Die Ring Chroniken 3 - Berufen - Erin Lenaris - E-Book

Die Ring Chroniken 3 - Berufen E-Book

Erin Lenaris

4,0

Beschreibung

Frieden hat seinen Preis. Bist du bereit, ihn zu zahlen? Brutal wie nie zuvor schlagen die Machthaber von Polaris die Rebellion in der Rauring-Wüste nieder. Die inhaftierte Emony versuchen sie mit allen Mitteln zu brechen, doch Sarks Gegner sind zahlreicher als vermutet. Emony kann entkommen und entdeckt zusammen mit Kohen eine fremde Gesellschaft, die dem Wassermangel auf faszinierende Weise trotzt. Als ihre alte Welt auf die neue prallt, liegt der Schlüssel zur Zukunft in ihren Händen. Emony und Kohen stehen vor einer schweren Entscheidung…

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Seitenzahl: 450

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Jessica Strang

Stapenhorststraße 15

33615 Bielefeld

www.tagtraeumer-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Buchsatz: Laura Nickel

Lektorat/ Korrektorat: Veronika Carver

Umschlaggestaltung: Anna Hein

www.fuchsias-weltenecho.de

Bildmaterial: © Shutterstock.com

© Canstockphoto.de

ISBN: 978-3-946843-84-9

Alle Rechte vorbehalten

© Tagträumer Verlag 2020

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur CastleGate Agency, Eichenweg 6, 69198 Schriesheim/ Heidelberg

Erin Lenaris

Die Ring

Chroniken

Berufen

+++ Live-Ticker +++

Extremisten nehmen WERT-Chef als Geisel – ein Toter, zahlreiche Verletzte – Täter auf der Flucht

Polaris, 09.12.2210: Akute Terrorlage in Polaris! Von der Megaparty zur Horrorshow: Während der Hundertjahrfeier des Wasser- und Energieversorgers WERT wurde der Senator und WERT-Vorsitzende Santos Sark Opfer einer Geiselnahme. Nur dank des heldenhaften Einschreitens seines Sohnes Tarmo Sark konnte sein Leben gerettet werden. Sark Junior bewährte sich durch seinen mutigen Einsatz eindrucksvoll als neuer Großgeneral. Verantwortlich für die Tat ist eine Gruppe kontinentalländischer Extremisten. Die 16-jährige Emony Keller und der gleichaltrige Felix Omen drangen bewaffnet und in Begleitung eines Unbekannten in den Regierungssitz ein, überwältigten Sark und forderten die Freilassung des Terroristen Kohen Sander. Unter Waffengewalt erzwangen sie sich Zutritt zum Energieplatz, auf dem sich zur Stunde 100.000 Bürger zu den Feierlichkeiten versammelt hatten. Die folgende Massenpanik forderte zahlreiche Verletzte; der prominente Arzt Dr. Daisuke Kaishen wurde erschossen. Großgeneral Sark stellte sich den Kidnappern entgegen und brachte die Situation durch Verhandlungsgeschick sowie durch den Einsatz seiner Streitkräfte unter Kontrolle. Die Terroristin Keller konnte inhaftiert werden, doch ihre beiden Komplizen befinden sich mit Sander auf der Flucht. Größte Vorsicht ist geboten! Die Bürger werden aufgefordert, öffentliche Plätze zu meiden, bis die Täter gefasst sind.

Polaris, 10.12.2210: Weiterhin Ausnahmezustand in Polaris! Die Drohnenfahndung nach den flüchtigen Geiselnehmern dauert nach wie vor an. Sie werden mit der Terrormiliz aus dem südlichen Kontinentalland, dem sogenannten Rauring, in Verbindung gebracht. In Folge haltloser Anschuldigungen gegen den Wasser- und Energieversorger WERT häufen sich dort seit Monaten Anschläge auf die von dem Konzern betriebenen Wasserpipelines und Gaskraftwerke.

„Was als Aufstand in der Wüstenzone begann, hat jetzt das Herz des Nordens erreicht“, so Senator Sark. „Die Waffen des Terrors sind Desinformation, Verunsicherung und Gewalt.“ Sark fordert die Bürger auf: „Stellen Sie sich gegen den Radikalismus und hinter WERT.“

1. Kapitel

„Wo ist euer Rattennest?“

Tarmo spuckt mir diese Frage schon zum vierten Mal ins Gesicht. Sein kantiger Glatzkopf ist so ekelhaft nahe, dass er die kalten Lichtfelder in der Zellenwand verdeckt. An seiner Schläfe pulsiert eine violette Ader, zum Platzen geschwollen. Sein Atem riecht stechend nach Snifftox. Er hat wieder geschnüffelt. Kein Wunder, nach der Blamage von gestern.

Ich will mich wegdrehen, doch der Kraftfeldstuhl lähmt mich von den Zehen bis in die Kopfhaut. Meine Arme kleben an seinem glatten Metall, mein Rücken scheint mit derLehne verschweißt und meine Schenkel lasten auf der Sitzfläche wie tonnenschwere Stahlträger.

Es ist wie in einem typischen Albtraum. Du spürst die Gefahr, willst wegrennen, weg, nur weg von hier! Aber deine Beine sind festgewachsen. Versteinert. Gelähmt. Panik erfasst dich, du strengst dich bis zum Äußersten an, zerrst verzweifelt an deinen bewegungslosen Gliedern. Vergeblich. Dein Körper gehört dir nicht mehr. Du bist schutzlos ausgeliefert.

Genau wie ich. Ein rachsüchtiger Irrer steht vor mir, aber ich kann nur noch meine Lippen bewegen. Ich soll schließlich reden, meine Freunde verraten.

„Verfluchte Wüstenbrut, spuck’s endlich aus! Wo. Ist. Euer. RATTENNEST?“ Der bullige Kampfstier brüllt immer lauter. Seine riesigen, von schwarzen Handschuhen umhüllten Hände zittern, als wolle er mir an die Gurgel gehen. Wieder mal.

Anstatt zu antworten, sauge ich tiefe Atemzüge in meine versteinerte Brust. Tarmo tobt nur deshalb so sehr, weil er Kohen noch nicht gefunden hat.

Kohen! Noch immer spüre ich seine Umarmung von gestern und höre das wilde Hämmern seines Herzschlags, tief in den Katakomben unter dem Energieplatz. Er saß auf dem Hinrichtungssitz, einem Kraftfeldstuhl wie meinem, erstarrt wie im Tod. Doch als er loskam, fühlten wir uns lebendiger als je zuvor. Verzweifelt umschlangen wir uns, saugten die Wärme des anderen in uns auf und wollten uns nie wieder loslassen. Kohens weiche Lippen schmeckten nach Salz, nach bitteren Beruhigungstropfen, aber auch nach … nach ihm. Wie gern würde ich ihn jetzt wieder bei mir spüren!

Tarmo ballt die Fäuste in ohnmächtiger Wut. „Was gibt es da zu grinsen?“, fährt er mich an. „Glaubst du im Ernst, euer armseliger Aufstand wird irgendwo hinführen?“

„Ja, das glaube ich“, entgegne ich. Weil ich sowieso nicht wegschauen kann, starre ich geradewegs in Tarmos blutunterlaufene Augen. Er weiß genau, wie viel unser Widerstand schon jetzt bewirkt hat. Wir haben öffentlich bewiesen, dass WERT im Rauring verheerende Erdbeben in Kauf nimmt, um immer mehr Gas aus dem Boden zu sprengen. Dass der Konzern dafür Millionen Liter Wasser verschwendet, während er uns jeden Tropfen horrend teuer verkauft.

Aber wir haben nicht nur die menschenverachtende Unterdrückung im Rauring aufgezeigt; wir haben auch enthüllt, dass die Sark-Regierung ihre eigenen Wähler betrügt. Und zwar im ganz großen Stil. Jetzt wissen wir, dass es nicht nur im hohen Norden regnet, sondern auch im tiefen Süden. Wir haben den Senator als elenden Lügner entlarvt und eine Revolte gegen sein Regime gestartet. Der Gedanke pumpt noch mehr Luft in meine Lunge.

„Glaubst du, ja?“, ätzt Tarmo.

„Ja. Egal, wie ihr die Wahrheit jetzt wieder verdreht, welche perversen Erklärungen ihr in den Nachrichten abgebt, die Leute hören euch nicht mehr zu. Dein Vater ist die längste Zeit Senator gewesen.“

Tarmos Augen flackern. Der Ruf des Senators ist schwer angeschlagen, doch sein Sohn steht noch immer unter seiner eisernen Fuchtel. Ich war dabei, als der alte Sark den rasenden Pitbull zum winselnden Dackel gemacht hat. Und genau dafür hasst mich Tarmo. Schnaufend ringt er nach Worten.

