Gran Paradiso - Grit Landau - E-Book

Gran Paradiso E-Book

Grit Landau

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Italien 1944: Im Kampf um die Freiheit ist nichts so gefährlich wie die Liebe … Bildgewaltig, kenntnisreich und hoch dramatisch erzählt »Gran Paradiso« eine große historische Familiensaga, die sich vom Zweiten Weltkrieg bis in die 80er Jahre entspinnt. Ihr Leben lang hat die junge Turiner Journalistin Gianna mit ihrer übermächtigen Mutter gehadert: Maria Lanteri wurde als Partisanin in der Resistenza berühmt, ihr Kriegstagebuch ist in Italien bis heute Schullektüre. Doch als Gianna nach Marias Tod ins kleine Sant'Amato an der Riviera heimkehrt, um den Nachlass zu regeln, findet sie im Haus ihrer Tante eine ganz andere Version von Marias Tagebuch. Während sie mit zunehmender Bestürzung liest, was 1944 in jenem hart umkämpften Tal am Fuße des Gran Paradiso wirklich geschehen ist, stößt Gianna auf ein Geheimnis, das ihr Leben auf den Kopf stellt. In ihrer historischen Familiensaga zeigt Grit Landau das Sehnsuchtsland Italien aus einer ganz besonderen, ebenso kundigen wie liebevollen Perspektive.   Entdecken Sie auch die anderen Italien-Romane von Grit Landau: ·         - Sardische Hochzeit (Sardinien, frühe 20er Jahre) ·         - Marina, Marina (italienische Riviera, 60er Jahre)    

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 420

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Grit Landau

Gran Paradiso

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ihr Leben lang hat die Journalistin Gianna mit ihrer übermächtigen Mutter Maria Lanteri gehadert, die als Partisanin in der Resistenza im Zweiten Weltkrieg und durch ihr Tagebuch berühmt wurde. Doch als Gianna nach Marias Tod ins kleine Sant’Amato an der Riviera heimkehrt, findet sie im Haus ihrer Tante eine ganz andere Version von Marias Tagebuch und von deren Leben. Voller Bestürzung stößt Gianna auf ein Geheimnis, das ihr Leben auf den Kopf stellt.

Inhaltsübersicht

Widmung

Personen

Prolog

Teil 1

1982

1

2

3

4

5

1944

6

7

8

9

10

11

1982

12

13

14

15

1944

16

17

18

19

20

21

22

Teil 2

1982

23

24

25

1944

26

27

28

29

1982

30

1944

31

32

33

34

35

36

37

38

1982

39

1944

40

41

42

1982

43

1944

44

45

46

1982

47

1945

48

Teil 3

1982

49

50

51

1944

52

1982

53

Nachwort

Kurzbiografien

Dank

Literaturliste

Glossar

Den Frauen gewidmet, die in den Jahren 1943–1945 gegen den Faschismus und die deutsche Besatzung Italiens gekämpft haben. Sie haben ihr Leben riskiert und es oft unter schrecklichen Umständen verloren.

 

Stellvertretend aufgeführt für zigtausend andere, in der Anzahl einer typischen banda der damaligen Partisanen:

Mirella Alloisio

Anna Maria Agnoletti

Irma Bandiera

Clarice Boniburini

Gina Borellini

Carla Capponi

Dina Croce

Anna Cisero Dati*

Ida Desandré*

Anna Maria Follo

Maria Gaudino

Ada Gobetti

Irma Marchiani

Lina Merlin

Marisa Musu

Elsa Oliva

Diana Sabbi

Prosperina Vallet*

Renata Vigano

Aurora Vuillerminaz*

 

(*Biografische Skizze im Anhang)

Personen

1982 – SANT’AMATO, PROVINZ LIGURIEN

GIANNA PERRIN, Radiojournalistin aus Turin, Tochter der Politikerin und Partisanen-Ikone Maria Perrin, eine geborene Lanteri

MAFALDA AMORETTI (geb. Lanteri), die deutlich ältere Cousine von Giannas Mutter Maria. Schwester des Widerstandskämpfers Leo Lanteri und dessen Frau Gioia. In zweiundachtzig Jahren hat »zia Mafalda« ihren Heimatort Sant’Amato kaum je verlassen und ist Zeugin von dessen wechselhafter Geschichte

FABRIZIO CONTE, Giannas Ex-Mann, ehrgeiziger Politiker des Partito Socialista Italiano (PSI), einst enger Mitarbeiter und politischer Ziehsohn von Giannas Mutter Maria

NINO LANTERI, Mafaldas Großneffe, Meeresbiologe aus Genua, Mitglied der Gutsbesitzerfamilie Lanteri, welche die frantoio Lanteri bewirtschaftet, ein Olivengut bei Sant’Amato

»DON GIOVANNI« TESTA, der eifrigste papagallo des Ortes

SIGNORINA, eine Dackeldame

1944 – COGNE, PROVINZ VALLE D’AOSTA

Maria Lanteri (später verheiratete Perrin), Bergbaustudentin und Partisanin, Tochter des aus Sant’Amato stammenden Wildhüters Enrico/Henri Lanteri. Nach dem Krieg Politikerin, Autorin von Sommer der Freiheit und Vizebürgermeisterin Turins

Filomène Maquignaz, geb. Lanteri, Marias älteste Schwester

Vittorio »Vitol« Perrin, Marias Jugendfreund und Kampfgefährte bei den Partisanen, später Stadtrat in Turin

John Stiller,Soldat der British Army, geflohen aus einem deutschen »DULAG« für Kriegsgefangene in der Toskana. Vor Kriegsbeginn Literaturstudent in Cambridge. Er zeichnet weitaus besser, als er schießt

Franz Elter(hist. Figur), der Geologe und Ingenieur leitet die Erzminen von Cogne. Er ist in Turin geboren, seine Familie stammt jedoch aus Luxemburg. Ein Bruder lebt in der Schweiz

Giorgio Elter(hist. Figur), sein zwanzigjähriger Sohn, ein junger Partisan. Außerdem gehören zur Familie Elter die Brüder Giulio und Piero, die Tochter Orsetta und deren Mutter Teresita

Eduard »EDY« Herzberg(hist. Figur), ein Deserteur der Wehrmacht. Unter dem Namen »Montcoeur« von Franz Elter als Hauswart in den Minen untergebracht

Major Reitsch(hist. Figur, in Originalquellen »Reitch« geschrieben), Koordinator der Wehrmacht im Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, im Roman zudem kurzzeitig Ortskommandant von Aosta

Hauptmann Ernst Zach, ehemals Fallschirm-Panzer-Division »Hermann Göring« in Mittelitalien, nun »Bandenbeauftragter« der deutschen Besatzungsmacht in Aosta

Commandante »PLIK« alias Giuseppe Cavagnet (hist. Figur), in Cogne geboren, Ex-Major der Alpini und Koordinator der Partisanen im Val di Cogne

Weitere Partisanen (die vier ersten fiktiv, die drei letzten historisch belegt, alle genannt mit ihren »nomi di battaglia«, den charakteristischen Kampf- und Decknamen der Partisanen): die Kämpfer »RÉNARD«, »STELVIO«, »ROBÈL« und »BARABBA«, dazu die Kommandanten »PEDRO« (Pietro Ferreira), »DUDO« (Giulio Dolchi), »DULO« (Giulio Ourlaz) und »PIERETZ« (Giuliano Calosci)

Prolog

Maria Perrin
»Sommer der Freiheit«
Erinnerungen einer Partisanin aus dem Valle d’Aosta

»Unter einer blassen Sonne brach ich auf. Sie erklomm gerade die Landzunge im Westen, als ich aus dem Haus meiner Cousine Mafalda trat. Das Meer kräuselte sich sanft, und von Imperia herüber wehte ein leichter Wind. Doch für die Schönheit der Welt hatte ich keinen Blick. Im Rucksack das zerlegte Jagdgewehr meines Vaters, kehrte ich der Küste den Rücken und wandte mich gen Norden. Ich war bereit, eine Partisanin zu werden. Bereit, zu kämpfen.

