Die Revolution der Bäume - H. C. Licht - E-Book

Die Revolution der Bäume E-Book

H. C. Licht

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein Energiekonzern plant, sein Stromnetz auszubauen und hat die Genehmigung erhalten, zu diesem Zweck breite Schneisen durch einen alten Wald schlagen zu lassen. Der ortsansässige Sägewerksbesitzer hofft, von den Fällungen zu profitieren, während eine Gruppe von Umweltaktivisten versucht, diese durch die Besetzung einiger bedrohter Bäume zu verhindern. Ein Akteur mit dem niemand gerechnet hat, ist eine Eiche. Sie hat ihre Opferhaltung aufgegeben und zieht, hinter der Drohkulisse von Bulldozern, Motorsägen und wütenden Männern, an unsichtbaren Fäden und setzt damit einen Prozess in Gang, der nicht mehr aufzuhalten ist. Eine friedliche Revolution beginnt, die sich unscheinbar und im Stillen vollzieht, aber weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaftssysteme und das Zusammenleben der Menschen haben wird. Eine Geschichte über Menschen, die sich auf das Abenteuer des Lebens einlassen, eine Liebeserklärung an die Erde und ihre Bewohner.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 388

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



H. C. Licht

Die Revolution der Bäume

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Bei Nacht und Nebel

Im Sägewerk

Frauenpower

Ein Kind dieser Erde

Unausgesprochene Gedanken

Auf Konfrontationskurs

Lustgewinn

Gefühlschaos

Eine engelsgleiche Erscheinung

Frischer Wind

Die Ruhe vor dem nächsten Sturm

Spontanheilung

Bestückt wie ein Hengst

Schrecksekunde

Erwins Mondfahrt

Der Anschlag

Hermanns letzte Reise

Der Naturmaler

Eine Geste der Versöhnung

Alle für einen

Impressum neobooks

Bei Nacht und Nebel

Die eingeschworene Gemeinschaft

der Naturschützererreicht ihr Ziel noch weit vor dem Morgengrauen, lange bevor der erste, frühe Vogel auch nur Piep machen mag und reißt alle Bewohner des Waldes aus dem wohlverdienten Schlaf. Alle, bis auf die gewohnheitsmäßigen Nachtschwärmer und zurückgezogen lebenden Nachtschattengewächse, die den klammheimlichen Einzug der jungen Leutemit Argusaugen beobachten.

Während sich die Neuankömmlinge mit Sack und Pack auf einer, im Zentrum des Waldes gelegenen, Lichtung ausbreiten und damit wie selbstverständlich den Versammlungsort der hier heimischen Fauna und Flora in Beschlag nehmen, macht die Kunde von dem ungebetenen Besuch schnell die Runde. Die zuverlässigsten Schnellkuriere und Wächter des Waldes sind die Eichelhäher, ihre Großfamilien sind extrem engmaschig vernetzt und tragen jede Neuigkeit in Windeseile in alle Welt. Neben ihrer hässlichen Angewohnheit, die Nester von heimischen Singvögeln zu plündern, haben sie allerdings auch den Ruf, die allergrößten Lästermäuler der westlichen Hemisphäre zu sein, eine kleine Charakterschwäche, die ihr kommunikatives Talent wohl unweigerlich mit sich bringt. Bei diesem äußerst umtriebigen Vogelvolk halten sich Licht und Schatten federgenau die Waage.

So wie die alte Eiche im Weihtaler Forst die Rolle des geistigen Mediums und Orakels inne hat, gibt es bei den frisch Zugezogenen einen jungen Mann namens Jo, der für diese Aufgabe prädestiniert ist. Allerdings ist er das eher unfreiwillig, noch hadert er mit seinem Schicksal, das einen klar umrissenen Plan zu verfolgen scheint.

Es versucht, ihn dazu zu motivieren, dem Sumpf aus konfuser Stagnation, in dem er sich momentan befindet, eine Form zu geben. Der Plan, den es dabei verfolgt, ist aus seiner Not eine Tugend zu machen und dieser auf diese Weise einen tieferen Sinn zu verleihen. Vor allem gilt es zu vermeiden, dass aus einer Übergangsphase eine Dauerlösung wird. Sein momentanes Lebensgefühl ließe sich, nach seinem ausgedehnten Ausflug in das Nirwana lupenreiner Ekstase, aktuell am treffendsten als schweres Schweben charakterisieren.

Der Junge nennt sich Jo wie „Jo“und nicht wie im Amerikanischen, „Dscho“. Und es scheint fast so, als ob ein großer Geist, der über die Wege aller Lebewesen wacht, die erklärte Absicht hat, aus der gerade erst überstandenen lebensbedrohlichen Krise um seinen labilen Geisteszustand, eine Chance auf einen Neubeginn zu generieren.„Rückblickend hat das Unheil mit einer einzigen Pille begonnen.“, redet er sich sein Drama gerne schön. Eine reichlich verklärte Sicht der Dinge, die auch faktisch nicht ganz der Wahrheit entspricht. Nach Jahren polytoxischer Selbstexperimente, war es wohl eher einer der kleinen, bunten Spaßmacher zu viel, den er sich eingeworfen hat ohne auf die lange Liste der Inhaltsstoffe zu achten. Die eine, aus höllisch miesen Zutaten zusammengepanschte Superpille, auf die er besser verzichtet hätte und von der er seitdem nicht mehr so ganz herunterkommt.

Verborgen hinter Jos supercooler Fassade, hat sich das fiese, kleine Ding zu einer, in Ungewissheit getarnten, dunklen Instanz entwickelt, die ihn mittels Angst in Schach hält, Angst vor den Nachwirkungen, die in Gestalt von abgründigen Horrortrips jederzeit aus dem Hinterhalt über ihn hereinbrechen könnten. Der Preis, den der goldene Reiter für seinen extraordinären Höhenflug zahlt, ist astronomisch hoch, denn ein ausgesprochen einfallsreiches Monster befehligt die molekularen Altlasten seiner beschwingten Drogenkarriere. In unregelmäßigen Abständen ergeben sich im Mikrokosmos seiner Blutbahnen neue chemische Verbindungen, die ihn in Form von extremen Flashbacks heimsuchen. Wohin die nächste Reise gehen wird, ist und bleibt schlichtweg unkalkulierbar.

„Ich bereue nichts!“, ist einer der markigen Sprüche, die Jo im Brustton der Überzeugung allzu gerne von sich gibt. Aber auch wenn seine Zuhörer stets verständnisvoll nicken, Texte wie „Jau, is' ja logo, Jo!“ absondern und ihm anerkennend auf die Schulter klopfen, Jo weiß es besser. Insgeheim wünscht er sich, er hätte ein paar der günstigen Gelegenheiten ausgelassen, auch wenn sie sich ihm, in allen Regenbogenfarben verführerisch schillernd, an den Hals warfen oder for free am Wegesrand lockten, betörend wie die Sirenen, die Odysseus einst in Versuchung führten.

Diese Art von Rückschau ist natürlich ein rein theoretisches Gedankenspiel, pure Illusion. Entweder waren diese Optionen viel zu geil oder er einfach nur zu schwach gewesen, eine klare Entscheidung zu treffen. Sobald es um Drogen oder schnellen Sex ging, verwandelte er sich in einen Eiermann, der niemalsdeutlich „nein“ sagen konnte. Allerhöchstens zu einem vagen „Vielleicht heute besser mal nicht“ fühlte er sich in seinen hellen Momenten imstande und das bedeutete soviel wie „Her damit! Ist immer noch besser als nichts“.

Gepaart mit seinem fatalen Unvermögen, zwischen dem zu unterscheiden, was ihm gut tut und was nicht, waren die Weichen gestellt für einen rasanten Todestrip. Unter diesem morbiden Blickwinkel betrachtet, hat er noch mal eine Riesenportion Glück gehabt, Glück im Unglück. Wenn es so etwas wie Schutzengel tatsächlich geben sollte, hat Jo den, der so mutig war, sich für ihn zuständig zu erklären, mit Sicherheit an die Grenze eines amtlichen Burnouts gebracht.

