Die Rose von Darjeeling - Sylvia Lott - E-Book

Die Rose von Darjeeling E-Book

Sylvia Lott

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Beschreibung

Zwei Freunde. Ein Schicksal. Eine Liebe, die nie vergeht …

Darjeeling in den Dreißigern. Kathryn, eine junge Engländerin voller Träume, lebt auf der Teeplantage ihres Vaters. Sie ist begeistert als zwei deutsche Reisende bei ihnen Halt machen: der attraktive Gustav, der Kontakte für seinen Teehandel knüpfen will, und sein bester Freund Carl, der auf der Suche nach einer neuen Rhododendrenart ist. Allem Widerstand zum Trotz folgt sie den jungen Männern auf ihre gefährliche Expedition in den Himalaya – und merkt dabei, wem ihr Herz gehört. Doch die Plantage ihres Vaters steht vor dem Ruin, und in Deutschland bricht der Krieg aus …

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Seitenzahl: 788

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Buch

Darjeeling in den Dreißigern. Die junge Engländerin Kathryn Whitewater lernt im Teegarten ihres Vaters zwei deutsche Reisende kennen: Carl Jonas und Gustav ter Fehn, beide attraktiv und charmant. Gegen den Willen ihres Vaters folgt sie ihnen auf eine Expedition durch die überwältigende Natur des noch unerforschten, legendären Königreichs Sikkim in den Himalaya. Dabei eröffnet sich ihr eine Welt voller Abenteuer und ungeahnter Gefühle. Die junge Frau wird vor eine Entscheidung gestellt, die ihr Leben für immer verändert – und deren Folgen noch Jahrzehnte später das Schicksal einer jungen Rhododendronzüchterin im norddeutschen Ammerland bestimmen werden.

Autorin

Die freie Journalistin und Autorin Sylvia Lott ist gebürtige Ostfriesin und wuchs im Ammerland auf. Sie ist für verschiedene Frauen-, Lifestyle- und Reisemagazine tätig. Ihre Reisereportagen führten sie unter anderem nach Darjeeling und auf die Kanalinsel Jersey. Sylvia Lott lebt in Hamburg-Winterhude.

Sylvia Lotts nächster Roman ist bei Blanvalet in Vorbereitung.

Sylvia Lott

Die Rose von Darjeeling

Roman

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

1. Auflage

Originalausgabe April 2013 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2013 by Blanvalet Verlag, in der

Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: bürosüd°, München

Umschlagmotiv: Getty Images/Flickr/Andy Brandl

Redaktion: Margit von Cossart

ES · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-08492-9

www.blanvalet.de

Jersey

August 1990

Natürlich wollte Lady Kathryn ihr Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Sie saß vor dem Spiegel ihrer französischen Frisierkommode und bürstete kräftig durch ihr immer widerspenstiger werdendes, kinnlanges weißes Haar. Mit der Morgenluft wehte ein Duft von Rosen und Petunien durch die geöffneten Fenster herein. Nein, die Zeit war reif. Seit sechzig Jahren, seit sie gewusst hatte, dass sie schwanger war, rang Kathryn mit sich, wann und wie sie es ihrer Familie sagen sollte. Bei einem feierlichen Candle-Light-Dinner? Oder bei gedecktem Apfelkuchen zum Nachmittagstee in ihrer Sitzecke neben dem Rhododendronsolitär– am besten noch zur Hauptblütezeit? Manchmal dachte sie mehrmals am Tag darüber nach, stellte sich vor, wie ihr Vater, ihr Mann, und dann, nachdem beide gestorben waren, ihr Sohn Charles, die Schwiegertochter und ihr Enkel darauf reagieren würden.

Am Tag von Charles’ Geburt hatte sie sich vorgenommen, es ihm zu sagen, wenn er die Volljährigkeit erreicht hätte. Doch ausgerechnet dann geschah etwas, das für eine kurze Zeit erneut ihre Welt aus den Angeln hob. Als sie sich allmählich wieder in gewohnter Weise zu drehen begann, musste Kathryn ihre Enthüllung erneut verschieben, weil es ihr sonst niemals gelungen wäre, zur Normalität zurückzukehren.

Die Sonne schien jetzt in den Spiegel und blendete sie. Kathryn stand auf, um den alten geblümten Vorhang aus indischer Seide vorzuziehen. Er stammte aus einem der vornehmsten Geschäfte Kalkuttas, immer noch verliehen die verwegenen pinkfarbenen Blumen ihrem ansonsten in Resedagrün und Cremetönen gehaltenen Privatsalon einen Hauch Poesie. Sie stieß mit dem Ellbogen gegen ihre Harfe, die in der Ecke stand. Ein tiefer Ton schwang nach, etwas Staub wirbelte auf. Ach, ja, schade, lange hatte sie nicht gespielt, aber vielleicht könnte sie bald wieder einmal einen Versuch wagen.

Zwei Jahre hatte es damals gedauert, bis sie das Thema wieder an sich heranlassen konnte. In den Wechseljahren schwor sie sich, ihr Geheimnis allerspätestens an ihrem achtzigsten Geburtstag preiszugeben. Das hätte immerhin den Vorteil, dass ihr Vater und ihr Mann Alfred, der selige Lord Taintsworth, es nicht mehr erfahren würden.

Am nächsten Sonntag wurde sie achtzig. Schwer vorstellbar, nun wirklich so alt zu sein. Innerlich fühlte sie sich auch heute noch phasenweise wie eine junge Frau, manchmal auch wie fünf oder wie hundertzwanzig oder zeitlos. Meist musste sie eine Weile überlegen, wenn sie irgendwo ihr Alter angeben sollte.

»Du wirst achtzig, altes Mädchen!«, sagte sie ungläubig zu ihrem Spiegelbild, einer freundlichen Seniorin mit gewelltem Bubikopf, tiefem Seitenscheitel und niedrigem Haaransatz.

