Die Rose der Heilerin - Dagmar Holler - E-Book

Die Rose der Heilerin E-Book

Dagmar Holler

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Beschreibung

Die spannende Fortsetzung des historischen Romans »Das Geheimnis der Heilerin« von Dagmar Holler, in der sich die Heilerin Elisa ein weiteres Mal behaupten muss. Venedig, 1534: Seit ihrer Flucht aus Augsburg führen die Henkerstochter Elisa und ihr Gemahl, der Patrizier Matthias Eggenberger, in Venedig unter fremden Namen ein unbehelligtes, wenn auch nicht geruhsames Leben. Während Elisa mittels ihrer heilerischen Fähigkeiten versucht, das Elend der Armen in der Stadt zu lindern, führt Matthias als Faktor erfolgreich Geschäfte für den Augsburger Handelsherrn Konrad Rehlinger. Auf einer Festlichkeit, zu der Elisa und Matthias geladen sind, freundet Elisa sich ausgerechnet mit der Tochter von Battista Motracchi an, mit dem Elisa in der Vergangenheit ein unangenehmes Zusammentreffen hatte. Während Elisa jedwede Begegnung mit dem herrischen Mann scheut, genießt Motracchi das gelegentliche Zusammentreffen mit ihr. In dem machtvollen Adeligen reift der Plan, die schöne Frau für sich zu gewinnen. Konrad Rehlinger kommt nach Venedig, nachdem in seinem Eigentum stehende Waren vernichtet und weitere geraubt wurden. Gemeinsam mit seinem Faktor möchte er dem dafür verantwortlichen Übeltäter auf die Schliche kommen. Die Lage spitzt sich zu, als ein gemeiner Anschlag auf Rehlinger verübt wird, bei dem er nur knapp dem Tod entgeht, und auch Motracchis Werben um Elisa immer bestimmter wird ... Ein historischer Roman über eine starke Frau in Venedig, umgeben von Intrigen und verbotener Liebe

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Seitenzahl: 1131

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Dagmar Holler

Die Rose der Heilerin

Historischer Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Die spannende Fortsetzung des historischen Romans »Das Geheimnis der Heilerin« von Dagmar Holler, in der sich die Heilerin Elisa ein weiteres Mal behaupten muss.

 

Venedig, 1534: Seit ihrer Flucht aus Augsburg führen die Henkerstochter Elisa und ihr Gemahl, der Patrizier Matthias Eggenberger, in Venedig unter fremden Namen ein unbehelligtes, wenn auch nicht geruhsames Leben. Während Elisa mittels ihrer heilerischen Fähigkeiten versucht, das Elend der Armen in der Stadt zu lindern, führt Matthias als Faktor erfolgreich Geschäfte für den Augsburger Handelsherrn Konrad Rehlinger.

Auf einer Festlichkeit, zu der Elisa und Matthias geladen sind, freundet Elisa sich ausgerechnet mit der Tochter von Battista Motracchi an, mit dem Elisa in der Vergangenheit ein unangenehmes Zusammentreffen hatte. Während Elisa jedwede Begegnung mit dem herrischen Mann scheut, genießt Motracchi das gelegentliche Zusammentreffen mit ihr. In dem machtvollen Adeligen reift der Plan, die schöne Frau für sich zu gewinnen.

Konrad Rehlinger kommt nach Venedig, nachdem in seinem Eigentum stehende Waren vernichtet und weitere geraubt wurden. Gemeinsam mit seinem Faktor möchte er dem dafür verantwortlichen Übeltäter auf die Schliche kommen.

Die Lage spitzt sich zu, als ein gemeiner Anschlag auf Rehlinger verübt wird, bei dem er nur knapp dem Tod entgeht, und auch Motracchis Werben um Elisa immer bestimmter wird ...

Inhaltsübersicht

Widmung

Tübingen, im Winter Anno [...]

Eine Woche nach diesen Geschehnissen …

Anhang

Meinem Patenkind Alexander, dem hochgewachsenen, gutaussehenden Mannsbild unter den Tübinger Studenten an der Krummen Brücke, gewidmet

Tübingen, im Winter Anno Domini 1534

Die Landschaft lag an diesem kalten, klaren Wintertag da wie erstarrt. Funkelndes Eis bedeckte die Ufer des Neckars. Jeder noch so geringe Laut durchbrach die Stille mit einer Schärfe und Klarheit, wie es nur in einer Zeit von Eis und Schnee möglich war. In der Nacht hatte es geschneit, und die umliegenden Felder und Wiesen ruhten wie unter einem weißen Tuch. Tübingen erhob sich im ersten fahlen Morgenlicht abweisend hinter wuchtigen Mauern, als hätte es sich gegen die Unerbittlichkeit des Winters gewappnet.

Die wartenden Menschen vor dem hohen Stadttor froren und hüllten sich fester in ihre wollenen Umhänge. Ihr Atem hing wie feiner Nebel vor Nase und Mund. Als das große Tor krachend geöffnet wurde, schoben und drängten sie sich in den ranzigen Gestank, der ihnen aus der Stadt entgegenschlug. Es war ein übles Gemenge aus dem unaufhörlichen Rauch der Kamine, den Essen der Schmieden und Schlossereien, den zahlreichen Gerbereien und Färbereien und den anderen Werkstätten, die mit ätzenden Laugen arbeiteten.

Rasch strömte das Volk auf den Hauptmarkt und zu den Märkten in den einzelnen Vierteln. Vorneweg Kleinhändler mit vollgepackten Buckelkörben und Bauern auf rumpelnden Fuhrwerken mit Rüben, die über den Winter in Erde eingeschlagen wurden. Andere Höker wiederum karrten in aufeinandergestapelten Weidenkörben Gänse, Enten und Hühner heran.

Manche Bäuerin hatte alles sorgsam auf den Handkarren geschichtet und mit groben Decken geschützt, was ihre geschickten Hände aus Lehm geformt hatten. Dunkel gebrannte Krüge, Becher und Schalen, die einen Käufer finden sollten. Die Landleute beeilten sich, auf dem Markt einen guten Platz zum Feilbieten ihrer Waren zu ergattern. Wenn es sein musste, verteidigten sie ihn mit wüsten Worten und den Ellbogen gegen Konkurrenten.

Auf dem Hauptmarkt vor dem Rathaus, dessen prächtige Fassade in der eisigen Sonne schimmerte, als wäre sie mit Gold überzogen, herrschte dichtes Gedränge. Die festen Stände im ebenerdigen Geschoss der Kaufmannshäuser bogen sich unter den angepriesenen Gütern. Die Bauern ihrerseits boten ihre Handelswaren auf dem strohbestreuten Pflaster an. Mancher hatte aus mitgebrachten Brettern rasch einen einfachen Ladentisch für seine Erzeugnisse errichtet.

Mitten im Strom der Mägde und Knechte, ersten eilfertigen Bürgersfrauen und einigen wenigen Patriziern, die das schlimmste Gedränge zu umgehen versuchten, ließ sich ein junger Bursche mittreiben, dessen Augen flink nach den Ständen mit Essbarem spähten. Beim Rathaus kam Michel am Prangerkäfig vorbei, in dem, wie an jedem Morgen, die Kerle hockten, die nachts in ihrer Trunkenheit nicht rasch oder bedacht genug gewesen waren, um von den Gassenknechten ungesehen zu bleiben.

Spott und hämisches Gelächter gingen auf die drei Mannsbilder nieder, die nebeneinandersaßen und die Beine zwischen den eisernen Stäben herausstreckten, weil im Innern nicht genug Platz war. Einer von ihnen lehnte den struppigen Schädel gegen die Gitterstäbe und stieß im seligen Schlaf schnarchend seinen biersauren Atem in die kühle Morgenluft. Der Kerl neben ihm, bereits wach, aber beileibe nicht munter, dem der jahrelange ungezügelte Genuss von Dünnbier und Gewürzwein Gesicht und Leib aufgedunsen hatte, presste die fetten Hände um die Stäbe und streckte jedem, der näher kam, die Zunge heraus.

Michel zeigte dem Saufbold gleichfalls die Zunge und ging weiter. An manchen Ständen wurden seine Augen groß und die Nasenlöcher weit, denn der Anblick und der Duft von frischem Brot reizte seinen vor Hunger stechenden Magen. Michel war einer von denen, wie es sie zur Genüge in den Städten gab, in denen sich seinesgleichen herumdrückte und in den Gassen der Tagelöhner und Habenichtse hauste. Vom Vater noch als Kind aus der ärmlichen Hütte hinausgeworfen, um ein hungriges Maul weniger stopfen zu müssen, war der mittlerweile Siebzehnjährige irgendwann in die Stadt geschwemmt worden, wo er hoffte, irgendwie überleben zu können.

Wohl hätte er sich vor den Toren der Stadt bei einem Bauern als Helfer gegen einen Kanten Brot oder Haferbrei verdingen können, aber wie der Landmann wäre auch er für den adeligen oder kirchlichen Herrn nichts anderes als ein Leibeigener gewesen. Einer, der der Herrschaft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war und der von dem Herrn, ohne dass dieser hätte fürchten müssen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, geprügelt, ja sogar hätte getötet werden können. Die Prediger sagten, dass es Gottes Wille wäre, sich als Unfreier einer hochgestellten Herrschaft unterzuordnen, der er bedingungslos zu gehorchen hatte. Aber alles in ihm wehrte sich dagegen. Auch wenn es gotteslästerlich war, was er tat: Er konnte nicht anders. Er wollte sich seinen Stolz nicht nehmen lassen, er wollte ein freier Mann bleiben!