Gut, dass er an frische Batterien gedacht hat. Der Lichtkegel der Taschenlampe ist so, wie er sein soll, strahlend weiß und knallhell. Groß und rund wie ein auf die Erde gestürzter Vollmond hüpft er von Baum zu Busch, erfasst die zahlreichen Unebenheiten auf dem schmalen Weg, bevor Jo darüber stolpert.

Am Rand der Lichtung steht eine wunderschöne, große Eiche. Jo erreicht sie als erster. Er hat nicht umsonst Vollgas gegeben auf dem finalen Abschnitt des Trampelpfades, einem smaragdgrünen Tunnel, der sich durch das dichte, mannshohe Unterholz schlängelte. Eins der ungeschrieben Gesetze jeder direkten Aktion lautet, sich zunächst einen strategisch vorteilhaften und optimal platzierten Ankerpunkt zu sichern. Diesbezüglich ist sich jeder der Nächste. Schließlich wird er in den nächsten Wochen oder vielleicht sogar Monaten hier zu Hause sein.

Eine überaus glückliche Wahl, locker fünfhundert Jahre alt und einen beeindruckenden Stammumfang von mindestens acht Metern. Die Eiche gipfelt in ungefähr dreißig Metern Höhe in einer ausladenden Krone und eignet sich perfekt für ein geräumiges Baumhaus.

Jo schüttelt seinen riesigen, schweren Rucksack ab und lässt ihn, untermalt von einem Stoßseufzer der Erleichterung, auf das weit verzweigte Wurzelgeflecht des Baumes plumpsen. Damit gilt das mit Sicherheit schönste Exemplar des Waldes als reserviert. Ein Vorgang, der demselben simplen Prinzip folgt wie das symbolische Handtuch, das Touristen in aller Herrgottsfrühe, sorgsam und akkurat rechteckig auf der begehrtesten Liege ausgerichtet, am Swimmingpool des Hotels platzieren.

Jo ist sich selbstredend vollkommen im Klaren darüber, dass so ein Verhalten alberner Spießerkram ist, aber man muss nun einmal Prioritäten setzen. Wenn es hart auf hart kommt, will er seine Freiheit und körperliche Unversehrtheit ja nicht für irgendeinen halbwüchsigen Mickerling von Sprössling auf's Spiel setzen. Außerdem weiß Jo aus Erfahrung, das die Szenefrauen auf dicke Dinger stehen. Da hat man als ungebundener, halbwegs attraktiverTypgute Chancen auf einen Überraschungsbesuch. Die Art von Besuch, die bis zum Frühstück bleibt.Emsig wie ein Bienenschwarm im Frühling schwärmt die kunterbunte Meute aus. Bäume werden wie Trophäen in Beschlag genommen, miteinander verglichen und zur Probe erklommen. Aufgeregtes Schwatzen, Hämmern und Sägen erfüllt die Luft, wobei Hermann, das etwas in die Jahre gekommene, aber total angesagte Leitbild aller aktiven Baumbesetzer mit Argusaugen darauf achtet, dass kein Mitglied seiner temporären Anhängerschaft auch nur mit dem Gedanken spielt, einen Nagel in einen Baum zu schlagen.Was direkte Aktionen im Bereich Naturschutz angeht, ist Jo ein Profi und hat die ungeschriebenen Gesetze längst verinnerlicht. Keine Nägel in lebendiges Holz! Niemals und unter keinen Umständen! Das gilt als ernst zu nehmendes Tabu und wird bei Nichtbeachtung auch dementsprechend streng geahndet. Da braucht niemand im Nachhinein den Versuch zu wagen, irgendwelche statischen oder sonstige baulichen Argumente vorzubringen.Misshandlungen von Bäumen entsprechen dem Sakrileg religiöser Gemeinschaften und werden zwar nicht mitöffentlicher Steinigung, aber mit sofortigem Ausschluss aus der Zelle und lebenslanger Ächtung bestraft. Das heißt im Klartext, dass sich der Verurteilte bundesweit bei keiner Aktion mehr blicken lassen kann und in seiner Wahlfamilie, einer kleinen, aber feinen Szene von militanten Naturschützern, zur Persona non grata erklärt wird.Jo weiß aus eigener, leidvoller Erfahrung, dass sich auch kollektiver Rufmord ganz schnell zu einer Art Todesstrafe ausweiten kann. Als er auf dem ultimativen Gipfel seinesmultidrogiden Marathonrauschs, sprich ganz unten angekommen und phasenweise nicht mehr Herr seiner Sinne war, hat er sich den einen oder anderen verwerflichen Patzer geleistet. Ein falsches Wort zur falschen Zeit oder eine falsche Hand am falschen Arsch, waren in diesem überemanzipierten Kollektiv schon Grund genug für einen temporären Ausschluss. Aber ein irrlichternder Junkie, der neben seinen provokanten Sprüchen und chaotischen Frauengeschichten auch noch seine Gesinnungsgenossen abzockte, überschritt eindeutig die Toleranzgrenze der sonst so verständnisvollen Gemeinschaft.

Nachdem man ihn zum dritten Mal auf frischer Tat ertappt hatte, wurde ein Plenum einberufen, das ihn einstimmig als untragbaren Egomanen aburteilte. Daraufhin hat ihn die gesamte linke Szene geschnitten, niemand hat auch nur ein Sterbenswörtchen mehr mit ihm gewechselt. Selbst beim Erschnorren eines einigermaßen menschenwürdigen Existenzminimums, wie ein Mittagessen oder ein bisschen Kleingeld, behandelten sie ihn, als ob er aus Luft wäre, ein namenloser Geist. Der Begriff Solidarität war plötzlich zum Fremdwort geworden, von Mitgefühl ganz zu schweigen. Selbst im tiefsten Winter, wo man normalerweise keinen räudigen Hund mehr vor die Tür, hinaus in die eisige Kälte schickte, bot ihm niemand mehr einen Platz zum Pennen an. Selbst die sonst so einladend geöffneten Liebespforten der liebesbedürftigsten, einsamsten Szenebräute, auf die er früher in Notzeiten zuverlässig zurückgreifen konnte, waren plötzlich hermetisch verschlossen. Jo gegenüber verhielten sie sich abweisender als jede eiserne Jungfrau mit Keuschheitsgürtel.Nachdem auch dieser Zug abgefahren war, realisierte er, dass er voll im Arsch war. Zum ersten Mal in seinem Leben erlebte er, was wirklicherHunger war, Hunger nach jedweder Nahrung, nicht nur der Essbaren. Als am quälendsten empfand er das Fehlen von Nähe, dabei vermisste er nicht so sehr die flüchtige Körperlichkeit gelegentlicher erotischer Abenteuer, sondern vor allem die alltäglichen Begegnungen mit Gleichgesinnten, die herzerwärmende Atmosphäre einer Gemeinschaft vertrauter Menschen. Freundschaften waren bisher nicht sein Ding gewesen, denn zum Aufbau solcher Beziehungen gehört das Prinzip des Gebens und Nehmen und eine gewisse Ausgeglichenheit zwischen beiden. Sie setzten das Wahren einer Balance voraus, die auf einen mit allen Wassern gewaschenen User wie Jo eher befremdlich wirkte.

Erst jetzt, wo er einsam auf weiter Flur stand, wurde ihm klar, dass ein Freund jemand ist, in den man investiert, ohne nach dem Datum der Rückzahlung zu fragen. Dass Freundschaft ein besonderes Geschenk ist und tief empfundene Verbundenheit mit einem Menschen ausdrückt, der immer einen Platz im eigenen Herzen haben wird.

