wie es scheint, sind die Wände hier rund, und es gibt viele Treppen. Ich habe weder Zeit noch Lust, in sämtliche Türen zu linsen, um das Bad zu finden, also gehe ich einfach ganz nach unten und stolpere durch die Tür, die nach Haustür aussieht (Mäntel und Stiefel hängen und stehen daneben, und ich ziehe mir beides über), hinaus in die Nacht.

Mir bleibt die Luft weg. Vom Himmel geblendet.

Die Sterne blitzen so grell, dass ich mit stockendem Atem zu Boden sinke. Die Kälte ist eine Decke, legt sich um mich, kriecht in mich hinein. Dieser Schlafanzug gehört mir nicht, ist mir zu klein, und auch der Mantel hilft nichts gegen die beißende Luft. Ich muss mich bewegen, aber ich kann nicht. Es ist einfach zu schön.

Als ich mich endlich aufraffe, sehe ich hinter mir das Gebäude, den nicht leuchtenden Leuchtturm, und vor mir liegt ein Hang voll langem silbrigem Gras, das sich im Licht der Sterne wiegt. Hier und da bekomme ich schon taube Stellen, also ziehe ich die Hosen runter, doch da ich dank der zitternden Schenkel unmöglich in die Hocke gehen kann, bleibt mir nur, die Beine möglichst weit zu spreizen und das Beste zu hoffen.

»Was machst du denn da?«

Ich werfe einen Blick über die Schulter. In der Tür steht der Kleine und sieht mir zu.

»Wonach sieht’s denn aus?«

»Nach Pinkeln.«

»Bingo.«

»Aber wieso machst du das draußen?«

»Damit mich keiner stört.«

»Hm.«

Er rührt sich nicht.

Ich pinkle fertig, dann ziehe ich mir den Schlüpfer (meiner, Gott sei Dank) und die Pyjamahose wieder hoch. Die Anstrengung bringt mich aus dem Gleichgewicht, und fast in Zeitlupe lande ich erneut auf dem Boden.

»Alles okay?«, fragt der Junge.

Ich blinzle die Flecken vor meinen Augen weg und warte, dass mir der Kopf nicht mehr schwirrt. Der Junge zieht sich Gummistiefel und Jacke an und hopst hinaus aufs Gras. Mir fehlt die Kraft, mich noch mal zu bewegen, und weil er wohl nicht weiß, was er sonst tun soll, setzt er sich einfach neben mich. Gemeinsam blicken wir hinaus auf die windgepeitschten Hügel.

»Das ist also Shearwater, was?«, sage ich.

»Genau. Einhundertzwanzig Quadratkilometer. Wir haben hier Tundraklima, hauptsächlich Flechten und Moose und mehr als fünfundvierzig Gefäßpflanzenarten. Außerdem gibt es auf der Insel über achtzigtausend Robben, die letzte Haubenpinguinkolonie auf der Welt und über drei Millionen brütende Seevögel. Und wir sind UNESCO-Weltnaturerbe, weil Shearwater der einzige Ort auf der Welt ist, wo der Erdmantel frei liegt.«

Ich muss grinsen. »Weißt du das alles von Wikipedia?«

Orly zuckt die Achseln. Das heißt dann wohl ja.

Er zeigt zum Meer. »Da unten sind Raff und Fen. Am Strand.« Noch ehe ich fragen kann, was seine Geschwister mitten in der Nacht am Strand verloren haben, zeigt er in die Richtung, die wohl Süden sein muss. »Und da ist der Saatgutbunker. Da ist Dad.«

»Was ist denn der Saatgutbunker?« Ich kenne die Antwort, bin aber neugierig, was er mir erzählt.

