Die sardische Hochzeit - Grit Landau - E-Book
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Die sardische Hochzeit E-Book

Grit Landau

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Beschreibung

Der große zeitgeschichtliche Familienroman mit viel Italien-Flair und eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, die den Leser auf die Insel Sardinien führt, von Erfolgsautorin Grit Landau Eine Schicksalswoche Italiens. Der Mythos einer uralten Insel. Eine unmögliche Liebe. Sardinien 1922, kurz vor Mussolinis Machtergreifung: Leo Lanteri, Kriegsveteran und Erbe einer ligurischen Olivenplantage, hat im Streit einen Faschisten getötet und muss untertauchen: Sein Vater schickt ihn nach Sassari auf Sardinien - für den smarten, jazzbegeisterten Leo das Ende der Welt. Doch auf der »vergessenen Insel« brodelt es, Sardinien steht wie der Rest Italiens am Rand eines Umsturzes. Auch Leo gerät bald zwischen alle Fronten. Denn auf dem Landgut des Mussolini-Anhängers Soriga trifft er auf die Liebe seines Lebens: Gioia, die eigenwillige Tochter des Hauses. Kein guter Zeitpunkt, um sich zu verlieben, denn die musikalisch begabte Gioia soll keine Woche später heiraten, den Spross eines ursardischen Clans von Pferdezüchtern - und die Traditionen dieser Familie sind mörderisch.

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Grit Landau

Die sardische Hochzeit

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Sardinien 1922, kurz vor Mussolinis Machtergreifung: Leo Lanteri, Kriegsveteran und Erbe einer ligurischen Olivenplantage, hat im Streit einen Faschisten getötet und muss untertauchen: Sein Vater schickt ihn nach Sassari auf Sardinien – für den smarten, jazzbegeisterten Leo das Ende der Welt. Doch auf der »vergessenen Insel« brodelt es, Sardinien steht wie der Rest Italiens am Rand eines Umsturzes. Auch Leo gerät bald zwischen alle Fronten. Denn auf dem Landgut des Mussolini-Anhängers Soriga trifft er auf die Liebe seines Lebens: Gioia, die eigenwillige Tochter des Hauses. Kein guter Zeitpunkt, um sich zu verlieben, denn die musikalisch begabte Gioia soll keine Woche später heiraten, den Spross eines ursardischen Clans von Pferdezüchtern – und die Traditionen dieser Familie sind mörderisch.

Inhaltsübersicht

PERSONENIKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6IIKapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11IIIKapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15IVKapitel 16Kapitel 17Kapitel 18DANKLITERATURLISTEGLOSSAR
[home]

»Furat chie venit da’e su mare.«

 

Wer über das Meer kommt,

will uns bestehlen.

 

(Sardisches Sprichwort)

[home]

PERSONEN

LIGURER

Sant’Amato, Provinz Imperia

Leonida »LEO« LANTERI, Erbe der frantoio Lanteri, einer Olivenplantage und Ölmühle. Blutjunger Leutnant im Ersten Weltkrieg, Überlebender der Isonzo-Schlachten

ALBERTO LANTERI, sein Vater, Padron der frantoio Lanteri

ENZO, sein Halbbruder und Konkurrent um das Erbe

SARDEN

Landgut Soriga

DON ANTONIO SORIGA, Gutsherr der tenuta Soriga, einem Landgut bei Sassari, das vor allem Wein und Olivenöl produziert

DONNA ELENA, seine verstorbene 1. Frau

DONNA INÉS, seine 2. Frau (und frühere Mätresse)

GIOIA, Don Antonios Tochter aus erster Ehe mit Donna Elena

BENIAMINO, der Sohn und Erbe aus zweiter Ehe mit Donna Inés

ESPOSITO, der Hauptverwalter des Gutes

ARTURO BOI, der Hilfsverwalter, ein Ex-Unterleutnant einfachster Herkunft

BONARIA TITÙ, Gioias Patin, eine Köchin und sardische pratica (Heilerin) mit einem fast magischen Händchen

TZIU FRANCÌ, ein Hundertjähriger mit Sinn für Humor

Gestüt Marras

TERESINA MARRAS, Matriarchin der Pferdezüchter-Familie Marras, zwölffache Mutter und Chefin des Gestüts. Auch Teresina kennt sich aus mit sardischer Magie, dem malocchio und der »Medizin des Auges«

IACONE, ihr verstorbener Mann

ETTORE, Teresinas geliebter Erstgeborener, im Krieg gefallen

PIERO, der Zweitgeborene, verwaltet das Gestüt für seine Mutter

GAVINO, Gioias Bräutigam, ein Ex-Frontkämpfer der brigata Sassari

SANTINO, im Krieg Sanitätshelfer, jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst

EFISIO, Teresinas jüngster Sohn

MISSENTA & LUCIA, die ältesten Töchter von Teresina Marras. Beide hatten vier weitere Schwestern, die teils im Kindesalter, teils an der Spanischen Grippe starben.

PEGASO, ein ausgemustertes Rennpferd, Urahn von Uberta de Mores, der fünfmaligen Gewinnerin des palio von Siena

Provinzhauptstadt Sassari

DOTTORE SPANU, ein ehemaliger Feldarzt der brigata Sassari, Mitbegründer der Sardischen Aktionspartei

LORENZO CAPRA, ein Händler von Kolonialwaren und Olivenöl

MINNIÀ CADEDDU, eine junge Arbeiterin in einer Gerberei

MARIO, ihr Bruder, Bäckerlehrling, Jungkommunist und General der »Bubenarmee« von Sassari

CHARLIE & JACKSON, die jazzbegeisterten Betreiber des »Creole Club« in der Altstadt von Sassari

ANDERE VOM FESTLAND

RAFFAELE D’AVENIA, selbst ernannter »Kampfdichter und Vordenker« des partito nazionale fascista (PNF) in Mailand

ISADORA, seine Tochter (aus der Ehe mit einer Britin)

ONOREVOLE ROSSI, ein hoher PNF-Funktionär und Abgeordneter des blocco nazionale (1921–1924), Dienstherr von Bonaria Titù in Mailand

»IL DUCE« BENITO MUSSOLINI (historische Figur), der faschistische Diktator Italiens 1922–1943

[home]

I

Verlobung

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

IS JANAS/ Die sardischen Feen (janas, von lat. Diana), Bewohnerinnen der »domus de janas«, der Feenhäuser, die sich überall verstreut auf der Insel befinden. Archäologen halten die Höhlen für Felsengräber aus der Jungsteinzeit, die Sarden selbst wissen es besser: Die Felskammern sind voller Magie und heidnischer Energie. In ihnen leben lichtscheue, zierliche Frauengestalten, die an goldenen Webstühlen kostbare Stoffe erschaffen. Diese Feen tun – je nach lokaler Legende – mal Gutes, mal Böses, sind mal verführerische Schönheiten, mal menschenfressende Hexen. Am Ende ihrer Zeit verwandeln sie sich in Stein.

Der Volksglaube weiß außerdem, dass, wann immer einem Sarden ein Schatten auf der Seele liegt, er in einem »domu de janas« in der Nähe seines Heimatdorfes übernachten sollte. Die Gegenwart seiner Ahnen wird ihn heilen und seinen Kummer vertreiben.

* * *

25. Oktober 1922 Porto Torres, Provinz Sassari

Als Leo Lanteri nach zwei Tagen auf schwerer, rollender See endlich Sardinien erreichte, verbarg sich die Insel hinter Wolken und Gischt.

Schon beim ersten Signal der Schiffsglocke erhob er sich von seinem Platz in dem viel zu niedrigen Passagierraum der ventura, schlüpfte in die Anzugjacke und verließ den Bauch der Fähre. Nur raus hier! So schnell es ihm seine elende Verfassung erlaubte, erklomm er über stählerne Treppen das Promenadendeck und vertrat sich die langen Beine. Er sog die salzige Luft tief in seine Lungen, fast als hinge er wieder am Sauerstoffgerät, und warf einen ersten Blick auf den Ort seiner Verbannung. Wo ist jetzt diese verfluchte Küste?