Michel war ein Blondschopf mit offenen, angenehmen Zügen, einer neugierig aus dem Gesicht springenden Nase und lebhaften blauen Augen. Sein Mund lächelte gerne spöttisch, als hätte er es weder nötig noch das geringste Interesse daran, über sein elendes Dasein zu klagen und eine bekümmerte Miene zu zeigen. In den zahllosen Stunden seines ungebundenen Lebens, von dem er wünschte, es würde manches Mal weniger zwanglos, dafür hoffnungsfroher sein, hatte er Fertigkeiten erlangt, die ein Leben als Dieb unbedingt erforderlich machte: flinke Finger und schnelle Beine. Zudem konnte er vortrefflich mit der Schleuder umgehen, die er samt einer Handvoll runder, glatter Steine in einer kleinen Schlaufe unter dem Hemd trug.

Der Hunger stach Michel böse im Bauch. Tags zuvor hatte er nur eine jämmerliche Rübe aus dem Korb einer unaufmerksamen Bäuerin zu fassen bekommen. Er sehnte sich nach einem Kanten Brot, einer fetten Wurst oder duftendem Backwerk. Beim bloßen Gedanken daran sammelte sich Speichel in seinem Mund. An einem der Stände lockten aufeinandergeschichtete dunkelgoldene Brotlaibe. Der herrliche Duft stieg ihm verheißungsvoll in die Nase. Jäh blieb er stehen, worauf der Kerl in seinem Rücken gegen ihn prallte und über das unerwartete Hindernis wüst fluchte.

Michel warf ihm einen abfälligen Blick zu, ehe er im Menschenstrom vor sich eine größere Lücke entdeckte, durch die er sich gewandt schob und davonmachte, geradewegs vor den Stand eines Fischverkäufers. Was da fein säuberlich in hölzernen Schalen aneinandergereiht lag, kam eher länglichen, vergammelten Holzstücken gleich als Fischen, die ehemals munter im Fluss gezappelt hatten. Dennoch lief Michel schon wieder das Wasser im Mund zusammen.

Er erinnerte sich an den Geschmack des zarten, leicht rauchigen Fleisches, wenn er, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, die Fische nach erfolgreichem Fang ausgenommen und über dem Feuer gegart hatte. Mit wässrigen Augen sah er von den Räucherfischen auf und entdeckte den stämmigen Mann hinter dem Stand, auf dessen dickem Hals ein wuchtiger Schädel mit kleinen Schweinsäuglein saß. Dem misstrauischen Blick über ihn und sein zerschlissenes Gewand folgte Verachtung. »Schau, dass du fortkommst, du Lump!«

Michel grinste schräg, machte sich aber davon. In seinem vor Hunger wunden Leib knurrte es, jedoch erstickte der Lärm um ihn das empörte Aufjaulen. Michels Speichelfluss war kaum zu bändigen, je näher er einem Stand mit einem Berg an fetten Würsten kam. Sein Blick hing wie gebannt daran. Er wollte ihn davon losreißen, schaffte es aber nicht. Bei meiner Seel’, was für ein Anblick!, hämmerte es in seinem Schädel.

Unwillkürlich schmatzte Michel, als hätte er eine der Würste zwischen den Zähnen. Sein Blick wanderte höher und fiel auf den Fleischer. Der war groß und breit, als wäre er von Geburt an mit seinen eigenen Erzeugnissen gemästet worden. Argwöhnisch glotzte er auf Michel, als wüsste er nur zu genau, dass der windige Bursche zwar mächtig Kohldampf, aber nicht die lächerlichste Münze hinterm Hosenbund hatte. Augenblicklich zog Michel den Kopf zwischen die schmalen Schultern, machte sich kleiner, als er war, und ging eilends weiter. Zu Hilfe bei dem elenden Hunger kam ihm unerwartet einer, dem die Leute rasch und schaudernd den Weg frei machten. Der Klang der Glocke, die er in einer Hand trug, schnitt scharf durch das Lärmen des Markttreibens. Der Henker kam!

Immer wieder schlug er die Glocke, ging aufrecht und beinahe stolz wie ein Herr. Groß war er ohnehin und zudem mit Körperkräften wie ein Bulle ausgestattet. Das Wams spannte über der mächtigen Brust, und in den Hosen steckten starke Beine. Beide Kleidungsstücke waren der Länge nach von unterschiedlicher Farbe; die eine Seite blutrot, die andere dunkelgrün. An seiner roten Kappe tanzte eine Feder. Ein Henker hatte sich auffällig zu kleiden, um die ehrbaren Menschen vor sich zu warnen.

Händler verzogen sich hinter ihr Schlachtvieh, das am Brunnen getränkt wurde. Ein Bauer stellte sich rasch unters Marktkreuz und legte unauffällig eine Hand darauf. Furchtsam wichen die Weiber vor dem Rot-Grün-Gewandeten zurück, und die Männer sahen zu, dass sie mit wenigen Schritten aus seiner Nähe kamen. Der Odem von Tod und Verfluchtsein hing an ihm. Die kleinste Berührung mit dem Scharfrichter konnte Unglück nach sich ziehen, konnte einen selbst zu einem Ausgestoßenen aus der Gesellschaft werden lassen. Und freilich war es möglich, dass der Geist oder die dunkle Seele eines hingerichteten Verbrechers in ihn gefahren war und danach dürstete, andere mit ins Verderben zu reißen.

Wieder läutete der Henker die Glocke und jagte daraufhin eine Gruppe tratschender Weiber am Brunnen auseinander, die ihn wahrhaftig überhört hatten. Voller Entsetzen kreischten sie, als sie das Blutrot in seinem Gewand auftauchen sahen. Dem Henker wurden wüste Worte hinterhergerufen. Ihm, dem Schinder und Kloakenreiniger, dem Aufseher über die Hübschlerinnen, dem Folterer und letztendlich demjenigen, der das gesprochene Urteil über die Verbrecher vollstreckte. Dallmann lebte außerhalb der Stadt, wie es die alten Gesetze verlangten.

Dennoch, wie sehr man den Henker am Tag auch fürchtete, so kam man doch nachts heimlich zu ihm vor die Stadt, um sich Salben aus dem Armsünderfett anrühren und Tinkturen mischen zu lassen gegen körperliches Siechtum und für das aus dem Einklang gekommene Seelenheil, immer dann, wenn Bader und Wundarzt versagten und man seine letzte Hoffnung auf den Scharfrichter setzte, dem geheimnisvolle Kräfte nachgesagt wurden. Von ihm, der dem Tod so nahe wie kaum ein anderer war, konnte man Rat einholen. Der Henker musste spüren können, wann auf der Richtstatt die Seele eines Sterbenden hinausfuhr, auf welche Weise der Teufel sie an sich riss und durch den höllischen Schlund hinab in seine schauerliche, in Flammen stehende Welt zerrte.

Dallmanns Weib war ihm schon lange gestorben. Als Schäferstochter hatte sie als unrein gegolten wie er selber. So war sie in ungeweihter Erde im hintersten Teil des Friedhofs verscharrt worden. Geblieben war dem Scharfrichter eine Tochter, die selbst wieder nur das Weib eines Ehrlosen hätte werden dürfen – was sie jedoch nicht geworden war. Die Tochter war heimlich fortgegangen mit einem, der, weil er um sie gefreit hatte, seinen eigenen hohen Stand verraten hatte, einem, dem Dallmann, wäre er ihm dereinst untergekommen, den Hals gebrochen hätte.

Der Henker mit der tanzenden Feder an der feuerroten Kappe schritt über den Hauptmarkt. Mühelos verschaffte er sich Platz im emsigen Treiben. Sein scharfer Blick flog über die Leute, als wollte er ausmachen, wer ängstlich oder mit Abscheu zu ihm herübergaffte. Als kenne er so manches Gesicht und die Häme darin nur zu gut, schob sich Verachtung über sein nicht unansehnliches Antlitz.

Michel grinste verstohlen. Kein Geringerer also als der Tübinger Henker verschaffte ihm die Gelegenheit, den quälenden Hunger endlich stillen zu können. Umgehend drehte er sich zu dem Ladentisch in seinem Rücken, an dem sich die Bretter unter aufgetürmten Brotlaiben mit glänzender Kruste bogen. Verführerisch hing der Duft von Mehl und Hefe in der Luft. Den Gaffern gleich warf der Bäcker finstere Blicke auf den Scharfrichter, als Michel blitzschnell nach einem der zuoberst liegenden Brote griff und es sich geübt unters Hemd schob. Rasch zog er den wollenen Umhang darüber.

Ohne Eile machte er sich davon, als ob nichts gewesen wäre. Hin und wieder reckte er den Kopf und eiferte den anderen auf dem Markt nach, die Maulaffen feilhielten, weil sie weiterhin dem Rotgewandeten hinterhersahen. Das noch dampfende Brot wärmte Michel die magere Brust und ließ ihn ein wenig die beißende Kälte der Nacht vergessen. Eingehüllt vom köstlichen Duft, der ihm aus dem Hemd stieg, begann ihm wieder das Wasser im Mund zusammenzulaufen.

Im Gerberviertel kroch er hinter den letzten elenden Hütten in seinen hölzernen Verschlag, den er sich an der Stadtmauer mehr schlecht als recht zusammengehämmert hatte. Auf groben Decken streckte er die Beine aus und holte das Brot aus dem Hemd. Sein Leib, der von außen warm geworden war, sollte es jetzt endlich auch von innen werden. Er aß, bis der letzte Krümel verdrückt war und sein Bauch eine kleine Wölbung bekam. Zufrieden und satt lehnte er sich gegen die Bretter in seinem Rücken und schloss die Augen. So ließ es sich wohl sein. Den Tag verbrachte er mit Nichtstun, auch den Abend. Nach Einbruch der Dunkelheit verließ er seinen Unterschlupf und ging durch die Gassen der Unterstadt rasch hinauf in die Oberstadt, wo die Wohlhabenden ihre Häuser hatten.