Ein Marsch von drei Wochen lag vor mir: Ich würde abseits der Straßen und Dörfer gehen, niemandem trauen, nirgends lang rasten. Ich durfte auf keinen Fall einer Patrouille in die Hände fallen. Dann der Aufstieg in die Berge, nach Aosta und ins Val di Cogne kurz vor der Grenze. Meine Heimat.

Ein langer Weg, doch ich ging ihn ohne Zögern: Sengende Hitze auf den Graten, brennender Durst nach wasserlosen Stunden. Nichts zu essen, tagelang. Ich nahm es hin und lief weiter. Die Höhenzüge der Seealpen, die dunstigen Ebenen des Po mit ihren verwüsteten Gehöften und verlassenen Straßen, auf denen die nazifascisti mit ihren Armeewagen hin- und herjagten. Die Toten im Straßengraben, die Gehängten in den Bäumen; alle sah ich sie auf meinem Weg ins Gebirge. Sah sie und lief weiter. Denn in meinem Herzen trug ich nur noch meine ermordeten Verwandten. In meinem Herzen trug ich nur noch den Wunsch nach Rache …«

Feltrinelli Edizioni 1955

Teil 1

»Sicher, er war gut. Aber vergiss nicht, dass Ginger Rogers alles tat, was er tat – nur rückwärts und in High Heels.«

 

(Der Zeichner Bob Thaves 1982 in einem Cartoon über

Fred Astaire und Ginger Rogers)

1982

 

 

 

 

 

 

 

 

1

1982, Juli, die italienische Riviera, Ligurien

Die Geschichte ist zu Ende, mamma ist tot. Und von der Resistenza reden sowieso nur noch alte Leute. Du tust jetzt deine Pflicht, fährst zu zia Mafalda und fertig. Schau, sei lieber froh, dass die Straße endlich frei ist!

Gianna Perrin stemmte den Fuß auf das Gaspedal ihres Fiat 500. Der feuerrote Kleinwagen machte einen Satz und flog der nächsten Kehre entgegen, einer besonders engen Kurve auf der Uferstraße von Genua nach Ventimiglia an der französischen Grenze. Und wenn du nach Sant’Amato kommst, halt dich geschlossen. Es muss ja nicht jeder wissen, was du wieder verbockt hast.

Im Radio riefen sie den heißesten Juli seit Kriegsende aus, dann folgten die Elf-Uhr-Nachrichten: Die Azzurri im Finale der Fußballweltmeisterschaft. Britische Truppen in Falkland. Lady Dianas neugeborener Prinz. Im Kino ein Außerirdischer als Kassenmagnet. Und hundert Kilometer Stau auf Italiens Straßen.

»Also Leute, heut käme nicht einmal E.T. pünktlich wohin«, witzelte der Radiomoderator, »dabei will der arme Kerl doch nur nach Hause. Wer hilft ihm dabei?«

Gianna rollte mit den Augen. Na, ich sicher nicht. Oder brauch ich etwa noch mehr Probleme? Nachdem sie morgens die Tür ihrer Turiner Mansarde hinter sich zugezogen und sich aus dem Innenstadtverkehr gekämpft hatte, war sie auch auf der autostrada ständig in Staus geraten. Erst seit Genua lief es etwas besser. Gianna zappte nach alter Gewohnheit durch die Sender der Konkurrenz und hörte Popmusik. Belangloses, synthetisches Zeug. Alles, um die spöttischen Kommentare in ihrem Kopf zu übertönen.

»Du haust ab, am Tag vor Silvios Antritt als Redaktionschef? Nicht dein Ernst!«

»Süße, wer jetzt fehlt, kann sich einen neuen Job suchen.«

»Deine Tante hat was gefunden? Einen vergessenen Koffer deiner Mutter? Das ist ja wie im Kitschfilm: Junge Frau fährt an die Riviera, regelt Nachlass – zack! – Speicherfund und großes Drama. Doch der nette Tierarzt steht bereit. Happy End und Schluss. Und du mittendrin, ha, ausgerechnet!«

Das Gelächter ihrer Reporterkollegen klang Gianna noch in den Ohren, seitdem sie tags zuvor aus der Redaktion gelaufen war, vage Erklärungen auf den Lippen und eine Aufgabe vor der Brust, von der sie nicht wusste, ob sie ihr gewachsen war.

Mamma ist tot. Zwei Jahre schon.

Gianna kurbelte das Seitenfenster hinunter. Der Fahrtwind blähte ihr Tanktop und fuhr ihr in die braunen Korkenzieherlocken. Davvero, nein wirklich, es wurde Zeit für einen Schlusspunkt! Der Schock über den Verkehrsunfall der Eltern ließ immer mehr nach, alle anderen Formalitäten rund um deren Beerdigung und Erbe hatten seinerzeit ihre Brüder geregelt – zwei erfolgreiche Juristen mit gemeinsamer Kanzlei. Es lag also an Gianna, diese letzte Sache zu regeln. Zumal zia Mafalda bei ihrem Telefonat eigens darum gebeten hatte, dass sie käme.

»Und komm allein«, hatte jene hinzugefügt. »Das ist eine Familiensache. Mir ist bewusst, wie eng Fabrizio mit deiner Mutter zusammengearbeitet hat. Doch lass ihn bitte zu Hause.«

Welches Zuhause hat sie gemeint? Es gibt keins mehr. Ach was, es gab nie eins! Gianna hatte ihre Tante daran erinnert, dass Fabrizio schon seit Monaten in Rom lebte, und das wäre auch gut so. Doch ähnlich wie ihre Brüder schien Mafalda zu ignorieren, dass sie und ihr Mann sich getrennt hatten und dass nur der Stress in der Redaktion Gianna bisher davon abgehalten hatte, endlich die Scheidung einzureichen. Noch etwas, was du vor dir herschiebst.