Die ventura stampfte in der Dünung. Ein harscher Wind zerriss den Qualm über dem einzigen Schornstein des Dampfers und zerrte an Leos Schiebermütze. Das Deck schwankte unter seinen Füßen. Er rettete sich an die Reling, starrte ins bewegte Grau und versuchte, die Fetzen dunklen Landes, die durch die dahinjagenden Wolken brachen, zu einer Küstenlinie zu verbinden. Ohne Erfolg. Stattdessen erinnerten ihn die schäumenden Wellenkämme und das Gewoge unter dem Schiffsrumpf daran, wie dringend er von Bord musste. Leo beugte sich vor, und unvermittelt überkam ihn ein Würgen, dazu Pochen und Brausen im Ohr. Nicht schon wieder!

Weiter hinten auf Deck bemerkte ein untersetzter Matrose seinen Zustand, rief etwas und lachte. Leo wandte sich ab und hieb mit beiden Händen auf die Reling.

Scheiße, was gibt’s da zu lachen? Komm zum Isonzo, da wollen wir mal sehen, wie schnell du das Kotzen kriegst!

Er zwang sich, ruhig durchzuatmen, und straffte sich zu einem imaginären Appell. Habt Acht! Mochte der Krieg auch schon vier Jahre vergangen sein, er half ihm in Momenten wie diesen. Presente! Leutnant Lanteri meldet sich zum Dienst! Leo biss die Zähne aufeinander und konzentrierte sich auf ein Blinken, das aus der Landrichtung kam, vermutlich ein Leuchtturm oder ein Signal von der Strafkolonie auf der vorgelagerten Gefängnisinsel Asinara. Schau gut hin!, sagte er sich, wenn du nicht aufpasst, kannst du dort immer noch landen. Und jetzt kneif den Arsch zusammen, das hier ist nichts. Gar nichts.

Keine Stunde später tauchten die bleichen Fassaden und der wuchtige Turm von Porto Torres aus dem Gewölk wie eine Geistererscheinung. Der Wind ließ nach, und ein Möwenschwarm eskortierte die Fähre bis in das Hafenbecken.

Leo hatte längst seinen Reisesack an Deck geholt. Die Enge im Innern des Dampfers hatte ihn zermürbt. Umringt von Mitreisenden, zählte er nun die Minuten bis zum Anlegen. Neben ihn drängte sich die Kaufmannsfamilie aus Sanremo, deren bildhübsche Tochter ihm erneut zulächelte. Leo drehte ihr den Rücken zu. Mach dich nicht unglücklich, Angelina, dachte er und wählte den Namen, den die Eltern des Mädchens während der Überfahrt oft gerufen hatten, schenk dein Engelslächeln lieber einem Mann, der dir im Leben was nützen kann.

Die Leeseite der ventura glitt an die Kaimauer, Taue flogen an Land und wurden um Poller geschlungen, Ankertrossen rasselten ins Meer. Dann schob man die Gangway zur Mole an den Schiffsleib heran. Leo kämpfte sich mit ausgefahrenen Ellbogen nach vorn. Dabei überhörte er die Flüche derjenigen, die es zu Recht erboste, von einem weggestoßen zu werden, der sie fast um Haupteslänge überragte. Nie wieder dieser Kahn, schwor er sich, und wenn ich mir vor der Rückreise Flügel wachsen lasse …

Doch so schnell war mit seiner Heimkehr nun auch wieder nicht zu rechnen, zumindest nicht nach der Order seines Vaters. Du bleibst da, bis ich dir telegrafiere. Schau dich nach der pecora nera um, aber nur, wenn du damit kein Aufsehen erregst. Vergiss nie: Die haben ihre Leute inzwischen überall. Lass mich machen und rühr dich nicht vom Fleck, bis du von mir Nachricht bekommst, dass die Sache erledigt ist.

Der Kai, an dem die Fähre nun unter heiseren Rufen und einigem Trara anlegte, wimmelte von Hafenarbeitern in verschlissener Kleidung. Magere Männer mit flinken Bewegungen. Arme Schlucker. Hilfskräfte, deren Eifer zeigte, wie dringend sie die Ausbeute dieses Tages brauchten. Viele hatte der Krieg gezeichnet: Sie hinkten, trugen eine Augenklappe oder kaschierten ein paar fehlende Finger. Sie wuchteten schwere Körbe mit silbrig glitzerndem Fang von den Fischerbooten. Einige hantierten mit Tauen und Brassen, andere schleppten Holzkisten, Reisekoffer, Stoffballen und sogar ein Koffergrammophon von Bord. Die meisten Arbeiter trugen wie er selbst einfache coppole auf dem Kopf, deren Schirme ihre Gesichter verbargen. Doch Leo wusste, dass viele von ihnen ähnlich scharfe Züge aufweisen würden wie die der Frontkameraden von der brigata Sassari, neben denen seine Einheit im Graben gelegen hatte. Viel zu nah, und viel zu lang. So lang, dass Leo, mochte er noch so oft über die »verdammten Sarden« schimpfen, irgendwann sogar ihre seltsame Sprache verstanden hatte.

Männer wie er waren das.

Überlebende. Außen und innen Beschädigte. Die den Krieg zwar gewonnen, ihren Frieden aber verloren hatten. Männer, die nicht mehr schlafen konnten, auch nicht bei ihren Frauen, wegen der Albträume. Die nachts dann lange ausblieben, in den Gassen aneinandergerieten und sich die Ohnmacht aus dem Leib prügelten. Männer, die dann manchmal auch etwas Dummes taten. Etwas sehr Dummes, denn was konnte es Dümmeres geben, als sich mit einem Squadristen anzulegen? Einem Squadristen, der dann auch noch – ach was, scheiß drauf!

Sobald das Gitter aufschwang, stürmte Leo über die Gangway. Beim ersten Schritt auf den Steinplatten des Kais entfuhr ihm ein Seufzer. Endlich fester Grund.

Trotz seiner hochgewachsenen Statur schien er niemandem aufzufallen – Leo trug vorsichtshalber einen seiner älteren Anzüge –, und nach einem kurzen Gang über den Kai, während dem er das Treiben im Hafen studierte, war er sich beinahe sicher, dass ihm niemand folgte. Trotzdem ließ er sich eine weitere Viertelstunde kreuz und quer durch die Gassen von Porto Torres treiben, alle Sinne geschärft für eventuelle Verfolger. Doch nichts. Nach diesem Manöver schlenderte er über enge Seitengässchen Richtung Bahnhof und hielt Ausschau nach einer Möglichkeit zur Weiterreise.

Die Temperatur war im Vergleich zum Vortag gefallen, und Leo nahm zum ersten Mal in diesem Jahr den Geruch des Winters im Süden wahr: Stockfisch und Holzkohle. Ein kalter Wind erhob sich, ihn fröstelte. Und der mannshohe Fahrplan an der Fassade der Bahnstation zeigte: Der nächste Zug würde erst abends gehen.

Es fahren vom Bahnhof aus auch Omnibusse, hatte ihm Enzo erklärt, wenn du Glück hast und die nicht gerade bestreikt werden. Ach was, geh von Streik aus, auf dieser Banditeninsel tut kaum einer, was er soll! In Sassari jedenfalls gehst du dann zu Lorenzo Capra, der hat sein Geschäft direkt neben der Kirche Santa Caterina und schuldet mir noch einen Gefallen …

Wie könnte es auch anders sein, dachte Leo mit leisem Groll. Gab es irgendwo einen Ölhändler, der Enzo noch nicht verpflichtet war? Sein Halbbruder, die Frucht eines Fehltritts seines Vaters mit der Haushälterin, war zu Kriegszeiten viel in Geschäften für die frantoio Lanteri unterwegs gewesen. Nur ein knappes Jahr jünger, hatten Enzo seine Jugend und ein leicht verkürztes Bein vor dem Kriegsdienst bewahrt. Und der ehrgeizige Schlaukopf hatte die Chance prompt für sich genutzt. Binnen dreier Jahre war er dem Vater zur unverzichtbaren Stütze geworden, während Leo, der legitime Erbe, angeschlagen und lungenkrank von der Front heimgekehrt war und der Familie seitdem mit seinen Eskapaden nur noch Scherereien machte.

Keine Spur von einem Omnibus. Und als Leo nach einigem Suchen den capostazione eine Zigarre rauchend am Ende des Bahnsteigs fand, erklärte ihm dieser, der letzte Zug für heute sei vor zehn Minuten abgefahren, und vor dem nächsten Abend ginge nichts mehr. Ein Streik der Eisenbahner anlässlich der Kundgebung in Sassari. Die politische Lage, nun ja, leider. Sciopero!