An einem der prächtigen Patrizierhäuser, in dem der Kaufherr Sälinger lebte, schlich er in großem Abstand vorbei, während er Blicke voller Sehnsucht, aber auch voller Wut darauf warf. Als er unterhalb des Schlosses eine mächtige Baumgruppe erreichte, lehnte er sich gegen einen der Stämme. Der Himmel war sternenklar. Unten im Tal floss der Neckar still an der Stadt vorüber. Im Mondlicht schimmerte sein Wasser. Michel schob die Hände hinter den Hosenbund, wo er das Messer stecken hatte, und wartete auf seine Liebste. Erst spät in der Nacht kehrte er in seine Behausung zurück und warf sich hundemüde auf die schmutzigen Decken.

Als Michel noch vor Sonnenaufgang ein derber Stoß in den Allerwertesten traf, gab er einen unwilligen Laut von sich und blieb in tiefem Schlaf. Erst ein zweiter, kräftigerer Tritt ließ ihn benommen hochfahren. Aus müden Augen starrte er auf zwei Beine in rot-grünen Hosen. Ihn packte das Entsetzen. Der Henker! Seit Michel in die Stadt gekommen war, hatte er es nicht toll getrieben und die Finger nur langgemacht, wenn er keine Arbeit gefunden hatte. Für nichts war er sich zu schade gewesen und hatte auch bei den Abdeckern und dem Totengräber geholfen und dem Nachtkönig, die verwesenden Tierkadaver und Unrat aus den Gassen vor die Tore der Stadt zu schaffen und in Gruben zu leeren oder einfach in den Neckar zu kippen. Aber nicht immer hatte er eine Verrichtung, die ihm ein paar Münzen einbrachte, doch der Hunger plagte ihn täglich.

»Auf die Beine mit dir, oder ich mach dir welche!«, herrschte ihn Dallmann an, der sich drohend vor dem Verschlag aufgebaut hatte.

»Was willst du von mir, Henker?«, stieß Michel wacker hervor. Gleichzeitig richtete er sich auf, eingeschüchtert wie ein Hund, der Schläge erwartet.

»Dich einholen!«, antwortete Dallmann schroff, packte Michel am zerlumpten Hemd und zerrte ihn aus seinem niedrigen Verschlag.

»Ich hab doch nichts getan«, jammerte Michel, in dessen noch vom Schlaf benebeltem Kopf es mühsam zu arbeiten begann, um einen Weg zu finden, wie er davonkommen konnte.

»Gestern auf dem Hauptmarkt hast du ein Brot gestohlen und vor ein paar Tagen fette Würste«, knurrte Dallmann. »Und in der Woche davor hast du dir vom Stand des Fleischers gleich einen ganzen Kanten Speck unters Hemd gepackt.« Er zog den Burschen vor sein Gesicht, sodass dieser seine unerbittlichen Züge in allen Einzelheiten ausmachen konnte. Und die Entschlossenheit gleich mit. »Ein erbärmlicher Dieb und Lügner bist du!«

Michel wurde es angst. Kerker und Folter drohten ihm. Und die Hand abgeschlagen zu bekommen … oder Schlimmeres. »Du hast leicht reden, Meister Hans«, wagte er mutig, hielt aber die freie Hand vorsorglich vors Gesicht, falls dem Henker die Faust ausrutschte. »Soll ich vor Hunger krepieren? Tag für Tag frag ich bei den Gerbern und beim Abdecker nach Arbeit, aber wenn mir keiner eine hat? Selbst der Totengräber hat mich zuletzt verjagt. Was kann ich dafür, wenn ich die letzten Tage Pech gehabt habe?«

»Der Mann, den du heute Nacht überfallen hast, hat weitaus mehr Pech gehabt als du«, sagte Dallmann gefährlich leise. Sein warmer Atem fuhr Michel ins kalkweiß gewordene Gesicht.

»Was soll ich getan haben?« Das Entsetzen ließ seine Stimme unsicher werden.

»Dem vortrefflichen Herrn Sälinger den Knüppel über den Schädel gehauen und die Geldkatze vom Gürtel geschnitten. Danach hast du ihn noch abstechen wollen.«

Michel glaubte, der Boden würde sich unter ihm auftun. Nichts als verlogene, bösartige Beschuldigungen. Ihm wurde beinahe schlecht. »Wer … wer behauptet das?«

»Der Mann, den du überfallen hast und den sein Knecht gerettet hat, bevor dir das Messer auskommen konnte«, knurrte Dallmann, der daranging, Michels Hände rasch und geübt vor dessen Bauch zu binden.

»Bei allen Heiligen, ich war’s nicht!«, stieß Michel heiser vor Angst aus und wollte noch hinterherrufen, »bei meiner Ehre«, aber die hatte einer wie er ja nicht. Höchstens eine Gaunerehre, und die wollte er nicht mal gegenüber dem Henker anführen. »Ich schwör dir, Dallmann, ich hab den Sälinger nicht überfallen!«

»Und ich schwöre dir, Langfinger, wenn ich dich erst in der Verhörstube habe, wirst du mir bald schon die Wahrheit sagen!« Er packte das andere Ende des Stricks, mit dem der Bursche gefesselt war, und riss ihn grob mit sich.

Nach Kurzem fühlten sich Michels Handgelenke an, als wäre alles Blut darin gestockt. Es brannte und klopfte in dem wenigen Fleisch, das er auf den Knochen hatte, und hinderte ihn beinahe daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich werd dem Scharfrichter auf dem Weg in den Kerker nicht auskommen, schoss es ihm panisch durch den Kopf. Der Henker hatte eine Kraft und Gewalt, dass kaum einer, den er in die Eisen bringen wollte, gegen ihn ankommen konnte.

Michel fühlte sich zunehmend hilflos und entmutigt und zu guter Letzt zornig, als der verdammte Henker die gleichen Schleichwege nahm, die auch er einschlug, wenn er rasch in die Oberstadt kommen wollte. Leichter Schneefall setzte ein und machte den Weg rutschig. Michel trug nur sein grobes Hemd. Da sein wollener Mantel im Verschlag geblieben war, fraß sich die Kälte rasch in seinen Körper, und er begann zu frieren.

Als sie die Unterstadt verließen, um einen ansteigenden Weg zur Oberstadt mit ihren angesehenen Handwerkern, wohlhabenden Bürgern und vornehmen Patriziern zu gehen, hatte Michel eine Haltung eingenommen, als hätte er sich in sein Schicksal gefügt. Sein Kopf lag in schierer Hoffnungslosigkeit auf der Brust. Manches Mal riss ihn Dallmann grob an den Fesseln zu sich heran, wenn er ihm nicht so rasch folgen konnte – oder wollte.

Als sie sich einem Durchgang zwischen dicht stehenden Häusern näherten, der so schmal war, dass es sogar für ihn schwierig werden würde hindurchzukommen, begann Michels Herz aufgeregt zu klopfen. Er kannte diesen Durchlass, durch den er es schon einmal vermocht hatte zu entfliehen, als ihm zwei Büttel auf den Fersen gewesen waren. Ein einziges Mal war er nicht vorsichtig genug gewesen, als er auf dem Markt lange Finger gemacht hatte und die elenden Stadtknechte dummerweise im entscheidenden Moment in seine Richtung gesehen hatten.

Die Gassenknechte waren nimmermüd und flink gewesen, geradeso wie er, und er hatte ihren heißen Atem bereits im Nacken gespürt, als er sich in den Spalt hatte retten können und auf der anderen Seite wieder hinausgelangt war. Bis die Verfolger die Häuserzeile umrundet hatten, war er längst fort gewesen und hatte ihre wutentbrannten Schreie aus sicherer Entfernung vernommen.

Dallmann kann es unmöglich schaffen, mir nachzukommen!, durchfuhr es Michel bei dieser Erinnerung. Das ist meine letzte Chance, der Folter und Hinrichtung zu entgehen.

Langsam hob er den Kopf und starrte mit brennenden Augen auf den sich nähernden Spalt. Mehr an Öffnung war es zwischen den Mauern weiß Gott nicht, von denen der Kalk abgefallen war und wo Flecken von Nässe und Schimmel das Dunkel darin noch dunkler machten. Michel zögerte keinen Augenblick länger.

Unauffällig packte er mit beiden Händen den Strick, an dem ihn Dallmann hinter sich herzog. Dann warf er sich mit aller Kraft in den Rücken des Scharfrichters und trat ihm mit dem Fuß in die Kniekehle, sodass der Hüne trotz seiner Größe mit dem Bein einknickte. Gleich darauf nutzte Michel dessen Überrumpelung und riss ihm im Rücken den Arm, dessen Hand immer noch das Seil hielt, jäh nach oben und zog so stark daran, dass dem Henker ein Schmerzenslaut entfuhr.

Wenn er jetzt nicht auslässt, kugele ich ihm den Arm aus. Dann muss er loslassen!, schoss es Michel durch den Kopf.