All diese tiefsinnigen Gedanken gingen Jo damals in seiner misslichen Lage durch den Kopf. Schon die bloße Vorstellung einer motivierenden Umarmung unter Kollegen, die, wenn auch mehr als unwahrscheinliche Möglichkeit, dass aus heiterem Himmel ein sogenannter bester Freund an seiner Seite auftauchte, erschien ihm tröstlich.

Allerdings begriff er in dieser Situation auch, warum er niemals einen solchen gehabt hatte. Er war ausschließlich mit sich selbst und seiner maßlosen Gier beschäftigt gewesen. Neben diesem unheiligen, nimmersatten Paar blieb kein Platz für ein, wie auch immer geartetes Interesse an seinen Mitmenschen und ihren Bedürfnissen. Die Rolle der Anderen war stets nur die von Erfüllungsgehilfen bei seiner Suche nach brandneuen Kicks gewesen: Höher, schneller, weiter oder besser gesagt, härter, lauter, breiter.

Die Eiseskälte seiner Einsamkeit war allgegenwärtig, sowohl innerlich, als auch äußerlich prägte sie den tristen Ablauf seiner Tage. Sie war die Hölle auf Erden, zum Sterben schrecklich. Das Ausmaß seiner Isolation empfand er als so umfassend und erschütternd, dass er sie nicht mehr ironisch überspielen konnte. Sie ließ sich weder elegant weg kiffen, noch auf irgend eine andere idiotische Art und Weise leugnen.

An diesem absoluten Tiefpunkt seines Daseins erkannte er, dass alles miteinander verbunden ist. Angekommen im weinenden Auge seines Schmerzzentrums, blieb ihm nichts anderes übrig, als endlich die Tatsache zu akzeptieren, dass das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit ein wesentlicher Aspekt der Existenz ist, eine ungeschriebene, aber zwingende Gesetzmäßigkeit des Lebens. Im gleißenden Licht dieserErkenntnis verbrannte sein Hochmut zu Asche, sie zwang sein eitles Gemüt im Nu und radikal in die Knie. Endlich vollkommen ernüchtert, fand er sich auf allen Vieren wieder, um Gnade winselnd wie ein verletztes Tier und glaubte, dass er sich von dieser leidvollen Erfahrung nie wieder erholen würde.Doch er hatte sich getäuscht, das Leben ging weiter. Im Nachhinein blieb ihm diese Zeit unverhohlener Einsamkeit als das wesentlichste Lehrjahr seines bisher so gänzlich verpfuschten Daseins in Erinnerung.Ganz auf sich selbst gestellt, musste er sich eineschmerzliche Ewigkeit lang mühselig durchschlagen, bis er schließlich auf einer zweiten, extra seinetwegen einberufenen Vollversammlung Abbitte leisten durfte.

Sein Publikum war alles andere als ihm wohlgesonnen. Die haben ihn angesehen, als ob er einAussätziger wäre, dabei hatte er in seinem dauerbekifften Zustand, der phasenweise einem ausgewachsenen Delirium gleichkam, zumeist gar nicht gewusst, was er tat, war phasenweise kaum noch zurechnungsfähig. Wie heißt das vor Gericht so schön? Im Zweifel für den Angeklagten. Jo war der Meinung, dass ein Eierkopf wie er, einer, der nicht weiß, was er tut, eine zweite Chance bekommen sollte. So ein armer Teufel hat ein verbrieftes Recht auf Absolution, oder?

Seine Zukunft hing davon ab, dass er das Kunststück fertigbrachte, der aus selbstgefälligen Arschgeigen bestehenden Grand Jury seine Sicht der Dinge zu verklickern. Als sein eigener Anwalt musste er das Schlussplädoyer selber halten, niemand wäre auf die Idee gekommen, sich auf seine Seite zu schlagen und ein gutes Wort für ihn einzulegen.

Und überhaupt? Was wollten die bloß alle von ihm? Er kann schließlich nichts dafür, dass ihm das Scheitern in die Wiege gelegt wurde. Das macht ihn nicht automatisch zum schlechten Menschen. Man kann doch niemanden für sein angeborenesNaturell verurteilen, ein Affe ist ein Affe und eine Rose eine Rose. Er ist nun einmal als Skandalnudel auf die Welt gekommen, und wenn man soeine eskapistische Ader erst einmal voll ausgebildet hat, ist ein gelegentlicher Griff ins Klo fast unvermeidlich, quasi schon vorprogrammiert und deshalb halbwegs verzeihlich.

Jo kennt das Prozedere inzwischen wie seine Westentasche. Noch besser weiß er um seinen undankbaren Part in diesem weltumspannenden Gesellschaftsspiel. Im Laufe der Zeit ist er in die Rolle des schwarzen Schafes hineingewachsen und hat sich damit abgefunden, der schwarze Peter, Buhmann und Arsch vom Dienst zu sein. Das überstrapazierte Gewissen der moralisch tadellos funktionierenden Gutmenschen brauchtnun einmal einen ausgewachsenen Sündenbock wie ihn, also tat er ihnen den Gefallen und spielte brav seine Rolle.

Kleinmütig wie ein getretener Hund, wälzte er sich unter ihren kalten, abschätzigen Blicken im Urschlamm seiner Schuld. Eine meisterhafte Darbietung, deren Qualität auf der Echtheit seiner Gefühle basierte, eine Glanzstunde des Method Acting. Erhat alles gegeben; geheult, gebettelt und mit den Zähnen geklappert, um wieder in den solidarischen und hermetischgeschlossenen Reihen der Aktionsgruppe „Natur ist Leben!“ Einlass zu finden. Reumütig nahm er die Lektion in Demut entgegen, ließ öffentlich die Hosen herunter und schämte sich noch nicht einmal dafür. Im Gegenteil, er war überglücklich, endlich Abbitte leisten zu dürfen. Seine Angst,ein weiteres Jahr unter dem Damoklesschwert gesellschaftlicher Ächtung vegetieren zu müssen, fegte jegliche Hemmungen und Anflüge von falschem Stolz kurzerhand beiseite.Als Stunden später die bereits scharlachrot verschleierte Sonne die Wipfel der Bäume küsst und purpurne, fein gewobene Wolkenschleier die nahende Dämmerung ankündigen, schaltet Hermann den handlich kleinen, mobilen Dieselgenerator aus, der ihnen tagsüber den notwendigen Strom geliefert hat. Auf dieses Zeichen hin, lassen die Genossen und Genossinnen kollektiv ihre Hämmer fallen und gehen zum gemütlichen Teil der Aktion über.

Mit routinierten Handgriffen nimmt ein Lagerplatz Gestalt an, in seiner Mitte die traditionelle Feuerstelle. Totholz wird gesammelt und aufgespalten und dann kunstvoll zu einer kniehohen Pyramide aufgeschichtet. Um diese herum nehmen im Nu zwei perfekt abgezirkelte Kreise Gestalt an, einer aus braunrot geäderten, eiförmigen Findlingen, der andere ausdicken, nach Harz duftenden Baumstämmen, die einige Leute aus dem Wald herbei gerollt haben. Selbstverständlich geht der zu Kleinholz zersägte Baum nicht auf das Konto der jungen Leute, zu derlei Grausamkeiten sind sie definitiv nicht im Stande.

Kaum hat die wohltemperierte Sommernacht den Vorhang zur Außenwelt geschlossen, prasselt bereits ein anheimelndes Feuer in der Mitte der Lichtung. Das zuckende Licht der Flammen zaubert schattige Erscheinungenauf das schweigende Rund der Bäume, tanzende Schemen,die von Stamm zu Stamm huschen und immer weniger von dieser Welt sind.