»Nun, du kommst also allein, wunderbar«, hatte Mafalda geschlossen und einen erleichterten Seufzer durch den Hörer geschickt. »Mir fällt ein Stein vom Herzen, wenn die Sache geregelt ist. Auch deiner Mutter wäre es wichtig gewesen, dass du ihr Andenken als Partisanin ehrst. Und freu dich: Die ersten Aprikosen sind reif!«

Hinter Noli wurden die Kehren weiter, die Buchten tiefer und der Bewuchs üppiger. Bougainvilleen wallten magentarot die Straßeneinfassung herab. Palmen und Kaktusfeigen säumten die Fahrbahn auf der Strecke von Albenga nach Alassio. Und dann kam Laigueglia, wo Gianna schon als Kind gebadet hatte.

Sie steuerte den Wagen über die Promenade. Zum Strand hin reihte sich eine Badeanstalt an die andere. Gegenüber verkauften die Boutiquen Plastikbrillen und Polohemden in Eiscremefarben. Durch das geöffnete Fahrerfenster wehte der Duft von Sonnencreme und granita di limone, dazu Rufe in den verschiedensten Sprachen. Vor jedem Zebrastreifen musste Gianna abbremsen. Die Hochsaison hatte begonnen, und ganze Heerscharen sonnenverbrannter Touristen schoben sich Richtung Strand, beladen mit Handtüchern, Kühltaschen und Schwimmreifen.

Auch deiner Mutter wäre es wichtig gewesen, dass du ihr Andenken ehrst.

Zia Mafaldas Satz stieß Gianna bitter auf. Ach, ja? Ist es denn immer noch nicht genug der Ehre? Während Giannas ligurische Verwandtschaft, darunter Leo Lanteri und seine Schwester Mafalda, in der Geschichte der Resistenza allenfalls lokale Berühmtheit erlangt hatte, war ihre Mutter nach Kriegsende zur Nationalheldin erklärt worden. »Maria Mortale«, die tödliche Maria, die Ikone des Widerstands, die Rose von Aosta – Giannas Mutter hatte man viele Namen gegeben. Und jeden hast du bestens für dich genutzt, nicht wahr, mamma?

Maria Perrins Kriegstagebuch Sommer der Freiheit, zehn Jahre nach Kriegsende erstmals erschienen, war in Italien inzwischen Schullektüre. Und auch wenn Gianna es kaum mehr hören konnte, wurde ihr wieder und wieder versichert: Was für eine Heldin die Mutter doch gewesen sei. Wie mutig und edel und unbeugsam, eine Jeanne d’Arc der Berge … Ach, zur Hölle damit! Dass Maria Perrin ihren Partisanenruhm immer dort genutzt hatte, wo er ihrer Politkarriere am dienlichsten war? Geschenkt. Dass die erste sindaca Turins – und damit die erste weibliche Bürgermeisterin einer italienischen Großstadt überhaupt – manchmal sogar mit ihren Todfeinden aus dem rechten Lager paktierte? Wahltaktik. Und dass es für Marias Angehörige nicht immer die reinste Freude war, im Schatten eines Menschen zu leben, der zu anderen mindestens ebenso hart war wie zu sich selbst, auch das, Gianna war sich dessen sicher, hätte niemand hören wollen. Es herrschte doch Einigkeit: Maria war die Heldin, Gianna hingegen allenfalls ihr Echo. Ein erbärmliches Echo, wenn ihr mich fragt.

»Leute, das ist ein Ding, was?«, holte die Stimme des Moderators Gianna zurück in die Gegenwart. »Übermorgen geht es gegen Deutschland, wir stehen im Finale. Und ich sag euch, die schießen wir raus, die Deutschen. Forza Italia! Wenn Rossi erst loslegt, dann heißt es ciao, ciao, Toni Schumacher! Dazu jetzt schon mal die musikalische Nummer eins, den Hit, den ihr euch am meisten gewünscht habt …«

Synthetische Bässe waberten aus den Lautsprechern des Fiat, dazu gesellte sich ein monotones Keyboard. Dann setzte der wohlbekannte und für Giannas Geschmack reichlich gepresste Tenor des Sängers ein.

»Felicità, è tenersi per mano andare lontano, la felicità …«

 

Acht Takte lang knödelte Italiens aktueller Popliebling Al Bano über Glückseligkeit, dann folgte das Gurren von Romina Power, seiner Partnerin auf der Bühne und im Leben.

»Felicità, è un cuscino di piume, l’acqua del fiume che passa, che va …«

 

Und so ging es weiter: Glückseligkeit hier, Glückseligkeit dort, ein Glas Wein und ein Stück Brot, eine unerwartete Begegnung, ein Liebeslied, der Strand bei Nacht, der Mond und immer wieder das Glück, das pure Glück. Alle Welt liebte den Song, jeder Musiksender spielte ihn in diesem Sommer rauf und runter. Auch die Konkurrenz.

»Fühl doch, wie es schon in der Luft liegt, fühl doch …«

Gianna griff sich ihre Pilotenbrille vom Beifahrersitz und setzte sie auf. Was für ein dämlicher Song! Massenkompatibler Mist, den man nur für Geld textet und nur für Geld singt. Und über den man nur berichtet, weil man nichts Besseres gelernt hat als Reporterin beim Dudelfunk. Weil ich immer versagt habe, wenn die guten Jobs, die wichtigen Jobs vergeben wurden. Gianna krauste die Nase unter den Gläsern der Sonnenbrille. Bell’affare!

Trotzdem ertappte sie sich dabei, wie sie die Musik aufdrehte. Jetzt, wo Laigueglia hinter ihr lag und die Straße in einer lang gezogenen Kurve die nächste Landzunge erklomm, beschleunigte sie den Wagen. Sie hielt den Fuß auf dem Gas, bis die Pinien rechts und links an ihr vorbeiwischten und ihr die Bässe von »Felicità«, wider jede bessere Vernunft, Tränen in die Augen trieben.

»Fühl doch, wie es schon in der Luft liegt …«

Mit einer geschickt gesetzten chromatischen Rückung, einem Halbton höher als zuvor, sprang der Song in den letzten Refrain und steuerte souverän Richtung Ende. Na, das hat er doch gut gemacht, dachte Gianna voller Reue. Was zur Hölle musste ich den Mann nur so angehen? Und dann auch noch live on air!

Sie hätte Albano Carrisi alias Al Bano bei ihrem ersten Live-Interview seit Monaten nicht so deutlich zeigen dürfen, was sie von seiner Art Musik hielt. Das Gespräch war vorzeitig abgebrochen worden, und Silvio, zu jenem Zeitpunkt der leitende Musikredakteur, hatte getobt. Gianna war mit sofortiger Wirkung aus dem Reporterstab für die Künstlerinterviews rausgeflogen. Gazebo, Matia Bazar, Ricchi e Poveri – man hatte ihr alle Termine gestrichen und weitere Einsätze ausgesetzt. Ist mir nur recht, Ricchi e Poveri sind sowieso eine Zumutung, hatte Gianna gekontert und war O-Töne schneiden gegangen. Im Schutz des schalldichten Schnittraums fühlte sie sich sicher. Vor allem vor sich selbst.

Doch was jetzt? Wie sollte es weitergehen? Wollte sie ewig davonlaufen?