„Da täuschst du dich“, stößt er schließlich hervor. „Wir haben alles im Griff. Alles!“

Sofort spüre ich ein Stechen in den Ohrläppchen. Eine heiße Welle läuft mir von den Ohren über den Hals bis in die Oberarme. Wie immer, wenn ich Lügen höre. Es fühlt sich an, als wäre ich in einen Ameisenhaufen gefallen, als würden Hunderte wütende Insekten ihre Beißzangen in meiner Haut versenken und brennendes Gift in die Wunden spritzen. Je dreister die Lüge, desto wilder die Ameisen. Ich habe mein Lügenfeuer oft verflucht, doch jetzt begrüße ich die Schmerzen. Sie zeigen schließlich, dass Tarmo nicht Herr der Lage ist.

Aber was geht da draußen wirklich vor? Um das zu erfahren, muss ich ihn zum Weiterreden bringen.

Deshalb zische ich abfällig. „Das glaubst du doch selbst nicht. Wie wollt ihr aus diesem tiefen Dreck wieder rauskommen? Ich habe doch gesehen, wie es auf dem Energieplatz zuging. Wie wütend die Leute waren, dass ihr sie für dumm verkauft habt. Sie haben diese protzige Eisbüste von deinem Vater von ihrem Sockel gekippt und als nächstes kippen sie ihn aus dem Amt. Sie haben euch durchschaut. Und zwar endgültig. Das könnt selbst ihr nicht mehr hinbiegen.“

„Jetzt hör mir mal zu, du kleines Stück Scheiße.“ Tarmos Stimme bebt vor Zorn. „Wir haben mehr auf Lager, als du dir je erträumen könntest.“

„Echt, ja? Zum Beispiel?“

„Holografische Vollüberwachung. Ein Heer von Comeyes, das die Kommunikation aller Bürger überwacht und jeden Möchtegernrebellen aufspürt, lange bevor dieser Stress macht. Und falls doch noch wer aufmuckt, wird er sofort einkassiert. Genau wie diese Rotzlöffel, die dachten, sie könnten sich an einer Sark-Statue vergreifen. Die schmoren gerade in den Zellen nebenan!“ Tarmo streckt sich und reckt seine Handschuhfaust. „Meine Soldaten haben den Energieplatz innerhalb von einer halben Stunde leergeräumt. Haben den Pöbel eingekesselt und so richtig kochen lassen. Die Akkus der Elektroschocker waren nachher leer. Hättest mal sehen sollen, wie die sich gegenseitig niedergetrampelt haben!“ Tarmos Wutfratze ist grimmiger Genugtuung gewichen.

Und meine Feuerameisen? Krabbeln zurück in ihren Bau. Ich hoffe auf weitere Bisse, spüre aber nur noch ein widerliches Jucken. Diese widerliche Gewaltorgie hat wohl wirklich stattgefunden. Ein bitterer Geschmack steigt in meinen Mund.

„Denen sind ihre Parolen gründlich vergangen“, feixt Tarmo. „Vor allem seit sie gesehen haben, was mit Typen wie diesem Kaishen passiert.“

Augenblicklich schnürt sich mein Hals zu. Dr. Kaishen war mir immer ein Rätsel. Ein undurchsichtiger Kerl, der mich seltsam anstarrte und sonst immer nur Pokerface trug.

Ausgerechnet er, der schwerreiche Mitbegründer der Nomen-Technologie, der berühmte WERT-Arzt mit den staatlichen Ehrungen hat mich in seiner Luxuswohnung vor Tarmo versteckt. Er hat alles riskiert, um mich zu Kohen zu bringen. Er war es, der uns die entscheidenden Sekunden zur Flucht geschenkt hat, indem er die größte Ungeheuerlichkeit der Sark-Regierung anprangern wollte. Und dann ...

Tarmos Mund verzieht sich zu einem Grinsen. „Hast du gesehen, wie ich ihn abgeknallt habe? Paff, direkt ins Genick.“ Er formt eine Pistole aus den ersten drei Fingern und stellt den Schuss nach. „Ist umgekipptwie ein nasser Sack. Und wer hat ihn auf dem Gewissen? Du. – Ja, du! Wenn du deine Rotznase nicht in unsere Daten gesteckt hättest, würde er immer noch schlaffe Visagen straffziehen.“

Mit sadistischer Freude beobachtet Tarmo, wie seine Worte in mein Bewusstsein sickern und sich wie Säure durch meine Gedanken fressen. In einem Punkt hat er recht. Wäre ich im Rauring geblieben, wäre all das nicht passiert. Aber dann würde WERT jeden Tag skrupelloser lügen und betrügen. Früher oder später hätte sich Kaishen auch ohne mich dagegen gewehrt. Ich will schlucken, doch in meinem Hals steckt ein dicker Klumpen.

„Und was deine Terroristenfreunde angeht“, fügt er gespielt beiläufig hinzu. „Die verkriechen sich zwar noch, aber das Versteckspiel ist zwecklos. Die stechen in Polaris doch raus wie die Aussätzigen. Vor allem dieser Omen. Der Clown ist mir schon im Adoptentraining aufgefallen. Kann keine Sekunde den Rand halten …“

Beinahe muss ich lächeln, als ich an Felix denke. Das Stehaufmännchen mit der Steckdosenfrisur. Schon seit Kindertagen ist er mein bester Freund. Felix hat immer einen schrägen Spruch, um mich aufzumuntern. Tarmo trieb er damit regelmäßig zur Weißglut und konnte sogar den großen Manipulator Sark Senior an die Wand quatschen. Schon mit unserer ersten Widerstandssendung traf er die Leute mitten ins Herz. Durch sein freches Sark-Interview, in dem er den Lügensenator dazu brachte, sich selbst bloßzustellen, hat er ihre Herzen nun endgültig erobert.

Außerdem ist er absolut verlässlich. Er steht unerschütterlich zu mir, wenn mich mein Lügenfeuer mal wieder kratzbürstig macht. Meine Wutanfälle erträgt er ebenso geduldig wie meine düsteren Grübelphasen – ja, er liebt mich sogar noch für meine Launen! Seine Eifersucht auf Kohen stellte unsere Freundschaft auf eine schwere Probe, doch als es wirklich zählte, riskierte Felix ohne zu zögern seinen Kopf, um mich bei der Befreiungsaktion für Kohen zu begleiten.

„Selbst der gibt Ruhe, wenn meine Drohnen ihm das Hirn wegpusten“, sagt Tarmo knurrend. „Und wer war eigentlich dieser Alte?“

Beim Gedanken an meinen Vater wird es mir innerlich warm. Er hielt meinen Plan, Kohen aus Polaris zu befreien, für ein Himmelfahrtskommando, aber er zog ihn gegen alle Bedenken mit durch. Für mich.

Ich schweige und bemühe mich um ein ausdrucksloses Gesicht. Tarmo darf nicht erfahren, dass Elring mein Vater ist, sonst jagt er ihn noch unerbittlicher.

Er zischt ungeduldig. „Auch egal. Dem wird es bald leidtun, dass er so blöd war, sich mit euch einzulassen. Und dem Sander erst!“ Tarmo schnaubt verächtlich. „Das ist der defekteste Schlappschwanz aller Zeiten. Da kommt alle paar Monate ein Schwung frischer Adoptenschülerinnen, die sich für ein paar Extrapunkte so richtig rannehmen lassen, und was tut der elende Sandsack?Macht sich von einer räudigen Ratte wie dir hörig. Wahrscheinlich hockt er gerade heulend in der Ecke und setzt sich den goldenen Schuss, während ich dich hier fertig mache. Warum mir WERT so ein Weichei als Co-Trainer zugeteilt hat, werde ich nie verstehen.“

„Klar verstehst du das.“ Aus meiner Stimme klingt schneidende Verachtung. „Kohen wurde dir zugeteilt, damit zumindest einer einen Funken Verstand hat. Außerdem schießt Kohen besser als du und schmeißt dich in jedem Nahkampf auf die Matte.“ Die Worte brechen aus mir heraus, ohne dass ich sie stoppen kann. Oder will. „Wenn du nicht Sark heißen würdest, wäre Kohen schon nach zwei Wochen dein Boss ge…“

Tarmos Handrücken trifft mich unvermittelt ins Gesicht. Der harte Schlag gegen meinen erstarrten Kopf fährt wie ein Blitz in meinen Nacken und setzt meine Halswirbel unter Strom. Die Kunststoffkappen über seinen Fingerknöcheln bohren sich schmerzhaft in meine Wange. Ich spüre heißen Schmerz im Mund, gefolgt von einem metallisch-salzigen Geschmack.

Das warme Blut läuft mir in den Rachen. Ich huste dagegen an. Meine zerbissene Zunge sticht. Tarmo keucht wie eine rostige Pumpe. Normalerweise müsste er jetzt ebenso am Kraftfeldstuhl kleben wie ich, doch die Handschuhe schirmen ihn offenbar davon ab.

Tarmo hat die Pranke erhoben, als wolle er wieder zuschlagen. Ich kneife die Augen zusammen und starre ihn trotzig an. Soll er doch zuschlagen. Das ändert nichts an der Wahrheit.