Jo bemüht sich krampfhaft um eine demonstrativ relaxte Körperhaltung, spürt aber, wie sich mit seiner aufkommenden Panik alle Muskeln verhärten, sein ganzes Ich eine verschreckte Schutzhaltung einnimmt. Er weiß genau, was jetzt geschieht. Präzise und berechenbar, ja, auf eine perverse Art zuverlässig wie eine Schweizer Uhr, läuft in ihm ein tausendundeinmal durchlebter Automatismus der Angst ab, bricht sich das bange Lebensgefühl von einem Bahn, der sich auch in der tausendundersten Nacht nicht erfolgreich weigern kann, auszuziehen, um das Fürchten zu lernen.

Gelähmt, unfähig, die Notbremse zu ziehen, steht Jo neben sich und schaut sich dabei zu, wie er unaufhaltsam immer kleiner wird. Er versucht so zu tun, als wäre er ein unbeteiligter Beobachter, ein nur mäßig interessierter Voyeur, den das Ganze eigentlich gar nichts angeht.

Ein Psychodoktor sähe in ihm vermutlich einen zerrissenen Menschen, aus Jos Perspektive jedoch ist dieser Zustand der Spaltung ein nicht von der Hand zu weisender Fortschritt, er empfindet es als ausgesprochen wohltuend, seinen Schrumpfungsprozess inzwischen von außen betrachten zu können und nicht mehr so zwanghaft eingekeilt zu sein zwischen all seinen widersprüchlichen Gefühlen. Wer nicht wirklich existiert, der braucht auch keine Angst zu haben.

Zum Glück gibt ihm seine auserwählte Eiche etwas Halt in dieser dunklen Stunde, es tut gut, eine so kraftvolle Verbündete in der Nähe zu wissen. Den verspannten Rücken gegen ihren mächtigen Stamm gepresst, rutscht er unruhigauf seiner Isomatte herumund versucht die Geister zu ignorieren, die sich mit der zunehmenden Dunkelheit in immer schärfer konturierte Gestalten verwandeln. Späte Gäste, die außer ihm offensichtlich niemand wahrnimmt.Jedenfalls scheint der fröhlich tratschende Rest der Truppe im Gegensatz zu ihm keine Gedanken an irgendwelche Begegnungen der dritten Art zu verschwenden.Fucking strange! Der dicke Baum dort drübenöffnet plötzlich seine gigantischen Kulleraugen. Reißt sie sperrangelweit auf.

Jetzt ist es passiert! Das, was er die ganze Zeit befürchtet hat. Einer der Tagschläfer ist aufgewacht. Das dämliche, laute Gelaber hat ihn aufgeweckt. Aus der Mitte seiner runzeligen Rinde heraus glotzt er ihn an wie ein Auto. Da! Jetzt hat er ihm auch noch zugeblinzelt...

Jo möchte den anderen am liebsten den Mund verbieten, sie bitten, leiser zu sein.

Seid doch endlich still! Ihr weckt sie sonst alle auf. Es sind so viele dort unten. Sie fühlen sich gestört und hangeln sich aus den tiefen Schatten ihrer labyrinthischen Höhlen hinüber in die Welt der Menschen. Bald werden ganze Heerscharen an die Oberfläche kommen und der Wald voll von ihnen sein.

Jo befürchtet, dass er die Kontrolle verlieren könnte. Wenn viele gleichzeitig auftauchen, wird es schwierig für ihn, den Überblick zu behalten. Dann kann er unmöglich alle im Auge behalten. Aber einer wird sich um sie kümmern müssen, jemand muss sie genau beobachten. Aufpassen, das sie keinen Unsinn anstellen. Denn so entspannt und harmlos, wie sie jetzt gerade wirken, sind sie nämlich nicht. Jo weiß, dass sie sich auch in etwas ganz Anderes verwandeln können. In etwas Garstiges und Feindseliges, listig wie hundsgemeine Kobolde. Wenn sie wollen, können sie ohne Ende Scheiße bauen und einem das Leben schwer machen...

Ganz ruhig und entspannt bleiben, Alter! Lass dich nicht aus dem Konzept bringen. Du weißt es inzwischen doch viel besser, hast geschnallt, wie der dämliche Angsthase läuft. Wie ein Vollidiot rennt er im Zickzack vor seiner Angst davon und geradewegs ins Verderben hinein.

Vor allem darf man sich niemals der Panik ergeben, niemals der Versuchung nachgeben, sich tot stellen zu wollen. Denn das ist nur etwas für Loser. Die glauben noch an das kindische Versteck hinter vor das Gesicht gehaltenen Händen. Sie denken, wer nicht sieht, kann auch nicht gesehen werden.

Ruckartig kommt Jo in die Realität zurück und merkt, dass er aufgehört hat, zu atmen. Er befürchtet, das leiseste Geräusch könnte ihn verraten.

Nein! Diesen Hochsicherheitsknast vermeintlicher Sicherheit kennt Jo zur Genüge.

Nein! Ins Bockshorn jagen lässt er sich nicht mehr. Never, ever!

Nein! Anstatt wie ein trotteliges Opferlamm mit offenen Augen in die Falle zu tappen, beschließt er das Monstrum namens Angst zu verwirren, indem er genau das Gegenteil von dem macht, was es von seinen Opfern erwartet.

Lass jetzt alles los, jedes Gefühl und jeden Gedanken. Schalte radikal um auf Survivalmodus. Das Einzige, was in so einem Moment zählt, ist das immer gleiche Ein und Aus, das einen am Leben hält. Tu nichts, außer dem Kommen und Gehen deines Atems zu lauschen. Alles andere ist ohne Bedeutung. Beobachte deinen Körper, wie selbstverständlich er für sich sorgt, wie klar und ruhig er ist. Genau wie ein großer See, auf dessen Oberfläche bei einem Sturm kleine Wellen tanzen, bleibt er in seiner Tiefe gänzlich unbeeindruckt von äußerem Druck und Getöse.

Folge seinem Beispiel und erkenne die simple Strategie des Überlebens. Die naheliegendste Lösung ist gleichzeitig das Einfachste auf der Welt. Und das, was funktioniert, ist richtig. Tiefer Atem ist die beste Medizin in solchen Situationen.

Jo starrt in die Nacht, die Nacht starrt zurück. In seinem Rücken spürt er die lebendige Wärme der Eiche, ihre borkige Rinde strahlt Geborgenheit aus. Er ist ihr dankbar für diese Zuwendung, eine Dankbarkeit, die an Liebe grenzt. Der Baum empfindet auch Zuneigung für ihn, da ist Jo sich sicher. Hinter ihm steht eine Riesenportion Liebe für alle lebendigen Wesen, und er ist einer von ihnen. Er muss sich nur diesem allgegenwärtigen Schutz anvertrauen. Dann wird alles gut. Und ein Leben ohne Angst liegt vor ihm.

Chill mal wie Buddha, sagt er sich. Das sindnur Naturgeister. Die tun dir nichts. Du bist doch einer von ihnen, ein Freund der Bäume.Jo hat einschlägige Erfahrungen mit Angstzuständen aller Couleur. Mit den Jahren hat er sich zu einem Krisenmanager erster Güte entwickelt, zu einem wahren Meister im Bewältigen von Panikattacken.

Was ihm neben den sich zumeist in den Abendstunden einstellenden, übernatürlichen Erscheinungen, am meisten zu schaffen macht, ist seltsamerweise eine positive Entwicklung, die eigentlich Anlass zur Freude sein sollte. Im Verlauf der letzten Monate weiteten sich die zunächst sporadischen, vereinzelten Glücksmomente zu ausgedehnten Glückssträhnen aus. Früher kannte er nur die rasanten Wechsel zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit, himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt. Doch nun wacht er morgens auf und ist einfach guter Dinge, grundlos glücklich und muss gar nichts weiter dafür tun. Als ob dieses Glücksgefühl sein ursprünglicher, natürlicher Seinszustand wäre.