Einer der zahlreichen Straßentunnel kam in Sicht, und Gianna nahm die Brille wieder ab. Fünf dieser Durchstiche in der Steilküste würde sie passieren, bis sie Sant’Amato erreichte, den Ort, aus dem der südliche Teil ihrer Familie stammte. Die Heimat von zia Mafalda und ein paar entfernten Verwandten. Fünf Tunnel noch bis zur Bucht von Sant’Amato, von der viele behaupteten, sie sei die schönste der ganzen Riviera di Ponente, unvergleichlich in ihrem speziellen Licht und ihrer Ursprünglichkeit, ein Ort reinster Glückseligkeit.

»Felicità …«

Da, der nächste Tunnel. Gianna stieg aufs Pedal und schoss mit Vollgas hindurch.

2

Wo ist sie? Einkaufen?« Gianna beschirmte ihre Augen gegen die Nachmittagssonne und blinzelte zu Mafaldas Nachbarin hinauf. Signora Pertini nickte eifrig und wies hinüber zur Altstadt von Sant’Amato, die sich um einen schmalen campanile auf einem Bergkegel über der Bucht zusammendrängte.

»Oh ja, im Dorf ist sie! Sie wollte vor dem Mittag noch etwas besorgen. Sie hat aber bedacht, dass du vielleicht früh kommst, und mich deshalb gebeten, nach dir Ausschau zu halten. Lauf ihr hinterher, sie freut sich.«

Signora Pertini verbrachte den halben Tag auf dem Balkon, daran erinnerte sich Gianna jetzt, als sie die Sonnenbrille durch das geöffnete Autofenster vom Sitz klaubte. Was bleibt ihr auch sonst zu tun? Verwitwet und verlassen hier am Steilhang, umringt von Oliven. Seufzend machte sich Gianna auf den Weg.

Zia Mafalda besaß zwei Landhäuser in Spuckweite von Sant’Amatos Altstadt, von denen sie das größere im Sommer manchmal an Feriengäste vermietete. Ihr Anwesen war deutlich kleiner als die frantoio Lanteri, das Landgut oberhalb des Ortes, in dem Mafalda einst aufgewachsen war. Doch sie kam gut zurecht. Mochte der Krieg ihr auch vieles genommen haben; die darauffolgenden Jahrzehnte hatten sie mit privatem Glück und einer stetig wachsenden Familie entschädigt. Zwei erwachsene Kinder, sieben Enkel, eine Dackeldame namens »Signorina« und ein Obstgarten, den noch ihr verstorbener Mann angelegt hatte, füllten das Leben der Tante seitdem aus. Darüber hinaus sammelte Mafalda Zuckerdosen, alte Stammbäume und Porzellanfigürchen und garnierte ihr Haus mit allerlei Nippes. Ja, eigentlich konnte sie kaum jemals etwas wegwerfen. Samstags spielte die Tante Scala quaranta mit zwei Freundinnen, seit über dreißig Jahren schon. Sonntags ging sie in die Kirche, und danach gab es für Signorina frisch gekochtes Huhn. Kurz, sie war das, was man eine »reizende alte Dame« nannte. Und deshalb fiel es nicht nur Gianna schwer, sich vorzustellen, dass Mafalda ebenso wie ihre Mutter Maria einmal eine staffetta der Partisanen gewesen war. Dass sie gemeinsam mit ihrem Bruder Leo im Krieg Widerstand gegen die Faschisten geleistet hatte. Womöglich weiß sie noch heute, wie man eine britische STEN reinigt, dachte Gianna. Und mamma, wenn sie noch lebte, könnte sie sogar abfeuern.

Sie wanderte über einen nicht gepflasterten Pfad zwischen Zistrosen und Lorbeerbüschen Richtung Dorf. Kein leichtes Unterfangen mit den Riemchenpumps, die eigentlich dazu gedacht waren, Gianna über die Terrazzoböden von Turins Gallerie zu tragen. Das ligurische Meer in der Bucht schimmerte azurblau, und sie überlegte, ob sie nicht umkehren und am Auto ihre Schuhe gegen Badesandalen wechseln sollte. Um dann vielleicht erst einmal schwimmen zu gehen. Die Tante rechnete mit ihr ja offenbar erst zu einem späteren Zeitpunkt. Und ein Koffer, der bereits seit einer halben Ewigkeit ungeöffnet herumlag, konnte sicher noch ein paar Stunden länger warten. Zia Mafalda sind ihre Einkäufe im Dorf außerdem heilig, da störe ich nur. Überhaupt: Es ist Sommer, da unten ist der Strand, warum also in aller Welt sollte ich mich da mit einem vermutlich elend verstaubten Koffer herumschlagen? Und längst vergangenen Familiengeschichten?

Der Steg, über den Gianna den alten Ortskern erreichte, hieß seit Kriegsende »Pontile Leo Lanteri«. Richtig. Schließlich ist er auch sein Erbe.

Gianna tauchte in das Gewirr der Gassen ein. Zu Beginn des Sommers wucherte Sant’Amato geradezu mit all seinen Farben und Düften: Karminrote Pfeifenputzerblüten lugten aus Innenhöfen, Euphorbien grünten vor tiefblauer Wand, die Orangenbäume am Fuß der Scaletta di San Pietro trugen schwer an ihrer goldenen Last, und über dem ganzen Dorf hing der Duft von Sternjasmin. Gianna eilte unter bewachsenen Steinbögen über das holprige Pflaster der caruggi Richtung Kirche. Sie passierte gerade den Neptunbrunnen und versuchte, sich zu erinnern, wie man auf kürzestem Wege zur zentralen Piazza kam, als sie der Ruf ihrer Tante erreichte.

»Da bist du ja schon, mein Kind!«

Mafalda Amoretti, geborene Lanteri, hatte sich trotz ihrer zweiundachtzig Jahre ein fast mädchenhaftes Aussehen bewahrt. Zwar überzog ein Netz feiner Fältchen ihr Gesicht, und auch ihr Gang war gebeugt. Doch ihre Wangen rundeten sich wie eh und je, und der Schalk blitzte aus ihren dunklen Augen. Augen, die sich jetzt strahlend auf Gianna richteten.

»Wie schön, dass du gekommen bist. Ich hatte dir ja gesagt, es ist wichtig. Ich habe den Koffer sofort wiedererkannt, sie hatte ihn ja damals bei sich. Verrückt, ich wundere mich, wie ich ihn all die Zeit vergessen konnte …«

Und ich wundere mich, wie du das Ding überhaupt wiederfinden konntest in deinem Durcheinander, dachte Gianna und betrachtete ihre Tante mit liebevoller Nachsicht. Dann fragte sie nach dem Kofferinhalt.