Inzwischen hatte es zu nieseln begonnen. Was nun? Leo sah sich um. Seine Übelkeit war verflogen, dafür plagten ihn jetzt Hunger und Durst. Er fischte nach der amarelli-Dose in der Brusttasche seiner Jacke und steckte sich ein Lakritz daraus in den Mund. Das würde seinen Magen etwas beschäftigen. Viel lieber hätte er geraucht, eine gute Selbstgedrehte – als junger Bursche war er überzeugt gewesen, dies täten alle echten Männer. Doch mit dem Rauchen war seit genau fünf Jahren Schluss. Ebenso Schluss wie mit den naiven Ansichten, wie sich angeblich zeigte, was ein echter Mann war.

Während die Pastille in seinem Mund schmolz, studierte Leo die umliegenden Gebäude. Neben dem Stationsgebäude entdeckte er eine Art Gasthaus. Ein schmuckloser Kasten mit abblätternder Farbe, vor dem ein Pferdekarren parkte, nur lose an einen Laternenmast gebunden, mit dösendem Zugtier. Und dann, zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Porto Torres, hatte Leo Glück. In einer schmalen Einfahrt neben dem Gasthaus erspähte er zu seiner Überraschung ein Automobil.

Und nicht irgendein Automobil, nein, einen neuen Lancia mit Viertaktmotor. Hochmodern, mit Einzelradaufhängung, dabei äußerst robust. Leo schätzte das Kraftpaket auf mindestens siebzig PS. Una bomba, hätte es sein Schulfreund Luigi Testa genannt, der Maschinen und Motoren genauso leidenschaftlich verehrte wie andere schöne Frauen. Aber warum steht ein Wagen wie dieser hier im Nirgendwo? Leo schulterte seinen Sack und betrat das Lokal.

 

Verdammte Sarden, schoss es Leo durch den Kopf, als sein Blick den Raum und die Menschen erfasste, haben nichts, brauchen nichts und halten das hier für ein vernünftiges Gasthaus. Ihn empfing eine Halle mit Bodenplatten aus Stein und erblindeten Glasfenstern, durch die fahles Licht sickerte. Gegenüber dem Eingang eine Holztheke mit Kaffeemaschine, bewacht von einem Dicken mit Schnurrbart. Über ihm an der Rückwand prangte ein vergilbtes Porträt des alten Königs Vittorio Emanuele II., und bestimmt hatte man hier seit der Vereinigung Italiens nicht mehr renoviert.

Etwa zwei Dutzend Männer saßen an blanken Tischen auf Holzstühlen in Grüppchen beisammen. Sie rauchten, unterhielten sich in ihrem altertümlichen Idiom, einige spielten Karten. Als die Tür hinter Leo mit einem Krachen ins Schloss fiel, richteten einige der Anwesenden ihre Blicke auf ihn, den Fremden.

Leo wartete einen Moment ab. Dann fragte er in die Runde: »Wer fährt das Automobil da draußen?«

Schweigen. Ausdruckslose Gesichter. Am Kartentisch nahm man das kurzzeitig unterbrochene Spiel wieder auf. Verflucht, wollten diese Sarden ihn etwa glauben machen, sie verstünden ihn nicht? Leo straffte sich und gab seiner Stimme den Tonfall, der ihm an der Front stets gute Dienste geleistet hatte.

»Hört her! Ich muss nach Sassari. Ich bezahle auch dafür. Wem gehört das Automobil?«

Einer der Kartenspieler wandte sich nun in leicht verwaschenem Italienisch an seinen Nebenmann.

»Der meint dich, Grazì, hörst du?«

»Hm«, brummte der Angesprochene, ohne aufzusehen, »ich fahr den Wagen nur.« Er zuckte mit den Schultern und vertiefte sich erneut in sein Blatt.

»Und für wen fahren Sie den Wagen, Signore?« Bei Leos förmlicher Anrede hob der Mann endlich den Kopf.

»Wer will das wissen?«

Leo zögerte. Je weniger er preisgab, desto besser. Doch dann sagte er: »Leonida Lanteri. Vom Festland. Aus Ligurien.«

»Sieh an, Ligurien«, versetzte der Kartenspieler, und alles lachte. Dann stand der Mann auf. Ein kompakter Mensch, bärtig und mit bäuerlichen Zügen. Kein großer Geist, doch der Blick seiner tief liegenden Augen zeugte von ruhigem Selbstvertrauen. Ein Sarde eben.

»Graziano Esposito«, stellte er sich vor und hob das Kinn. »Ich fahre den Wagen für meinen padrone. Ich bin Hauptverwalter eines der ältesten Landgüter hier oben im Norden.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Signore«, sagte Leo mit leisem Spott in der Stimme, »und könnten Sie sich auch vorstellen, mich nach Sassari mitzunehmen?«

Esposito musterte ihn von Kopf bis Fuß. Was er sah, schien ihm nicht sonderlich zu gefallen. »Ein feiner Herr also«, sagte er, »war so jung dabei und redet daher wie ein Offizier?«

Oha, ein Menschenkenner. Leo nickte.

»Offizier erst ab neunzehnachtzehn. Leutnant.«

Esposito schnalzte abschätzig mit der Zunge. »Tsss, vielleicht bei der Liguria, nur grüne Jungs da im Korps – bei uns hätt’s das nicht gegeben …«

Sie maßen sich stumm. Esposito hatte wachsame Augen. Damals, auf dem Karst, hatte Leo die Wachsamen gern neben sich gewusst. Sein Blick glitt an dem Sarden hinunter, streifte die versilberten Verschlüsse seiner Jacke und die Spielkarten in seiner breiten Hand. Dann entdeckte er über dessen Handgelenk eine bläuliche Tätowierung.

Lorbeerkranz, Schwert, Losung. Darunter eine römische Neun. Leo schaltete sofort und ergriff die Chance. Er wies auf Espositos Arm, holte Luft und legte los.

»Na so was, Kamerad! Erkennst du mich nicht? Und du willst ein Neuner bei den arditi gewesen sein?!«

Esposito stutzte. Seine Augen wurden schmal, er starrte ihn an, suchte nach vertrauten Zügen in seinem Gesicht. Doch Leo würde ihm dazu keine Zeit geben.

»Neuner lassen einen Kameraden doch nicht so hängen!«, dröhnte er. »Neuner stehen zu ihrem Wort! Weißt du nicht mehr, am Isonzo, auf dem Monte San Gabriele, als die Österreicher uns mit Gasgranaten beschossen?!«

»Am Monte San …? Du? Aber ich erinnere mich an keinen Offizier von der Riviera.«

Der Mann war nicht dumm.

»Was soll das heißen?!«, donnerte Leo. »Hast du etwa deine Frontgefährten aus Ligurien vergessen? Haben wir uns nicht Treue gelobt? Haben wir sie uns nicht sogar eingeritzt?!«

Espositos Blick wanderte Leos Arm hinab. Dieser schob einen Jackenärmel hoch und präsentierte die wulstige Narbe auf seinem Unterarm. »Ein Granatsplitter. Ich wünschte, ich hätte mein Zeichen noch.« Er zuckte mit den Achseln. »Aber so ändern sich die Dinge. Der Krieg hat alles verdreht, oder? Schau uns beide an! Du hast Arbeit, fährst den famosen Wagen deines padrone. Und ich, früher ein Offizier, verpass meinen letzten Zug und muss laufen …«

Leo ließ etwas Zeit verstreichen, ehe er fortfuhr. War er zu weit gegangen? Nervosität kroch in ihm hoch.

»Na ja, egal, ich muss los. Tat gut, einen von euch wiederzusehen …«

Leo hob die Hand zum lässigen Gruß, dann drehte er sich um und tat, als wolle er gehen. Er kam keine drei Schritte weit, da hörte er hinter sich Espositos Stimme.

»So warte doch, Kamerad! Ähm, Pardon, Tenente! Kein Problem, ich fahre gern, es geht gleich los …«

 

Wenig später, vor dem Gasthaus, ging Esposito direkt zum Wagen. Leo folgte ihm. Das war noch mal gut gegangen! Jetzt musste er nur schnell das Thema wechseln. Denn was wusste er schon mehr über den Einsatz der Neuner am Monte San Gabriele als jeder andere, der in jenem Sommer die Frontberichte gelesen hatte?