Ihre Stimme klang immer noch, wie schon in ihrer Jugend, leicht rauchig. Der helle Teint, übersät mit Sommersprossen und Altersflecken, fältelte sich reichlich, aber fein wie ein Strahlenkranz um die Augen und an den Wangenpartien. Dem gealterten Hals gönnte sie keinen längeren Blick mehr. Die wohlgeformte gerundete Nase war immer noch etwas zu kurz, obwohl ihr Vater ihr als Kind versprochen hatte, ihre Nase würde niemals aufhören zu wachsen. Sie schmunzelte. Der Blick ihrer grünen Augen unter den kräftigen Brauen (die sie beim Friseur dunkelblond nachfärben ließ) konnte blitzschnell von Melancholie zu Belustigung wechseln, doch meist war er gütig und wohlwollend. Kathryn trat einen Schritt zurück. Früher war sie mittelgroß gewesen, heute galt sie eher als klein.

»Bist geschrumpft, musst dich gerader halten!«, mahnte sie die Lady im hellgrauen Hemdblusenkleid mit den bequemen Pumps. »Nimm dir ein Beispiel an Queen Mom.« Ihr Spiegelbild winkte sogleich ab. Man konnte doch froh sein, dass es überhaupt wieder ging mit dem Gehen. Seit den Rheumaschüben im Winter hatte sich ihr Zustand erfreulich gebessert. Gnädig nickte sie sich zu. »Du wirst tatsächlich achtzig.« Punkt. Und keine Ausreden mehr!

In vier Tagen würde die Bombe platzen. Der Skandal würde nicht nur in Adelskreisen und bei Cocktailempfängen der Upperclass von Jersey, sondern bis in die Markthalle von Saint Helier, der Hauptstadt der Insel, für Gesprächsstoff sorgen! Selbst die wortkargen Hummerfänger im Hafen am alten Schlachthof würden beim Ausbessern ihrer Körbe darüber ratschen und sicher glatt vergessen, ihre Zahnlücken zu verbergen.

Kathryn gluckste unterdrückt in sich hinein. Ihr Sinn für Humor hatte ihr geholfen, viele dramatische Ereignisse im Leben zu überstehen. Und doch schmerzte es auch. Immer noch, nach so vielen Jahren. Gerade jetzt wieder spürte sie den vertrauten Stich in der Brust, dem ein sehnsüchtiges süßes Ziehen folgte. Ihre Kehle schnürte sich zu, Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie atmete tief durch und schloss die Lider. Manchmal spürte sie die Liebe wieder: so jung und unverbraucht, so intensiv, innig, tief und weit und allumspannend wie damals. Eine Träne lief ihre Wange hinunter.

Am stärksten überkam sie dieses Gefühl, wenn sie im Mai ihrem Rhododendron nahe war. Es gab viele Rhododendren in ihrem Park, die meisten wuchsen in Gruppen angeordnet, doch sie meinte immer nur den einen: die »Rose von Darjeeling«. Das Herz ging ihr auf, wenn der inzwischen fast vier Meter breite und drei Meter hohe Prachtbusch seine Knospen austrieb und seine großen scharlachfarbenen Blüten öffnete. Wie aus hauchdünnem Wachs modelliert wirkten sie und schienen, besonders in der Morgensonne, von innen heraus zu leuchten. Dieser Rhododendron hatte eine eigene Aura, Kathryn ließ sich insgeheim von ihr umfangen wie von den Armen eines Geliebten.

Das Außergewöhnlichste aber an der besonderen Züchtung war ihr Duft. Nur wenige Rhododendren verströmten Wohlgerüche, sah man einmal ab von einigen zur Gruppe der Azaleen gehörenden Arten wie dem nasenbetäubend honigsüß riechenden gelben Rhododendron luteum, an dessen Honig sich einst die Soldaten des Xenophon um 400 vor Christus auf dem Rückmarsch von Babylon vergiftet hatten. Ihr Rhodo duftete anders. Nicht aufdringlich. Auch nicht nach Zimt, Jasmin oder Orchidee wie einige der Vireya-Arten, die nur in tropisch-schwülen Regionen Südostasiens oder in den Gewächshäusern von Kew Gardens gedeihen konnten. Den zarten, geheimnisvoll lockenden Duft der Rose von Darjeeling begleitete eine schwer beschreibbare Note, die einmalig war. Deshalb verließ Kathryn während der Blütezeit von Anfang bis Ende Mai nur zu einem alljährlichen Pflichttermin in London für drei Tage ihr Anwesen. Sie hielt sich am liebsten draußen bei ihrem Rhododendron auf. Meist saß sie auf dem Rasen direkt daneben in einem Gartensessel, der zu einer dunkelgrün gepolsterten, silbrig verwitterten Teakholzsitzgruppe gehörte, und las.

Eine gepflegte Grünfläche schwang sich von der Sonnenterrasse des Herrenhauses sanft abwärts bis zu ihrem Lieblingssitzplatz. Sie hatte den Strauch knapp vierzig Jahre zuvor in den lichtdurchbrochenen Schatten alter Eichen und Magnolien gepflanzt. Hier nahm sie, sobald die Witterung es zuließ, mit ihrer Schwiegertochter Alexandra den Nachmittagstee ein. Hier empfing sie die Damen der Hausfrauenvereinigung, um mit ihnen Wohltätigkeitsbasare zu besprechen, oder das Komitee zur Organisation des Blumenfestes. Sofern das Rheuma es ihr erlaubte, buddelte sie auch gern in benachbarten Beeten zwischen Funkien, Bluebells, Primeln und Bambus. Nur um immer, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, für Momente die Augen zu schließen und diesen Duft in sich aufzunehmen, der in ihr alles wieder lebendig machte.