»Das siehst du dir nachher besser selbst an. Du bist ihre Tochter. Und … Fabrizio ist in Rom, sagtest du? Tja, die Liebe überwindet alle Grenzen.«

»Zia, bitte! Nimm zur Kenntnis, dass wir uns getrennt haben. Endgültig.«

»Sieht Fabrizio das genauso?«

»Herrgott, wen interessiert’s? Ich habe ihn verlassen, und seitdem geht es mir blendend.«

»Soso, blendend …« Mafalda beäugte sie mit schief gelegtem Kopf, und Gianna drängte es zu einer Erklärung. »Versteht es doch endlich alle: Ich habe, was das betrifft, einfach kein Glück. Die große Liebe, die gibt es vielleicht für andere. Aber nicht für mich.«

»Wer redet denn von der großen Liebe? Die grande amore, das große Glück, so was zerrinnt im nächsten Augenblick.« Mafalda breitete die Arme aus, als wolle sie das Dorf, die Steilküste, die Bucht und das ganze weite Meer umarmen. »Doch das hier bleibt. Schau dich um: Liebe ist überall.« Gianna wusste nicht, ob sie die Tante um ihre Weltsicht beneiden oder bedauern sollte. Um das Thema zu wechseln, fragte sie: »Was macht die Karibik?«

Mafaldas erwachsene Kinder hatten bei der beliebten TV-Rateshow Fratelli e Sorelle den Hauptpreis abgeräumt: drei Wochen Antillen-Kreuzfahrt, alles inklusive, jeweils zusammen mit ihren Familien.

»Denen geht es prächtig, würde ich sagen.« Die Tante kicherte. »Sie haben mir allein in den letzten zehn Tagen vier Postkarten mit Palmen und Kokosnüssen geschickt! Ich weiß gar nicht mehr, wohin damit …«

Das wüsste ich bei dir zu Hause auch nicht, lag es Gianna schon auf der Zunge, doch sie konnte sich gerade noch beherrschen.

»Und wer macht bei dir inzwischen die Messungen?«, erkundigte sie sich stattdessen. Mafaldas Sohn war Arzt und übernahm alle Untersuchungen, die mit deren nachlassender Gesundheit einhergingen.

Die Tante machte eine vage Geste. »Och, tutto a posto, es geht mir bestens.«

Mafalda hatte es seit einigen Jahren am Herzen, was ihr eine gewisse Kurzatmigkeit und schlaflose Nächte bescherte. Die Ärzte verschrieben ihr alle paar Monate andersfarbige Pillen, warnten vor unnötiger Belastung und rieten ihr zu einer Diät, an die sie sich jedoch kaum hielt.

Auch heute nicht. »Komm«, sagte Mafalda und nahm Gianna bei der Hand. »Ich bin fast fertig. Jetzt holen wir uns zum Schluss noch ein paar Makronen bei Ottavio.«

Makronen? Natürlich.

Die Tante hatte ihrer zierlichen Gestalt zum Trotz einen äußerst süßen Zahn. Ob Mandelmakronen, Lavendelkekse, Millesimini mit Rum oder Baci aus dem nahe gelegenen Alassio: Mafalda liebte Süßwaren und beklagte gern, dass Sant’Amato keine eigene pasticcheria besaß. Nur in »Ottavios Bar« auf der zentralen Piazza, wo der namensgebende Chef Einheimische wie Touristen seit vierzig Jahren bewirtete, gab es eine kleine Vitrine mit Gebäck.

Dorthin wurde Gianna nun gelotst, unter dem steten Redeschwall der Tante.

»Ich weiß, Ottavio meint es gut. Doch seit ihm die Frau gestorben ist, schmecken seine Makronen irgendwie anders. Doch glaubst du, er verrät mir, woher er sie bezieht?« Mafalda schnaubte empört. »Wahrscheinlich aus einem dieser neumodischen supermercati drüben in Diano: Coop, Italmark, und wie sie alle heißen. Ach, mein Kind, in Turin mag es anders sein, doch hier – hier geht alles den Bach hinunter …« Sie begann mit einem längeren Vortrag über den Niedergang der Welt, angefangen beim Gebäck, und Gianna unterdrückte ein Schmunzeln. Was auch immer die Tante so sehr sorgte, dass sie sie hergebeten hatte; solange ihr noch genug Kraft zum Lamentieren blieb, konnten die Dinge nicht allzu schlecht stehen.

 

In der Bar schlugen Gianna Stimmengewirr, Geschirrklappern und der Geruch frisch gerösteter Kaffeebohnen entgegen. Aus einem Radiogerät, das im Regal über der Kaffeemaschine balancierte, quäkten aufgekratzte Stimmen, gefolgt von Claudia Mori, die singend erklärte, es reiche ihr nun, sie würde sich das miese Verhalten ihres Liebsten nicht mehr bieten lassen. Gianna hatte »Non succederà più« oft zu der Zeit gehört, in der sie Fabrizio aus ihrem Leben gestrichen hatte.

»Ich könnte draußen warten«, bot sie Mafalda an.

»Kommt nicht infrage! Die freuen sich doch schon auf dich.« Die Tante strahlte sie an. »Vor allem der alte Testa kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Er hat deine Mutter so verehrt. Und er hat nie aufgehört, sie bei ihrem Mädchennamen zu rufen. Eine Lanteri ist sie, eine Lanteri bleibt sie, sagt er bis heute.«

Ein halbes Dutzend Einheimische, die meisten weit in ihren Siebzigern, stärkten sich mit caffè und tramezzini an der Theke und musterten Gianna mit gespielt beiläufigem Interesse.

»Schaut«, rief Mafalda ihnen zu, »ich hatte euch doch gesagt, dass Gianna kommt! Marias Tochter! Aus Turin kommt sie, beim Radio arbeitet sie inzwischen, eine Journalistin ist sie.« Stolz schob sie Gianna vor sich her, um dann die anwesenden Dörfler mit einer weit ausholenden Bewegung ihres Arms zu umfassen. »Mein Kind, du wirst denken, wir sind hier nur alte Leute. Alles Greise! Aber das täuscht, im Herzen sind wir frischer denn je. Pass auf, ich stell sie dir vor, vielleicht erinnerst du dich ja an den einen oder anderen: Der Jungspund dort hinten ist Ruggero. Der wurde im letzten April achtundneunzig.« Einem zahnlosen Grinsen aus der Ecke folgte ein gekrächztes buongiorno. »Und vorne an der Theke haben wir den legendären Luigi Testa, unseren meccanico.« Ein schnauzbärtiges Männchen tippte sich an seine Kappe und zwinkerte Gianna zu. »Zu Ihren Diensten, signorina. Ich kannte Ihre Mutter: Maria Lanteri. Und falls Sie mal ein Problemchen mit Ihrem hübschen Fiat haben, ich helfe gern.« Gianna dankte dem Alten und wunderte sich, woher Testa wusste, was für einen Wagen sie fuhr. Andererseits, was bleibt hier schon unbeobachtet? Sicher hat das halbe Dorf mitverfolgt, wie ich angekommen bin.