In dem Moment blinkt das Metallimplantat in seinem linken Handgelenk. Irritiert hält Tarmo inne. Als er auf das Blinklicht drückt, leuchtet das Hologramm einer blonden Frau im Arztoverall über seiner Hand auf. Ich krame in meinem Gedächtnis. Irgendwo habe ich diese geschniegelte Schneckenfrisur schon mal gesehen. Ich schiele auf die bläulich flimmernde Projektion, kann die Ärztin aber nicht zuordnen.

„Was gibt’s?“, knurrt Tarmo.

„Das Nomen-Implantat der Gefangenen muss umgehend untersucht werden“, antwortet die Holofrau, ohne seinen ungnädigen Ton zu beachten. Zwischen seinen Fingern schwebend schaut sie ihn geradewegs an. Da fällt es mir wieder ein. Das ist die Ärztin, die von Kaishen auf dem Weg zu meiner Nomen-Operation zusammengestaucht wurde. Dr. Berg.

Tarmo schmeckt offensichtlich überhaupt nicht, was sie zu sagen hat.

„Wir müssen prüfen, ob die Sendefunktion des Geräts korrekt abgeschaltet wurde. Nur so können wir sicherstellen, dass die Gefangene nicht nach draußen kommuniziert.“

„Wenn’s sein muss. Aber Beeilung!“ Tarmo wischt das Hologramm weg, als wolle er die leuchtende Ärztin ohrfeigen. Als ihr Bild erloschen ist, holt er zweimal tief Luft. Dann wendet er sich mir wieder zu, wobei seine Stimme bedrohlich ruhig wird.

„Jetzt zeige ich dir mal was.“ Er zieht eine durchscheinende Röhre aus seiner Tasche, beugt sich zu mir und hält sie vor mein Gesicht. „Weißt du, was das ist?“

Mein Herz klopft lauter. Ein Prüfröhrchen? Ein Reagenzglas? Ich habe keinen Schimmer, aber was auch immer das sein soll - es kann nicht gut für mich sein.

„Schau genau hin“, sagt Tarmo und schüttelt das Röhrchen. Erst jetzt sehe ich, dass ein daumengroßes Eisenstück darin klimpert. „Komm schon, du weißt es.“

Ich betrachte das verformte Metall. Ein plattgedrückter Zylinder? Eine verschossene Patrone? Einen Moment lang weigere ich mich, zu verstehen, doch dann hallt ein scharfer Knall durch meine Gedanken. Gestochen scharf taucht die Szene vor meinem geistigen Auge auf: Kohens Hinrichtungsstuhl. Der leuchtende rote Knopf mit dem Trigger. Ich habe den Schuss ausgelöst.

Weil ich Kohen schon aus dem tödlichen Helm befreit hatte, ging der Bolzen ins Leere und prallte mit ohrenbetäubender Wucht gegen das Helminnere. Dann fielen wir ins Bodenlose. Ein verzweifelter Kuss im Entsorgungsschacht, die wilde Flucht und mein Entsetzen, als das Schaltfeld in meinem Handrücken plötzlich zu blinken begann ...

Tarmo schüttelt den Bolzen erneut und verzieht den Mund zu einem hässlichen Grinsen. „Genau! Du hast es geschnallt. Der wartet immer noch auf deinen Kohen. Und er wird sein Hirn bald durchlöchern.“

Der Glatzkopf greift nochmals in seine Tasche und holt ein zweites Reagenzglas hervor. Darin liegt ein neuer Zylinder, auf Hochglanz poliert und mit scharfen Kanten.

„Der ist für dich“, sagt Tarmo. Mit noch breiterem Grinsen hält er die beiden Röhrchen aneinander. „Du und Kohen, ihr gehört zusammen.“ Klirrend schlägt er die zwei Gläser aneinander. Seine Stimme wird schneidend. „Deshalb sagst du mir jetzt sofort, wo er ist. Und dann bringe ich ihn zu dir.“

2. Kapitel

Das Zischen der Zellentür klingt nach Erlösung. Tarmo dreht sich unwirsch um. Dr. Berg schreitet in meine stahlverkleidete Kammer, dicht gefolgt von zwei stämmigen Guardeyes. Sie grüßt ihren neuen Chef durch ein knappes Nicken und drückt einen Schalter an der Lehne meines Kraftfeldstuhls. Es klickt.

Ich sacke zusammen, als wäre ich eine Marionette und man hätte mir die Fäden abgeschnitten, strecke aber gleich wieder den Rücken durch. Mit leisem Stöhnen massiere ich meine verspannten Schultern. Jeder einzelne Muskel tut mir weh, doch nach der Lähmungsfessel ist jede Bewegung wie pure Freiheit.

„Nehmt sie endlich mit“, befiehlt Tarmo. „Und keinen Pfusch! Sie darf auf keinen Fall Daten senden oder empfangen.“

„Selbstverständlich, Großgeneral“, sagt Dr. Berg. „Wir trennen sie von allen Netzen und schalten sämtliche Kontaktfunktionen ab.“

Grob reißen mich die Guardeyes aus meinem Stuhl, drehen mir die Arme auf den Rücken und legen mir klobige Magnetfesseln an. Ich fühle mich wie der übelste Schwerverbrecher. Sie salutieren vor Tarmo, bevor sie mich in einen düsteren Gang mit schwarzgrauen Stahlwänden hinausschleifen.

Dr. Bergs Stöckelschuhe hallen wie Schüsse auf dem glatten Boden. Weil meine Fußfesseln nur Trippelschritte erlauben, kann ich ihr hohes Tempo kaum mithalten. Der Guardeye neben ihr öffnet eine Schleuse nach der anderen. Die leeren Korridore mit ihren gelb-schwarz umrahmten, nummerierten Panzertüren muten militärisch an. Logisch, wir befinden uns schließlich im Gefängnistrakt unter dem Regierungsturm.

Ein Stahltor später erreichen wir einen schummrigen Betonkeller. An der Decke verlaufen Kabelbündel, Dr. Bergs Absätze kratzen auf dem rauen Boden, es riecht nach muffiger Abluft. Das muss der Keller unter dem Energieplatz sein. Erst gestern bin ich mit Kohen hier entlanggehetzt. Hier haben wir uns gegenseitig Freiheit versprochen, hier sind wir Stockwerk für Stockwerk zum Licht hinaufgeklettert. Und hier hat mich die Giftattacke ereilt, die das Gesundheitsimplantat in meinem Nacken in sein grausames Gegenteil verkehrte.

Der Ort bringt die Erinnerung an meine ständige Furcht vor der Zeitbombe in meinem Nacken zurück, an meinen Schrecken, als das Armmmodul auf der Flucht mit Kohen plötzlich zu blinken begann - und an den brennenden Schmerz, der von dem Implantat ausströmte und meinen ganzen Körper durchflutete.

Kohens hilflose Verzweiflung, als ich vor seinen Augen plötzlich zusammenbrach, brannte sich unauslöschlich in mein Gedächtnis ein. Er sah meinen Schmerz, kannte dessen grausigen Grund aber nicht. Ich habe geschwiegen, damit er sich rettet. Sein Kuss drängte den aufziehenden Nebel in meinem Kopf noch einmal zurück, bevor mich das Gift lähmte und mein Bewusstsein schwand. Dort, in den Katakomben, tief unter dem Energieplatz, glaubte ich zu sterben - nur um in Tarmos Würgegriff wieder zu erwachen.

Die Sarks hätten mich mühelos töten können, denn auf ihren Befehl produziert das dreieckige Gerät in meinem Nacken Zellgifte – direkt aus meinem Blut. Doch sie lähmten mich nur, weil sie mich lebendig wollten. Als Wegweiser zu meinen Freunden.

Tarmo ist sich erschreckend sicher, dass ich meine Freunde verraten werde. Er wird mich also foltern. Vermutlich mit Stromstößen, wie es bei Terroristen üblich ist. Ich erahne die sadistische Freude, mit der er das Verhör in diesem Moment vorbereitet. Er wird die Voltzahlen genau auf mein Gewicht einstellen. Stark genug, um mich vor Schmerz zu zerreißen, aber trotzdem wohldosiert, schließlich darf ich ihm nicht in die Ohnmacht entgleiten. Oder wegsterben, bevor er mich gebrochen hat.

Die Furcht vor der Tortur pulsiert in meinem Kopf wie der Schmerz in meiner geschwollenen Zunge. Werde ich der Folter standhalten können? Und für wie lange?

Der Wachmann schiebt mich hinter der Ärztin in einen Warenaufzug, der aussieht wie eine klapprige Metallkiste, und zwängt sich zu uns in den Lift. Als sich dieser wieder öffnet, sticht mir grelles Licht in die Augen. Dr. Bergs Absätze klackern über weiße Fliesen, die glänzen, als würden sie halbstündlich gewischt. Der Desinfektionsgeruch ist unverkennbar. Wir sind in der WERT-Klinik.