Aber aus bitterer Erfahrung weiß er, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist und unmöglich stimmen kann. Denn umsonst ist nicht mal der Tod und Highlights wie plötzliche Anfälle von Frohsinn gibt es schon mal gar nicht geschenkt. Die haben ohne Ausnahme einen langen Schatten und darin verbirgt sich meistens ein Rattenschwanz.

Tagelang grübelt er kreuz und quer und sucht händeringend nach dem Haken an der Sache. Denn irgendeinen hässlichen Haken muss dieses ungewohnte Lebensgefühl ja schließlich haben. Und obwohl alles nun viel einfacher geworden ist, kommt es ihm gleichzeitig komplizierter vor, schon allein deshalb, weil er Phasen von Freude und Entspannung seit jeher extrem irritierend fand.

Dennoch muss er sich widerwillig eingestehen, dass sich sein ganzes Leben, seit dem Beginn seiner Abstinenz, wie von Geisterhand umgestaltet hat. Es ist deutlich strukturierter und überschaubarer geworden und geht ihm leichter von der Hand. Viele unumgängliche Alltäglichkeiten, zu denen er sich früher erst langwierig überwinden musste und die er ewig, zusammen mit einem Berg anderer unerledigter Dinge vor sich her schob, laufen heute wie von selbst.

Sogar die Welt seiner Gedanken entwickelt sich inzwischen zunehmend in eine optimistische Richtung. Manchmal ist sie sogar dermaßen lichterfüllt und positiv, dass es ihm so vorkommt, als ob ein Engel seine Hand über ihn halten und ihn mit einem Zauberspruch segnen würde. Dann erstrahlt alles in ihm, bis in jede einzelne Zelle hinein, in solch einer reinen Stille und Schönheit, dass es ihn irgendwann hochgradig anzuöden beginnt. Die Monotonie des Frohsinns ist ein echtes Paradoxon.

In exakt diesen schwachen Momenten sucht sie ihn heim, die Unerträglichkeit stillen Friedens. Eine alle guten Ansätze im Keim erstickende und zermahlende Unruhe nimmt sich krakenhaft Raum in ihm und verstopft jede seiner Gehirnwindungen, bis am Ende nichts als hochtoxischer Sondermüll mit Überschallgeschwindigkeit in seinem Kopf rotiert, absoluter Mindfuck.

Je mehr sich seine Gesamtsituation entspannt, desto stärker schürt seine zunehmende Nervosität eine böse Lust in ihm, das neu gewonnene Gefühl der Geborgenheit niederzureißen und zuzuschauen, wie die zarten Knospen seines frisch erwachten Selbstvertrauens im Glutkegel seines Zweifels zu Asche verbrennen. Ein alter, ausgetretener Pfad, der durch ausdauernden Selbsthass gebahnt wurde und nach wie vor eine Option ist, die er jederzeit abrufen kann. Dieser flackernde Wahnzustand ist ein alter Bekannter, dessen Antlitz ungesund beleuchtet wird vom giftig gelben Stroboskoplicht, das Jos latentes Misstrauen erzeugt. Er gleicht einem kurzen, dramatisch hohen Fieber, einer schwarzgesichtigen Krankheit, die alles in den Dreck zieht und jeden Sinn für das Schöne aus seinem Herzen brennt.

Verstandesmäßig erkennt er selbstverständlich, dass es ihm jetzt besser geht als je zuvor und er das Leben zunehmend besser auf die Reihe kriegt, trotzdem ertappt er sich gelegentlich bei der Lust auf ein ausgewachsenes Drama. Dann überfällt ihn ein unwiderstehlicher Bock auf totales Chaos, auf den guten, alten, ganz alltäglichen Wahnsinn, der ihn früher durch die Tage gepeitscht hat. Und während er bereits mit dem verlockenden Gedanken spielt, dem infernalischen Sog nachzugeben, kommt sie ihm gleichzeitig total verrückt vor, diese Sehnsucht nach dem so verflucht vertraut erscheinenden, todtraurigen Land namens Selbstzerstörung. Als ob sie ein warmer, perfekt eingetragener Lieblingsmantel wäre, von dem er sich nicht trennen mag.

Manchmal spielt er mit dem Gedanken, vorsätzlich zu scheitern. Ein katastrophaler Rückfall würde ihn in seiner latent skeptischen Vermutung bestätigen, dass es sich bei seinen Glücksgefühlen ohnehin um nichts als trügerische Illusionen handelt. Hinter ihrer hübschen Fassade steckt nichts als ein Strohfeuer seiner Neuronen, die ihn trickreich in Sicherheit wiegen wollen, nichts als eine Überlebensstrategie seiner Seele, damit er nicht vom rechten Weg abkommt und erneut abstürzt.

Sein Leben lang wollte er irgendwo ankommen, endlich einen Ort finden, an dem sich nicht nur sein Körper zu Hause fühlt, sondern auch er selbst. Und ihm war jedes Mittel recht, den Weg dorthin zu beschleunigen, da kannte er keine Tabus. Dass diese Strategie zu keinem befriedigenden Ergebnis führte, lag von vornherein auf der Hand, auch wenn er es damals nicht wahrhaben wollte.

Seitdem er auf halber Strecke zwischen Hölle und Nirgendwo abgestürzt ist, lässt er sich treiben und in eine nach wie vor gänzlich ungewisse Zukunft mitschleifen und versucht, jeden einzelnen Tag auf's Neue, sich damit abzufinden, dass sein augenblicklicher Status Quo jetzt von Dauer sein wird. Und dass dieser genau dem Lebensgefühl entspricht, nach dem er sich früher so sehr gesehnt hat. Der unbeschreiblich träge, zuweilen zäh dahin fließende Strom inneren Friedens, den er nun zuweilen empfindet, ist das exakte Gegenteil vom flammenden Inferno radikalen Selbstzweifels, der ihn bisher so höllisch hart geritten hat. Heute reist er auf neuen Wassern, obwohl er sich nicht daran erinnern kann, bewusst eine Kursänderung vorgenommen zu haben.

Ihm ist klar, dass er um eine definitive Entscheidung langfristig nicht herum kommt. Ansonsten wird er in diesem wünschenswerten Zustand heilsamer Gelassenheit nicht wirklich ankommen, sich in ihm womöglich niemals ganz zu Hause fühlen. Aber trotz seines momentanen Eiertanzes zwischen den Stühlen namens Angst und Hoffnung, ist der berühmte, goldene Mittelweg sein Motto der Stunde. Der Weg, der dem Prinzip der Ausgleichung folgt und die perfekte, innere Balance zum Ziel hat, ist ein ausgesprochen hehres Ideal. Zur Abwechslung hat Jo die Messlatte ziemlich hoch gehängt, und zwar im positiven Sinne.

Als die XXL-Version eines Joints die Runde macht, verzichtet Jo dankend. Er ist jedes Mal ein bisschen stolz auf sich, wenn er es schafft, seinen neu gewonnenen Grundsätzen treu zu bleiben. Solche,für ihn traditionell eher untypischen Entscheidungen,fallen ihm wesentlich leichter, seit ihm sein permanent schlechtes Gewissen im Nacken sitzt. Diese im Moment friedlich schlummernde Wesenheit hat sich als überaus mächtige und garstige Kontrollinstanz erwiesen, die er auf gar keinen Fallherausfordern möchte. Schon die Option eines Fehltritts in Form von Drogen und Co erinnert ihn an seinen letzten Absturz, den er nur knapp überlebt hat und lässt seine Angst vor dem Overkill wieder drastisch lebendig werden.