Das Knacken in der Schulter und der ungeheure Druck darauf ließen Dallmann keine Wahl. Er musste den Strick loslassen. Vor Wut und Schmerz brüllte er auf. Im selben Moment, als er sich wutschnaubend herumwarf und wieder auf die Beine kam, sah er seinen Gefangenen – der Durchlass reichte kaum für ein Kind – sich zwischen die eng beieinanderstehenden Häuser quetschen. Der Kerl war schon so tief im Spalt, dass er ihn mit dem ausgestreckten Arm nicht mehr erreichen konnte. Dallmann staunte ungläubig. Während er den malträtierten Arm rieb, legte sich ein entschlossener Zug auf sein Gesicht. »Na warte, Bürschchen!«

Fäulnisgeruch schlug Michel zwischen den kalten Mauern entgegen. Nie fiel dort Sonne hinein. Nicht ein einziger erbärmlicher Strahl. Der Boden unter ihm war schmierig von Nässe und dem Unrat, den die Häusler aus den Fenstern kippten. Michel zwängte sich, so rasch er konnte, hindurch und zog noch die ohnehin magere Brust ein, um so wenig wie möglich Widerstand zu bieten. Als er sich auf der anderen Seite wieder hinausquetschte, keuchte und dampfte er unter der Anstrengung, die hinter ihm lag. Gierig schnappte er nach frischer Luft. Obwohl er sicher sein konnte, dass der Henker seine Zeit brauchen würde, um in diese Gasse zu gelangen, blieb er nicht länger stehen und lief los.

Der Schneefall hatte zugenommen. Zwei Mägde mühten sich mit ihren sichtlich schweren Körben auf dem nassen Pflaster. Plötzlich war ohrenbetäubendes Bersten wie von zersplitterndem Holz zu hören. Als Michel den Kopf wandte und sah, dass der Scharfrichter mit langen, kraftvollen Sätzen auf ihn zustürmte, packten ihn Unglauben und Entsetzen.

Bei allen Heiligen!, hämmerte es in Michels Schädel. Der verdammte Henker ist geradewegs durch eine der Hintertüren in den Häusern gebrochen. Ohne sie vorher zu öffnen! Er begann zu rennen. So schnell er konnte, hastete er über die schneenassen Steine.

Plötzlich traf ihn etwas brutal im Rücken und brachte ihn zum Straucheln. Gerade noch fing er sich und blieb auf den Beinen. Panisch lief er weiter. Keinen Lidschlag später rammte sich ihm ein Körper mit solcher Wucht in den Rücken, dass er den Halt verlor und hart aufs Pflaster krachte. Ein gemeiner Schmerz jagte ihm vom Kinn bis in die Schläfen. Etwas in seinem Mund knackte böse. Begraben unter einem massigen Körper fraßen sich Kälte, Nässe und ein quälender Druck schmerzhaft durch Kopf und Brust.

Als sich die Last endlich von ihm hob und er wieder besser atmen konnte, nahm er alle verbliebene Kraft zusammen, rollte sich für seine Verfassung erstaunlich rasch und gewandt herum und sprang in die Höhe. Ungläubig sah er etwas auf sein Gesicht zurasen und überlegte noch, was es sein mochte, als ihn Dallmanns Faust in eine bodenlose Schwärze schickte.

Als Michel wieder zu sich kam, hing er benommen im Arm des Henkers. Seine Beine wurden über das Pflaster geschleift. Es kam ihm vor, als wäre sein Gesicht eine schwammige, schmerzhaft klopfende Masse, die jeden Augenblick von ihm abfallen konnte. Von der aufgeplatzten Lippe, aus der Nase und von der Stirn lief Blut herab. Im Mund hatte sich die warme Flüssigkeit gesammelt, und er glaubte, ersticken zu müssen. Hustend und röchelnd spuckte er aus und sah dem Blutschwall nach, der vor seinen Füßen in den reinen weißen Schnee klatschte.

Michels Brustkorb und Knie brannten. Er fühlte sich jämmerlich. Sein Kopf baumelte auf der Brust. Unter Schmerzen stöhnte er. Hohn und Spott von manchen Leuten, denen sie begegneten, begleiteten ihn zum Rathaus, wo sich die Kerker befanden. »Was für ein kümmerlicher Strauchdieb dem Henker da in die Fänge geraten ist«, drang es ihm verächtlich ans Ohr. Und ob Meister Hans denn nicht eher nach einem hätte ausspähen können, der mehr hermachte am Pranger oder auf der Richtstatt.

Im Keller des Rathauses war das Spital untergebracht, aber dorthin verfrachtete Dallmann seinen Gefangenen nicht, auch wenn sich Michel fühlte, als wäre er dort weitaus besser aufgehoben. Er kam unmittelbar in den Kerker, zu dem es durch einen anderen Eingang ging, an dem zu beiden Seiten Wachen standen. Die glotzten ihnen schläfrig entgegen. Immerhin hob einer der beiden Büttel eine Augenbraue. »Sapperlot, Henker, bist tüchtig gewesen. Kaum aus dem Haus, bist du schon über einen Lump gestolpert.«

»Wird wohl so sein …«, knurrte Dallmann, der mit der freien Hand das massive Tor aufwuchtete und mit kräftigem Schwung nach innen aufstieß. Entschlossen schritt er durch den kühlen, muffigen Gang an den Verliesen vorbei bis zum letzten Kerkerloch, das noch leer war. Dort warf er den schweren Riegel an der Tür zurück, öffnete sie und stieß seinen Gefangenen ins Halbdunkel.

Trotz der noch anhaltenden Benommenheit und der rasenden Schmerzen quälte sich Michel wieder auf die Beine und stürzte zur Kerkertür. Seine kalten Finger umklammerten die noch kälteren Gitterstäbe in der kleinen Öffnung. »Bei der Heil’gen … Jungfrau, ich … war’s nicht, Henker!«, rief er dem Hünen nach, als sich der zum Hinausgehen abwandte. Michel konnte kaum reden, so sehr taten ihm die Zähne und das Kinn weh, aber er zwang sich, die Worte einigermaßen verständlich hervorzubringen.

Herrgott, der Kerl bleibt nicht stehen!, dachte Michel zornig. Dem Scharfrichter reicht es, dass er mich gefangen hat. Seine eigentliche Arbeit steht ihm ja noch bevor: mich zu schinden und dann, wenn ich durch die Qualen nicht mehr ’s Maul halten kann und alles eingestehe, was die Gerichtsherren von mir hören wollen, auf die Richtstatt zu schaffen.

Verzweiflung wollte Michel übermannen, aber wenn er das zuließ, war er ganz sicher verloren. Er presste die Finger so stark um die Eisenstäbe, dass sie blutleer und weiß wurden. »Verdammt, Henker, der … Blitz soll mich treffen, wenn ich … lüge, aber ich hab den Sälinger … nicht überfallen! Der … der feine Herr weiß schon, warum er grad mir … die Sache anhängen will.«

Der Scharfrichter blieb stehen, als hätte ihm einer entschlossen die Hand auf die Schulter gelegt. Langsam drehte er sich um.

Dallmann war sich nicht sicher, ob er dem lästigen Kerl, der selbst mit der zerschlagenen Fratze nicht das Maul halten konnte, einen Fluch hinschleudern sollte oder ihn in seinen scharfen Blick nehmen. Nach kurzem Abwägen kehrte er zu ihm zurück. Erstaunt stellte er fest, dass sich der magere Bursche trotz aller Schmerzen, die er haben musste, wacker hielt. In den großen, hellen Augen hinterm Gitter glaubte er, nicht Angst oder Verzweiflung auszumachen, sondern Entschlossenheit.

Wieder überraschte ihn dieser junge Kerl, von dem er wusste, dass er Michel hieß und aus einer der elenden Hütten im Umland von Tübingen stammte. Er war einer von vielen Burschen, die der Armut vor den Toren der Stadt entkommen waren, um sich manches Mal auf redliche, zumeist jedoch schurkische Weise innerhalb der städtischen Mauern durch ein anderes hartes Dasein zu schlagen. Michel war einer der wenigen, die sich anstrengten, um ein rechtschaffenes Leben führen zu können. Hin und wieder hatte er ihn bereits beim Abdecker oder Totengräber schwere, widerwärtige Arbeit verrichten sehen. Oder auch bei den Gerbern und Färbern inmitten der stinkenden, ätzenden Laugen.

Dann und wann, wenn es offenbar nicht ausgegangen war mit Münzen, um den ärgsten Hunger stillen zu können, hatte Dallmann ihn auf den Märkten die Finger langmachen sehen. Er hatte ihn laufen lassen, weil er keiner war, der einen armen Schlucker wegen eines Brots oder auch mal einer fetten Wurst in die Eisen brachte, was den Verlust der Hand oder eine andere elende Verstümmelung zur Folge gehabt hätte, nicht zuletzt auch, weil der Bursche ihm zu keiner Zeit als Beutelschneider im Strom der Menschen untergekommen war, geschweige denn als einer, der nachts mit Messer und Knüppel gut betuchten Nachtschwärmern auflauerte.

»Warum willst du’s nicht gewesen sein, Kerl?«, fragte Dallmann scharf zu den Gitterstäben hin.

»Weil … weil …«, stotterte Michel, dem ein Schatten übers zerschlagene Gesicht fiel.

»Mach’s Maul auf, Bürschchen, oder willst du damit warten, bis ich dich auf der Streckbank habe!«, donnerte Dallmann gereizt und hieb mit der Faust gegen die schwere Tür.