Die leuchtenden Ziffern einer Digitaluhr zeigen 6:37 Uhr an. So früh am Morgen sind die langgezogenen Flure noch weitgehend menschenleer. Als uns doch einmal eine Krankenschwester entgegenkommt, glotzt sie unseren seltsamen Trupp unverhohlen an, weicht Dr. Bergs strengem Blick dann aber eilig aus. Wahrscheinlich geistern Bilder von mir im orangen Sträflingsoverall durch alle Nomen-Kanäle. In einer Glastür erhasche ich einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild. Ich bin leichenblass, mit schwarzen Ringen unter den Augen. Die aschbraunen Haare kleben strähnig an meiner Stirn. Auf meiner rechten Wange haben Tarmos Knöchel schwarzblaue Blutergüsse hinterlassen. Seit meiner gestrigen Ansprache auf den Holosendern bin ich echt vor die Hunde gekommen.

Mehrere gleichförmige Korridore später bleibt Dr. Berg abrupt stehen. Sie hält ihre Nomen-Hand an ein Schaltfeld, woraufhin eine weiße Tür vor ihr zur Seite gleitet. Ein Schubs von meinem Schleppwächter und sie schließt sich hinter mir.

Gleißend helle Lichtfelder an der Zimmerdecke blenden mich, doch ich erkenne den Raum sofort wieder. Das ist die Notaufnahme, in die Kohen nach seinem Fluchtversuch eingeliefert wurde. Hinter der spiegelnden Wand zu meiner Linken liegt die Beobachtungskammer. An die einseitig transparente Scheibe gepresst musste ich mitansehen, wie Tarmo meinen Tod vorgetäuscht hat. Er zerstörte Kohens Lebenswillen wie eine Welle die Sandburg. Dann trampelte er auf den Resten herum, bis nichts mehr davon übrig war. Keiner der beiden ahnte, wie nahe ich war …

Und wer schaut mir jetzt gerade zu? Tarmo? Vorsichtshalber werfe ich der Wand einen vernichtenden Blick zu.

Ich muss meinen Overall bis zur Hüfte abstreifen, wobei ich mich von der Scheibe wegdrehe. Während mir Dr. Berg eine schwere Halskrause umlegt, spüre ich den Druck ihrer Finger an meiner Schulter. Es ist nur eine schnelle Geste, aber sie wirkt freundlich, als wolle sie mir Zuspruch geben. Ich schaue auf, doch die Ärztin verzieht keine Miene.

Als sie die Manschette mit einem Klicken vor meinem Kehlkopf verschließt, leuchtet in der Luft vor mir ein Bildschirm auf. Dr. Berg scrollt mit ihrem manikürten Zeigefinger an grünen, gelben und vereinzelt auch roten Ziffern vorbei. Aus ihrem unbewegten Gesicht ist nicht abzulesen, was all dies bedeutet. Alte Kaishen-Schule.

Beim Gedanken an den Doktor wird meine Brust eng. Er hat das Nomen maßgeblich mitentwickelt. Als Adopten erschien uns der unnahbare Regenring-Promi, von dem man sich Horrorstories erzählte, unheimlich und furchteinflößend. Die schmerzhafte Einpflanzung seines Geräts machte es nicht besser. Dass er uns damit wirklich helfen wollte, kam mir damals nicht in den Sinn.

Doch dann zwang ihn Sark, das lebensrettende Implantat zu einer Waffe zu machen, die seine Gegner schleichend von innen zerfrisst. Nanotechnologische Optimierung, Medizin und Nachrichten – die Funktionen des Nomen wurden auf grausamste Art pervertiert. Das frühere Informationsmedium verkam zur Propagandaschleuder. Was zuvor schnelle Notfallhilfe garantierte, verrät jetzt das Versteck von Sarks Gegnern. Wo ursprünglich Blutwerte optimiert wurden, schüttet das Implantat jetzt auf Tarmos Fingerschnipsen hin Gift aus. Kaishen wollten den Verrat an seinem medizinischen Lebenswerk publik machen. Damit hätte er der Sark-Regierung den Todesstoß versetzt. Das konnte Tarmo nicht zulassen ...

„Fühlen sich Ihre Finger noch taub an?“ Dr. Bergs Stimme holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Gewissenhaft erfragt sie die Nachwirkungen der Zellgift-Attacke, registriert meine Symptome und nimmt meine Angaben für die Nachwelt auf. Das Gift-Nomen feierte bei mir seine bittere Premiere. Wen trifft es als nächstes?

Nachdem mich die Wachen in meine Zelle zurückgebracht haben, bin ich so erschöpft, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Ich lasse mich auf die harte Liege fallen und hoffe auf ein paar Minuten schläfrigen Vergessens. Doch da beginnt das Schaltfeld an meinem Handgelenk zu blinken.

Erstaunt fahre ich auf. Wurde mein Nomen nicht gerade abgeschaltet?

Holobox: 1 neue Nachricht, leuchtet in dem kleinen Display auf. Gesendet gestern, 07:32 Uhr.

Gestern früh? Noch bevor wir losgezogen sind, um Kohen zu befreien? Wer wusste denn da schon, dass mein gestohlenes Nomen aktiv war? Mein Herz beginnt zu pochen. Das ist bestimmt nur ein Fehler, sage ich mir. Erhoffe dir nichts, Emony. Das ist nur ein technischer Defekt. Ein Irrläufer.

Aber ich habe die Abruftaste schon gedrückt. Ein knackendes Störgeräusch ertönt, dann erscheint vor mir das Bild eines jungen Mädchens. Es wirkt seltsam lichtschwach und flach, wie eine alte Aufnahme aus den Anfangszeiten der 3D-Holografie.

Das Mädchen sitzt kerzengerade, streicht sich die langen Haare aus dem Gesicht und dreht nervös an ihrem Rauring. „Vielen Dank für die Einladung“, sagt sie mit wackeliger Stimme. Ihre graublauen Augen blinzeln unsicher in die Kamera.

Diese Augen … Ich japse nach Luft, als mir klar wird, wer das ist. Mit zittrigen Fingern vergrößere ich das Hologramm. Es wird dabei unscharf, trotzdem bleibt kein Zweifel. Das ist meine Mutter.

Wie jung sie aussieht! So habe ich sie noch nie gesehen. Ich prüfe den Datumsstempel der Aufnahme – 13.09.2183 – und rechne nach. Mutter kann auf dem Hologramm höchstens 16 Jahre alt sein. So alt wie ich jetzt. Die Tuscheltanten in der Siedlung haben kein bisschen übertrieben: Sie war eine Schönheit, bevor die Sorgen ihr Gesicht zerfurchten.

„Bitte schildern Sie kurz Ihre Motivation, sich als medizinische Desinfekteurin zu bewerben.“ Die trockene Stimme aus dem Nomen-Lautsprecher lässt mich zucken. Der Sprecher ist nicht im Bild, aber sein Tonfall ist unverkennbar: Kaishen.

„Ich … ich …“, stottert die junge Emery, doch der Nebel in meinem Hirn verschluckt ihre nächsten Worte. Ich schüttle mich benommen. Als ich die Aufnahme anhalte, bleibt ihr gerötetes Gesicht in einer hinreißenden Pose stehen. Sie schaut von unten zur Kamera auf, knetet nervös ihre Finger und kaut auf der rechten Ecke ihrer Unterlippe herum – genau wie ich, wenn ich nervös bin.

Meine Gedanken flattern herum wie ein Schwarm aufgescheuchter Motten. Sie rauschen durch meine Ohren, drehen Kreise, stoßen aneinander, lassen sich aber nicht fassen. Kaishen kannte meine Mutter? Und sie ihn? Zuhause haben wir ihn so oft gemeinsam in den Nachrichten gesehen. Warum hat sie mir das nie erzählt?

Jetzt erscheint ein anderes Bild meiner Mutter. Es ist so schlecht aufgelöst wie die Nachrichten, die wir im Rauring mit wenig Datenvolumen über unsere Zimmermonitore versenden.

Mutters Gesicht ist schmaler geworden, erwachsener. Und es ist voller Gram. Wo sie vorher mit kindlich-großen Augen geklimpert hat, starrt sie nun verbittert in die Kamera. Ihr Mund hat bereits den harten Zug angenommen, den ich so gut an ihr kenne.

„Wenn du diese Nachricht bekommst, sitze ich schon im Shuttle zu meiner Siedlung“, sagt sie, ihr Ton herb vor Enttäuschung. „Ich kehre zu meinen Eltern zurück. Ruf mich nicht an.“

An dieser Stelle wollte sie ausschalten, wohl einen starken Abgang hinlegen, doch beim letzten Satz ist ihre Stimme gekippt. Einen Moment lang wirkt sie verloren, dann verzieht sich ihre Miene in einer Mischung aus Trauer, Entsetzen und Wut.

„Wie konntest du das bloß zulassen?“, stößt sie hervor. „Oder war es dir etwa egal? Du hättest die Versuche stoppen können, jederzeit. Spätestens als Nino den Anfall bekam, hättest du abbrechen müssen! Aber nein, nein, dann wäre ja deine Beförderung verschoben worden. Jetzt sind die Kinder tot. Alle drei. Du hast sie umgebracht, du und dein verfluchtes Testimplantat!“

Die letzten Worte hat sie so laut herausgeschrien, dass ich mich erschrocken umschaue und mein Nomen schnell leiser drehe.