Zum Glück musste Leo nicht viel reden, denn Esposito hatte zusammen mit seiner anfänglichen Skepsis auch die Maulfaulheit abgelegt. Nun teilte er ihm, dem »alten Kameraden«, alles mit, was ihn umtrieb: Die gestiegenen Preise. Das Wetter. Die anstehende Ernte. Der malocchio, der seinen Schwager dazu getrieben hatte, sich am Dachbalken aufzuhängen. Der gestrenge padrone. Der Zwist mit seinem Stellvertreter, diesem Hurenbock. Das schöne Automobil, das er als einer von nur zwei Angestellten hatte fahren lernen dürfen. Nein, im Ernst, habe er je so ein famoses Automobil gesehen?! Esposito grinste über beide Backen und tätschelte das Armaturenbrett.

Der Lancia holperte derweil die löchrige Straße entlang, ließ Porto Torres und die Küste hinter sich und erreichte schon bald karges Land, das sich bis zum Horizont wellte.

Nach etwa einer Stunde passierten sie ein stilles Dorf, und Esposito berichtete in genüsslicher Breite von einer Hochzeit, die dort im Jahr zuvor in einem Blutbad geendet hatte. »Stell dir vor, ebenfalls ein Neuner war’s! Ein Cousin der Braut, ich kannte ihn seit Kriegsbeginn. Verschmähte Liebe trieb ihn her. Ist mit der lupara auf den Festplatz. Den Bräutigam hat’s als Ersten erwischt, dessen Leute haben sofort zurückgeschossen, madre meu, war das ein Gemetzel.« Espositos Augen glommen zufrieden unter den Brauen. »Und von denen, die noch leben, wagt sich keiner mehr vor die Tür. Vindicau, du verstehst?« Er machte mit der Hand eine Geste, die selbst Leo als das Zeichen für die sardische Blutrache erkannte. »Nun, so läuft das eben. Jetzt herrscht hier wieder Krieg.« Leo studierte die leeren Hauseingänge und verrammelten Läden. Wenn er uns überhaupt je verlassen hat, dachte er.

Sie ließen die letzten Häuser des Unglücksdorfes hinter sich und rollten erneut über Land. Eine weitere Stunde verstrich, ohne dass sich die Landschaft änderte. Leo, als Ligurer ein Mann der Steilküsten, Schluchten und engen Täler, staunte. Wie weit der Blick bis zum Horizont reichte! Nicht, dass es dort etwas zu sehen gegeben hätte. Sie fuhren und fuhren und trafen auf keine Menschenseele. Nur in der Ferne entdeckte Leo ab und an ein einsames Landgut, eine tenuta. Gebleichte Baumgerippe reckten ihre Arme gen Himmel. Halb zerfallene Viehhütten duckten sich in flache Senken, suchten Deckung, wo es keine gab. Wohin Leo auch blickte, überall harter Boden, dürre Macchia, ausgetrocknete Flussbetten und darüber ein schweigender Himmel ohne Vögel.

»Schon komisch«, murmelte Esposito in diesem Moment und studierte die Wolkendecke. »Hast du es auch bemerkt? Seitdem wir losgefahren sind, ist auf einmal der Wind weg. Das haben wir hier im Norden im Herbst eigentlich nie.« Er kratzte sich den Bart und sah so besorgt aus, dass Leo fragte: »Ja, und? Braucht ihr den Wind denn?«

Sein Begleiter sah ihn an, als sei er nicht recht bei Trost. »Ich bitte dich! Wer sonst vertreibt die demoni, wenn nicht der Wind?«

»Die bösen Geister?«

»Was sonst? Ammutadori, cogas, janas – habt ihr etwa keine Geister auf dem Kontinent?«

Esposito benutzte den Ausdruck, mit dem alle Sarden vom italienischen Festland sprachen. Il continente.

Leo zuckte mit den Schultern und murmelte etwas von Legenden. Dann studierte er schweigend den Himmel. Und wenn er drei weitere Jahre neben diesem Menschenschlag im Schützengraben läge – er würde die Sarden nie verstehen. Denn welche Geister sollte jemand noch fürchten, der vom Isonzo kam?

Codronzanu, Provinz Sassari, Region Logudoro

Gioia Soriga glaubte nicht an Geister. Doch an Tagen wie diesen, wenn der Wind auf den Feldern schwieg und die Stimme in ihrem Innern wieder wisperte und drängte, dann spielte sie die Lieblingssonate ihrer verstorbenen Mutter und legte mit den glasklaren Harmonien von Domenico Scarlatti einen musikalischen Schutzbann um das Gutshaus.

Es war noch nicht Abend, und Gioia erwartete jede Minute, in die Eingangshalle der tenuta gerufen zu werden. Sie würde dann so tun müssen, als träfe sie der Ruf völlig unvorbereitet, so wie es der Brauch verlangte.

Gioia, komm schnell. Da ist Besuch für dich!

Wer ist es? Ich komme nicht.

Du musst. Es ist dein Bräutigam, der dich fordert.

Was, wenn ich nicht will?

Du willst, mein Täubchen, du willst.

So lautete der Wortwechsel. Diese jämmerliche Komödie, die sie und ihre Stiefmutter Inés aufzuführen hatten, zehn Tage vor der Hochzeit. Und dann würde sie hinüber in die Halle gehen, ihr Vater würde eine seiner mit »Äähs« und »Eehs« gespickten Reden halten, und Gioia würde das Tuch aus Gavinos Hand entgegennehmen. Aus seiner Hand mit der kleinen Narbe zwischen Daumen und Zeigefinger, die sie ihm selbst einmal beim kindlichen Stockkampf beigebracht hatte.

Willst du, Gioia Soriga, dieses Tuch annehmen, das meine Mutter voller Liebe mit ihren eigenen Händen für dich bestickt hat?

Teresina Marras stünde bei diesen Worten hinter ihrem Sohn, vermutlich wie immer in rabenschwarzer Witwentracht. Und Gioia würde denken: Was für eine Farce! Als ob die Herrin des wichtigsten Gestüts der Region überhaupt Zeit hätte, ein läppisches Tuch zu besticken! Als ob es im Leben einer Frau nichts Wichtigeres gäbe als Ehemänner und Hochzeiten. Als ob eine Frau keine Träume haben dürfe, Träume, in denen sie frei wäre und sich selbst gehörte und, ach, …

Doch laut würde sie etwas anderes sagen, nämlich: Ja, ich nehme es. Genauso, wie es alle von ihr erwarteten.

Gelobt sei unser Schutzpatron San Paolo, würde Gavino bekräftigen. Und dann wäre es abgemacht, mochte die Stimme in Gioias Innerem wispern und klagen, dass ihr davon schier der Kopf platzte. Denn was die Tradition verlangt, muss man ihr geben. Und was Gott eint, darf der Mensch nicht trennen. Oder?

Gioia konzentrierte sich wieder auf die Tastatur des Flügels und Scarlattis perlende Läufe für die rechte Hand. Immerhin: Den Flügel würde sie mitnehmen in ihr neues Zuhause, mochte Inés so lange lamentieren, wie sie wollte. Ihre Mutter hatte ihn einst angeschafft und ihr noch zu Lebzeiten geschenkt. Der einzige Konzertflügel im Norden Sardiniens. Nur das Beste war Donna Elena gut genug gewesen für ihr einziges Kind. Das Kind, dem sie versprochen hatte, ihm endlich einmal das Festland zu zeigen, sobald sie wieder gesund wäre, ja, ganz gesund, sofern Gott es wollte …

Gioia setzte den Schlussakkord. Mit dem Verhallen des letzten Tons löste sich der Schutzbann, und das Schweigen des Windes senkte sich erneut über den Raum. Doch mitten in die Stille hinein knallte Gioia den Tastaturdeckel zu und fasste einen Entschluss.

Es muss sein.

Jedoch musste sie noch fast eine Stunde warten. Als Donna Inés endlich kam, um ihr Sprüchlein aufzusagen und sie zu holen, hatte Gioia in ihrer Nervosität sogar schon die gesamte Post durchgesehen und darunter zu ihrer Freude einen neuen Brief ihrer Patin aus Mailand entdeckt.