Michel schluckte mühsam. Mit dem schmerzenden Mund konnte er kaum reden. »Ich hab … mich nach Einbruch der Dunkelheit unterhalb der Burg mit … meinem Liebchen getroffen.« Wenn er nicht durch das geronnene Blut und den Faustschlag des Henkers, der ihm das Gesicht hatte aufschwellen lassen, bereits rot gewesen wäre, wäre er es nun geworden. »Und als mein … Mädel kam, sind wir nicht so rasch wieder … auseinandergegangen.«

Hitze flammte in Michel auf. Der Schweiß brach ihm aus. Hin- und hergerissen, ob er die Wahrheit sagen sollte, wodurch er seine Liebste bei ihrer Herrschaft und den Gerichtsherren in Schwierigkeiten bringen konnte, oder unter allen Umständen schweigen und Folter oder gar Tod auf sich nehmen, um Margaret zu schützen, entrang sich ihm ein unterdrücktes Stöhnen. »Beim gnädigen Herrn Jesus Christus, Henker, ich war … bei einem Stelldichein und … nicht auf Beutezug.«

Dallmann musterte den Burschen scharf, als hätte er ihn bereits auf der Streckbank, um ihm gewaltsam die Wahrheit aus dem Leib zu pressen. Log der Kerl, um sein erbärmliches Leben oder wenigstens den überwiegenden Teil seiner Gliedmaßen zu retten, oder sagte er offen und ehrlich, was geschehen war? Lange genug war er ein Folterknecht und Vollstrecker, um aus dem Jammern, Schreien und Fluchen der Menschen, die er der peinlichen Befragung unterzog, heraushören zu können, was die Wahrheit war oder etwas, das die Gerichtsherren zufriedenstellen sollte, damit er endlich mit dem Schinden ihrer gequälten Leiber aufhörte.

Die Menschen waren ihm beileibe kein Rätsel mehr. Nicht die kleinen Schurken, die weniger um des Überlebens willen stahlen und betrogen, sondern weil sie keinen Finger rühren mochten, um ihr Dasein erträglicher zu gestalten. Die, wenn er sie im Kerker hatte, einen gehörigen Jammer darüber anstimmten, wer an ihrem verpfuschten Leben Schuld hatte. Darunter waren einige gewesen, die das harte Leben als Leibeigener auf einer mühselig zu bearbeitenden Scholle nicht mehr hatten aushalten wollen. Da waren Dallmann bald die hartgesottenen Halsabschneider lieber, die, wenn sie gar nicht mehr aus konnten, nicht lange schwatzten und sich noch ihrer schändlichen Taten rühmten. Die ihm ins Gesicht höhnten und spuckten, wenn es für sie auf die Richtstatt ging.

»Treibt dir die Angst jetzt schon die Lügen heraus, Strauchdieb? Willst mit einem ersonnenen Liebchen und vergnüglichen Stunden mit ihr die Gerichtsherren glauben machen, dass du Besseres zu tun hattest, als einen feinen Herrn um seine pralle Geldkatze zu bringen?«

Wie recht du hast, Scharfrichter! Meine Margaret und die Stunden mit ihr sind mir weitaus kostbarer als die klimpernden Münzen vom schäbigen Sälinger, dachte Michel spöttisch, hütete sich aber davor, seine Gedanken laut werden zu lassen. »Bei allen Heiligen, Henker, ich … hab dich nicht belogen. Ich … bin doch nicht des Wahnsinns und überfalle … den Herrn meiner Margaret«, entfuhr es Michel aufgebracht, was ihm erneut das Blut ins Gesicht trieb.

Dallmanns Augen verengten sich. »Das junge Weibsbild ist Magd beim Sälinger?«

Michels Miene drückte Verzweiflung aus. »Ja.« Seine Gefühle packten ihn so, dass er den Kopf senken musste. Mit brennenden Augen starrte er auf den schmutzigen Boden.

Dallmanns Mienenspiel blieb ausdruckslos, obwohl es hinter der gefurchten Stirn zu arbeiten begann. Die Geschichte wird interessant!

»Bald nach Einbruch der Dämmerung kam sie und … und kurz vor Mitternacht … begleitete ich sie in die Oberstadt zurück«, sagte Michel.

»Und dann?«

»Stieg ich schnurstracks hinunter … ins Gerberviertel.«

»Der Ratsherr behauptet, der, der ihn überfallen hat, wäre ein magerer Kerl gewesen. Größer als er selbst und mit einem runden Leberfleck unterm rechten Auge.« Unverhohlen starrte er auf das dunkle Mal unter Michels rechtem Auge, was diesem nicht entging. »Vom Äußeren her ganz wie der zwielichtige Lump, der sich seit Wochen verstohlen in der Nähe seines Hauses herumdrückt, als wollte er auf eine günstige Gelegenheit für eine Schandtat warten.«

Michel wurde fast schlecht vor Zorn und Hilflosigkeit. Oft genug in seinem Leben hatte er das elende Muttermal verwünscht, weil es ihn, sollte er jemals mit den Fingern am Brot oder zwischen den fetten Würsten gesehen werden und entfliehen können, bei den umherstreifenden Bütteln verraten konnte.

Nie und nimmer komm ich dem feisten Sälinger aus …, durchfuhr es ihn entmutigt. Der hetzt, in seiner Lüsternheit nach der Margaret und in seinem Hass auf mich, den sie nicht vergeblich an der Tür kratzen lässt, die Gerichtsherren auf mich.

Michel spürte, wie ihn die ohnehin kaum noch vorhandenen Kräfte endgültig verlassen wollten. Dennoch riss er sich ein weiteres Mal zusammen und biss die Zähne aufeinander, was er augenblicklich bereute. Ein elender Schmerz fuhr ihm durch den Mund und ließ ihn unterdrückt aufstöhnen. »Hör … Scharfrichter, auch wenn ich … zehn Male im Gesicht hätte und alle unterm … rechten Auge, ich hab den … Ratsherrn Sälinger nicht um seine Münzen gebracht und ihm auch … keinen Brummschädel verpasst.«

Dallmanns Blick lag lodernd auf seinem Gefangenen. »Ich frage dich ein letztes Mal: Hast du den Patrizier überfallen?«

Michel wich dem Blick des Henkers nicht aus. »Nein!« Mehr sagte er nicht. Wenn es so um ihn stand, wie ihm Dallmann unmissverständlich hingeworfen hatte, war sein Leben verwirkt. Er konnte nur noch versuchen, die Margaret nicht mit ins Unglück zu reißen.

Dallmann wandte sich von den Gitterstäben und dem kalkweiß gewordenen Gesicht dahinter ab und ging.

*

Über den Ufern des Neckars lag eine dünne, funkelnde Eisschicht. Die Sonne schien. Wo kein Lüftchen wehte, umgab eine milde Wärme die Menschen und das winterliche Land. Im Kerker schob sich Michel tiefer ins Stroh, um weniger zu frieren. In der Unterstadt kam sein Liebchen, die Margaret, mit einem Korb frisch gewaschener Wäsche vom Fluss. Von der harten Arbeit im eisigen Wasser und dem Aufstieg zum Haus ihrer Herrschaft dampfte ihr Körper. Schweiß lief ihr über die erhitzte Stirn und die ohnehin rosigen Wangen.

Aus ihrem zu einem Zopf geflochtenen weizenblonden Haar hatten sich rings um den Kopf Strähnen gelöst, die ihr der leichte Wind vors Gesicht wehte. Immer wieder strich sie sie daraus fort. Margaret war eine einfache, rechtschaffene junge Frau. Drall und hübsch, mit strahlend blauen Augen – wenn sie nicht verheult waren. Steil ging es den Berg hinauf an Bürgerhäusern vorbei durch ein Labyrinth von Gassen, bis die Häuser zunehmend schmucker wurden. Auf einem der Wege nahe am Haus ihrer Herrschaft kamen zu ihren Schritten andere, die ihr entschlossen folgten.

Neugierig sah sich Margaret um. Im selben Moment erstarrte sie, denn nicht weit von ihr entfernt stand Tübingens Scharfrichter, der sie unverhohlen musterte. Endlich schaffte Margaret es, sich aus ihrem Entsetzen zu lösen, und wich bis zur Hauswand in ihrem Rücken zurück.

»Hab dich schon mal beim hohen Herrn Sälinger mit anderen Mägden vor dem Haus gesehen. Bist du die Margaret, die dem Michel gut ist?«, fragte Dallmann geradeheraus, dem aufgefallen war, dass sich das junge Weibsbild offenbar vor Kurzem die Augen ausgeweint hatte. Sie ist das Liebchen des Burschen!, war sich Dallmann sicher.

Margaret wurde kalkweiß. Sie konnte weder nicken noch den Kopf schütteln. Die Zunge lag ihr schwer wie Blei im Mund. Es ist aus mit mir!, durchfuhr es sie grausig. Der Michel liegt schon in Ketten, und jetzt will der Scharfrichter auch noch mich einholen. Ihre Furcht steigerte sich zur Verzweiflung. Sie ließ den Korb fallen, der auf dem schmutzigen Pflaster zur Seite kippte und aus dem die saubere Wäsche quoll. »Bei der Heil’gen Jungfrau, verschon mich, Henker. Ich hab nichts verbrochen.«

Ein Seufzer entrang sich ihrer eingeschnürten Brust. »Und der Michel auch nicht. Der hat nie und nimmer meinen Herrn überfallen. Das schwör ich bei allem, was mir heilig ist.« Ihre Stimme drohte unter aufkommendem Schluchzen zu ersticken, bis sie die Hände vors Gesicht schlug und bitterlich weinte.

Dallmann blieb, wo er war, und harrte aus, bis der heftige Gefühlsausbruch der Magd in leiser werdendes Wimmern übergegangen war. Ab und zu sah er sich um, ob jemand über die Gasse kam, aber kein Schritt näherte sich. »Fass dich, Margaret, ich bin nicht hier, um dich in den Kerker zu schaffen. Ich muss nur etwas wissen, dann kannst du heimkehren«, sagte Dallmann entschieden. Sein Blick, den andere als Margaret voller Kälte und dunkler Vorschau kannten, blieb milde.