Es ist also wahr! Meine Freundin Mila wusste von Kaishens fatalen Versuchen an Patienten aus der Rauring-Wüste. Deshalb erschrak sie fast zu Tode, als sie ihn an unserem ersten Trainingstag erkannte. Ich habe das immer als Schauermärchen abgetan, das man einem reichen Promi andichtet, um sich wohlig zu gruseln. Weil die Klatschtanten fest an ihre grausigen Geschichten glaubten, konnte mein Lügenfeuer nicht anschlagen. Aber dieses eine Mal hatten sie wohl wirklich recht. In Polaris wusste das natürlich keiner, denn was im Rauring geschieht, wird in der Regel vertuscht.

Doch meine Mutter ist mit dem Doktor noch längst nicht fertig.

„Das ganze Gerede von wegen ‚ich will den Leuten helfen‘, ‚ich will ihr Leben verbessern‘ – wie konnte ich darauf nur reinfallen?“ Mutter wühlt sich in den Haaren und zerrt daran, als wolle sie die Strähnen büschelweise ausreißen. „Ich habe dir immer alles geglaubt. Habe dich geliebt. Vergöttert habe ich dich! Und DU? Du hast mich die ganze Zeit nur benutzt, belogen, betrogen! Ich verfluche den Tag, an dem ich mich auf dich eingelassen habe!“ Mutters Stimme ist zu einem verzweifelten Heulen angeschwollen, doch jetzt schlägt ihr Zorn in Schluchzen um.

„Du wirst mich nie mehr sehen“, presst sie schließlich hervor. „Hiermit löse ich unsere Verlobung!“

Stopp.

Ende der Aufnahme.

Was?

WaswasWAS??

Ich spiele die letzten Sekunden nochmals ab und dann noch ein drittes und viertes Mal, aber es ändert nichts an der Ungeheuerlichkeit, die sich in mein Bewusstsein drängt. Die Zelle beginnt sich um mich herum zu drehen, so rasant, dass ich mich an der Kante meiner Liege festhalten muss.

Kaishen? Und Mutter? Die beiden waren verlobt?

Mein Kopf sperrt sich gegen den Gedanken wie ein rundes Rohr gegen einen eckigenDeckel. Wenn das wahr ist, habe ich Mutter bisher nicht mal ansatzweise verstanden. Ihre spießige Regeltreue – ein Überbleibsel aus ihrem Dienst bei WERT? Ihre schmalen Lippen bei Nachrichten aus Polaris – Verbitterung über ein versäumtes Leben? Ihr Drängen, ich solle Adoptin werden – der Wunsch, ich würde den zerronnenen Traum für sie leben?

Jetzt verstehe ich die Mischung aus Hoffnung und Angst, die in ihrem Gesicht stand, als ich meine Ausbildung antrat. Meine Mutter muss Kaishens kometenhaften Aufstieg aus der Ferne beobachtet und dabei vergrämt auf ihre schäbige Bunkerwohnung geschaut haben. Mit Sicherheit hat sie sich mehr für mich gewünscht, dabei werden sich die Bilder der sterbenden Patienten untilgbar in ihr Gedächtnis gebrannt haben. Der Gedanke, mich in Kaishens Hände zu geben, muss sie verrückt gemacht haben.

Kein Wunder, dass sie nie von ihm erzählt hat. Vater wollte bestimmt nichts von dem stinkreichen Ex aus dem Norden hören, hatte er selbst doch nur ein mageres Mechanikergehalt zu bieten. Aber im Gegensatz zu dem berühmten Doktor hatte er eine weiße Weste und ein warmes Herz. Jetzt verstehe ich noch besser als bisher, warum er in Mutters Abwesenheit ausdauernd über Polaris wetterte, bevor er zu den Rebellen überlief. Zu unserem Schutz mussten wir ihn für tot halten. Als Angehörige eines Terroropfers bekam Mutter eine kleine Rente. Umso bewundernswerter, dass er sich dann in den Norden wagte und mit Kaishen Frieden schloss – alles, um mich zu beschützen.

Mein wunderbarer Papa!

Mein Papa? Er ist doch mein echter Vater, oder?

Für einen Sekundenbruchteil durchfährt mich der panische Gedanke, er könnte es nicht sein, doch dann sehe ich den roten Datumsstempel rechts unten in Mutters Holonachricht. 22.07.2191. Drei Jahre vor meinem Geburtstag. Erleichtert atme ich aus.

Jetzt springt die leuchtende Datumsanzeige in meinem Nomen-Hologramm auf gestern, 7:28 Uhr. Das Bild in meiner Hand wechselt. Nun schaut mich Kaishen selbst an. In Großaufnahme. Direkt. Eindringlich. Sein Blick ist entschlossen, wirkt aber gleichzeitig entrückt. Er hat sich schon für die WERT-Feier frisiert und das graumelierte Haar in glänzende Wellen gelegt. Sein chirurgisch geglättetes Gesicht mit den altjapanischen Zügen ist geschminkt und für das Rampenlicht gepudert, doch trotz Make-up erscheint es mir lebendiger als je zuvor.

„Du bist deiner Mutter sehr ähnlich“, sagt Kaishen mit einem traurigen Lächeln. „Und zwar nicht nur äußerlich. Du hast auch ihre Charakterstärke. Eine Eigenschaft, die mir gefehlt hat. Damals hat mich der Ehrgeiz angetrieben. Ich wollte zu viel, zu schnell, bis es zu spät war. Die drei Kinder konnte ich nicht mehr lebendig machen. Umso mehr wünschte ich mir nun, andere am Leben zu erhalten. Ich wollte Krankheiten besiegen, die bisher als unheilbar galten. Wenn ich das Nomen nur weit genug bringe, dachte ich, würden meine Albträume verschwinden. Doch heute sehe ich klarer. Ich konnte viele Menschen heilen, aber die Schuld am Tod meiner ersten Patienten lastet noch immer auf mir.“

Kaishens Gesicht verdunkelt sich. Hinter der Schminke wird es ganz hart und grau.

„Und jetzt soll mein Nomen wieder töten. Auf Befehl der Sarks.“ Das blaue Einstecktuch in der Brusttasche seines glänzenden Galamantels hebt sich, als der Doktor seinen Rücken streckt. „Doch dieses Mal werde ich es stoppen. Dieses Mal weiß ich, was ich tun muss.“

Meine Lider werden heiß. Eine Träne tropft über meine Wange, als ich in seine schwarzen Augen schaue und verstehe, worauf er hinauswill. In gefasstem Ton sagt er: „Wenn du diese Nachricht bekommst, ist schon alles vorbei.“

Ein erstickter Laut steigt in meinem Hals auf und ich presse die Faust in den Mund. Das Hologramm in meiner Linken zittert, als der Doktor mit ruhiger Stimme weiterspricht. Er habe einen Großteil seines Vermögens in Quellanteile investiert, erklärt er. Ursprünglich wegen der explosiv steigenden Rendite, doch diese skrupellose Spekulation mit lebenswichtigem Wasser sei nun beendet.

„Inzwischen gehört mir der gesamte Ertrag der Hartschluchtquelle in den Polaris-Bergen. Sie schüttet im Frühjahr etwa zweihundert Liter pro Sekunde aus. Emony, ich vermache dir meine Quellanteile und mein restliches Vermögen mit sofortiger Wirkung.“

Ein trockener Schluchzer schüttelt mich durch. Mir gehört eine Quelle? Mit zweihundert Litern pro Sekunde, zwölftausend pro Minute … was macht das pro Stunde, pro Tag? Wie viele Rauring-Siedlungen könnte man damit versorgen? Hoffnung zuckt durch meinen Kopf wie ein Blitz, der aber sofort wieder von schwarzen Wolken verschluckt wird. Ich werde keine Chance mehr bekommen, meinen neuen Reichtum zu teilen.

Wieder bricht das Gewitter der Verzweiflung über meinen wirren Verstand herein. Ich kann nur noch an meinen nassen Handknöcheln kauen, bis Kaishens Bild erlischt.

3. Kapitel

Zwei Stunden später hat mich Tarmo wieder in den Verhörraum geschleppt und auf dem Kraftfeldstuhl fixiert. So gefasst habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Diese Ruhe macht mir mehr Angst als sein Gebrüll, denn er ist sich seiner Sache offenbar sicher. Ohne Eile hat er mich auf dem Stuhl platziert und meine Gliedmaßen durch Betätigen von Schiebereglern ausgerichtet. Präzise, fast behutsam, wie ein Kunstwerk, das er perfektionieren will.

Der glatzköpfige Sadist weiß, dass er mich für die nächsten Stunden ganz für sich haben wird. Dieser Raum ist schalldicht; niemand wird mich schreien hören. Seinen Guardeyes hat er eingeschärft, keinesfalls zu stören. Der Senator wird ihn auch nicht stoppen, denn er ist an dem Versteck meiner Freunde ebenso interessiert wie sein Sohn.