Jeder wusste, dass die Herrin von Greenville Manor diesen Rhododendron besonders liebte. Und normalerweise war sie auch die Großzügigkeit in Person, wenn sie um Ableger aus ihrem viel bewunderten Park gebeten wurde. Zum Beispiel von den zahlreichen pensionierten Offizieren, die im milden Klima der vom Golfstrom verwöhnten Kanalinsel ihren Ruhestand mit der Gärtnerei verbrachten– und von denen mancher wohl auf einen engeren Kontakt zur verwitweten Lady hoffte. Doch sie konnte recht schmallippig werden, sobald sie auf Samen oder gar Reiser ihres Rhodos angesprochen wurde. Später, pflegte sie dann zu sagen, später einmal. Doch »später« kam nie.

Spezialisten fachsimpelten gern, um welche Sorte es sich wohl handeln möge, nur Kathryn blieb stets wortkarg, wenn es um die Herkunft ihres Rhododendrons ging. Man vermutete ganz allgemein, dass ihre Ladyschaft schöne Erinnerungen an Kindheit und Jugend auf der Teeplantage ihres Vaters in Darjeeling mit dem immergrünen Strauch verband. Damit mussten sich die Leute eben begnügen.

»Wer verkaufte den Männern von diesem griechischen Feldherrn denn den giftigen Honig?«, hatte ihr Enkel Maximilian sie einmal gefragt, als sie ihm beim gelben Rhododendron von den armen Soldaten erzählte.

»Niemand. Sie haben ihn in der Natur entdeckt, im fernen Kaukasus, in den Nestern wilder Bienen.«

»Und sind sie daran gestorben?«

»Nein, sie fühlten sich sehr elend, vielleicht glaubten sie, dass sie sterben müssten. Sie lagen dann auch eine Weile wie tot am Boden. Aber sie waren nur betäubt.«

Miles’ Augen blitzten. Sie spazierten weiter durch den Garten. Zu vielen Gehölzen konnte Kathryn etwas Spannendes erzählen.

»Gibt’s zu deinem Lieblingsrhododendron auch eine Geschichte, Grandma?«

Sie zögerte etwas. »Ja, mein Schatz.«

»Erzählst du sie mir?«

»Jetzt nicht. Später.«

»Wann später?«

»Wenn ich achtzig werde.«

»Versprochen?«

»Ja, versprochen.«

Vier Tage noch. Wieder spürte Kathryn einen Stich in der Brust. Dieses Mal war er eindeutig körperlicher Natur. Es lag an den Medikamenten. Sie halfen zwar gegen das Rheuma, doch dafür bescherten sie ihr andere Zipperlein. Ließ sie die Medikamente weg, verschwanden die Nebenwirkungen, aber der Schmerz und die schlechte Beweglichkeit kehrten zurück… Heute wollte sie viel erledigen, deshalb nahm sie vorsorglich noch eine Tablette.

Lady Kathryn schrak zusammen. Die mächtige urtümliche Türglocke des Herrenhauses hallte bis in den Salon hinauf, sodass die Parfumfläschchen auf der Frisurkommode erzitterten und einen hellen Klang von sich gaben. Das musste ihr Lieblingsenkel Maximilian sein. Der Elfjährige, den sie meist zärtlich Miles nannte, hatte Sommerferien und wollte sie bei ihren Besorgungen für die Geburtstagsfeier begleiten. Rasch holte Kathryn noch eine Strickjacke, die im angrenzenden Schlafzimmer auf ihrem Bett lag, dann eilte sie die Gemäldegalerie entlang, so schnell es die schmerzenden Gelenke erlaubten, und anschließend die geschwungene Freitreppe hinab in die düstere Eingangshalle. Das Anwesen aus grauem Granitstein hatte hier nur wenige Fenster, was sie gut gegen Eindringlinge abschirmte. Aber üppige Blumengestecke setzten heitere Farbtupfer.

Der Butler näherte sich gemessenen Schrittes, um die Tür zu öffnen. Kathryn warf einen Blick durch ein Guckloch, das die Vorfahren derer von Taintsworth schon vor Hunderten von Jahren neben der Eingangstür hatten einbauen lassen. Miles stand davor und machte Faxen.

»Hallo, Grandma! Ich weiß, dass du guckst!«

Sie riss sie Tür auf, bevor der Butler seines Amtes walten konnte und breitete die Arme weit aus. »Miles! Wie schön, dass du da bist!« Sie war die einzige Erwachsene, die den jungen Mann noch in der Öffentlichkeit herzen durfte.

Miles rückte schnell seine Brille zurecht und fuhr sich mit den Händen durch den dunkelblonden Haarschopf. Seine Großmutter sollte es nun auch bitte nicht übertreiben mit dem Geschmuse in der Öffentlichkeit.

»Willst du etwas essen oder trinken?«

»Nö, Granny, lass uns gleich losfahren.« Ungeduldig wippte Miles auf und ab. Er trug ein grün-weiß gestreiftes Polohemd über seinen Blue Jeans und genoss es sichtlich, nicht in der Schuluniform seines Internats herumlaufen zu müssen. »Können wir den Minor nehmen?«

»Eigentlich sollte uns Singh im Jaguar chauffieren, Darling. Ich bin nicht mehr die Jüngste.«

»Ach, was. Du musst in Übung bleiben!« Er verlegte sich aufs Schmeicheln, sein Lächeln offenbarte bereits ein beachtliches Charmepotenzial. »Du bist doch noch fit, Granny, komm schon… Der Minor muss auch ab und zu bewegt werden, sonst rostet er ein.«

»Wie ich, meinst du?«, neckte sie ihn. Vielleicht ist es heute das letzte Mal, dass ich mit meinem Enkel in ungetrübter Stimmung zusammen sein kann, schoss es ihr durch den Kopf. Sicher würde es nach der Preisgabe ihres Geheimnisses am Sonntag eine Weile dauern, bis sich die Wogen geglättet hätten. Der Junge würde zumindest befangen sein. Das Medikament begann zu wirken, sie spürte es daran, dass die Schmerzen nachließen und durch ein Engegefühl in ihrer Brust ersetzt wurden, aber sie scherte sich nicht darum. »Na gut!«, willigte sie ein. Kathryn nahm sich vor, Miles und sich einen wunderbaren Großmutter-Enkel-Tag zu schenken, an den er sich noch als Erwachsener gerne erinnern würde. »Nehmen wir den Oldtimer.«