The day after damals war der pure Horror. Das grünstichige Neonlicht über ihm an der kalkweißen Zimmerdecke erlosch niemals und sein ausgepumpter Magen fühlte sich an, als wäre er bis zum Rand mit glühenden Kohlen vollgestopft. Als makabere Krönung seines desaströsen Erwachens in der grauen Wirklichkeit, trat dann noch eine rabiat unfreundliche Psychologin in Erscheinung, die sich um Banalitäten wie Arztgeheimnis und Privatsphäre einen feuchten Kehricht kümmerte und ihm im voll belegten Mehrbettzimmer eine peinliche Standpauke hielt, in der sie ihm die Möglichkeit seiner Zwangseinweisung in die geschlossene Abteilung der nächstgelegenen Klapsmühle mehr als lebhaft vor Augen führte. Dabei klang ihr sonores Gelaber nicht wie eine leere Drohung, eher nach einer düsteren Prophezeiung.

Eigentlich müsste er mehr als dankbar sein, dass er noch mal mit relativ heiler Haut davon gekommen ist. Er fragt sich, warum er diese Dankbarkeit in Gedanken formulieren, aber nicht fühlen kann. Vermutlich, weil er weder das Leben, noch sich selbst liebt, und daher seine wundersame Auferstehung von den Toten nicht wirklich zu schätzen weiß.

In seinem Rücken schreit seine Vergangenheit um ihr Leben und krallt sich mit scharfen Krallen in sein schwaches Fleisch, und vor ihm steht sein Neuanfang, hält ihn fest an den Händen und versucht ihn auf die andere Seite der Medaille zu ziehen. Die Achterbahnfahrt eines Blinden, der Streckenverlauf liegt im Dunkeln.

Meistens weiß er nicht, was er fühlt, nur, was er passenderweise fühlen sollte. Dann spiegelt er eine angemessene Emotion vor, ruft sie aus der Erinnerung ab wie ein schlechter Schauspieler. Denn in seinem Herzen, dort, wo sich klare Impulse wie Hoffnung oder Trauer finden lassen sollten, gähnt nur ein schwarzes Loch. Und er kreist um diesen undefinierbaren Abgrund in seiner Mitte und versucht so zu tun, als wäre alles ganz prima und er ein neuer Mensch. Gut die Hälfte seines kreativen Potentials investiert er in den schönen Schein, mit dem er versucht seinen Mitmenschen vorzugaukeln, er hätte sich über Nacht in eine wahre Frohnatur verwandelt.

Als eine sanfte Brise den markanten Geruch von hochpotentem Supergras um Jos empfindliches Riechorgan fächelt, hat er das Gefühl, gleich kotzen zu müssen. Auch ohne den Konsum der heiligen Kräuter kommt es ihm so vor, als ob er dauerbreit wäre. Seinen Zustand könnte man auch als naturstoned bezeichnen.

Es kann auch von Vorteil sein, den Karren schon in jungen Jahren voll an die Wand zu fahren. Jedenfalls kommt Jo so frühzeitig auf den Trichter, dass es auch Alternativen zum Leben auf der Überholspur gibt. Im Gegensatz zu den meisten jungen Leuten seiner Generation, die möglichst oft maximal bekifft sein wollen, hat sich in seinem benebelten Hirn die Vorstellung, irgendwann auf dem steinigen Boden der Tatsachen zu landen, zu einer überwiegend positiv besetzten Zukunftsvision entwickelt.Während er seine Abstinenz mit einer selbstgedrehten Zigarette belohnt, beobachtet er möglichst unauffällig den atemberaubend geformten Schattenriss der schönsten Frau der Welt. Zumindest ist sie das in seinen Augen und zwar bei jedem erneuten Hinsehen ein bisschen mehr. Seit Monaten schon träumt er beinahe jede Nacht von ihr und fiebert, sobald er aufwacht, das nächste Treffen der autonomen Planungsgruppe herbei und hofft, dass sie sich dort blicken lässt.

Die Räume jenseits und diesseits der Schallmauer, die durch die Mitte des Bewusstseins verläuft, befruchten sich ausnahmsweise gegenseitig. Traum und Wachzustand, die Jo besonders in Liebesdingen zumeist als sich widersprechende Perspektiven wahrnimmt, bilden, was Lisa angeht, eine bislang selten erlebte Einheit. Das kann eigentlich nur einen Grund haben, nämlich den, dass sie Seelenverwandte sind.

Eine, die Sinne betörende Augenweide und ein widerborstiger, sich gegen jede Konvention sträubender Wildfang. Obwohl Jo sich alle Mühe gibt, kann er seinen Blick nicht von ihr losreißen. Er liebt einfach alles an ihr, ihr Charakter vereint genau die Widersprüche, die auch ihn zu zerreißen drohen. Sie ist sein weibliches Pendant, auf eine ungekünstelte, freche Art verführerisch und gleichzeitig unnahbar kühl und distanziert.

Der Nachtwind frischt kurz auf und facht die Glut im Lagerfeuer an. Als die Holzscheite knisternd auflodern, glüht ihre weißblonde Mähne mit den Flammen um die Wette. Ihre spiraligen Korkenzieherlocken funkeln erst schneeweiß auf, züngeln dann in grellen Orangetönen empor und verlodern schließlich in immer matteren Farbnuancen, tauchen wie rubinrote, träge sich windende Schlangen in den Schatten der atmenden, lebendigen Finsternis des alten Waldes ab, der sie umgibt wie eine dunkelgrüne Schutzburg.

Alsseine Angebetete unverhohlen gierig an dem immer noch kreisenden Joint zieht, sucht Jo eine obszöne Phantasie heim. Manchmal ist es ihm richtig unheimlich, welche Macht diese lüsternen Bilder über ihn haben, wie sie ihn aus heiterem Himmel in Beschlag nehmen. Obwohl er eigentlich eher zärtliche, behutsame Gefühle für Lisa hegt, bildet sich sofort eine unmissverständliche Beule in seiner zerschlissenen Cargohose.

Im ersten Moment ist Jo erleichtert, dass sein Ding endlich mal wieder ein Lebenszeichen von sich gibt. Zumindest hat seine Libido noch nicht endgültig alle viere von sich gestreckt, in diesem Sinne ist so ein Ständer natürlich ein gutes Zeichen. Andererseits nervt ihn das unkonstruktive Eigenleben seines Schwanzes allmählich. Wenn er in Aktion treten soll, regt sich rein gar nichts, und wenn es Jo nicht in den Kram passt, wie jetzt gerade, läuft er zur Hochform auf.

Während er angestrengt versucht, das triebgesteuerte Tier seiner Lust zurück in die Höhle zu treiben, aus der es hervorgekrochen war, malt er sich aus, wie die unvermittelt jähe Woge der Gier, die ihn durchströmt, Lisas Grenzen überspült und direkt in ihre Intimzone brandet.

In Situationen wie dieser fragt er sich, ob es wirklich einen Unterschied gibt zwischen einer Idee und ihrer Umsetzung in der Realität. Ist die Vorstellung einer eigenmächtigen, sexuellen Handlung nicht auch schon ein subtiler Ausdruck von Missbrauch?

Wenn Gedanken eine Form von Energie sind, dann sind sie eigentlich doch genauso real wie eine Hand zwischen den Beinen. Schräge, lüsterne Phantasien eines notgeilen Arschlochs, das, anstatt sich zu beherrschen und respektvoll auf Abstand zu bleiben, einer Frau mit seiner Gier ungefragt zu nahe tritt. Mentale Übergriffe, die einer geistigen Vergewaltigung gleichkommen.

Dabei liegt ihm nichts ferner. Die Vorstellung, Lisa mit seinem meist planlosen Sexualtrieb auf die Nerven zu gehen, ist ihm zutiefst zuwider. Klar, früher war er ganzjährig auf der Balz, ein fickriger Rammbock. Damals war ihm rein gar nichts peinlich, moralische Bedenken spielten eine untergeordnete Rolle, Hauptsache er kam zum Schuss. Heutzutage ist ihm der ranzige Pornomüll in seinem Kopf ausgesprochen unangenehm. Das Zeug kickt nicht mehr, sondern stört nur noch. Das ganze Gewichse turnt ihn völlig ab und er hat das Gefühl, seinen Sex komplett neu erfinden zu müssen, um wieder richtig Spaß daran zu haben. Die unverbindliche, schnelle Nummer hat für ihn restlos jeden Reiz verloren.