Gioia schob den Brief schnell in die Tasche ihres Rocks, hastete zum Wandspiegel, strich sich das nussbraune Haar hinter die Ohren und folgte ihrer Stiefmutter in die Halle. Dort, umringt von den Möbeln aus dunklem Holz, standen sie herum wie die Figuren in einem Stück des Provinztheaters von Sassari: Neben der Konsole die massige Gestalt ihres Vaters Don Antonio Soriga, den eisengrauen Bart zur Feier des Tages frisch gestutzt. Er hielt Beniamino an der Hand, Gioias vierjährigen Halbbruder und künftigen Gutserben. Ihre Stiefmutter Inés, très chic in wadenkurzer Seide, gesellte sich dazu, und Beniamino rutschte umgehend hinter den Rock seiner Mutter.

Ihnen gegenüber, wie eine Abordnung Unterhändler vor der großen Schlacht, versammelte sich Gioias künftige Sippe, die Familie Marras. Nur dass es hier keinen Krieg zu verhandeln galt, sondern ein Friedensfest. Erst seit drei Generationen ruhte die Fehde zwischen den benachbarten Familien Soriga und Marras. In den ersten Jahren vor allem, weil auf beiden Seiten kaum genug Lebende übrig geblieben waren, um das Blutvergießen fortzuführen. Später dann verhinderten die Vermittlung der Patres von San Paolo und die Not durch Krieg und Spanische Grippe, dass die Händel zwischen den beiden wichtigsten Familien von Codronzanu wieder aufflammten. Im Alltag gab man sich längst freundlich: Man feierte gemeinsam alle Feste im Ort, ließ die Kinder miteinander spielen, Gioia war im Gestüt seit frühester Jugend ein und aus gegangen. Die Marras tranken den Cannonau des Guts, und Don Antonio bezog seine Reitpferde vom Gestüt. Doch ein offizieller Friedensschluss stand noch aus, und Gioia wusste, dass ihre zukünftige Schwiegermutter Teresina Marras große Hoffnungen darauf setzte, die blutige Vergangenheit mit der geplanten Hochzeit endgültig abzuschließen.

Und wer will dir verdenken, dass du deine Kinder schützen willst, dachte Gioia, als ihr Vater seine vokalgespickte Willkommensrede hielt und sie Teresina, nun von ihren Söhnen und Töchtern umringt, betrachtete.

MARRAS, allein der Name ist so alt wie die nuraghe auf deinem Grund. Bald gehöre ich also zu deiner Familie. Bald entzündest du auch zu meinem Schutz deine Wacholderfeuer. Und es klingt verrückt, aber heute kommt es mir fast so vor, als wartete ich darauf schon mein ganzes Leben.

Das Oberhaupt der Marras-Sippe trug wie erwartet Schwarz; Teresina versäumte es nie, ihr Umfeld an ihren Witwenstand zu erinnern, und damit an die Freiheit von den Weisungen eines Gatten. Ihr schmales Gesicht mit der geraden Nase wirkte seltsam alterslos, vermutlich war dies eine Nebenwirkung ihrer weithin bekannten Künste als sardische pratica. Teresina erahnte manches Unheil und beherrschte die »Medizin des Auges« wie keine Zweite. Viele im Ort hatten vor ihr deshalb eine Heidenangst. Gioia nicht. Ihr Blick wanderte weiter, grüßte stumm die neuen Verwandten.

Missenta und Lucia, inzwischen grüßt ihr mich. Früher war ich Luft für euch …

Zu Teresinas Rechten posierten ihre beiden ältesten Töchter in scharlachroten Brusttüchern. Beide waren aufs Beste verheiratet mit Brüdern aus dem benachbarten Campomela und hatten längst eigene Familien.

Armer Piero, du lebst im Schatten eines Toten …

Teresinas Linke schützte ihr zweitältester Sohn, der nach dem Kriegstod ihres heiß geliebten Erstgeborenen Ettore die Verwaltung des Gestüts übernommen hatte. Piero war der einzige Marras mit hellem Haar, was jedoch kaum auffiel, da es ihm trotz seiner Jugend schon nahezu ausgegangen war.

Und du, Efisio, lernst auch keine Manieren mehr!

Neben Piero lümmelte sich Teresinas Nachzügler, der siebzehnjährige Efisio, in einem der bereitstehenden Sessel und blickte gelangweilt an Gioia vorbei. Doch davor, in sardischer Tracht an der Spitze der Delegation, trat jetzt ihr Verlobter auf sie zu, das vertraute Gesicht strahlend vor Freude.

Gavino, alter Freund aus Kindertagen, so stehen wir also hier und sollen heiraten. Ist das eine gute Idee?

»Gioia, meine Liebe, welch ein Tag für uns! Es ist mir eine Ehre«, sagte er und deutete eine Verbeugung an.

Gavino Marras, gerade vierundzwanzig Jahre alt, hätte wahrscheinlich jedes Mädchen im Ort als überaus gut aussehend bezeichnet – als ruiu que chibuddone, rot wie eine dicke Zwiebel. Ein gut gewachsener junger Mann, unversehrt, mit rötlich dunklem Haar und den Gesichtszügen eines Sarden von altem Blut. Gioia wusste, sie konnte mehr als froh sein über einen solchen Ehemann, zumal Gavino einen weiteren Vorteil aufwies: Er mochte sie.

Dass die Marras keine spanischen Granden unter ihren Ahnen besaßen und den Großteil ihres Geldes erst mit Remonte-Pferden für den Krieg gemacht hatten, darüber ließ sich hinwegsehen. Und würde Gioia noch einen Besseren finden? Wohl kaum! Ihr Vater Don Antonio hatte doch schon knapp vier Jahre zuvor das Interesse an seiner Tochter verloren – 1918, als ihn die Spanische Grippe von seiner lästigen ersten Frau befreite und seine Mätresse Inés ihm endlich den lang ersehnten Erben gebar.

Gavino reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie, hielt sie fest. Er und ich, wir werden es gut haben. Was stört mich also? Aber … es muss geklärt sein! Während Gioia noch überlegte, langte ihr Verlobter schon in die Tasche seiner Hose und zog einen bestickten Seidenschal hervor.

»Willst du, Gioia Soriga, dieses Tuch annehmen, das meine Mutter voller Liebe mit ihren eigenen Händen …«

»Moment!«, unterbrach sie ihn. Sein überraschtes Lächeln sorgte dafür, dass ihr die nächsten Worte nicht ganz so schwerfielen. »Ich hätte nur noch eine Bitte«, sagte sie in die Runde. »Es ist wichtig.«

»Wie? Was? Aber … das Festessen wartet!«, rief Donna Inés, die wie immer bestrebt war, ihre Position als Gutsherrin hervorzuheben. Gioias Vater stieß ein unwilliges Grunzen aus, und Teresinas Augen verengten sich. Nur Gavino drückte ihre Hand und sagte: »Alles, was du willst, meine Liebe. Dies ist deine Wahl und dein Tag.«

Gioia schluckte und sammelte sich. Jetzt oder nie!

»Bevor wir beginnen, bitte ich um ein Gespräch mit meinem Verlobten. Allein.« Mit einem entschuldigenden Blick in Donna Inés’ Richtung setzte sie hinzu: »Es wird nicht lange dauern.«

Teresina Marras runzelte die Stirn, und auch Gavinos Geschwister sahen sich fragend an. Was wollte man mit dieser Verzögerung bezwecken? Musste man sie als Beleidigung werten? Und falls ja, wie sollte man ihr begegnen?

Don Antonio machte ein strenges Gesicht.

»Gut, wir warten. Aber nur fünf Minuten.«

Gioia murmelte einen Dank und bat Gavino, ihr in den Salon zu folgen. Und dann waren sie endlich allein.

Sassari, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz

So menschenleer und öde das Land gewesen war, so belebt gab sich die zweitgrößte Stadt der Insel. Leo staunte: Halb Sardinien schien sich an diesem Tag in Sassari zu versammeln, die Stadt summte wie ein Bienenstock. Welche Kundgebung würde es hier wohl geben, eine der Kommunisten oder eine des inzwischen fast allgegenwärtigen PNF, des Partito Nazionale Fascista?