Kohen, Vater und Felix können mir nicht helfen, schließlich bricht man kein zweites Mal in den Regierungsturm ein – vor allem dann nicht, wenn man von fünfhundert Drohnen gejagt wird.

Dieses Mal gibt es kein Wunder.

Ich bin gelähmt bis in die Fingerspitzen. Fühle mich klein, ohnmächtig, ausgeliefert. Mit grausamer Vorfreude schaut Tarmo auf mich herunter. Genüsslich zieht er die Luft ein, berauscht sich an dem Geruch meiner Angst. Ich denke an all die verurteilten „Terroristen“, deren Widerstand hier gebrochen wurde. Sie gestanden die irrsinnigsten Verbrechen, nur um der weiteren Folter zu entgehen. Mit ihnen hatte Tarmo kein persönliches Hühnchen zu rupfen. Das waren nur arme Schweine, die halb verdurstet Pipelines angezapft hatten und dann nicht schnell genug in den Untergrund abtauchen konnten. Ich dagegen habe Tarmo mehrfach vor seinem Vater bloßgestellt, ihn öffentlich gedemütigt. Wie rächt sich einer wie er wohl für diese Schande?

Und was ist in dem kleinen Metallkoffer, den er neben meinen Stuhl stellt? Kälte kriecht meine Wirbelsäule hinauf. Tarmos Mund verzieht sich zu einem grausamen Grinsen, als könne er meine Gedanken lesen.

Ich versuche mich zu erinnern, was er uns im Adoptentraining über Folter beigebracht hat. Der Widerling war schon immer fasziniert von Schmerzen - den Schmerzen anderer, wohlgemerkt - und wusste mehr darüber als ein Professor über sein Fachgebiet. Er schilderte uns in allen schaurigen Details, was uns im Fall der Gefangennahme durch Terroristen erwartet. Als würden die Ringbrecher irgendwen foltern! Er dagegen wird nicht zögern, meinen Stuhl unter Strom zu setzen.

Die ersten Elektroschocks sind die schlimmsten, erklärte uns Tarmo. Sie fahren dir in die Knochen, nehmen dir den Atem und lassen dein Herz rasen. Schneller und schneller. Deine Agonie steigt und steigt, jeder Stromschlag zerbröselt deinen Willen wie eine Abrissbirne die Hausmauer. Die meisten reden, noch bevor der Schmerz seinen Höhepunkt erreicht hat. Sie verraten alles, was sie wissen und noch viel mehr, nur damit es endlich aufhört. Doch wer den Schmerzgipfel überwindet, hat gute Chancen, sein Geheimnis zu bewahren. Danach stumpfen die Nerven nämlich ab. Ab diesem Punkt geht es allmählich bergab bis zur Lähmung, zur Ohnmacht, zum Tod.

Ich muss also auf den Gipfel warten. Die Gewissheit, dass ich sowieso erledigt bin, muss mir die nötige Kraft geben, mir auf die Zunge zu beißen, anstatt zu reden. Irgendwann kann ich mich dann fallen lassen, hinein in das schwarze Loch.

Plötzlich wird mir klar, warum Dr. Kaishen nie eine Nachricht für Kohen mitnehmen wollte, als er ihn in der WERT-Klinik behandelte. Solange Kohen in Tarmos Händen war, durfte er nicht wissen, wo ich bin.

Wie sehr wünsche ich mir jetzt, ebenfalls ahnungslos zu sein. Nicht zu wissen, dass sich meine Freunde bei Rikka Vinter verstecken, der genialen WERT-Programmiererin mit der chaotisch-rebellischen Ader. Sie war es, die unsere Enthüllungen über den Konzern durch das Nomen-Netz verteilt hat. Ohne sie wären wir nie in den Regierungsturm gelangt, um Kohen zu befreien. Könnte sie mich nur genauso leicht wieder rausbringen!

Tarmo grinst immer noch. „Du wartest auf den E-Rost, oder?“

Er tritt an ein Schaltfeld in der Zellenwand, hebt seine Hand – und lässt sie wieder sinken. Sein Grienen wird noch fieser.

„Weißt du was? Wir probieren mal was Neues. Für dich habe ich mir nämlich was ganz Besonderes ausgedacht. Etwas aus dem Rauring. Sollst dich hier schließlich wie daheim fühlen.“

Er greift nach seinem Koffer, lässt ihn aufschnappen und zieht ein kleines Glas heraus.

Wieder ein platter Bolzen? Nein, diesmal bewegt sich der Glasinhalt. Es ist ein eitergelbes Insekt mit acht Beinen, zwei gedrungenen Scheren und einem kommaförmigen Stachel am Schwanz: ein Steinskorpion.

Die ekligen Giftkrabbler sind bei uns die übelste Plage. Zu Tausenden wandern sie durch die Wüste, dringen durch die Luftschächte in unsere unterirdischen Wohnungen ein, nisten in den Klimaanlagen oder kriechen in die Falten unserer Wäsche. Wir zertreten sie, legen Klebefallen aus und versprühen literweise Skorpionspray. Gift gegen Gift. Mich hat es noch nie erwischt, aber Skorpionstiche müssen höllisch weh tun. Sie lassen selbst die härtesten Typen brüllen wie Babys. Trotzdem … Das kann nicht die schlimmste aller Qualen sein, die Tarmo einfallen. Was will er also mit dem Vieh?

„Ein hervorragender Gesprächsstarter, der Kleine“, sagt Tarmo und legt das Glas auf ein klapperndes Tablett neben meinem Stuhl. Er zieht einen Hocker heran und setzt sich neben mich. So nahe, dass sein beißender Schweißgeruch in meine Nase steigt. Ugh! Sein Schenkel berührt fast schon meinen.

Jetzt schiebt er den Ärmel meines Overalls zurück, bedächtig, fast vorsichtig. Dann hält er inne und lächelt. Mit der Fingerspitze malt er kleine, fast zärtliche Kreise auf meine blanke Haut – dort, wo er vermutlich den Skorpion hinsetzen wird. Er trägt noch immer seine Spezialhandschuhe und ich spüre jede einzelne der feinen Noppen an seinen Fingerkuppen. Unter seiner Berührung stehen mir alle Härchen zu Berge. Meine Haut zieht sich zusammen, als wolle sie vor Tarmos Händen wegschrumpfen. Wie gerne würde ich ihm meinen Arm entreißen, doch ich kann mich immer noch keinen Millimeter bewegen.

Tarmos schneller Atem verrät seine Ungeduld, doch er zwingt sich zu warten. Je länger er den eigentlichen Schmerz hinauszögert, desto höher schraubt sich meine Angst. In gespielter Ruhe streichelt er meinen Arm, lässt das Grauen ins Unerträgliche wachsen.

Endlich, endlich greift er nach dem Glas. Schraubt es langsam auf und holt eine lange Pinzette hervor. Damit stochert er nach dem Skorpion. Das Tier zuckt, strampelt hektisch. Als er das spinnenartige Insekt schließlich zu fassen bekommt, hebt er es vor mein Gesicht. Er drückt den glänzenden Panzer mit der Zange. Der Skorpion windet sich noch wilder, fuchtelt mit den Scheren und wirft seinen prallen Giftstachel hin und her.

„Also nochmal“, sagt Tarmo und dehnt jedes Wort: „Wo – ist – euer – Rattennest?“

Ich presse die Lippen zusammen und schweige. Da fühle ich, wie Tarmo den Skorpion auf meinen Arm setzt. Das Insekt ist nur fünf Zentimeter lang und federleicht, doch seine nervösen Beine kratzen an meiner überreizten Haut. Sein Stachelschwanz ist eingerollt, gespannt wie eine Sprungfeder, die jederzeit hochschnellen kann.

Tarmo fasst die Pinzette an ihrem äußersten Ende und lässt ihre Spitze über dem Skorpion schweben. Wenn er das Tier damit reizt, wehrt es sich – und sticht zu. Tarmo kreist mit der Pinzette am Rand meines Gesichtsfeldes. Meine Augäpfel schmerzen schon, so angestrengt schiele ich darauf.

Ich beiße die Zähne zusammen und erwarte den Schmerz.

„Du willst deine Freunde schützen. Das ist sehr tapfer“, sagt Tarmo. Er schaut durch mich hindurch in die Ferne, wirkt beinahe versonnen. Mir scheint, als würde er in Gedanken wegdriften. Doch urplötzlich ruckt sein Kopf hoch: „Aber völlig ZWECKLOS!“

Gleichzeitig durchfährt mich heißer Schmerz. Mein Atem pfeift durch die Zähne. Als ich die Augen wieder aufreiße, steckt die Giftdrüse immer noch in meinem Arm. Der Skorpion zerrt daran und zieht mit seinem Stachel einen roten Hautkegel hoch. Er rollt sich ein und schnappt wieder auf, bis er endlich loskommt.