»Da bewahrt die Welt ihre Pflanzensamen auf, falls wir irgendeine Art mal nachzüchten müssen.«

»Und warum ist der so weit hier unten?«

»Zum Schutz. Der Dauerfrost hält die Samen frisch, und die Menschen kommen nicht an sie ran.« Er mustert mich skeptisch. »Solche Bunker gibt es aber schon lange, weißt du.«

»Okay.«

»Allerdings ist der hier einer der letzten. Dadrin liegt die größte Sammlung von Samen aus der ganzen Welt. So viele gibt es sonst nirgends mehr – sie sind gefährdet oder schon ausgestorben. Und nicht bloß Samen von Nutzpflanzen, sondern von allen.«

»Wie alt bist du?«

»Neun.«

»Ist das alt genug, um zu wissen, was gut für dich ist?«

»Was meinst du?«

»Wollen wir reingehen? Ich frier mir den Arsch ab.«

Er kichert, vielleicht wegen des Kraftausdrucks. »Du bist’s nicht gewohnt, ich schon.« Er geht zur Tür, aber ich bleibe sitzen. Ich versuche herauszufinden, wie ich auf die Füße kommen, wie ich diese verfluchte Treppe noch mal bewältigen soll. Ein großer Fehler war das, hier runterzugehen – besser hätte ich einfach ins Bett gemacht.

Der Junge, Orly, kommt zurück. Offenbar begreift er, denn er zieht mich am Arm ein Stück hoch, bietet mir dann seine Schulter als Stütze an. Ein Laut entschlüpft mir, als ich mich an ihm hochstemme. Er schwankt ein wenig unter meiner Last, aber wir bleiben aufrecht. Gemeinsam stolpern wir zum Leuchtturm wie Betrunkene. Allein beim Anblick der Stufen zieht sich alles in mir zusammen, und ich biege stattdessen ab in ein Wohnzimmer, lasse mich auf eine alte Samtcouch fallen. Mein Schädel will zerspringen, und die Felsen fressen mich innerlich auf. Orly breitet eine Decke über mir aus und legt sich zu meinem Unmut neben mich auf den Boden. »Hast du kein Bett?«

Er nickt und macht die Augen zu.

Ich will auch meine schließen, doch ich spüre, wie er zittert. »Ich dachte, du bist das gewohnt.«

»B-bin ich a-auch.« Er bekommt die Worte kaum durch die klappernden Zähne.

Genervt hebe ich die Decke an. »Komm her. Schnell.«

Er zwängt sich neben mich; es gibt kaum genug Platz für uns beide, aber wir wärmen einander. Am Ende liege ich mit der Wange an seinem Rücken und höre seinen Herzschlag. Angesichts des gewaltigen Himmels da draußen kommt mir das leise Klopfen unendlich klein und verletzlich vor. Ich denke an die steinernen Wände dieses Gebäudes, an die leeren Zimmer und an Orlys Vater auf der anderen Seite der Insel. Ich denke daran, wie allein er hier ist – allein mit mir, also praktisch mit niemandem.

Die Frage keimt in mir gleichzeitig mit der Warnung auf, sie nicht auszusprechen.

»Wo ist deine Mutter, Orly?«

Gedämpft dringt seine Stimme durch die Decke. »Sie ist gestorben.«

Ich seufze. Lausche auf das leise Klopfen. »Meine auch«, sage ich und spüre, wie er einschläft.

Dominic

Im Dunkeln verbietet sie mir, die Augen zu öffnen. Wenn ich hinsehe, wird sie verschwinden. Das weiß ich und kneife die Lider so fest zu, dass mir der Kopf weh tut. Aber für sie tue ich alles.

Ich bin da, sagt sie, und es ist, als wäre sie es wirklich, ich spüre ihren Atem auf meiner Wange, auf meinen Lippen. Natürlich weiß ich, dass es eine Lüge ist, so verrückt bin ich nicht. Während ich sie reden höre, höre ich meine eigene Stimme, die mich mahnt, das endlich seinzulassen, lass es sein, verdammt nochmal! Aber sie ist so sanft, und letztlich bin ich feige. Ich lasse zu, dass meine Frau mich umarmt, kneife in der Finsternis die Augen zu.

 

Die Sonne scheint selten und kurz hier auf Shearwater. Heute früh ist der Himmel blassgrau, und als ich aus der Hütte trete, legt sich Regendunst auf mein Gesicht. Ich gehe vorbei an den Felsen in der Ebbe, achte darauf, wo ich hintrete.

Hauptsächlich diente dieser Ausflug dazu, mir ein Bild von der Lage im Bunker zu verschaffen und die Sauerei in der Hütte zu beseitigen, doch außerdem suche ich nach einem Boot.