Leo hatte noch im Fährhafen an einem Zeitungsstand verfolgt, wie der nationale Parteikongress der Faschisten in Neapel die Titelblätter beherrschte. Keine schöne Lektüre: Benito Mussolini hatte in einer seiner Brandreden erneut einen »Marsch auf Rom« angekündigt, seine faschistischen Schlägertrupps – die mörderischen squadre d’azione – waren zu Tausenden durch die Innenstadt Neapels marschiert. Drohte so etwas auch hier? Und wie lange würde dann noch unentdeckt bleiben, was mit diesem Squadristen daheim in Sant’Amato geschehen war? Leo studierte die Fahnen im Gewimmel. Einige trugen Hammer und Sichel. Gott sei Dank, Rote! Leo bedachte seinen Begleiter am Steuer des Automobils mit einem vorsichtigen Blick. Wem galt Espositos Sympathie? Viele der glühendsten Faschisten waren ehemalige arditi. Besser, er hielte sich mit politischen Äußerungen bedeckt. Ja, das war überhaupt das Beste für ihn: raushalten und in Deckung bleiben.

Die Einwohner von Sassari sahen das aber offensichtlich anders. Die Luft flirrte förmlich vor Erwartung. Von allen Plakaten schrie es nach Umsturz. Frauen verteilten Rosen und Fähnchen, Männer stolzierten mit Zigaretten im Mundwinkel über den Gehweg, die Hände am Jackenaufschlag oder in den Hosentaschen. Man war sich nicht recht einig, in welche Richtung die Revolution gehen sollte, in die rote oder in die schwarze. Doch an jeder Straßenecke wurde spekuliert und gestikuliert, und jeder in Sassari, so erschien es Leo, wusste etwas zu sagen:

»Diese Zündelei der Roten wird uns den Kopf kosten!«

»Ich sag euch eins: Rom braucht einen starken Mann.«

»Aber nicht Mussolini, diesen Opportunisten.«

»Ich hab den sogar mal gewählt, da war er noch Sozialist!«

»Rom ist ein Narrenhaus. Wo soll das nur enden?«

Sardinien, ebenso wie der Rest Italiens, stand zwei Jahre nach den roten Unruhen erneut an der Schwelle eines politischen Umschwungs. Nur dass das Pendel diesmal, befürchtete Leo, zu weit schwingen würde.

Esposito hielt das Automobil in der Mitte des Corso della Trinità, dennoch kamen sie oft nur im Schritttempo voran. Kurz vor der Altstadt ging dann nichts mehr, und Esposito setzte Leo am Straßenrand ab.

»Mach’s gut, Kamerad«, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist hier schneller zu Fuß, und ich muss weiter. Santa Caterina liegt mittendrin, kannst du eigentlich nicht verfehlen, sonst frag einfach. Aber pass auf, dass dich der rote Mob nicht erwischt, heute bei der Kundgebung.« Er ließ zum Abschied die Hupe quäken, dann setzte sich der Wagen mit einem Knall in Bewegung und rollte weiter.

Va bene, dann mal los. Leo schulterte den Reisesack und tauchte ins Gewimmel der Altstadt ein. Ein Fehler, wie sich bald herausstellte. Schon nach kürzester Zeit wurde das Gedränge immer größer, und er bekam kaum noch Luft. Die Menschen strömten allesamt Richtung Osten, Leo konnte nur mitlaufen. Von Santa Caterina keine Spur, dafür ging es über enge Plätze und Gässchen immer weiter und weiter. Es dämmerte, und man entzündete Fackeln, deren Rauch Leo schier unerträglich in den Augen brannte, scharf und beißend, fast so beißend wie … Nein! Das geht. Es ist noch auszuhalten. Doch Leos Beklemmung wuchs. Er suchte an den Hausfassaden nach Rettung in Form eines Pensionsschilds – jedes noch so winzige Zimmer erschien ihm wie eine Zuflucht –, doch sein Blick stieß nur auf verschlossene Läden, leere Wäscheleinen und rote Fahnen. Auf diese Weise gelangte er nach längerer Odyssee im Gewühl der Massen in den neueren Teil der Stadt.

Sassari ist ein Fest, hatte er Enzos Stimme im Ohr, gerade die Neustadt mit ihren breiten Straßen. Sicher, kein Vergleich mit Imperia oder Sanremo – aber diese Palazzi aus Rosenmarmor, das hat was. Und dann die Universität, die Plätze, die Cafés und die Frauen! Die Frauen, Leo! Ich schwöre bei Gott, diese Sardinnen – nie hab ich schönere Frauen gesehen! Leider sind die meisten so stolz, dass man kaum einen Stich landet. Tja, so hat alles seinen Preis. Aber Sassari, fratellino, Sassari wird dir gefallen!

So hatte Enzo beim Abschied dahergeredet, ihn Brüderchen genannt, als stünde ihm dies zu, und ihm den Reisesack in den Arm gedrückt. Als Leo sich nun daran erinnerte, stieg Wut in ihm auf. Na, ganz sicher hoffst du, dass mir Sassari gefällt. Du wünschst dir ja auch, dass ich von hier nie mehr zurückkehre.

Unterdessen landete er im Strom der Massen auf dem gigantischen Quadrat der Piazza d’Italia im Herzen der Stadt. Hier konnte er endlich wieder atmen. Die Weitläufigkeit des Platzes bot allen Raum, das Gedränge verlief sich zwischen den Prachtbauten und der Präfektur. In der Mitte der Piazza, gesäumt von vier Dattelpalmen, bewachte eine Statue von Vittorio Emanuele II. das Treiben. Doch was der steinerne Großvater des nunmehr amtierenden Königs am heutigen Abend zu sehen bekam, hätte dem Monarchen zu Lebzeiten wohl kaum gefallen. Denn das gemeine Volk hielt das Herz der Stadt besetzt. Überall auf der Piazza und vor der Präfektur wimmelte es von roten Fahnen und zerlumpten Gestalten. Minenarbeiter mit Bergmannskappen, Fuhrleute, Dienstmädchen und Gassenjungen in kurzen, verbeulten Hosen – alle versammelten sich vor dem Palazzo della Provincia und schleuderten ihren Unmut gegen die säulenverzierte Fassade.

»Nieder mit der Monarchie!«

»Prefetto Sani, du Verräter!«

»Alle Macht den Arbeitern!«

»Alle Macht dem Proletariat!«

So schrien sie, und es klang fast wie bei den Aufmärschen und Besetzungen während des biennio rosso kurz nach Kriegsende – in Turin, in Mailand und Genua –, als die Kommunisten und Sozialisten noch vereint gewesen waren und aus Italien fast ein kleines Russland geworden wäre. Nicht mein Kampf, dachte Leo und studierte stattdessen die umliegenden Arkaden, in der Hoffnung, dort eine Bar oder Bäckerei zu entdecken. Nachdem seine Anspannung langsam nachließ, kam sein Hunger wieder. Er hatte zuletzt auf der Fähre etwas gegessen – ein vertrocknetes Hörnchen zu einer dünnen, braunen Brühe, die wie Kaffeeersatz schmeckte.

Am Rande der Piazza, vor den Arkaden eines Palazzo von fast venezianischem Aussehen, entdeckte er einen Stand mit Schmalzgebackenem. Er besorgte sich eine Dreieckstüte ölig glänzender Zitronenkrapfen und musste sich dazu zwingen, die ersten Bissen des warmen Gebäcks ausreichend zu kauen. Währenddessen studierte er das Geschehen.

Den breiten Aufgang und die steinerne Empore vor dem Eingangstor der Präfektur sicherten zwei Dutzend Uniformierte, sodass von dort niemand zum Tor gelangen oder dieses natürliche Podium nutzen konnte, um zu den Menschen auf der Piazza zu sprechen. Dem als Verräter beschimpften Präfekten Sani erschien ein wenig Abstand zum Volkszorn wohl ratsam. Die Organisatoren der Kundgebung hatten jedoch für Ersatz gesorgt: In der Platzmitte, unter dem Königs-Standbild, parkte bereits ein Leiterwagen, auf dessen Ladefläche einige Holzkisten zu einem Podest aufgestapelt worden waren. Unter dem Jubel des Publikums erkletterte nun ein drahtiger Bursche mit Schiebermütze diese improvisierte Rednertribüne und reckte beide Arme hoch in die Luft.