Das Mädchen griff nach einem Fetzen im Mieder und schnäuzte sich ausgiebig. »Was … was willst du denn wissen, Henker?«, sagte sie kaum verständlich. Und furchtsam.

»Der Kerl, der deinen Herrn überfallen hat, soll deinem Liebsten wie aus dem Gesicht geschnitten sein. Dem, der dir den Hof macht und nach dem du dir die Augen ausguckst, wenn er sich am Ende der Gasse blicken lässt.« In Dallmanns Tonfall mischte sich ein Lauern. »Das hat dein Herr den Gassenknechten so ausgesagt.«

Zornige Blitze zuckten in Margarets Augen. Verdunkelten sie. »Bei meiner Seel, wenn einer einen Grund hätte, die Büttel zu rufen oder ein Mannsbild bei den Gerichtsherren anzuklagen, wär ich das, Henker. Nicht jedoch der Sälinger!« Ihr praller Busen hob und senkte sich erregt unter dem festen Mieder. Vernehmlich schnaufte sie. »Ich bin gerade zu der Zeit heimgekommen, als ich den Michel unten auf der Gasse sah und ums Haus herum das Geschrei vom Sälinger anhob. Ich hab leise um die Ecke geguckt, da war weit und breit kein Mordbube. Nicht mal einer der Knechte, der ihm beigesprungen wäre.«

»Was geschah dann?«

»Nichts!« Margaret funkelte Dallmann zornig an. »Nichts war. Der hohe Herr ist in seinem dicken, wollenen Mantel über ’n Hof stolziert. Weit und breit war da keiner, der ihm den Knüppel überzog, wie er es beteuert. Ich hab’s gesehen, Henker, dass er wohlauf ins Haus zurückgekehrt ist. Hernach hat er den Heinrich nach dem Medicus geschickt, der ihm einen Kopfverband angelegt hat. So hoch und beeindruckend und … und farbenprächtig, dass mancher fremdländische Herr auf dem Hauptmarkt neidisch gewesen wäre.«

»Denkst du nicht, Margaret, dass der Medicus was hätt verlauten lassen, wenn dein Herr gar nichts gehabt hätte, wofür er ihm den Kopf hätte umwickeln müssen?«, fragte Dallmann immer noch mit argwöhnischem Tonfall.

Entschlossen stemmte die Magd, die alle Angst vor dem Henker hatte fahren lassen, ihre Hände in die Hüften. »Bah! Ich sag dir, Henker, das Einzige auf dem kahlen Schädel des feinen Herrn ist eine klägliche Beule, die er sich immerfort an der niedrigen Decke im Keller holt, wenn er selbst runtersteigt, um sich den Krug mit Wein zu füllen, statt den Heinrich runterzuschicken.«

Jetzt machte Margaret sogar entschlossene Schritte auf den Scharfrichter zu und streckte ihm wie drohend den Zeigefinger hin. »Der bezichtigt meinen Michel der Schandtat, weil ich ihn seit Wochen nachts an der Tür kratzen lasse, ohne sie ihm aufzutun. Zu mir ins Bett will er, der lüsterne alte Bock, dem sein zänkisches Weib das Leben zur Hölle macht.« Sie schnappte nach Luft. »Freilich, weil der feine Herr Gemahl nach jüngeren Weibsleuten glotzt und ihm sein angetrautes Eheweib nicht mehr die Schlafstatt wärmen darf. Seit der Zeit ist sie bös geworden und lässt ihr Ungutsein an uns Mägden und den Knechten aus.«

Margaret wischte sich die zornig hervorschießenden Tränen aus dem Gesicht. »Aber sagen kann ich es nicht. Weder vor den Gerichtsherren noch vor dem Stadtvogt. Der Sälinger täte mich wie den Michel in den Kerker schaffen lassen, und … und wenn nicht das, dann aus dem Haus jagen.« Wieder begann sie zu weinen.

Dallmann sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck verriet Zufriedenheit. Das, was er vermutet hatte, hatte sich bewahrheitet.

Margaret zog die Hände vom Gesicht zurück. Mit verheulten Augen sah sie Dallmann entschlossen an. »Ich sag dir, Henker, wenn der Sälinger so weit geht, vor den Gerichtsherren eine niederträchtige Lüge zu erzählen, um meinen Michel auf die Richtstatt schaffen zu lassen, schweige ich nimmer. Auch wenn’s mich das Leben kostet!«

»So weit wird’s nicht kommen, Margaret.« Dallmanns volltönende Stimme ließ die verzweifelte Magd aufhorchen.

»Was meinst du damit, Henker?«, fragte sie hoffnungsvoll. Obwohl sie ein einfaches Geschöpf war, besaß sie neben einem geschliffenen Mundwerk auch einen raschen Verstand.

»Dass du abwarten sollst und das Maul halten, Margaret. Wenn dein Michel nicht vor die Richter kommt, ja dir gar nimmer unter die Augen kommt, dann halt Ruhe und leb weiter wie bisher.« Der Scharfrichter sah sie unter langen Wimpern lodernd an.

Margaret stand wie erstarrt, senkte den Blick und musterte das dreckige Pflaster unter ihren hölzernen Pantoffeln. Sie glaubte zu verstehen, was der Henker sagen wollte. Es gefiel ihr nicht, auch wenn der Michel am Leben bleiben würde. Es gefiel ihr überhaupt nicht. Bevor sie wieder den Kopf hob, wischte sie sich mit dem Hemdsärmel den Rotz von der Nase.

»Einen Rat hab ich noch für dich, Margaret. Wenn der Sälinger wieder an deiner Tür kratzt, vertrau dich der Herrin an. Ihr Weibsleute wisst schon, was zu tun ist.« Er grinste spöttisch. »Der Herr muss ja nicht wissen, zu wem er ins Bett steigt. Dann hast du deine Ruh und die Herrin ihre Freud.«

 

Tübingen, am selben Tag um Mitternacht

Vom Neckar stieg Nebel auf, kroch über die Stadtmauer und strich leise über die schmutzigen Pflastersteine und eng beieinanderstehenden Häuser. Kalt war er. Im Gesicht wie ein Gespinst. Als es zu regnen begann, drückten sich menschliche Schatten, die keine Bleibe hatten, in schützende Mauernischen. Andere, die aus Trinkstuben oder von den Hübschlerinnen kamen, beschleunigten ihren Schritt, um ins trockene Heim zurückzukehren. Ein einzelner Mann blieb gelassen, als ginge ihn kein Sauwetter und kein Halsabschneider mit locker sitzendem Messer hinterm Gürtel etwas an. Auch ohne Laterne nahm er zielstrebig den Weg, den er schon unzählige Male gegangen war.

Im kräftiger werdenden Regen erreichte der Henker das Rathaus und pochte leise gegen die schwere Tür zum Gefängnis. Sie war nur angelehnt. Beinahe umgehend wurde sie aufgezogen. Einer der Büttel, der auf ihn wartete und dem er das Weib vor dem Tod bewahrt hatte, winkte ihn aufgeregt herein und streckte ihm den Schlüssel für den hintersten Kerker hin. Dallmann ergriff ihn. Die beiden Männer nickten sich schweigend zu. Der Stadtknecht ging rasch zurück zu den Kumpanen in der Wachstube, um ein Auge auf sie zu haben.

Der Henker hingegen machte sich über den kühlen, modrigen Gang, den Pechfackeln in eisernen Halterungen in leidliche Helligkeit tauchten, zum letzten Verlies auf. Vorsichtig öffnete er die Tür, um verräterische Geräusche zu vermeiden. Drinnen im Kerker stellte er sich vor das reglose Bündel Mensch im Stroh. Mit dem Fuß stieß er gegen dessen Hintern. Als sich nichts rührte, versetzte er dem Schlafenden einen weiteren Tritt, worauf unwilliges Brummen aufstieg.

Michel hob den Kopf. Im wirren Schopf steckten Halme. Unter schlaftrunkenen Lidern glotzte er auf den großen Kerl, der vor ihm stand.

»Mach, dass du auf die Beine kommst!«, herrschte ihn Dallmann scharf, aber mit gesenkter Stimme an.

Michel blickte verwirrt um sich. In Gedanken wischten die letzten Bilder eines schrecklichen Traums an seinen verschlafenen Augen vorbei. Über das unsanfte Wecken wäre er heilfroh gewesen, wenn ihn im wachen Zustand nicht Grausameres erwarten würde. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden.

»Hoch mit dir!«, knurrte ihn der Henker an.

Jetzt ist es so weit, jetzt bringt mich der Scharfrichter vor die Gerichtsherren, durchfuhr es Michel entsetzt. Die kennen keine Milde, nur das Peinigen und ganz zum elenden Schluss die Richtstatt. Unter seinen unglücklichen Gedanken fühlte er sich von Dallmann am Hemd gepackt und grob hochgezogen. Nach dem reißenden Geräusch zu schließen, war sein Hemd wieder etwas löchriger geworden.

Noch war eine Spur von Aufbegehren in Michel, und er stellte sich, ohne darüber nachzudenken, dass er gegen den gewaltigen Kerl nicht die geringste Aussicht auf Erfolg haben würde, in Verteidigungshaltung hin. »Henker, ich … sag’s dir noch einmal und schwör’s … beim Herrgott, dass ich den Sälinger … nicht überfallen habe. Während ich hier im … Loch bin, ist der richtige Lump … wahrscheinlich längst fort überm Neckar.« Michel war wütend und verzweifelt. Sein Gesicht schmerzte höllisch.