Inzwischen setzte Mafalda ihre Vorstellungsrunde fort. »Vielleicht kennst du noch Sofia Vassallo und Teresa Perretti? Wir spielen Karten, jeden Samstag.« Zwei ältliche Matronen mit toupierten Haaren grüßten und beäugten Gianna mit neugierigen Blicken. »Teresa und ihr Mann wohnen nur einen Steinwurf von mir entfernt. Sie hatten eine Pension drüben in Cervo, die haben sie verkauft und genießen jetzt das süße Leben im Ruhestand. Ist es nicht so, meine Liebe?« So zwitscherte Mafalda vor sich hin, und Gianna überlegte, ob es nicht besser wäre, wieder abzureisen. Sie kannte diesen Ort, sie kannte die Menschen, sie war als Kind so oft hier gewesen. Und doch bleibe ich an der Riviera immer eine Fremde. Die aus Turin, oder: die aus dem Norden. Und vor allem: die Tochter.

Während Mafalda nun den Barbesitzer herbeizitierte und sich umständlich ihr Gebäck zusammenstellte, stand Gianna dabei und dachte an die zahlreichen Sommerferien, die sie bei der Tante in Sant’Amato verbracht hatte. Vor allem wegen der Strände waren sie und ihre Brüder immer gern hergekommen. Und mamma und papà hatten uns aus dem Weg. Gianna konnte sich an nur einen einzigen Sommer erinnern, den die Eltern mit ihnen gemeinsam an der Riviera verbracht hatten. Sonst gab es für sie immer nur die politische Arbeit. Die nächste Ratssitzung, den nächsten Wahlkampf, die nächste Parteiversammlung. Hatte es Gianna gestört, meist alleine zurechtkommen zu müssen? Als Älteste zudem oft auch auf die Brüder zu achten? Hatte ihr mehr gemeinsame Zeit mit den Eltern gefehlt? Sie wusste es nicht. Kann man etwas vermissen, was man nicht kennt?

»Als sindaca musst du doppelt so gut sein wie dein männlicher Amtskollege«, hatte die Mutter Gianna einmal erklärt, als diese bereits kurz vor ihrem Schulabschluss stand. Jene war gerade vom Arzt gekommen, hatte sich gegen ihr chronisches Zähneknirschen eine hochmoderne Aufbissschiene anpassen lassen. »Du musst doppelt so hart arbeiten, hast doppelt so viele Pflichten zu erfüllen. Wenn ich jetzt Vizebürgermeisterin bin, eine von zwei in ganz Italien, dann liegt das daran, dass ich immer weitermache. Und dass ich nie aufhöre zu kämpfen.«

Aus und Ende, mamma. Deine Kämpfe sind vorbei. Jetzt müssen wir nur noch eine Pflicht erfüllen und diesen letzten Koffer öffnen.

Gianna war froh, als Mafalda endlich ihre Makronen ausgesucht hatte und Anstalten machte zu zahlen. Wenn sie nur heimgehen könnten! Als die Tante ihr die Papiertüten mit dem Gebäck in den Arm gab und ihr Portemonnaie zückte, fiel Gianna ein, was die Tante draußen auf der Piazza gesagt hatte.

»Hattest du vorhin nicht einen Besuch erwähnt?«

Mafalda kramte in ihrer Geldbörse. »Come?«

»Na, der Besuch, von dem du erzählt hast. Vor zwei Wochen. Hier bleibt ja nichts unbemerkt. Wissen vielleicht deine Freundinnen etwas über ihn …?«

»Besuch? Welcher Besuch?«, fragte Mafalda mit einer Unschuldsmiene. Dann blieb ihr Blick an einem Punkt hinter Gianna hängen, und eine Mischung aus Erleichterung und Freude zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Ach, bist du endlich da? Lass dich umarmen! Mein Junge, jedes Mal kommt es mir so vor, als müsste ich länger warten. Habt ihr denn nie Semesterferien?«

Eine Stimme, die Gianna vage bekannt vorkam, antwortete: »Zia, du vergisst es jedes Mal, aber das macht nichts: Die Prüfungen laufen bis Mitte Juli. Ginge ich vorher in die Ferien, wer kümmerte sich dann um meine Studenten?«

 

Nino Lanteri hatte sich verändert. Aus dem schlaksigen Burschen, der Giannas jüngeren Brüdern einst das Schwimmen beigebracht hatte, war ein Mann geworden. Seitdem sie ihn zuletzt gesehen hatte – wann war das gewesen, etwa auf ihrer eigenen Hochzeit damals? –, hatten sich sogar ein paar graue Strähnen in sein dunkles Haar geschlichen. Was ihm nicht schlecht stand, fand Gianna. Als Dozent für Meereskunde an der Universität von Genua hatte Nino außerdem einen guten Posten, einige Male war ihr im Wissenschaftsteil der Zeitung sogar sein Name untergekommen.

»Piacere«, sagte Gianna reichlich steif, als Mafalda sie einander vorstellte, und reichte ihm die Hand. Was sag ich denn da: ›sehr erfreut‹? Gott, er wird mich für eine arrogante Ziege halten! Oder eine Idiotin.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, antwortete Nino und ergriff ihre Hand mit einem Lächeln. »Das ist jetzt sicher zehn, zwölf Jahre her …«

»Eine halbe Ewigkeit, ja«, antwortete Gianna. Beide unterschlugen sie die Beerdigungen, bei denen sie sich hätten treffen können, wären sie eingeladen gewesen. Hätten das Leben und der Alltag die Familien Perrin und Lanteri in den vergangenen Jahren nicht auseinandergetrieben.

Nino fuhr sich durchs Haar. »Und jetzt bist du hier, ein paar Sachen deiner Mutter sichten, habe ich gehört?«

Gianna war nie aufgefallen, wie klar und angenehm seine Aussprache war. Er redet gar nicht wie ein Ligurer, dachte sie. Als Nino fortfuhr, klang Mitgefühl aus seiner Stimme. »Ich habe deine Eltern leider nie kennengelernt, sie waren immer so engagiert in vielem … Es müssen außergewöhnliche Menschen gewesen sein. Mein Beileid.«

Gianna hob die Achseln und murmelte, sie könne die Anteilname nur zurückgeben. Ninos eigener Vater war wenige Jahre zuvor unter den Opfern der strage di Bologna gewesen und dabei zusammen mit seiner Lebensgefährtin ums Leben gekommen. Mafalda hatte Gianna davon erzählt, aber keine Details genannt.

»Wenn du magst, besuch mich doch einmal oben auf dem Gut«, sagte Nino jetzt. »Mein Bruder Raffaele ist diese Woche zwar noch auf Sardinien bei seinem Landwirtschaftspraktikum. Doch wenn du ein wenig bleibst: Ende nächster Woche ist er zurück. Und ich weiß, er würde sich sehr freuen, jemanden vom valdostanischen Zweig der Familie Lanteri wiederzusehen. Dein Großvater war doch immerhin unser … ehm …« Nino schickte ein Hilfe suchendes Lächeln zu zia Mafalda, und diese sprang ihm bei. »Enrico Lanteri war der jüngste Bruder meines Vaters Alberto, deines Urgroßvaters«, dozierte die Tante, nun ganz in ihrem Element. »Er ging ins Valle d’Aosta, da, wo sie schon so ein französisches Mischmasch sprechen, und nannte sich fortan ›Henri‹. Er heiratete eine Valdostanerin und bekam drei Töchter: Filomène, Alisse und Maria. Die Jüngste, Maria, war Giannas Mutter. Und das macht sie zu deiner … hm, wartet mal …« Mafalda überlegte angestrengt, und die Dörfler an der Bar tauschten belustigte Blicke aus. »Un attimo, ich hab’s gleich, es macht sie …«

… zu seiner … Tante? Oh, nein! Die Erkenntnis trieb Gianna die Hitze in die Wangen.