»Sassarriiiii!!«

Die durchdringende Stimme des Redners kippte, und Jubel brandete über den Platz. Leo, eingekeilt zwischen Bergleuten und Fabrikarbeiterinnen, konnte nicht anders, als zuzusehen.

»Totò Ledda! Totò Ledda!«, rief ein mageres Mädchen mit Madonnengesicht neben ihm. Die Kleine ging ihm kaum bis zur Schulter, ihre Wangen glühten vor Begeisterung. »Hört, hört! Totò Ledda spricht!«

Der so Bejubelte wartete nicht ab, bis sich seine Zuhörer halbwegs beruhigt hatten, sondern fuhr nach einem kurzen Luftschöpfen fort, in die Menge zu brüllen.

»Ihr alle! Bürger von Sassari, Brüder und Genossen! Sarden! WACHT AUF! Die Zeit läuft ab. Wollt ihr wissen, welche Zeit ich meine? Wollt ihr hören, was ich zu sagen habe?«

Johlen antwortete ihm, ließ die Luft erbeben. Leo biss in seinen zweiten Krapfen, ein besonders dickes, fetttriefendes Exemplar.

Mmhm, köstlich. Und es sieht nicht so aus, als ob sich die Roten hier auf der Insel um ausreichend Gefolgschaft sorgen müssten.

Während das magere Mädchen neben Leo ihn und seinen süßen Besitz in der Tüte verstohlen beäugte, fuhr der Bursche, den es »Totò Ledda« gerufen hatte, mit seiner Tirade fort.

»Erinnert ihr euch, wie wir krepiert sind für Italien? Für diesen König aus Savoyen? Erinnert ihr euch, was wir am Isonzo erleiden mussten? Hat uns irgendjemand gefragt, ob wir da auch hinwollten – an den gottverdammten Isonzo?!«

Da ist er wieder. Der Name.

Der Krapfen in Leos Mund bekam einen ranzigen Beigeschmack, und er wurde von einem inneren Zittern geflutet, wie immer, wenn jemand vom Karst sprach. An Leddas Rede war etwas dran: Die Sarden, in den Augen der meisten Italiener nur Banditen und Hirtentölpel, hatte man stets an vorderster Front eingesetzt. Als Kanonenfutter für die Österreicher. Nur gegen Ende hin, als die sardischen Frontkämpfer längst Legende geworden waren, mussten sie beim Sturmangriff nicht mehr mit dem Namen Savoyens, des Herrschergeschlechts, das im vereinten Italien und damit auch auf Sardinien die Könige stellte, auf den Lippen in den Tod gehen, sondern durften endlich den Namen ihrer Heimat brüllen: »SARDEGNA!« Leo studierte die abgearbeiteten Gesichter der Umstehenden.

Und was brüllt ihr jetzt?

»Wir haben sie gefragt«, setzte Totò Ledda wieder an, »warum sollen wir kämpfen? Warum sollen wir für die Kontinentalen sterben, die uns verachten und unser Land ausbeuten? Land, das uns gehört, doch auf dem wir leben und arbeiten müssen wie Vieh!«

Zorniges Raunen in der Menge. Ein Witzbold muhte, wurde jedoch sofort zum Schweigen gebracht.

»Ja, wie Vieh arbeiten wir auf den Feldern! Und wie die Würmer in ewiger Finsternis graben wir in den Bergwerken. Doch halt! Man hatte uns da doch etwas versprochen, erinnert ihr euch? Kämpft für uns, und wir geben euch Land, hieß es damals. Ja, eine Landreform haben sie uns versprochen. Und wir waren so blöd, ihnen zu glauben. Denn wann hätten sie jemals Wort gehalten, die feinen Herren in ihren Anzügen?«

Wütendes Stimmengewirr kam als Antwort. In der Dämmerung zuckte das Licht brennender Fackeln über die blutroten Fahnen. Rauchsäulen stiegen zitternd in den windstillen Abend. Es wurde nun rasch dunkel und Zeit, sich nach einer Unterkunft umzusehen. Leo nahm sich einen letzten Krapfen, er hatte genug vom öligen Gebäck. Als er merkte, dass seine magere Nachbarin ihn immer noch beobachtete, nickte er ihr zu und drückte ihr die noch halb volle Krapfen-Tüte in die Hand. Das Mädchen murmelte einen Dank, auf seinem Gesicht erschien ein glückliches Strahlen, und Leo traf es wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Madonna, kann die Kleine lächeln!

Für einen Moment vergaß er die Kundgebung und alles um sich herum und badete allein im Glück dieses Mädchens. Leo fühlte sich auf einmal wieder so jung, wie ihn seine Geburtsurkunde auswies, und beschloss, noch ein wenig zu bleiben.

Vom Leiterwagen kam jetzt ein Krachen, Totò Ledda war von den Holzkisten zurück auf die Ladefläche gesprungen und stürmte nun mit wutverzerrter Miene nach vorn an den Rand des Leiterwagens, Auge in Auge mit seinem Publikum.

»Mit alldem ist jetzt Schluss, Genossen! Wir wollen jetzt unseren Anteil. Aber reden die hohen Herren mit uns? Hören sie sich an, was wir fordern?«

Ein Schrei wie aus tausend Kehlen antwortete: »NEIN!«

»Sie meinen, das Vieh gehöre aufs Feld und der Wurm in die Mine, nicht an ihren Tisch. Sie haben sich sogar Kettenhunde zugelegt, geifernde Bestien mit schwarzen Hemden und Schlagstöcken, überall fließt schon unser rotes Blut, tausendfach! Und schützt uns die Regierung? I wo! Denen ist es nur recht, wenn unsere Idee mit uns stirbt! Und seht nach Neapel, da rottet es sich gerade zusammen, dieses Faschistenpack vom PNF. Ins piekfeine Grand Hotel Vesuvio lädt Mussolini seine obersten Schergen. Bei Austern und Champagner planen sie unsere Vernichtung! Ja, Genossen, jetzt herrscht wieder Krieg. Und nicht nur drüben in Neapel oder Rom, nein, auch hier auf Sardinien. Doch dieser Krieg ist heimtückischer als alles, was wir bislang kennen …« Totò Ledda nahm seine Zuhörer ins Visier, begann mit einem Flüstern und wurde dann immer lauter. »Er kriecht in jede Straße. Jedes Haus. Jede Familie. Wacht auf! Glaubt nicht, ihr werdet verschont. Steht auf! Denn bevor dieses Jahr endet, entscheidet sich euer Schicksal. Und dann wird Blut fließen in den Straßen von Sassari!«

Den letzten Satz hatte Ledda wieder gebrüllt, und die Menge explodierte. Jetzt gab es kein Halten mehr. Leo fand sich umringt von schwitzenden Leibern und erhitzten Gesichtern. Die Menschen drängten sich enger zusammen, skandierten »Led-da! Led-da!« und schwangen die Fahnen. Die Luft schien zu vibrieren. Und Leo steckte erneut fest.

Mit einem Mal hörte er hinter sich im Dunkel das hohle Klappern zahlreicher Hufe auf Pflasterstein. Es kam aus den umliegenden Gassen der Piazza. Leo reckte den Hals, versuchte, einen Blick zu erhaschen, entdeckte die Uniformen im Zwielicht: Guardie Regie.

Die Berittenen besetzten die Eingänge aller Gassen, die von der Piazza wegführten. Sie hielten die Pferde kurz. Verhaltene Kommandos flogen zwischen den einzelnen Abteilungen hin und her. Dann schob sich eine Abordnung nach vorn, bildete einen weiten Halbkreis, eine stampfende, schnaubende, pechschwarze Wand in Polizeiuniform. Und dann, auf einen knappen Befehl hin, nahmen alle gleichzeitig die Gewehre von den Schultern.

Mein Gott, das werden sie doch nicht tun!

Leo wurde eiskalt. Ganz langsam drang auch durch die Gruppe der Protestierenden die Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte, dass man womöglich in der Falle saß. Und es wurde noch schlimmer.