Nur einen Ort habe ich auf dem Weg hierher noch nicht überprüft, eine felsige, zu Fuß schwer erreichbare Bucht. Ich gehe um die Felsen einer gebogenen Landzunge herum und klettere die steile, bröckelige Klippe hinab, bis sich unten ein dunkles Becken auftut. Die starke Strömung, die wir die Trift nennen, mündet hier in einem Bett aus zerklüfteten Felsen. Und eingekeilt zwischen diesen Zähnen, zu ganz neuen Formen zerschlagen, liegt das kleine Boot, das eine Fremde an unser Ufer getragen hat. Jeder, der vielleicht sonst noch auf dem Boot war, ist zweifellos tot.

Meine zwei Ältesten sind nicht im Leuchtturm, sondern am Strand, auf der Zwinge. Der Weg zu ihnen führt mich vorbei an den massigen See-Elefanten. Die meisten ignorieren mich, doch hier und da mahnt mich ein Gurgeln, ihnen nicht auf die Flossen zu treten, und einer wischt mir Sand auf die Stiefel.

Raff sitzt auf dem feinen schwarzen Sand und sagt etwas zu Fen, die vor ihm steht und gedankenverloren ihre Beine dehnt.

Als sie mich bemerken, blicken sie auf. Beide haben die blauen Augen und das blonde Haar ihrer Mutter. Beinahe Zwillinge, sagten wir immer. Zehn Monate Abstand, und mein Gott, was war die erste Zeit mit ihnen für ein Wahnsinn! Kaum zu glauben, dass unsere Ehe das überlebt hat.

»Ist sie wach?«, frage ich.

»Wir waren noch nicht oben«, sagt Raff entschuldigend.

»Sie werfen!«, verkündet Fen.

An den beiden vorbei spähe ich zu dem Haufen Seebären weiter hinten am Strand – es stimmt, sie machen definitiv mehr Lärm als gewöhnlich.

»Ich find’s nicht gut, wenn Orly mit ihr allein ist«, sage ich an Raff gewandt.

Er steht auf, wischt sich den Sand ab. »Sorry.«

»Sie war ja kaum noch am Leben«, merkt Fen an. Ihre Nase und die Wangen sind voller Sommersprossen und Sonnenflecken; ich mache mir oft Sorgen, sie könnte sich Hautkrebs zuziehen. Auf der ganzen Insel gibt es nirgends Schatten, keinerlei Schutz vor den Elementen. Insofern ist es wohl ein Glück, dass der Himmel meist so grau ist, aber die Sturmböen können einen ebenso beuteln, wie Fens Windbrand beweist. Ich betrachte sie, sauge ihren Anblick in mich auf, denke daran, wie schön sie ist, wie sehr sie mir fehlt, wie viel zu vertrauensselig sie ist. »Seid bitte vorsichtig, ja? Wir kennen die Frau nicht. Und haben keine Ahnung, was sie hier zu suchen hat.«

Raff nickt, doch über Fens Miene huscht ein Ausdruck der Enttäuschung, ja sogar des Mitleids ob dieser komplett verrückten Sicht auf eine verletzte, hilfsbedürftige Frau, und vielleicht hat sie damit ja recht, doch was dieser Ausdruck mir vor allem verrät, ist, dass meine Tochter mir nicht mehr vertraut. Schon vorher hatte ich befürchtet, sie könnte mir entgleiten, jetzt ist die Sache klar. Sie fühlt sich bei mir nicht sicher – oder rechnet nicht mehr damit, dass ich sie beschützen, Gefahren rechtzeitig erkennen kann, was meine einzige Aufgabe als ihr Vater wäre. Panik überkommt mich: Ich muss sie festhalten, aber ich weiß nicht, wie.

»Ich brauch dich zu Hause«, sage ich. Wenn die Frau aufwacht, müssen wir ihr dabei helfen, sich umzuziehen, sich zu waschen, aufs Klo zu gehen. Ein anderes weibliches Wesen kann da nicht schaden.

Fen linst zu ihren Robben, und ich warte auf Widerspruch, doch dann stapft sie los, den Hügel hinauf. Raff und ich folgen ihr.