Alfred hatte ihr das ebenso niedliche wie praktische Fahrzeug zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geschenkt, damit sie unkompliziert durch die sehr engen, von Steinwällen begrenzten Wege über die Insel fahren und Blumen oder größere Einkäufe transportieren konnte. Sie hing an dem Auto, einem Morris Minor Traveller, Baujahr 1959. Eine Art englischer Volkswagen mit Holzfachwerk, ein Vorbild an Zuverlässigkeit, das nicht nur ihr immer gute Laune machte. Lady Kathryn liebte diesen Nebeneffekt, wenn sie mit dem Minor durch die Landschaft fuhr oder in ein Dorf kam, lächelten die Leute unwillkürlich.

»Singh, bitte fahren Sie den Minor Morris vor. Ich setze mich heute selbst hinters Steuer.«

»Sehr wohl, Mylady.«

Singh war Butler und gleichzeitig auch der Chauffeur. Seine Miene verriet nicht, was er gerade dachte. Seine Haltung war britisch durch und durch. Die dunkle Haut, die lackschwarzen Haare mit ersten grauen Strähnen an den Schläfen, die für einen Mann zarte Gestalt und das feingeschnittene Gesicht verrieten seine indische Herkunft. Mohandas Singh war in Jersey geboren und aufgewachsen. Seine Eltern waren 1930 mit Kathryn, der jungen Braut, von Darjeeling nach Greenville Manor gekommen.

»Und würden Sie dann bitte mit Marie zusammen die Sitzgruppe neben dem Rhododendron erweitern? Einige Gäste werden nach dem Brunch auf der Terrasse am Sonntag sicher noch zum Tee bleiben.«

Kathryn hatte sich zwar ausdrücklich gewünscht, dass ihre Geburtstagsfeier in kleinem Rahmen stattfinden sollte, ohne Auftrieb und Presse, ohne redenschwingende Würdenträger, doch mit fünfzig bis sechzig Gästen am späten Vormittag rechnete sie trotzdem.

»Was, wenn es hundert werden, Mylady?«, fragte Marie in diesem Moment besorgt. Sie stand mit ihrer gestärkten weißen Schürze in der Tür des Salons und polierte eine Kristallkaraffe. Die dralle Fünfzigjährige stammte aus dem nächsten Dorf, eine einfache Frau mit einem groben, aber ehrlichen Gesicht. Marie hatte sich durch unermüdlichen Einsatz und Zuverlässigkeit vom Hausmädchen zur leitenden Haushälterin und Köchin hochgearbeitet. »Soll ich nicht doch lieber mehr vorbereiten?«

»Das tun Sie doch sowieso, egal, was ich sage.« Kathryn lächelte. »Miles und ich unternehmen jetzt eine kleine Gourmettour über die Insel und werden mal schauen, was wir zusätzlich an Köstlichkeiten ordern können, um Ihnen die Arbeit zu erleichtern.«

Marie sah nicht wirklich erleichtert aus. Schließlich kannte sie die impulsiven Entscheidungen ihrer Arbeitgeberin.

»Aber bitte, Mylady, würden Sie mir anschließend wohl mitteilen, was Sie bestellt haben, damit die Speisen für das Buffet auch zusammenpassen?«

Lady Kathryn überhörte den leicht verzweifelten Unterton. »Sicher, Marie, und ich bestelle reichlich. Was übrig bleibt, können Sie dann einfrieren.«

Maries Leib vibrierte von einem unterdrückten Seufzer. Der Gefrierschrank war schon so voll, dass man die Schubkästen kaum noch aufziehen konnte.

»Sehr wohl, Mylady«, sagte sie dennoch.

»Wir kehren erst gegen Nachmittag zurück. Es kann sein, dass die Nachbarmädchen mit ihren Freundinnen zum Krocketspielen vorbeikommen. Das ist in Ordnung, ich hab’s ihnen angeboten.« Die alte Dame lächelte fein. »Bereiten Sie ihnen bitte etwas aus dem übervollen Eisschrank zu essen.«

Marie nickte grimmig. Sie sagte gern von sich selbst, sie sei wie die Kanalinsel Jersey– ein Mix aus England und Frankreich. Und wirklich vereinte die Haushälterin Tugenden beider Nationalitäten: französische Kochkunst mit britischem Planungsgeschick. So liefen seit Tagen die Vorbereitungen für das Fest auf Hochtouren. Von Myladys Sohn Charles wusste sie, dass doch mindestens hundert, wenn nicht mehr Gäste zum runden Geburtstag ihre Aufwartung machen wollten. Marie hatte ein buntes Buffet im Sinn und bereitete auch ihre Kuchen generalstabsmäßig vor. Heute machte sie das Früchtebrot, morgen war der Pastetenteig an der Reihe, übermorgen die Obstfüllungen, und einen Tag vorher sowie am Sonntagmorgen würde sie alles in den Ofen schieben. Natürlich auch die Jersey Wonders, nach denen die Kinder so verrückt waren: raffiniert verschlungenes Schmalzgebäck, das unbedingt bei Ebbe in einer Pfanne ausgebacken werden musste. Bei Flut, besagte eine alte Jersey-Regel, liefe das Fett über. Aber von diesen Dingen wollte Ihre Ladyschaft nie etwas hören. Sie machen das schon, Marie, pflegte sie zu sagen.

Der elfenbeinfarbene Minor Morris stand bereit. Kathryn setzte ihren kleinen Strohhut auf, während Miles schon erwartungsvoll auf dem Beifahrersitz saß und das Fenster herunterkurbelte. Sie lächelte die Haushälterin zum Abschied freundlich an.