Tarmo beobachtet mich mit glänzenden Augen.

„Spürst du es?“, fragt er mit tiefer, heiserer Stimme. „Das Gift in deinem Blut? Erst sticht es wie eine Nadel, dann wie hundert davon. Dein Blut fängt an zu brennen und du verglühst von innen.“

Ich unterdrücke ein Stöhnen, als es genauso kommt, wie Tarmo beschreibt.

Einen Moment lang frage ich mich, warum mein Nomen nicht reagiert. Bei einer so schweren Vergiftung sollte es völlig durchdrehen und ein Feuerwerk blinkender Warnhologramme abschießen. Dann fällt mir wieder ein, dass Tarmo diese Funktion natürlich abschalten ließ. Die Medizentrale soll schließlich nicht sehen, was er mit mir macht.

Der nächste Skorpionstich facht den Brand weiter an, lässt ihn auflodern wie ein Schwall Spiritus. Brennende Haut kenne ich schon von meinem Lügenfeuer, doch dieses Gift geht tiefer. Wie flüssiges Blei kriecht es in meine Adern. Mein Herz trommelt gegen meinen steifen Brustkorb. Wie Kanonensalven gegen eine Steinwand, bloß dass die Wand aus Fleisch und Blut besteht. Der Schmerz pulsiert dabei im Takt meines Herzschlags.

Allmählich wird meine Sicht unscharf. Dunkelrote Flecken drängen in meine Augenwinkel. Werde ich jetzt ohnmächtig? Bin ich schon über den Schmerzgipfel hinaus? Vier bis fünf Stiche sind tödlich. Vielleicht reichen bei mir ja schon drei? Ich hoffe, wünsche, sehne die Dunkelheit herbei.

Vergebens.

„Und? Fühlst du das Nervengift?“ Tarmo pflückt den Skorpion von meinem Arm und lässt ihn in sein Glas zurückfallen. Dann streicht er mir wieder über den Arm, umkreist die roten Einstiche mit dem Zeigefinger. Er beugt sich so nahe zu mir, dass mir sein Atem ins Gesicht weht, und raunt mir zu: „Es hat schon begonnen, deine Muskeln zu lähmen. Es schleicht sich durch deine Venen, lässt dich nach und nach erschlaffen, bis du nicht mal mehr atmen kannst und elendig erstickst. Aber das dauert. Du atmest immer schwerer, deine Lunge wird mit jedem Zug starrer. Das werden die längsten Stunden deines Lebens.“

Deshalb also die Skorpione! Tarmo will die Folter ausdehnen. Will so lange wie möglich mit mir spielen, sich an meiner Todesangst weiden, ohne zu riskieren, dass mich ein Stromschlag in die Ohnmacht rettet. Mein Herz schlägt so schwer, dass es mir fast in den Hals springt.

„Aber das Beste“, unterbricht Tarmos erregte Stimme meine panischen Gedanken. „Bevor das Gift deine Muskeln befällt, lähmt es deinen Willen und umnebelt deinen Geist. So sehr du dich jetzt noch an deinen armseligen Widerstand klammerst – er löst sich in Nichts auf, sobald der Giftrausch einsetzt. Dann verwandeln sich deine Schmerzen in Lust. Du wirst immer mehr davon wollen. Mehr, meeehr! Du wirst mich darum anflehen. Gehörst mir mit Leib und Seele. Dann verrätst du mir alles. Alles! Also: Wer versteckt deine Leute?“

„Nein“, keuche ich, „NEIN!“

Doch mein Gesichtsfeld verengt sich. Meine Ohren dröhnen. Violettes Rauschen füllt meinen Kopf. Ist das Tarmos Hand auf meinem Oberschenkel, die langsam nach oben kriecht? Nein, bitte nicht, nein … Ich will mich aufbäumen, doch mit dem Kraftfeld zieht mich jetzt auch die Lähmung in die Tiefe. Ich verliere jedes Zeitgefühl, als mich ein dunkler Strudel erfasst. Er dreht sich immer schneller, bis meine Gedanken jeden Halt verlieren und ins Bodenlose stürzen.

Und irgendwo in dem roten Nebel aus Ekel, Angst und Schmerz hallt Rikkas Name.

4. Kapitel

Ein plötzlicher Brechreiz weckt mich auf. Ratsch! Mit einem schmatzenden Geräusch lösen sich meine schweißfeuchten Arme von der Plastikmatratze, als ich mich hektisch aufrappele.

Kurz darauf klatscht mein Mageninhalt auf den Boden. Ich spucke, würge und huste meinen Bauch leer. Erst als mein Inneres schon längst im Leeren pumpt, sinke ich keuchend auf die harte Unterlage zurück. Die fensterlose Dunkelzelle schwankt so stark, dass ich an der kalten Stahlwand Halt suche, um nicht von der Liege zu fallen. Meine zerschundenen Muskeln klagen dabei um die Wette. Ich fühle mich wie betrunken und verkatert zugleich.

Der Schmerz in meinem Arm klingt langsam ab, hinterlässt jedoch ein ekelhaft pelziges Gefühl. Vorsichtig betaste ich die Einstichstellen, wo sich der Skorpionstachel in meine Haut gebohrt hat. Sie sind taub wie totes Gewebe.

Die Erinnerung an Tarmos triumphierende Miene, als er mir das Gegengift in den Arm gespritzt hat, spült neue Magensäure in meinen Mund.

Noch übler wird mir beim Gedanken an Kohen. Ich habe ihn verraten! Wie ein rückgratloser Kriecher, der unter dem Stock um Gnade winselt. Als Kohen gefangen wurde, gab er überhaupt nichts preis, über Wochen hinweg. Und ich? Konnte Tarmo keine Stunde die Stirn bieten. Damit war die ganze Rettungsaktion völlig umsonst.

Verzweiflung pocht wie ein Granithammer in meinem Kopf. Bin ich denn zu garnichts fähig? Erst starte ich einen Megatumult, um Sarks Lügen zu entlarven, und was kommt heraus? Zig, nein, wahrscheinlich Hunderte verletzter Regenringler, ein toter Doktor … und am Schluss liefere ich noch meine Freunde ans Messer.

Weil ich schwach bin.

Ich denke an Vater, der sich für mich nach Polaris durchgeschlagen hat, obwohl ich ihn wie Dreck behandelt hatte. An Felix, den pfeifenden Wuschelkopf, der überall mit mir hingegangen wäre, weil er in mich verliebt ist – und den ich natürlich hängen ließ. An Rikka, das durchgeknallte Programmiergenie mit den kreischbunten Haaren, die uns in ihrem Chaosheim aufgenommen hat, obwohl überall Spähdrohnen herumschwirrten. An das kleine Chamäleon Krill, den kugeläugigen Käferschnapper, der meiner toten Freundin Mila gehört hat.

Sie alle fallen jetzt in Tarmos Hände. Wegen mir!

Ich wollte so stark sein, habe aber auf ganzer Linie versagt.

Diese Gedanken umkreisen mich wie Haie den Schiffbrüchigen, Stunden über Stunden, bis ich nur noch versinken will und aufhören zu existieren. Warum musste Tarmo mir das Antiserum spritzen? Warum konnte er mich nicht einfach ersticken lassen? Er hat doch alles, was er wollte.

Als die Zellentür summt und Tarmo einlässt, höre ich schon an seinem federnden Gang, was los ist. Mit geschwellter Brust baut er sich über mir auf, das Triumphgrinsen noch breiter als vor drei Stunden.

„Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet“, sagt er in höflich-spöttischem Ton. „Deine Hinweise waren äußerst sachdienlich. Dank dir konnten wir die Terroristen ergreifen.“

Weil ich ihn nur sprachlos anstarre, wird er lauter: „Ja, genau! Wir haben das Hackernest ausgehoben. Verdammtes Punkerpack, schmarotzt bei WERT, nur um Staatsfeinde bei sich einzunisten. Hättest sehen sollen, wie sich die Tussi an den Sander gekrallt hat, als wir sie abgeführt haben.“ Tarmos Mundwinkel zucken amüsiert. „Die hätte ihn dir noch abspenstig gemacht. Und der Omen! Rennt auf den Balkon, als ob er uns davonfliegen könnte. Dem Witzbold ist das Lachen gründlich vergangen.“

Ein Eisblock gefriert in meinem Bauch, als ich mir die Szene vorstelle. Eine gepanzerte Guardeye-Staffel tritt Rikkas Tür ein, drängt mit erhobenen Waffen in ihre winzige Wohnung. Tarmo brüllt Befehle, sie packen Kohen, ergreifen Felix – aber wo ist Vater? Tarmo hat ihn nicht erwähnt. Was ist mit ihm passiert? Haben sie ihn …

„Den Alten kriegen wir auch noch“, knurrt Tarmo, der Gedankenleser. Ein Funke der Erleichterung sprüht in mir auf. Vater ist also entkommen. Wie hat er das geschafft? Und wo ist er jetzt? Ich habe ihn wohl unterschätzt, wie schon so oft.