Natürlich musste er es neulich trotzdem mal wieder versuchen. Nach dem Motto, der Appetit kommt mit dem Essen, wollte er testen, was passiert, wenn er es drauf ankommen lässt. Aber es war ein totaler Reinfall. Die unvermittelte Nähe zu der so gut wie fremden Frau hat ihn derart verstört, dass er keinen hoch gekriegt hat. Nach kurzem, lauwarmem Gefummel, lagen sie beide frustriert nebeneinander und haben sich angeschwiegen. Trotz der sommerlichen Temperaturen in dem seltsam kleinmädchenhaft dekorierten Schlafzimmer war ihm lausig kalt.

Und irgendwann begriff er, dass es die Distanz zwischen ihnen war, die ihn bis ins Mark frösteln ließ, dass sein Gefühl der Ungeborgenheit das Aufkommen jeglichen Verlangens im Keim erstickte.

Fremdheit trifft auf Sex, früher hatte ihn diese Mischung total aufgegeilt, jetzt passten die Komponenten plötzlich nicht mehr zusammen. Die unvermittelte Nacktheit, das tödlich lange Schweigen und die beklemmende Unvertrautheit zwischen ihnen. Gleichzeitig zu nah und zu fern... Seltsam, dass ihn dieser Kontrast früher nicht gestört hatte.

Unangenehm berührt, erinnert er sich daran, wie er nur wenige Zentimeter neben der Frau lag und versuchte, jeden Blickkontakt zu vermeiden. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, weil er befürchtete, dass sie das Ausmaß seiner Schwäche erkannte und er ihr vollkommen ausgeliefert wäre. So sehr hat er sich geschämt für seinen ausgemergelten Körper, seinen schlappen Schwanz. Am unangenehmsten war ihm aber seine Unsicherheit selbst. Dass er so komplett neben sich stand und nicht wusste, wohin mit sich, seinen peinlichen Versagensängsten und widersprüchlichen Gefühlen.

Seit er nüchtern durch das Leben geht, ist die Scham eine stete Begleiterscheinung seiner Lust. Das geht sogar so weit, dass ihm Erinnerungen an entgleiste Situationen aus der Vergangenheit die Schamröte ins Gesicht treiben. Vollkommen unvermittelt und wie aus dem Nichts steht er dann in Flammen wie ein lebendiges Streichholz und hat das Gefühl, dass ihn alle angaffen und Bescheid wissen um die Schneise der Verwüstung, die er in der weiblichen Welt hinterlassen hat.

Jo am Pranger. Jo, der Triebtäter, dessen Innenleben öffentlich zur Schau gestellt wird. Jo, der gläserne Frauenfresser, dem die gebrochenen Herzen und Verwünschungen seiner Expartnerinnen deutlich anzusehen, geradezu ins Gesicht geschrieben sind.

Als er spürt, wie die aufsteigende Hitze seine Wangen mit glühenden Kohlen füllt, weiß er, dass sein kahl rasierter Schädel jetzt die Farbe einer überreifen Erdbeere angenommen hat. Ein spät pubertierender Bubi, oben knallroter Feuermelder, unten schmales und blasses Strichmännchen.

Ha, ha, nun ist es wieder unter uns, das wandelnde Streichholz! Fremdschämen ist angesagt, Leute!

Jo ist mehr als froh, dass die Nacht ihn davor schützt, durchschaut, entlarvt und verarscht zu werden. Mit einem Ruck reißt er seinen Blick von Lisa los, um grüblerisch ins Feuer zu starren.Ob sie es wohl auf eine mehr oder weniger bewusste Art mitschneidet, wenn er so durchgeknallte, lüsterne Gefühle und Fantasien hat, in denen sie der Fixpunkt seiner Begierde ist? Wenn dem so sein sollte, lässt sie sich jedenfalls nichts anmerken und macht gute Miene zum bösen Spiel.

Dank des turbogeilen Dopes schwebt Lisa ungefähr einen Meter über dem nach Wildkräutern und Verwesung duftenden Waldboden. Sie befindet sich in einem wunderbaren Zustand, fühlt sich leicht wie eine Feder und ist wunschlos glücklich. Doch nach der anfänglichen, von Euphorie geprägten Phase des Rausches, meldet sich viel zu schnell die andere Seite der Medaille und fordert den üblichen Preis. Die Schutzhülle, die ihren Geistkörper sonst so behütend umschließt wie eine Rüstung, wird merklich schwächer und fühlt sich plötzlich löchrig und diffus an.

So spürt Lisa die drängende Energie, die sich aus der vermeintlichen Anonymität des Halbschattens heraus, zielgerichtetwie ein Laserstrahl in ihre Aura bohrt, deutlicher als ihr lieb ist. Auch ohne groß den Kopf drehen und den Absender der doppeldeutigen Energiewellen genauer unter die Lupe nehmen zu müssen, eine Aktivität, die ihr, stoned wie sie ist, ohnehin viel zu anstrengend wäre, weiß sie längst, wer der heimliche Absender ist.

Jo ist attraktiv und auf eine sympathische Art versponnen, deshalb sonnt sie sich auch ganz gerne im Licht seiner Aufmerksamkeit. Ihr Traumtyp ist er nicht gerade, entspricht im Großen und Ganzen aber ihrem Beuteschema und wäre gewiss ein amüsanter Zeitvertreib. Besondere Illusionen hegt sie nicht, er ist auch nur ein Mann wie alle anderen. Seine verstohlenen Blicke sprechen eine deutliche Sprache, eine Fusion aus oberflächlichem Interesse und unterdrücktem Verlangen.

Mit Annäherungsversuchen jeglicher Couleur ist sie bestens vertraut. Dass Typen hinter ihr her sind, gehört zu ihrem Alltag. Das klingt nach jeder Menge Stress und ist es auch, in ehrlichen Momenten muss sie sich allerdings eingestehen, dass sie die ganze Bandbreite an Zuwendungen oft auch genießt, die von Seiten der Männerwelt auf sie herab prasseln, auch wenn sich diese in der Regel auf ihr niedliches Puppengesicht, ihren Arsch und ihre Titten beziehen. In diesem Punkt ist sie trotz ihrer Jugend bereits jeglicher Illusion entwachsen. Die meisten Männer wollen einfach nurein bisschen flirten und dann möglichst fix und unverbindlich zur Sache kommen. Ein kleines Erfolgserlebnis zum Aufpeppen ihres Egos und als Sahnehäubchen ihr Sahnehäubchen möglichst spektakulär auf weiblichen Rundungen platzieren. After Action, Satisfaction. That’s the name of the game.

Eine Zeit lang spielte sie brav ihre Rolle und testete das zweifelhafte Vergnügen, als reines Lustobjekt herzuhalten in allen möglichen Variationen durch. Doch abgesehen davon, dass sie als Frau bei solchen emotionsarmen Quickies nicht wirklich auf ihre Kosten kam, wurde ihr von dem schalen Nachgeschmack solches mechanischen Flüssigkeitsaustausches irgendwann regelmäßigspeiübel. Sie deutete ihr Unwohlsein als Abwehrreaktion ihres Körpers, als ob er jeden fremden Tropfen Schweiß, Speichel und Sperma, jede oberflächliche Berührung aus seiner Intimsphäre herauspressen müsste, um sich nicht mehr ganz so besudelt und benutzt zu fühlen.

Auch auf geistiger Ebene machten ihr die One-night-stands zunehmend zu schaffen. Auf das kurze Glück feuchtwarmer Zweisamkeit, folgten Tage düsterer Schwermut, die sie in ihrer Heftigkeit an die depressiven Abstürze ihrer Mutter erinnerten.