»Sie machen das schon, Marie!«

Tatsächlich prägte sich dieser Nachmittag Miles als einer der goldenen Tage seiner Kindheit ein. An das, was dann abends geschah, erinnerte er sich später, als sei es ein anderer Tag gewesen.

Obwohl die Insel nur gut hundert Quadratkilometer groß war, konnte man den ganzen Tag umherfahren und immer etwas anderes entdecken. Sie fuhren mit geöffneten Fenstern vorbei an rosenbewachsenen Cottages und üppigen Bauerngärten, an nach Süden ausgerichteten Höfen und imposanten Gutshäusern wie in der Normandie. Manchmal fuhr Kathryn langsamer, damit sie den Duft besser wahrnehmen konnten.

»Riechst du die Wildkräuter?«, fragte sie, als der Leuchtturm von Corbière mit den begrünten Dünen in Sichtweite kam.

Ab und zu hielten sie auch an und gingen ein Stück zu Fuß. Nicht nur die Inselbewohner, die Kathryn Taintsworth und ihren Enkel erkannten, auch Touristen lächelten dem fröhlichen Pärchen zu– oben im Norden am dramatischen Kliffufer wie auch am Sandstrand von St. Quen’s Bay im Westen.

»Du, Grandma«, gestand Miles beschämt, als sie am Wasser eine Weile ihren Gedanken nachhingen, »ich hab Angst, im Meer zu schwimmen. Geht das weg, wenn ich größer bin?«

Kathryn lächelte nachsichtig. »Bestimmt. Eines Tages kommt eine schöne Nixe, die wird dir die Angst nehmen.«

Besonders faszinierten den Jungen die weitläufigen Befestigungsanlagen und Bunker am Strand, die aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. »Das haben die Feinde aus Deutschland gebaut, nicht?«, fragte er, und seine blaugrünen Augen strahlten. »Und wir haben die bösen Nazis besiegt!«

»Ja, aber sie waren nicht alle böse«, erwiderte seine Großmutter. Der Wind frischte auf, sie hielt ihren Hut fest. »Die Deutschen sind Menschen wie wir, die Freunde haben und jemanden lieb haben und die sich Frieden wünschen statt Krieg. Nicht alle, aber die meisten.«

Ihre Stimme schwankte, ihre grünen Augen schimmerten verdächtig. Miles spürte, dass er ein empfindliches Thema berührt hatte.

»Kennst du welche, Grandma?«

»Natürlich. Sehr viele. In den Zwanzigerjahren war ich als junges Mädchen in Berlin, und in Darjeeling hatten wir Besuch…« Sie hielt inne, räusperte sich. »Ach, das erzähl ich dir später mal.«

»Wenn du achtzig wirst?«, fragte Miles schelmisch.

»Ja.«

»Versprochen?«

»Versprochen, und es wird nicht gebrochen«, sagte sie wie früher, als er noch klein gewesen war.

Er grinste. »Gehört das zu deiner Geschichte?«

Sie staunte über seine Sensibilität und staunte auch wieder nicht. Miles war immer schon neugierig gewesen.

Sie nickte nur.

»Kennt Dad die Geschichte schon?«

»Nein. Niemand außer mir kennt sie. Und ich möchte dich bitten, bis Sonntag auch niemandem gegenüber irgendwelche Andeutungen zu machen.« Kathryn beugte sich zu ihrem Enkel hinunter und sah ihm in die Augen. »Versprichst du mir das, Miles?«

»Ja.«

»Wunderbar.« Sie ging einen Takt schneller zum Auto zurück. »Dann spiele ich jetzt auch mit dir das Spiel ›Sag mir, wo ich abbiegen soll‹«.

»Au, klasse!«

Miles durfte nun zwischendurch immer wieder an Abzweigungen die Richtung bestimmen. Kathryn bereitete es großes Vergnügen, ihm die Schönheiten der Insel zu zeigen. Ab und zu hielten sie an, um Bestellungen für das Fest aufzugeben– Spezialitäten wie Pazifikaustern, die Doug, ein Exbanker, am Strand von La Rocque züchtete, einen trockenen Weißwein, den dessen Freund Majors als Hobbywinzer auf der Insel erzeugte.

»Jetzt rechts, Grandma!«

Sie bog scharf ab. Gerade noch hatten sie den Sommer auf dem Land in der Nase gehabt– warme Schwaden von Kuhfladen, Heu und Heckenrosen–, jetzt plötzlich mischte sich der scharfe Geruch von Tang mit kühler Meeresbrise und Jod in die Komposition. Einige Bauern düngten ihre Äcker mit Algen.

»Böah!« Miles schüttelte sich. »Das stinkt ja erbärmlich!«

»Aber es steigert den Ertrag gewaltig.« Lachend gab Kathryn Gas.

»Wohin jetzt?«

Sie standen an einer einsamen Doppelkreuzung in hügeliger Landschaft. Miles ließ sich Zeit, studierte aufmerksam die Umgebung. Er fokussierte die Trichterwinden und einen Salamander, der sich an der Straßenmauer sonnte, sah brummende Hummeln in Fingerhutkelche krabbeln, las die Inschrift eines Hochzeitssteins über einer alten Haustür. Geduldig wartete Kathryn seine Entscheidung ab. Vor ihnen erstreckten sich Kartoffelfelder, so weit sie sehen konnten.

»Über den Hügel geradeaus!«

Als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, lag eine überwältigend große, glitzernde blaue Fläche vor ihnen. Der Junge brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es der Ärmelkanal war. Kathryn fuhr links an den Straßenrand.

»Hier ist es aber schön, Grandma«, sagte Miles ergriffen.