»Eh! Bist du auch einer von denen?«, kam es auf einmal von rechts. Leos Nebenmann, ein grobschlächtiger Fuhrknecht mit glasigem Blick, stierte ihn böse an. »So einen schönen Anzug kriegst du doch nur auf dem Kontinent. Was tust du hier? Schnüffelst rum, was?«

Schöner Anzug?! Ist der noch bei Trost? Leo sah irritiert an sich herab. Doch bevor er dem Kerl antworten konnte, drehte der sich um und brüllte: »Leute, hier ist einer! So ein Drecksfaschist, der sich als Arbeiter ausgibt, um hinter uns herzuspionieren. Der Kerl hat sich sogar eine Arbeitermütze zugelegt! Aber hört mal: Sein Anzug ist doch viel zu sauber! Wollen wir ihm nicht helfen, seine Tarnung zu verbessern?« Mit diesen Worten packte er Leo abrupt am Revers und stieß ihn rücklings gegen einen anderen Protestler, der ihm prompt einen Ellbogen ins Kreuz rammte. »Pass doch auf!«

Leos Atem beschleunigte sich. Instinktiv hob er die Arme und Fäuste, duckte sich und ging in Kampfstellung. Das letzte Stück Krapfen warf er weg.

Verdammte Sarden!

Kapitel 2

SU TRAIGOLZU / Diese Kreatur, ein gehörnter Unhold, haust angekettet in der Tiefe des Meeres. Immer am 14. August um Mitternacht lösen sich die eisernen Fesseln des Traigolzu. Dann taucht er auf, um die Insel für genau vierundzwanzig Stunden mit Unheil zu überziehen, bevor der Zauber ihn in der darauffolgenden Nacht wieder an den Meeresgrund kettet. Während dieser Zeitspanne gilt es auf Sardinien als äußerst leichtsinnig, im Meer schwimmen zu gehen, denn man könnte jederzeit vom Traigolzu ergriffen und in die Tiefe gezogen werden. Man erzählt sich auch, dass der Traigolzu erst zufrieden ist, wenn er während seiner kurzen Zeit der Freiheit und der Suche nach armen Seelen, die er mit sich nehmen kann, einmal die gesamte Insel umrundet hat. Während dieser Unhold umgeht, zieht er lange, eiserne Ketten hinter sich her, was einen Heidenlärm veranstaltet. Wenn also jemand auf Sardinien besonders laut ist, wird er mit dem Traigolzu verglichen.

* * *

Sassari

Minnià Cadeddu aß für ihr Leben gern Krapfen. Ob gekringelte parafrittus mit Zitronenaroma, tzìpulas zu Karneval oder mächtige, honigtriefende seadas, sie liebte alle Sorten. Leider gab es derart Feines nur selten zu essen, zumindest für so ein bettelarmes Gör wie sie. Doch heute war ein großer Tag, heute rief der PSI Sardiniens, der Partito Socialista Italiano, nach langen Wochen der Mobilisierung zur großen Versammlung auf die Piazza d’Italia, heute würden sie es dem Präfekten und den anderen hohen Herren zeigen. Minnià hatte zudem am frühen Morgen ein paar findige Bäcker dabei beobachtet, wie sie auf dem Platz behelfsmäßige Fressbuden errichteten, vermutlich für die erwarteten Genossen aus dem Sulcis, einem Gebiet im Südwesten der Insel, und den Silberminen von Argentiera. Es sah also nicht nur für die Sache der Partei, sondern auch, was die Krapfen betraf, mehr als gut aus. Und als Minnià jetzt im Fluss der Menschenmenge zur Kundgebung strebte, ausgerüstet mit einem roten Papierfähnchen, da fasste sie den Vorsatz, die Piazza nicht ohne eine Tüte Krapfen zu verlassen, komme, was wolle!

Minnià war überdies gespannt auf die Reden von Ledda und Corsi, die von ihr am meisten bewunderten Arbeiterführer. Ja, vielleicht riefe man sogar ihren Bruder auf das Podium, so wie im Winter beim Aufmarsch am Bahnhof, als es um die Jugend der Partei gegangen war.

Mario hatte ihre gemeinsame Wohnung an diesem Morgen schon vor Sonnenaufgang verlassen und gemeint, es gebe noch tausenderlei Dinge vorzubereiten. Und, nun ja, er habe das nicht zu entscheiden, aber junge, schlagkräftige Burschen wie ihn suche die Partei im Moment nun einmal dringender als magere Hühnchen wie sie. Minniàs wütenden Protest hatte er beiseitegewischt und sie nachdrücklich gebeten, heute besser nicht zur Piazza d’Italia zu kommen, ja, sich möglichst ganz von der Neustadt fernzuhalten. »Es könnte Ärger geben«, hatte er geendet, als er die wutbebende Minnià zum Abschied küsste.

Pah! Ihr macht mir keine Angst! Minnià beschleunigte ihren Schritt. Als ob man ihr noch etwas vorschreiben könnte. Als brauche der Sozialismus nicht jede Hand, auch die schmalste und schwächste, gerade jetzt. Sie erreichte die Piazza d’Italia an der Spitze einer Gruppe von Arbeiterinnen, die sie von ihrer Stelle in der Gerberei Costa her kannte. So, da wären wir. Schaut ruhig her, Genossen. Minnià drängelte sich durch die Schaulustigen, setzte dabei ihre Ellbogen und den Schaft des Fähnchens ein und kassierte dafür ein paar Flüche.

Der Sozialismus kennt kein Geschlecht!

Die Worte einer Rednerin, die Minnià bei ihrer ersten Parteiversammlung gehört und nie vergessen hatte, begleiteten sie bis vor den Leiterwagen mit dem Holzpodest: Der Sozialismus ist Ausdruck einer ganz neuen Freiheit unter Gleichen. Die Frau und der Sozialismus, sie sind untrennbar miteinander verbunden.

Minnià entdeckte ihren Bruder vorn auf dem Kutschbock des Wagens. Wie schade, sie hatte seine Rede wohl verpasst. Doch nun kletterte der bekannteste Jungsozialist der Insel, Salvatore Ledda, auf den Wagen, und Minnià fiel begeistert in den Chor ein, der seinen Namen brüllte.

Ach, Ledda! Keiner brennt wie Totò Ledda!

War es seine elfte oder zwölfte Rede in diesem Jahr? Sie hatte jede einzelne verfolgt. Was für ein Teufelskerl!

Totò Ledda, das schmale Hemd. Man sah sie ihm nicht an, die zehn Jahre in den Gruben von Iglesias, bei vierzig Grad unter Tage. Arbeit, die jeden verhärtete, den sie nicht umbrachte. Auch Totò war hart geworden unter Tage. Hart und hungrig. Doch als in Russland die Roten gewannen, da witterte er den einmaligen Moment im Lauf der Geschichte und wechselte von der Grube zur Revolution.

»Sassarriiii!«

Er kann es, ich weiß es! Er kann uns alle noch retten. Minnià verfolgte, wie Leddas heisere Stimme die Menschen erfasste, ihnen Beine machte und sie mit sich riss. Es gab nicht wenige in der Partei, die ihm Effekthascherei vorwarfen, manche Neider schimpften ihn sogar einen Rattenfänger. Doch dies war seine Bühne, und Minnià, die ihre letzten Lire oft lieber für einen Stehplatz im teatro civico ausgab als für ein warmes Essen – Minnià ahnte instinktiv, wie wichtig dies alles für den Erfolg ihrer Sache war: Die großen Worte. Das Spektakel. Totò Ledda beherrschte beides.

»Brüder und Genossen! Sarden! WACHT AUF!«

Sie jubelte und winkte mit ihrer kleinen roten Fahne. Ja, Ledda würde es schaffen, er würde sie alle aufwecken und in eine neue Freiheit führen. Eine Freiheit für das ganze Volk, auch die Frauen. Gemeinsam würden sie den Faschismus, diese schwarze Pest, doch noch aufhalten und im Land endlich Gerechtigkeit herstellen. Ja, es sah schlecht aus, aber sie konnten es noch schaffen! Im Sozialismus würde sie beides sein können, Sozialistin und Ehefrau. Mutter und freie Arbeiterin. Oh, welch wunderbare Zukunft das wäre …

Während Minnià noch ihr Fähnchen schwenkte, war das Gedränge um sie herum dichter geworden. Neben sich entdeckte sie nun einen hochgewachsenen Mann, dessen teures colonia