»… zu einer Art Cousine, denke ich«, ergänzte Nino Lanteri schnell und schenkte Gianna ein Lächeln, bei dem diese ganz weiche Knie bekam. Wie alt müsste er jetzt sein? Fünfunddreißig?

»Tja, es ist kompliziert«, kam es jetzt wieder von Mafalda. »Doch verwandt seid ihr. Und vielleicht, Nino, kannst du Gianna dieser Tage mal ein wenig herumführen? Ihr zum Beispiel das neue bagno vom Hotel Olimpia unten am Strand zeigen? Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß, wie du weißt.«

»Gern, wenn sie mag. Dort lädt Beppe Parodi übrigens heute und morgen zum Strandfußball ein. Ein kleines Turnier anlässlich der WM. Ich bin Verteidiger der Ortsmannschaft und auf dem Weg dorthin, wollte vorher nur schnell einen caffè trinken.«

Erst jetzt entdeckte Gianna den Sportbeutel über Ninos Schulter. Und dass er sommerliche Shorts trug. Und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Surfing«, das ihm ziemlich knapp saß. Gianna murmelte etwas Nichtssagendes und hoffte, Nino würde ihre Verwirrung nicht bemerken. Zu spät, wie ihr ein Aufflackern seiner dunklen Augen verriet.

»Hmm«, meinte er, »falls du später mal eine Pause vom Papieresortieren brauchst, komm doch vorbei.«

»Wenn es sich einrichten lässt.«

»Beppe hat dort auch eine neue Strandbar eröffnet. Nennt sich ›Corsaro‹, es gibt Coca-Cola und spuma bionda. Na ja … also vielleicht bis nachher.«

»Vielleicht. Ciao, Nino.«

»Ciao, Gianna.«

Wie das klang. Sie hätte es tausendmal hören können.

Zia Mafalda rief einen letzten Gruß in die Runde, und die beiden Frauen verließen die Bar. Nino Lanteri hielt ihnen die Tür auf. Als sie im engen Türrahmen an ihm vorbeiging, senkte sie den Blick. Doch ihre restlichen Sinne blieben so wach wie lange nicht, und sie hätte schwören können, dass er tatsächlich die Luft anhielt.

Va bene, er ist drei Jahre jünger und mit mir verwandt. Aber er weiß schon, was er tut.

3

Aus dem Dorf zurückgekehrt, holten sie Giannas Gepäck aus dem Auto und brachten es ins Haus. Zia Mafalda hatte ihrer jungen Verwandten das Gästezimmer freigeräumt, ein hübscher Raum mit einem Messingbett, zwei Kommoden und Häkeldeckchen auf jeder freien Oberfläche. »Sonst stehen hier meine Zuckerdosen«, meinte Mafalda, »aber was sollst du inmitten von Geschirr schlafen …«

Im Flur des Hauses über einer Konsole, auf der sich neben dem Telefon zwei Porzellanpudel drängten, entdeckte Gianna eine gerahmte Zeichnung. Sie zeigte ihre Mutter Maria als entschlossene Partisanin in Kämpferpose mit Gewehr. Dasselbe Bild hatte man auch in Sommer der Freiheit abgedruckt.

Werd ich dich hier gar nicht mehr los? Gianna seufzte innerlich und sagte dann: »Ich wusste nicht, dass das Bild erhalten geblieben ist.«

»Was meinst du? … Ach so, ja. Deine Mutter hat es mir überlassen, damals nach dem Krieg. Tatsächlich hing es bis vor Kurzem über dem Gästebett, dann habe ich es umgehängt. Wenn du magst, hänge ich es wieder dorthin.«

Um Gottes willen. Selbst noch ihre Nächte unter dem ernsten Blick der Mutter verbringen zu müssen, war das Letzte, was Gianna gebrauchen konnte.

»Ich schlage vor, wir essen schnell etwas«, schlug Mafalda jetzt vor, »und dann machst du dich an den Koffer. Ich habe ihn oben im sala studio, du weißt schon, wo du früher so gern gespielt hast. Doch komm erst einmal in die Küche, es ist noch focaccia da. Oder willst du lieber von den Mandelkeksen?«

 

Eine Stunde später erwartete sie der Koffer auf dem Schreibtisch des Raumes, den die Tante etwas großspurig ihr »Studierzimmer« nannte. Ursprünglich als Büro geplant, mit Regalen ringsum und einer breiten Schreibtischplatte unter einer Fensterfront mit Blick in den Garten und auf das Meer, hatte das Zimmer jedoch meist als Abstellraum gedient und war im Laufe der Jahre regelrecht mit Büchern, Aktenordnern, Plakatrollen und Fotokartons zugewachsen.

Die Tante hatte es zwar offenbar einmal durchgesaugt und auf dem Teppichboden eine Schneise freigeräumt. Doch auch jetzt noch fühlte sich Gianna fast wie eine Dschungelforscherin, als sie sich zwischen Stapeln alter Kataloge und einem verstaubten Tonbandgerät zum Schreibtisch vorarbeitete.

Während Mafalda Gianna ein letztes Glas Limonade holte – »zur Stärkung« –, begutachtete diese den Koffer. Ein kompaktes Modell aus Rindsleder, mit einem Tragegriff an Metallscharnieren. Nicht groß, aber robust und gut verarbeitet. Seine Beschläge ließen sich immer noch leicht öffnen, und zwischen Deckel und unterer Lederschale erkannte sie seidigen Stoff und fest verschnürte Papierstapel.

Dein Koffer. Gianna betastete mit den Fingerspitzen das abgeschabte Leder. Hast du ihn auf deiner Flucht mit dir getragen? Den ganzen Weg übers Gebirge?

Zia Mafalda hatte die Zimmerfenster geöffnet. Frische, salzige Luft wehte vom Meer herauf und mischte sich mit den Düften des Gartens. Ein paar Vögel zirpten und raschelten in den Zweigen vor den Fenstern, ansonsten lag das Haus in tiefem Frieden. Staubkörnchen tanzten im schrägen Lichteinfall der Nachmittagssonne. Gianna erschien die Aussicht, ein paar Stunden in diesem Zimmer zu verbringen, gar nicht mehr so trübe.

Und länger wird es keinesfalls dauern.