»Ja.«

Kathryn dachte beglückt: Er liebt die Natur wie sein Großvater. Ihr einziger Sohn Charles war eindeutig nach den Whitewaters geraten. Rötliche Haare, praktisch veranlagt, geschäftstüchtig, solide und ein bisschen langweilig. Natürlich liebte sie ihren Sohn von ganzem Herzen. Aber Charles hatte wenig Sinn für Schönheit und für die Natur. Wo sie doch so gehofft hatte, in ihm seinen Vater wiederfinden zu können. Doch bekanntlich übersprangen typische Merkmale oft eine Generation.

»Hast du jetzt Hunger, Miles?«

Er nickte.

In einem ländlichen Pub namens Beschwipste Krähe mit einer eigenen kleinen Brauerei wurden sie überschwänglich begrüßt. Die Wirtin lud sie auf Kosten des Hauses zu Kabeljau in Bierteig ein.

»Bin Ihnen immer noch so dankbar, dass Sie damals für uns ein gutes Wort eingelegt haben«, sagte sie. »Die Jersey-Kühe, die wir von dem Darlehn kaufen konnten, haben schon einige Prämierungen erhalten.« Die Frau lächelte stolz. »Und wissen Sie, warum? Wir geben den Viechern die Gerstenreste zu fressen! Das ist unser Geheimrezept. Aber Ihnen verrate ich es. Sie haben so viel Gutes für unsere Familie getan.«

Lady Kathryn winkte ab. »Lassen Sie es gut sein. Wie geht es denn Ihrem Mann jetzt?« Er war nach einer schweren Krankheit in finanzielle Bedrängnis geraten.

Froh zeigte die Wirtin in den Garten. »Da ist er, er düngt gerade die Beete. Er hat sich wieder berappelt.«

»Wie mich das freut! Grüßen Sie ihn ganz herzlich von uns, wir wünschen ihm weiter gute Besserung!«

Sie fuhren weiter und hielten dann vor einer Methodistenhalle, in der die Hausfrauenvereinigung der Gemeinde einmal in der Woche ihre Kostbarkeiten zum Verkauf anbot.

»Hier gibt’s nur Selbstgemachtes«, klärte Kathryn ihren Enkel auf.

Er studierte aufmerksam das Angebot. In Regalen und auf Verkauftstischen standen altmodisch beschriftete Marmeladengläser mit fruchtigen Brotaufstrichen aus Produkten der Region, Cidre, Kuchen, gestrickte Pullover, Geranienableger und mehr. Einheimische und Touristen drängten sich vor den Angeboten. Kathryn bestellte bei Ann Ewitt eine große Portion Bean Crock, den traditionellen Bohneneintopf, und war froh, dass der Ansturm auf die hausgemachten Besonderheiten einen längeren Plausch ausschloss.

»Warum lässt du Marie das nicht kochen?«, fragte Miles verwundert, während Kathryn noch einen bunten Strauß Sommerastern kaufte. »Sie kann das gut, das weiß ich.«

»Ach, sie hat schon genug um die Ohren, und Ann Ewitt muss sich ganz allein durchschlagen mit ihren vier Kindern. Ihr Mann hat sie verlassen, und sie kann nicht arbeiten gehen, weil ihre Zwillinge noch klein sind.«

In der St. Brelade’s Bay, auf dem nach Kathryns Meinung schönsten Friedhof der Welt, lag ihr vierundzwanzig Jahre zuvor verstorbener Mann Alfred. Sie besuchten die Grabstelle, Kathryn stellte die Sommerastern in eine Vase vor den Stein. Von hier aus hatten sie einen grandiosen Blick auf den Strand und über die Bucht hinaus aufs Meer. Über ihnen zogen Mauersegler in elegantem Gleitflug ihre Kreise.

»Schade, dass ich Grandpa nicht mehr kennengelernt habe.«

»Ja, das ist sehr, sehr schade.«

Kathryn bedachte Miles mit einem seltsam wehmütigen Blick, der ihn irritierte. Verlegen versuchte er, auf den verwitterten Grabsteinen ringsum die verschnörkelten Inschriften zu entziffern.

Anschließend statteten sie dem besten Hotel am Platze einen Besuch ab, um einige Spezialitäten zu verkosten. Der Restaurantmanager erwartete sie bereits, denn Kathryn hatte sich telefonisch angekündigt. Er überschlug sich fast vor Begeisterung. Dabei war er ein Mann von Welt, einst Chefkoch in internationalen Luxushotels gewesen, manchmal hatte ihn sogar Karajan samt Kochcrew nach Österreich einfliegen lassen.

»Dass Sie endlich kommen, Lady Taintsworth, ist eine große Ehre für unser Haus und für mich!«

Sie winkte milde lächelnd ab. Kurz wiederholte sie, was sie suchte. Der Manager klatschte in die Hände und gab ein paar Anweisungen, dann nahmen sie an einem Tisch mit Meerblick Platz. Er war schon mit weißem Damast fürs Abendessen eingedeckt. Wenige Minuten später servierte der Manager persönlich, begleitet von leidenschaftlichen Kommentaren, die erlesensten Meeresfrüchte.

»Möchte der kleine Gentleman auch kosten?«

Kathryn nickte. »Aber natürlich!« Sie sah ihren Enkel an. »Du kannst nicht früh genug anfangen, deinen Gaumen zu schulen, Miles. Genuss ist keine Sünde, sondern eine Verpflichtung gegenüber deinem Schöpfer. Du musst lernen, die Dinge zu würdigen.«

Als Erstes gab es Languste. Sie hatte glattes, festes weißes Fleisch. »Deliziös«, schwärmte der Restaurantmanager.

Kathryn nickte. »Hmm!«

Das stimmte fürwahr. Dann kam der Hummer. Das rötliche Fleisch hatte eine ganz andere Struktur, es war fasriger, weicher, trotzdem kernig, saftig, und im Geschmack noch intensiver.

»Super«, rief Miles aus. Dann schien ihm dieser Ausdruck nicht ganz angemessen, und er sagte würdevoll: »Ich meine, auch sehr deliziös.«

Kathryn unterdrückte ein Lächeln.