Dallmann blickte den Burschen ruhig an. Allerdings durchdringend. Bis er ein unwilliges Grunzen von sich gab. »Und ich sag dir, Kerl, bei meiner Seel und meinem Frieden, halt’s Maul und komm mit, und zwar rasch und leise!«

Draußen auf dem von Nässe schmierigen Pflaster ging es im kalten, strömenden Regen durch die nächtlichen Gassen. Michel fror erbärmlich. Die Zunge klebte ihm am trockenen Gaumen. Der Magen knurrte, und sein zerschlagenes Gesicht pochte heiß und schmerzhaft unter dem verkrusteten Blut. Halb benommen fuhr er sich mit den Fingern über die Schrunden. Die halten alles zusammen, dachte er bitter. Die unglaubliche Tatsache indes, in Freiheit zu sein, versetzte ihn in Hochstimmung. Als hätte er noch vor Kurzem fette Würste genossen und hernach warmes, süßes Backwerk mit Honig und Nüssen und zum Schluss zur höchsten Freude einen bis zum Rand gefüllten Krug Dünnbier in sich hineingeschüttet.

Halb rutschend, halb stolpernd folgte er dem großen Schatten unterm ausladenden Umhang übers nasse Pflaster in die Unterstadt. Der Regen ging langsam in dichter werdenden Schnee über. Flocken davon blieben ihm wie Lammwolle in den Lidern hängen. Beim Laufen öffnete Michel den Mund, ließ die eisigen Tropfen auf der Zunge zerschmelzen und leckte sich ein ums andere Mal die Schneeflocken von den Lippen. Das reine, kalte Wasser schmeckte köstlich.

Der Henker will zum Fluss!, jagte es Michel wie ein Blitz durch den Kopf. Der will mich springen lassen, statt mich auf die Folterbank zu werfen. Sein Herz begann zu rasen. Beinahe hätte er bei dem überwältigenden Gedanken aufgebrüllt.

Gasse um Gasse brachten die beiden Männer im dichten Schneetreiben hinter sich. Einmal rutschte Michel aus und stürzte schwer aufs Pflaster, aber da war auch schon der Henker neben ihm, der ihn mit einer seiner Pranken wieder auf die Beine riss. Der ihn von nun an nicht mehr ausließ und ihn erbarmungslos mit sich zerrte.

Hinter den letzten schäbigen Häusern erhob sich die Stadtmauer wie ein aufragender Fels. Der Himmel darüber war nicht weniger bedrohlich. Es schien, als läge eine schmutzig graue Plane aus Schnee und Dunkelheit über der Stadt, um allem Leben darin mit einem Schlag die Gurgel abzudrücken.

Der Henker nahm den waghalsig holprigen Weg an der Mauer entlang, ohne dass er im Laufen langsamer wurde oder Rücksicht auf den Kerl in seinem harten Griff nahm. Für Michel war es ein einziges mühsames und schmerzhaftes Stolpern, Ausrutschen und über das Pflaster Gezerrtwerden. Bis sie an einer der nicht bewachten Schlupfpforten ankamen.

Schwer atmend rauschte es Michel unangenehm im Kopf. Er fühlte sich zu Tode erschöpft. Ohne Zögern drückte der Scharfrichter das schief in den Angeln hängende Törchen auf, das überlaut in der Stille knarrte. Kein Mensch würde es hören. Wer auch immer konnte, blieb in dieser unwirtlichen Winternacht in der Stube in der Nähe des Feuers. Oder längst im wärmenden Bett.

Eiskalter Wind schlug Michel entgegen, als ihn der Henker vor sich her aus der Stadt ins Freie schob. Ein Stück weit tasteten sich die beiden Männer hintereinander auf dem buckligen Pfad vorwärts, der über einen steilen Berg zum Neckar hinunterführte.

Dallmann blieb stehen. Entschieden hielt er Michel zurück, in dem er ihm hart die Pranke auf die Schulter legte. »Sieh zu, dass du in der Nacht weit fortkommst. Und lass dich nie mehr in Tübingen blicken.«

Michel nickte, was der andere nicht sehen konnte. Vollständige Dunkelheit umgab sie, was nicht einmal der am Tag blendend weiße Schnee zu ändern vermochte. Der Henker drückte Michel einen ledernen Beutel von einigem Gewicht in die Hand.

»Da drin sind ein wollener Umhang und eine Mütze, ein Kanten Brot und ein paar Münzen. Damit kommst ein Stück weit.«

Michel wurde es eng in der Kehle. Der Scharfrichter hat mich vor Folter und Tod bewahrt und lässt mich auch jetzt nicht in der eisigen Nacht verrecken, dachte er ungläubig und wusste nicht, was er sagen sollte. »Dallmann … ich …«, brachte er nur stockend hervor. Er fühlte sich jämmerlich. Im selben Maß stieg ein Gefühl von Wärme und Hoffnung in ihm auf. Und Dankbarkeit dem Tübinger Henker gegenüber.

»Red nicht. Sieh lieber zu, dass du über die Furt kommst und drüben am anderen Ufer in den dichten Wald«, knurrte Dallmann.

»Mach ich …«, kam es mit heiserer Stimme zurück. »Vergelt’s dir der Herrgott, Dallmann, dass du mir mein armseliges Leben schenkst. Dir und den Deinen.«

Ein Murren kam durch die Dunkelheit. Gleich darauf hörte Michel, wie sich Schritte entfernten. Auch er zögerte nicht länger, drehte sich um und tastete sich vorwärts auf dem waghalsigen Pfad. Nach einer kurzen Strecke merkte er unter den Schuhen, wie der Weg steil abfiel. Plötzlich traf ihn Dallmanns scharfer Ruf im Rücken. Michel blieb stehen, machte aber nicht kehrt.

»Warte!«

 

Venedig, Anno Domini 1534, Carnevale di Venezia

Auf dem Ponte della Paglia nahe dem Dogenpalast hatte sich im Gedränge der Leute eine der geheimnisvollen Schönen in rauschender Robe einen Platz errungen. Sie trug die Moretta, eine kleine, ovale Gesichtsmaske ohne Mund aus schwarzem Samt und duftigem Tüll zu beiden Seiten. Die Verborgene drückte sich an die Brüstung, um in der wogenden Menge der Menschen, die wie sie einen Platz auf der Brücke gesucht hatten oder einfach nur über den Rio del Palazzo wollten, nicht mit fortgerissen zu werden.

Sie beugte sich übers Geländer, um über das Meer der Leute sehen zu können. Wie gebannt lag ihr Blick auf dem bunten Treiben auf der Piazzetta. Bei den mächtigen Säulen mit dem Löwen und dem heiligen Theodorus gab es dieser Tage keinen Staatsempfang und auch keine Hinrichtung, denn die Zeit der Ausgelassenheit, ja der Ausschweifungen, die weit über ein Errötenlassen hinausgingen, hielt die Stadt immer noch in Atem … der Carnevale di Venezia!

Die Unbekannte lächelte hinter der Maske. Ihr Blick ging vom lebhaften Treiben zur Lagune, über der sich ein blasser, blauer Winterhimmel erhob. Nebel kam von der See. Erste silberne Schwaden erreichten den Hafen mit den Karacken – den zu dieser Zeit weitverbreiteten Handelsschiffen – und Booten, die an der Mole vor Anker lagen.

Die Schöne sah zum Broglio, auf dem sich begeisterte Rufe aus der Menge erhoben. Akrobaten zeigten Kunststücke, führten gewagte Salti vor und formten eine immer höher werdende menschliche Pyramide. Ihre Spitze bildete ein schmächtiger Junge. Ein erst zaghaftes, schließlich siegessicheres Lachen legte sich auf seine Lippen, und er breitete die Arme aus, als wollte er das begeisterte versammelte Volk auf der Piazzetta umarmen.

An anderer Stelle waren es Puppenspieler, die mit ihrer vergnüglichen Darbietung Wogen an Gelächter und Klatschen auslösten. Die Schöne hinter der Moretta ließ sich davon anstecken. Und nicht nur sie. Die Zuschauer auf der Piazzetta befanden sich in einer berauschenden Stimmung. Eine Myriade von Menschen wogte hin und her. Einzelne Wackere versuchten, sich daraus zu lösen. Stießen und drängten und wurden sogar handgreiflich, um vorwärtszukommen. Ihr Geschrei ging schließlich im Lärmen der Menschen um sie unter.

Die Beobachterin auf dem Ponte della Paglia verfolgte begeistert, wie sich in der Menschenmenge eine Gasse öffnete und sich eine Schar heranstürmender junger Männer in farbenprächtigen rot-goldenen Gewändern auf das Pflaster ergoss. Rasch nahmen die Tänzer ihre Plätze ein. Fremdartige Musik erklang, nach der sich die Tänzer geschmeidig oder schwungvoll bewegten.

Als die Musik temperamentvoller wurde, begannen die Morisken hohe Sprünge zu machen, drehten sich gewandt im Kreis und vollführten anmutige Wendungen, um der verschleierten Schönen in ihrer Mitte zu huldigen. Es war ein Umkreisen und Werben unter perlenden, lockenden Klängen und übermütigem Jauchzen. Einer der Tänzer, ein Schwarzer, führte die höchsten Sprünge aus, worauf er den meisten Beifall erhielt.

Fasziniert beobachtete die Verborgene hinter der Moretta ungeachtet des Gedränges in ihrem Rücken das Geschehen. Ein Schreien und Schimpfen umgab sie, derbe Flüche erschallten, wenn einer über die Strohbrücke hin zum Broglio in all dem Trubel nicht weiterkam. Irgendwo brandete vielstimmiges Lachen und Klatschen auf und wurde vom stärker werdenden Wind am Dogenpalast vorbei zur Kirche von San Marco getragen. Die einsetzende Dämmerung war von einem blassen Rot, so wie der Tag von einem matten Licht durchsetzt gewesen war.