Sie lässt sich von dem unbequemen Holzklotz auf den, mit spärlichen Grasbüscheln bewachsenen, Waldboden gleiten, streckt sich und reckt sich genussvoll der Wärme des Lagerfeuers entgegen und wirft derweil einen beiläufig erscheinenden Rundumblick in das Reich der Schatten. Jo ist echt der seltsamste Typ, den sie jemals getroffen hat.

Hockt da, am äußersten Rand des Flammenscheins, wie immer ganz für sich allein und scheint mal wieder mit den Geistern Zwiesprache zu halten. Auch wenn sie in dem fahlen Zwielicht keine Lippenbewegungen ausmachen kann, hört sie ihn raunen und flüstern, Pro und Contra abwägen, mit wem auch immer über den Sinn des Lebens diskutieren. Dr. Seltsam, er macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt...

Zum ersten Mal begegneten sie sich vor ungefähr einem halben Jahr bei einer Animal-Freedom-Aktion. Damals brachen sie in einen Zoo ein und befreiten ein gutes Dutzend Raubvögel aus ihren Käfigen. Eine coole Aktion, sie hatten viel Spaß dabei. Dass die Vögel ein paar Tage später freiwillig in ihre Gefängnisse zurückkehrten, trübteihr Erfolgserlebnis allerdings spürbar ein. In der bürgerlichen Schundpresse berichteten sie dann, dass die Tiere in der freienWildbahn nicht überlebensfähig und am Verhungern waren. Angeblich, weil sie in Gefangenschaft geboren und deshalb nicht in der Lage waren, sich selbst zu versorgen.

Solche Statements stehen ihrer Meinung nach vor allem für die selbstgefällige Arroganz und doppelbödige Heuchelei, die Menschen gegenüber Tieren an den Tag legen. Diese Typen fürchten sich nur davor, sie könnten so etwas Lästiges wie Mitgefühl mit einer Spezies entwickeln, die tagtäglich in Form von gebratenen Hähnchen und anderen geschmacklichen Entgleisungen auf ihren Tellern liegt.

Und außerdem, selbst, wenn dem so wäre und der aufgeblasene Pressefuzzi tatsächlich recht hätte? Sie als Vogel wäre jedenfalls mehr als froh, wenn ihr jemand die Freiheit schenkte. Lieber verhungern, als ein jämmerliches Dasein hinter Gitterstäben fristen, oder?Dass Jo hinter ihr her ist, ist kaum zu übersehen. Im Prinzipwäre sie ja auch gar nicht abgeneigt, mal ganz abgesehen von seinen gelegentlichen, tranceartigen Aussetzern, findet sie ihn ziemlich süß. Aber er verhält sich wie alle diese Typen aus der linken Szene, große Klappe und nichts dahinter. Die sind genauso schüchtern wie sie geil sind, widersprüchlicher als pubertierende Schuljungs vorm ersten Mal. Ihre Angst,in irgend ein politisch unkorrektes Fettnäpfchen zu treten, wäre direkt zum Schreien komisch, wenn sie nicht jegliche Art von natürlichem Kontakt zwischen Mann und Frau verhinderte.

So viele verpasste Chancen. Dabei will sie doch auch hin und wieder angebaggert werden! Diese Anmachen sollten natürlich rein verbal und frei von aufgesetzten Macho-Allüren vonstatten gehen. Wie sagt man so schön? Wer ficken will, muss freundlich sein.Lisa gibt den hellrot glühenden, viel zu heiß gerauchten Joint weiter, schnappt sich ihre zerschrammte Wandergitarre und fängt zur Einstimmung an, ein paar leise Akkorde zu zupfen. „Smells like teen spirit“ von Nirvana zählt zu ihren absoluten Lieblingssongs. Sie glaubt genau zu wissen, in welcher Stimmung er entstanden ist. Jedes einzelne Wort, jede Silbe kann sie fühlen, den Wahrheitsgehalt in jedem Vers schmecken.

Nachdem sie sich ein wenig warm gespielt hat, setzt sie sich aufrecht hin, weitet ihre Brust mit ein paar tiefen Atemzügen und haut, das universelle Wissen um die Heilkraft allumfassender Liebe in ihrer erstaunlich kräftigen Stimme, voller Inbrunst in die Saiten.

Nach anfänglicher Befangenheit, die sich mit der Wirkung des mit einem astronomisch hohen THC-Wert gepimpten Grases schnell auflöst, fängt das illustre Häufchen Mensch an, mitzusingen. Manche verhalten murmelnd, andere aus vollem Halse, je nach stimmlichem Potential und vorhandenem Selbstwertgefühl.

Jo lehnt sich zurück in die starken Arme seiner hölzernen Amme und versucht die Show zu genießen. Ein wenig Aktion kommt immer gut, sie lenkt ihn von seinem verdrehten Innenleben ab und treibt die Geister zurück in die Welt der Schatten.

Das Dope scheint gut zu sein, jedenfalls beflügelt sein ungebremster Konsum zusehends den Mut des bunt gemischten Chors, sich stimmlich gehen zu lassen. Der Rausch, gepaart mit den Sangesfreuden, verändert die Stimmung auf der nächtlichen Lichtung kolossal.

Während eine popkulturelle Hymne auf die nächste folgt, hocken Jos sonst so knallharte Mitstreiter, völlig losgelöst im Hier und Jetzt, im Kreis um das Lagerfeuer herum. Nachdem sie zuerst nur zaghaft mit den Köpfen genickt haben, pendeln ihre Oberkörper schließlich immer rhythmischer und wilder im Takt der Musik. Gelegentlich lässt sich sogar jemand dazu hinreißen, mit den Händen ekstatisch die Luft umzurühren, Flowerpower.

Im flackernden Schein der Flammen wirken sie butterweich und unschuldig, aus der Zeit gefallene Kinder, deren Physiognomien Jo an die Hippies erinnern, die er einmal in einem Dokumentarfilm über das legendäre Woodstock-Festival im Jahr 1969 gesehen hat.

Der Reihe nach mustert er die wesentlichen Leistungsträger der Zelle. Neben Lisa und Hermann zählt noch ein weiterer junger Mann zu den unverzichtbaren Eckpfeilern seiner politischen Wahlfamilie. Sein bürgerlicher Name lautet Martin Gruber, aber unter dem kennt ihn in der Szene keiner. Während militanter Aktionen und anderer Ordnungswidrigkeiten sind Klarnamen und ähnlicheerkennungsdienstlich verwertbare Merkmale definitiv tabu, außerdem klingen Spitznamen viel besser, irgendwie familiärer. Sie symbolisieren ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl und bergen ein Versprechen in sich. Die Erfüllung der Sehnsucht nach verwegenen Abenteuern und Grenzgängen, die die Routine des Alltags auf den Kopf stellen. Schließlich käme ja auch niemand auf die Idee, unter dem Allerweltsnamen Martin Gruber auf einem Piratenschiff anzuheuern. Das wäre ja kontraproduktiv, schon beinahe geschäftsschädigend. Genau dieses bourgeoise Image will man doch hinter sich lassen, wenn man sich dem Widerstand anschließt.

Alle nennen ihn Tarzan. Jo kann sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen. Kein Wunder, dass ihm die Szene so einen bekloppten Spitznamen verpasst hat. Als bekennender Nudist, er läuft sogar im tiefsten Winter barfuß, muss er mit allem rechnen. Seinem Spitznamen macht er alle Ehre, indem er sich, einen durchdringenden Urschrei ausstoßend, Hals über Kopf ins Schlachtengetümmel stürzt.

Aber genau genommen passt der Name Tarzan überhaupt nicht zu ihm. Er klingt nach einem fröhlichem Naturburschen, ein Image, das den wesentlichen Kern seiner Persönlichkeit noch nicht mal ungefährtrifft. Denn Martin ist eine tickende Zeitbombe, der Scharfmacher vor dem Herrn. Wenn der bei einer Demo