»Und jetzt das Allerbeste!«, kündigte der Manager theatralisch an. »Jacobsmuscheln! Erst vor einer Viertelstunde an Land gebracht! Dort hinten sehen Sie noch den Fischer, der sie geliefert hat.«

Der Koch brachte die fangfrischen Jacobsmuscheln– warm, angerichtet auf Sommersalaten mit grünen Spargelspitzen, gerösteten Pinienkernen und leichtem Zitrusdressing.

»Himmlisch!«, seufzte Lady Kathryn wohlig, »wirklich ein Erlebnis!« Ganz langsam kaute sie das süßliche glatte Muschelfleisch, um den Genuss voll auszukosten. »Was meinst du, Miles? Was brauchen wir noch fürs Buffet?«

Er stand auf, beugte sich vertraulich über den Tisch und flüsterte in ihr Ohr: »Grandma, ganz im Ernst, findest du wirklich, dass ein elfjähriges Kind so etwas entscheiden sollte?«

Sie lachte vergnügt. »Die Entscheidung treffe ich. Aber du hast doch sicher einen eigenen Geschmack. Also?«

»Ich mag alles, aber am besten finde ich die Jacobsmuscheln.«

»Sehr gute Wahl!«, entfuhr es dem Restaurantmanager.

Lady Kathryn orderte für ihr Geburtstagsessen fünfzig Portionen direkt nach Greenville Manor. Der Restaurantmanager küsste ihr die Hand. Er geleitete sie nach draußen und winkte ihnen lange nach.

»Ist der Manager auch in Not?«, fragte Miles auf der Heimfahrt.

Es war nun doch später geworden als geplant, die Sonne färbte sich bereits rötlich.

»Nein, mein Schatz«, erwiderte seine Großmutter. »Er bietet einfach die beste Qualität. Das ist auch viel wert.«

»Aber du hilfst doch oft anderen Leuten, nicht wahr? Warum tust du das?«

Kathryn zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich tat sie es, um eine alte Schuld abzutragen. Aber das konnte sie dem Kind nicht sagen, und so antwortete sie nur: »Warum? Ach, es freut mich einfach, wenn andere sich freuen.«

»Wieso?«

»Na, ist doch schön! Wenn du helfen kannst, dann hilf, Miles. Es klingt simpel und ist auch ganz einfach. Du musst nicht viel drüber nachdenken. Tu’s einfach.«

»In Ordnung, Granny.« Er dachte eine Weile nach, dann fragte er: »Und warum soll ich lernen zu genießen?«

»Weil ein Mensch, der nicht genießen kann, irgendwann ungenießbar wird.« So wie Alfred in seinen letzten Jahren, dachte sie, aber auch das konnte sie Miles nicht sagen.

»Komm, wir schauen noch mal nach den Pferden«, schlug Kathryn vor, als sie neben dem Herrenhaus parkte.

Miles sprang voran wie ein junges Fohlen. Vom Teich hinter der Sonnenterrasse wand sich ein Pfad am Küchengarten vorbei unter hohen Bäumen zur Koppel– erst hinunter und dann wieder einen sanften Hügel empor. Der Bach plätschte, Amselmännchen flöteten. Es roch nach Laub, frischem Rasenschnitt, Wasser, Rosen, Pferdeäpfeln und sogar noch eine Spur nach Holunder. Zutraulich trabten die Tiere ans Gatter. Miles streckte ihnen seine flache Hand entgegen.

»Mylady, Mylady!« Marie kam über die Terrasse zu ihnen gelaufen. »Haben Sie’s schon gesehen?« Die Haushälterin strahlte.

»Ja, was ist denn?«

»Ihr Rhodo blüht.«

»Unsinn, er blüht im Mai!«

»Doch, Mylady, ein Wunder! Er hat ganz viele neue Knospen…« Außer Atem blieb Marie vor ihnen stehen, ungläubig sah Kathryn sie an.

Miles lief schnell hinüber. Von dort brüllte er: »Es stimmt, Grandma! Der Rhodo blüht wieder!«

Ihr Herz stach, der Brustkorb wurde eng. Kathryn hielt kurz inne, schritt dann eilig weiter zu ihrer Rose von Darjeeling– und sie erschrak bis ins Mark. Ihr Mund wurde trocken. Minutenlang konnte sie nichts sagen. Es stimmte! Spärlicher als im Mai, aber unübersehbar, öffneten sich die scharlachfarbenen Blüten. O Gott, dachte sie, es ist so weit!

»Aber was ist denn?«, rief Miles erschrocken. Er sah, wie seine Großmutter bleich wurde und sich krümmte.

Das ist die Angstblüte!, dachte Kathryn. Sie fühlte sich, als hätte jemand ihren inneren Thermostat auf Schockfrosten gestellt. Der Baum wird sterben. Diese Blüten sind ein letztes Aufbegehren gegen das Unvermeidbare. Und wenn die Rose stirbt, dann wird es auch mit mir bald zu Ende gehen.

Es war, als würde eine eiserne Faust ihr Herz zusammenpressen. Der Schmerz raubte ihr den Atem. Sie ließ sich in einen Gartensessel sinken. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn.

»Warum freuen Sie sich denn nicht?« Marie verstand Kathryns Reaktion nicht. »O Gott, ist Ihnen nicht wohl, Mylady?«

»Wasser!«, stieß Kathryn hervor. Miles stob davon.

»Einen Arzt!«, rief Marie, »schnell, einen Arzt!«.