Ich bin noch wie erstarrt, da zerrt Tarmo mich von der Liege, „damit sich auch die anderen bei dir bedanken können.“

Er schleift mich hinter sich her bis in einen quadratischen Raum, den eine dicke Glasscheibe in zwei Hälften teilt. Ich will gar nicht hinschauen, aber Tarmo reißt meinen Kopf hoch. Meine Augen müssen aufnehmen, was ich nicht sehen will. Und dann wieder doch! Hinter der Barriere sind sie, aufgereiht und durch Panzerglas voneinander getrennt: meine Freunde, die ich verraten habe. Ganz links hat sich Rikka auf dem Boden zusammengekauert. Ihren lila Lippenstift hat sie vor Angst schon fast abgekaut. Sie scheint mich kaum wahrzunehmen. Mit um die Knie geschlungenen Armen wippt sie wie in Trance hin und her. Durch die Sprechschlitze höre ich sie leise wimmern.

Ganz rechts steht Felix – aufrecht, wenn auch blass um die sommersprossige Nase. Er zieht für mich eine halbherzige Grimasse, duckt sich aber gleich wieder vor Tarmos drohender Fratze. Der schubst mich in die Mitte, direkt vor die Zelle von Kohen.

Kohens schwarze Haare, die ihm gestern für seine Hinrichtung in glänzende Gellocken gelegt wurden, hängen ihm nun strähnig in die Stirn. Hinter seinem Ohr bilden sie ein kleines Horn. Wie gern würde ich danach greifen, um es glatt zu streichen.

Kohens Augen werden groß, als er die rotrandigen Krater in meinem Unterarm sieht. Schnell verstecke ich den Arm hinter dem Rücken, doch Kohens besorgter Blick dringt so tief in mich ein, dass ich verschämt den Kopf senke. Ich habe ihn verraten. Wie kann er sich da noch um mich sorgen? Er sollte wütend auf mich sein. Enttäuscht von mir. Mich aber nicht so warm anschauen!

„Da habt ihr sie. Die hat euch verpfiffen.“

Ich zucke zusammen, doch Kohen beachtet Tarmo gar nicht.

„Emony, ich bin so froh, dich lebend zu sehen“, sagt er, die Stimme vibrierend vor Erleichterung. „Ich …“

„Du siehst sie nur, weil sie euch ausgeliefert hat“, unterbricht ihn Tarmo scharf.

Ich spüre ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust, doch Kohen ignoriert ihn weiter. Er spricht mich an, als seien wir völlig allein, als stünde hinter mir kein rachgieriger Großgeneral.

„Ich dachte, du wärst tot. Als Rikka mir von der Notbremse in deinem Nomen erzählt hat, war ich überzeugt, sie hätten dich umgebracht. Dieses Mal wirklich.“

„Ich habe sie aber noch gebraucht, um euch zu kriegen“, ätzt Tarmo.

Dieses Mal zupft es nur noch an meinem Gewissen, denn Kohens Ruhe steckt an. Er bildet um uns eine schützende Seifenblase, die uns umfängt, verbindet und alles andere ausblendet.

„Ich habe dich jetzt schon zum zweiten Mal zurückgelassen“, sagt er. „Das werde ich nie wieder tun.“

„Als ob du bestimmen könntest, was mit euch passiert“, funkt Tarmo gehässig dazwischen.

„Versprochen!“ Kohen legt die Hand an das Glas zwischen uns, die Fingerspitzen in den Sprechschlitzen. Sein ernsthafter Blick geht mir durch und durch.

„Nein, nein, du hast mich doch gar nicht im Stich gelassen“, wehre ich ab. „Ich war es doch, die das Gitter geschlossen hat, damit du mit Rikka davonkommst.“

Tarmo lacht spöttisch. „Ein voller Erfolg.“

Ich drücke meine Hand ebenfalls an das glatte Glas und taste in die schmalen Öffnungen. Wo sich unsere Fingerkuppen berühren, springt ein warmes Kribbeln über.

„Ich bin einfach froh, dass du noch lebst“, sagt Kohen.

„Aber nicht mehr lange. Sie hat ihren Zweck ja jetzt erfüllt“, versucht sich Tarmo wieder zwischen uns zu drängen.

Die Seifenblase wabert, der Boden unter mir schwankt, doch Kohens Blick hält mich fest.

„Die Leute haben dich ins Herz geschlossen“, versichert er mir. „Uns alle. Sie reden über uns in den Nomen-Netzen, feiern uns als Helden. Jetzt kann uns Tarmo gar nicht mehr so einfach hinrichten lassen. Damit würde er dem Sark-Regime nur noch mehr Hass einhandeln.“

Der Genannte schnauft wie ein wütender Kampfstier. Er steht geduckt und starrt Kohen von unten herauf an, als wolle er ihn auf die Hörner nehmen. Plötzlich blitzen seine Augen, als sei ihm etwas eingefallen und er streckt seinen Rücken durch. Auf einmal ist der süffisante, siegessichere Tarmo wieder da.

„Da hast du vielleicht recht“, räumt er ein, aber es klingt wie von oben herab. „Andererseits hat eine lebende Gefangene ja auch was für sich …“

Sein schlüpfriger Ton lässt Kohen aufhorchen. Die schützende Seifenblase platzt endgültig.

„Du hast richtig gehört. Ich hatte schon ´ne Menge Spaß mit deiner Kratzbürste.“ Tarmo pumpt suggestiv mit dem Becken und unterstützt die Bewegung mit den Ellbogen. Dabei grinst er in unsere entgeisterten Gesichter.

Kohen ist zur Salzsäule erstarrt. „Du hast was?“, stößt er hervor. „Was hast du?“

„Angestochen habe ich die Kleine. Es ihr mal so richtig besorgt.“ Tarmos linke Hand formt einen Ring, den er mit dem rechten Zeigefinger rhythmisch durchbohrt. Mein Lügenfeuer bricht mit heftigem Brennen aus, während er Kohens Entsetzen genüsslich anheizt.

„Überhaupt nicht wahr!“, rufe ich empört. „Er hat mich nicht angerührt. Also zumindest nicht so.“

Tarmo grinst nur noch breiter. „Du bist ja ganz offensichtlich noch nicht zum Schuss gekommen“, sagt er schadenfroh in Kohens Richtung. „Ganz der Gentleman, wolltest ihr Zeit geben und so. Oder hat sie dich etwa nicht rangelassen? Egal, ich sag’s dir, da hast du echt was versäumt.“

„Hör nicht auf ihn. Er will dich nur provozieren!“ Ich suche Kohens Blick, doch der starrt nur wutentbrannt auf seinen Erzfeind. Die Sehnen treten aus seinem Hals wie Stahlseile und seine Fäuste beben.

„Kohen. Schau mich an!“ Meine Stimme wird drängend. Ich lege die Hände an die Sprechschlitze und klopfe gegen das kühle Glas. Endlich wendet er sich mir zu. „Da war nichts. Ehrlich.“ Kohens Augen flackern unruhig. Wie soll ich ihn von der Wahrheit überzeugen, wenn meine Ohren noch immer von Tarmos Lüge nachglühen? Ich ringe nach Worten.

„Zu sowas ist der doch gar nicht fähig“, wirft Felix ein. „Der hat viel zu viel Schiss, dass der große Papa sein Nomen überwacht. Da kriegt er doch gar keinen hoch.“

„Fresse, Hampelmann“, blafft Tarmo, aber ich höre heraus, dass Felix ins Schwarze getroffen hat. Wer hätte gedacht, dass das Nomen noch einmal für irgendwas gut wäre?

„Kohen, glaub mir“, sage ich in eindringlichem Ton. „Das ist alles nur gelogen.“

„Ist es das?“, fragt Tarmo und hebt anzüglich die Augenbrauen. „Siehst du, was für rote Ohren sie kriegt? Ihr hat es nämlich auch gefallen. Erst wilde Beißzange, dann feucht wie ein Wischmopp. Da sollten wir doch gleich weiter machen …“

„Du krankes Hirn!“, bricht es aus Kohen heraus. „Du kotzender Abschaum! Lass bloß deine fetten Finger von ihr, oder ich reiß dir den Schwanz ab!“

„Und wie gedenkst du das zu tun, so allein in deiner Zelle?“, höhnt Tarmo. „Ich habe alle Zeit dieser Welt mit deiner Kleinen.“

Ein animalisches Knurren entweicht Kohens Kehle. Er will Tarmo ins Gesicht springen, rennt aber nur gegen das Panzerglas. In ohnmächtiger Wut tritt er gegen die unnachgiebige Barriere, die ihn von dem triumphierend grinsenden Feind trennt. Auch wenn er mir glaubt, dass bisher nichts passiert ist – wer sagt, dass Tarmo seine Drohung nicht demnächst wahrmacht?

„Entschuldigt uns, wir haben zu tun“, sagt Tarmo und lacht dreckig, während er mich aus dem Raum zerrt.

5. Kapitel