Fackeln entlang der Mole und des Dogenpalastes hüllten die lebhafte Szenerie in einen bronzefarbenen Schein. Der tanzende Schimmer aus den im Wind schaukelnden Öllampen wob sich wie goldene Tropfen in die Luft, die nicht klirrend kalt war, aber kühl genug, dass die Frauen hinter den Masken immerhin ein wenig die tiefen Ausschnitte ihrer Kleider mit einem seidenen Schal bedeckten.

Als die Dunkelheit einsetzte, stürzten rot, grün, blau und golden aufleuchtende Kaskaden eines Feuerwerks, das auf der Piazzetta entzündet wurde, auf San Marco herab. Ein Staunen, ein Beglücken, ja ein Erschauern legte sich über Tausende von Menschen, die augenblicklich nahezu einhellig in Schweigen, allenfalls in Raunen verfielen. Als die letzten Funken am nächtlichen Himmel verglühten, brach einen Lidschlag später frenetischer Jubel aus.

In der nächsten Flut der Leute über dem Ponte della Paglia löste sich die unbekannte Schöne von der Brüstung und ließ sich mittreiben. Sie hüllte sich fester in ihren Umhang. Am prachtvollen Dogenpalast vorbei schoben die menschlichen Wogen sie weiter zur Piazza San Marco und hinein in ein lautes, übermütiges Treiben aus Vorführungen weiterer Gaukler und Feuerschlucker. Die Leute strömten in alle Richtungen. Die Verborgene erhaschte einen Platz auf den Stufen zum Campanile und ließ sich augenblicklich von den vielfältigen Darbietungen einfangen.

Ein Mann in wallender Robe mit geheimnisvoll anmutenden Symbolen darauf beschwor die ausgelassenen Menschen, vom ausschweifenden, verderbten Leben abzulassen und zu Mäßigung und Demut zurückzukehren. Aus der Menge heraus wurde er verlacht und beschimpft. Viele trieben ihren Unfug, wobei es erstaunlicherweise keiner wagte, etwas nach ihm zu werfen. Dazu waren seine Erscheinung und sein Auftreten offenbar zu würdig.

Inmitten der zahllosen Ausgelassenen fiel der Blick der Schönen auf einen Mann im Gedränge, dessen Gesicht von keiner Maske verhüllt war. Als sie ihn erkannte, begann ihr Herz rascher zu schlagen. Der Kavalier war von großer, schlanker Gestalt in dunklen Kleidern und bodenlangem Umhang. Er schien es nicht eilig zu haben und ließ sich im Strom der Menschen mittreiben. Dabei kam er dicht an der Frau, die ihn beobachtete, vorbei. Als würde er die auf ihn gerichteten Blicke spüren, wandte er den Kopf in ihre Richtung.

Der Kavalier sah über die Menschen dort – und entdeckte sie! Sie war eine der unzähligen Schönen der Nacht in einer dunkelblauen Robe, als wäre sie Teil des klaren Winterhimmels. Die Frau sah ihn durch die Moretta an. Das lebhafte Funkeln in ihren Augen galt ihm.

Sie ist wie das Detail eines Gemäldes, durchjagte es den Mann fiebrig. Wie eine der meisterlich gestalteten Puppen des Theaters auf der Piazzetta. O wonnigliche Verruchtheit, was für eine Nacht! Das Herz des Galans schlug rascher in seiner Brust unter dem feinen dunklen Stoff und dem Mantel, der ihn vor der Kälte schützte, aber nicht vor leidenschaftlichen Gefühlen.

Menschen stießen den Kavalier, schoben ihn, um weiterzukommen. Flüchtig verlor der Mann die Schöne hinter der Moretta aus den Augen. Als er erneut zu ihr sah, war sie verschwunden. Zorn und Enttäuschung stiegen in ihm auf. Grob drängte er sich durch die Menge zu den Treppenstufen beim Campanile. Vorbei an Bautas – den kurzen schwarzen Mänteln mit Kapuze und weißer Maske mit langem Kinn, getragen mit schwarzem Dreispitz – und vorbei am katzenhaften Gurren der Gnagnas, der Katzenmasken. Der Mann hatte die Stufen zum Campanile erreicht und verschaffte sich auf der obersten rücksichtslos Platz, um über die Piazzetta sehen zu können. Er musste die Schöne hinter der Moretta unbedingt wiederfinden!

Diese schob sich indessen geschmeidig durch ein Meer rauschender Roben und verschiedenartiger Düfte. Als die Frau am Molo San Marco anlangte, stieg sie in die erste freie Gondel, die sich mit ihrem schmalen Bug zwischen Karacken und Lastkähnen an die Hafenmauer geschoben hatte. Die Maskierte hieß ihren Gondoliere zu warten. Ihr Blick wanderte gespannt über das farbenprächtige Gewimmel an Land. Als sie den Kavalier am Molo ausmachte, wie er sich suchend umschaute und endlich zu den Schiffen am Hafen sah, wurde auch sie vom Fieber ergriffen. Ihr Verfolger erreichte die Stufen, die ins Wasser führten. Im Licht der Fackeln jagten seine Blicke ruhelos über die Gondeln, bis er das dunkelblaue Kleid entdeckte. Bis er sie entdeckte.

Die Schöne zögerte nicht länger und machte es sich auf der gepolsterten Bank unter der Felze bequem. Ihr Gondoliere stieß sich mit dem Fuß von der Kaimauer ab. Die Piazzetta und der Dogenpalast blieben rasch zurück. Entlang der Riva degli Schiavoni und den daran gelegenen Häusern ging es zum Rio del Vin und hinein nach Castello.

In den Häuserschluchten lag Dunkelheit, aber hinter den Vorhängen der Fenster wiegten sich warme Lichter. Die Luft war kühl. In ihr lag der Geruch von Seetang und modrigem Schlick. Als die Frau aus der kleinen Öffnung in der Felze nach hinten sah, entdeckte sie eine Gondel, die rasch aufholte. Die Anmutige nahm die Moretta vom Gesicht, die sie mittels eines mit der Gesichtsmaske verbundenen Hölzchens zwischen den Zähnen hielt. Tief atmete sie die Nachtluft ein.

Ihr makellos geschnittenes Profil war das einer edlen Frau. Ihre vollen Lippen leicht geschwungen. Sie sprachen von einer Leidenschaft, die nichts Verruchtes an sich hatte. Die Anmutige genoss die Kühle auf dem entblößten Antlitz.

Ihr Gondoliere ließ mit kraftvollen Bewegungen das Boot durchs Wasser schnellen. Hie und da spritzten dunkle, gläserne Perlen an der Bootswand hoch. Immer wieder sah sich die Frau nach ihrem Verfolger in der anderen Gondel um. Mein Kavalier will mich um keinen Preis an die Nacht verlieren!, dachte sie erregt. Aber ich werde dir entkommen, solange ich es will!

Schließlich herrschte Carnevale di Venezia – Wochen der Lustbarkeit und der Ausschweifungen, die Sinne und Verstand berauschten, die Träume und Hoffnungen wahr machten und Verbotenes unter den Masken in einem Ausmaß gestatteten, das die Kirche erboste und die Prediger in den Messen über dieses Sündenbabel auf Erden wettern ließ. Der Blick der Schönen wurde dunkel. Dass es auch jenem Kavalier in der anderen Gondel nach einem Abenteuer, ja nach Berauschung gelüstete, daran bestand kein Zweifel.

Was war diese Zeit von Beginn des 26. Dezember an, dem Stefanitag, bis zum Beginn der Fastenzeit am Aschermittwoch doch für ein ungestümes Meer an Vergnügungen jedweder Art, ein sich Ergötzen an lockenden, vornehmlich verbotenen Früchten. Männer und Frauen aller Schichten wechselten hinter den Masken die Rollen. Hochgestellte Personen mischten sich bereitwillig unters einfache Volk, und jene aus dem niederen Stand gaben sich für lange Wochen der Illusion hin, dem Adel oder den Wohlhabenden gleichgestellt zu sein. Die Schranken zwischen den Gesellschaftsschichten fielen oder verschoben sich, weil, was nicht sein durfte, zu keiner Zeit eher möglich war als in diesen Wochen.

Nahe einer Kirche ließ die Moretta die Gondel an einem Campo anlegen. Der Ruderer half ihr aufs Pflaster, und sie entlohnte ihn. Ohne sich umzusehen, ging sie entschlossen davon, als würde sie ihr Ziel kennen. Ihr ausladendes Kleid rauschte über den Boden. Eine Gruppe Feiernder kam ihr entgegen. Eine Frau war darunter, auch sie in Männerkleidung. Sie lockten die Moretta, gaben ihr schmeichelnde Namen. Warfen ihr Luftküsse zu und wollten sie in ihre Mitte ziehen. Gewandt wischte die Maskierte unter einem der ausgestreckten Arme hindurch.

Im Hof des Gasthauses nahe am Hafen brannten Fackeln, um den nächtlichen Gästen den Weg ins Innere zu weisen. Niemand war zu sehen. Die Schöne überquerte rasch den Hof, um durch das angelehnte Stalltor zu schlüpfen. Wärme und der Geruch von frischem Heu schlugen ihr entgegen. Sie spähte durch das Tor auf die Gasse. Keiner der vorüberkommenden Männer ähnelte ihrem Verfolger. Kein Galan in dunklem Gewand und dunklem Umhang war darunter.