»Nein, nein, keinen Arzt!«, verlangte Kathryn schwach. »Es geht gleich wieder…Ich muss mich… nur einen… Augenblick hinlegen.«

Nachdem sie zwei Aspirin genommen und eine Stunde geruht hatte, fühlte Kathryn sich viel besser. Draußen dämmerte es. Ihr Mann hatte diese Stimmung nach Sonnenuntergang, die Blaue Stunde, immer besonders geliebt. Kathryn erhob sich und ging nach nebenan ans geöffnete Fenster ihres Privatsalons. Miles lag bäuchlings auf dem Rasen. Er untersuchte mit einer Taschenlampe und einer großen Lupe die Tierwelt zwischen den Gräsern. Jetzt blickte er hoch, und sie winkte ihm zu.

»Geht’s dir wieder gut?«, rief er.

»Ja, mach dir keine Sorgen.« Ihre Stimme klang brüchig.

»Spiel ruhig noch ein bisschen.« Schließlich hatte er Ferien.

Kathryn setzte sich an ihren Biedermeiersekretär. Hier konnte sie Miles im Auge behalten. Sie nahm einen Stift in die Hand und grübelte. Sie musste es endlich sagen– am Sonntag. Aber wie sollte sie anfangen? In ungezählten Tagträumen hatte sie es durchexerziert, doch jetzt schien ihr alles verkehrt. Die Wahrheit, überlegte sie, wie sagt man einfach die Wahrheit?

Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, zurück zu dem Tag, als sie die beiden Freunde aus Deutschland das erste Mal gesehen hatte. Neunzehn war sie damals gewesen und sehr gespannt auf die jungen Deutschen, die für einige Zeit bei ihnen im Teegarten von Geestra Valley zu Gast sein sollten…

Darjeeling – Geestra Valley

April 1930

Kathryn trug an diesem Nachmittag ein kornblumenblaues Kleid, das ab der Hüfte in Falten gelegt war und recht gewagt kurz unterm Knie endete, darüber eine dunkelblaue Strickjacke aus der Wolle von Tibet-Antilopen, die noch feiner war als Kaschmir. Sie hatte ihren kastanienbraunen Bubikopf frisch gewaschen und die dunkelblauen Riemchenschuhe geputzt. Ihre Wangen glühten vor Aufregung.

Es war ein kühler, klarer Apriltag. Doch verhängten wie meist Wolken die schneebedeckten Gipfel des Himalayagebirges. Schade, dachte Kathryn, dass die beiden Deutschen dieses Schauspiel nicht gleich zu sehen bekommen– der Anblick hatte bislang jeden noch so weit gereisten Besucher überwältigt. Die Männer planten nach dem geschäftlichen Teil eine private Forschungsexpedition durch Sikkim, das an Darjeeling angrenzende kleine Königreich. Kathryn beneidete sie glühend um ihr bevorstehendes Abenteuer.

Wie mochten sie wohl aussehen? O Gott, sie fühlte sich so kribblig! Die Melancholie der vergangenen Tage war wie weggeblasen.

Dass die Ankunft sich bereits um zwei Stunden verspätet hatte, musste nichts bedeuten. Kathryn atmete tief durch. Die First-Flush-Pflückung, die erste Teeernte des Jahres, hatte einige Tage zuvor begonnen. In der kristallklaren Luft lag der Duft, den sie über alles liebte– ein Duft wie nach allerfeinstem frischem Heu. Er drang aus den lang gestreckten Hallen, wo nur die zartesten Blätter und Blattknospen der Teesträucher auf luftigen Drahtförderbändern trockneten.

»Sie kommen, sie kommen!«, kündigten zwei dunkelhäutige Kinder an.

Alle Pflückerinnen, Arbeiter und deren Familien, die gerade noch aufgeregt auf dem Platz vor dem Haupteingang zum Geestra-Valley-Teegarten in mindestens fünf Sprachen durcheinandergeschwatzt hatten, verstummten und nahmen Haltung an. Vorne in der ersten Reihe erwartete Kathryn die Besucher neben dem indischen Manager und Stellvertreter ihres Vaters, Mr Brooks. Ihr Vater, der britische Teepflanzer Aldous Whitewater III., war am Tag zuvor mit seinem Chauffeur Tinley im Lieferwagen in die Stadt Darjeeling aufgebrochen. So konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen– die ersten Proben First Flush für einen Sammeltransport zur Teeauktion nach Kalkutta auf den Weg bringen und die jungen Männer in Empfang nehmen, die mit dem Toy Train anreisen wollten.

Knapp sieben Stunden mäanderte der Schmalspurzug durch dichte Urwälder mit kirchturmhohen Bäumen die ersten Ausläufer des Himalayagebirges empor. Sowohl Kathryns Vater als auch der Himalaya Club hatten angeboten, die Deutschen schon unten im Tal in der Stadt Siliguri mit dem Auto abzuholen. Aber sie hatten in den Briefen, die zur Vorbereitung zwischen Deutschland und Indien hin und her geschickt worden waren, betont, sie wollten unbedingt einmal mit der legendären Bahn fahren, die im nächsten Jahr ihr fünfzigjähriges Jubiläum feiern sollte. So konnten die Freunde Carl Jonas und Gustav ter Fehn die Veränderungen der fremden Landschaft und das kühler werdende Klima beinahe im Schritttempo erleben. Sie stammten beide aus der nordwestdeutschen Tiefebene. Schon die Höhen der Himalayavorläufer wirkten auf sie gigantisch, das Städtchen Darjeeling hoch oben ließ sich zu Beginn der Fahrt nur erahnen.

Sie kreuzten einen tosenden Bergbach, in der nächsten Kurve blickten sie in einen tiefen Abgrund. Wolkenfetzen schwebten bald nicht nur über ihnen, sondern auch unterhalb der Bahn. Die Dampflok schnaufte sich zwanzigprozentige Steigungen hoch, manchmal haarscharf vorbei an Wasserfällen und felsigen Schluchten.

»Ganz schön gewaltig«, kommentierte Carl grinsend die Abgründe, »kein Wunder, dass man hier karmagläubig wird.«

»Und das ist erst der Anfang«, freute sich Gustav, »die richtigen Himalayariesen sind noch viermal höher.«

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