Als Mafalda mit der Limonade zurückkehrte, schloss sie die Fenster. »Damit dich die Amseln nicht stören. Die brüten nämlich direkt hier gegenüber im Baum, und da geht’s reichlich hin und her, oje, ich sag es dir.« Geschäftig rückte ihr die Tante den Schreibtischstuhl zurecht. »Ich bin im Garten, die ersten Kirschen ernten. Hast du alles? Dann los!«

 

Marias Koffer enthielt auf den ersten Blick nur Alltagsdinge: ein paar altmodische Damenschuhe, etwas Unterwäsche, ein Etui mit einem Kreuz an einem Silberkettchen. In einem Umschlag aus festem Karton entdeckte Gianna eine Handvoll vergilbter Postkarten: Cogne, La Thuile, Mont Blanc, Gran Paradiso. Dazu ein paar sepiafarbene Ansichten des Cognetals und ein vierseitiges Heftchen aus dünnem Papier: »Il patriota della Valle d’Aosta – Agosto 1944« stand auf dem Deckblatt.

Gianna kannte die Geschichte der Partisanenzeitung zur Genüge, und doch durchfuhr sie ein Kribbeln, als sie sie nun im Original in den Händen hielt, viel kleinformatiger als in den Erzählungen der Eltern.

»Wisst ihr, Kinder, die Zeitung war der Anfang von allem.«

»Nein, Vitol, sie war der Höhepunkt. Die eigene Zeitung und der selbst gewählte Bürgermeister.«

»Eure Mutter hat recht, wie immer. Das war eine Sensation! Freie Meinung, eine eigene Zeitung, Demokratie, wir Jungen kannten das nach zwanzig Jahren Mussolini ja gar nicht. Und wer hat unsere Zeitung gemacht? Giulio Einaudi. Der Verleger! Der fand in Cogne damals Unterschlupf. Ein Teufelskerl. War es nicht so, meine Liebe?«

»Davvero, du sagst es.«

So ging es beim Abendessen oftmals hin und her, mit klar verteilten Rollen. Wo der Vater schwärmte, nickte die Mutter nur, wo der Vater Cogne und den Sommer 1944 noch genau im Gedächtnis zu haben schien und den Kindern sämtliche Details beschreiben konnte – wo die Kühe im Sommer standen, wie die Heuernte ablief, wo die Treffen der Partisanen stattfanden –, da beschränkte sich die Mutter auf kurze Einschübe. »So war das eben damals«, sagte sie. Und: »Wenn ihr mehr wissen wollt, lest das Buch.«

Ich habe das Buch gelesen. Mehrmals. Und jetzt?

Unter dem Umschlag mit der Zeitungsausgabe fand Gianna eine abgegriffene schwarze Kladde, prall gefüllt mit eingeschobenen Zetteln und verschnürt mit einem brüchigen Lederband. Darunter zwei weitere Notizbücher, ebenfalls verschnürt. Waren dies die Aufzeichnungen, derentwegen sie Mafalda hatte kommen lassen? Es widerstrebte Gianna, die von der Zeit angegriffenen Bänder um die Aufzeichnungen zu lösen, sich auf das Leben der Mutter einzulassen. Einmal mehr. Und was sie fand, als sie den Inhalt der eng beschrifteten Zettel genauer studierte, wandelte ihr Widerstreben in dumpfen Groll.

Also wirklich! Man hat mich also für den gleichen alten Sermon hierhergerufen? ›Sommer der Freiheit‹ zum tausendsten Mal? Musste ich über das Buch nicht sogar ein Schulreferat halten?! Der fatale Schuss auf Huber, wofür man die Mutter fortan »Maria Mortale« nannte. Der Partisanenrat. Das Drama um die Familie Elter, die Verletzung am Ohr, Herzberg und die Schlacht an der Chevril-Brücke. Dann Flucht, Heirat, Neuanfang. Maria Perrins Geschichte, der Gründungsmythos einer Parteilegende. Sollte sich Gianna dies alles ein weiteres Mal antun? In der Hoffnung darauf, irgendetwas halbwegs Neues in dieser Zettelwirtschaft zu finden?

Doch was blieb ihr anderes übrig? Zia Mafalda hatte sie um Hilfe gebeten. Sie hatte auch darauf bestanden, dass sie die Unterlagen allein durchging. »Ich selbst habe nur einen kurzen Blick hineingeworfen. Ich möchte, dass du alles liest! Ti prego, tu mir die Liebe.« Und Gianna, die so viele Sommer an der Riviera verbracht hatte – in Mafaldas Haus und Küche, bei Saft und Melone, gemeinsam mit Mafaldas eigenen Kindern Giovanni und Stella –, Gianna setzte sich seufzend wieder hin und griff erneut nach der Kladde.

 

Während draußen der Nachmittag voranschritt, arbeitete sie sich durch das Leben ihrer Mutter Maria. Nach dem wohlbekannten Eingangssatz: »Unter einer blassen Sonne brach ich auf …«, beschrieb diese den Weg zurück nach Cogne, ihr valdostanisches Heimatdorf, welches sie Jahre zuvor verlassen hatte und in das sie nun zurückkehrte, um zu kämpfen. Die Sätze klangen Gianna vertraut in den Ohren, dies alles hatte sie so ähnlich schon in Sommer der Freiheit gelesen. Sind es die Originalnotizen zu ihrem Buch?

Die Passagen und Episoden ähnelten Tagebucheinträgen, waren zumeist datiert, trugen ein anderes Mal eine Überschrift. Allerdings gab es in diesem »Tagebuch« immer wieder Zeiträume, in denen die Mutter nichts notiert hatte. Dann wieder sprangen manche Episoden von Ort zu Ort, Schauplätze wechselten ohne Vorwarnung. Einige Einträge waren auch vertauscht. Und das Papier, auf dem die Mutter geschrieben hatte, war von wechselhafter Qualität. Dies alles erschwerte das Lesen deutlich. Gianna kam langsamer voran, als sie gehofft hatte. Und deswegen dauerte es auch eine ganze Weile, bis es ihr auffiel. Das andere.

Bis sie einen Blick dafür entwickelt hatte und ein Ohr für den veränderten Klang. Sie stutzte. Las eine Passage erneut und verstand immer noch nicht. Was? Gianna stöberte durch die Seiten. Las hier und dort, blätterte mit zunehmender Verwirrung weiter. Ganz hinten im Papierwust entdeckte sie eine mit Kohle ausgeführte Zeichnung, grob skizziert, offenbar eine zweite Version des Porträts von Maria, das in Mafaldas Flur hing. Das ungebärdige Haar, die kecke Nase, die noch jugendlich weichen Züge – alles glich dem bekannten Bild. Auch der Schultergurt und Marias Hemd, das zuvor wohl einem Arbeiter oder Soldaten gehört hatte, waren unverändert. Doch um eine exakte Kopie konnte es sich nicht handeln. Denn auf dem Bild, das Gianna nun in den Händen hielt, zeigte Maria ein Lächeln, das sie an ihrer Mutter nie gesehen hatte. Zudem besaß die Skizze etwas, was ihrem gerahmten Gegenstück an der Wand im Flur fehlte: zwei Buchstaben, »JS«, eine blasse, kaum lesbare Signatur. Gianna nahm das Blatt. Ging in den Flur und prüfte es wider besseres Wissen noch einmal nach. Dann ließ sie die Zeichnung neben dem Telefon liegen und verließ das Haus.

Jetzt reicht es. Schluss mit den Spielchen.

Gianna lief in den Garten.

4

Sie fand Mafalda im Obsthain, wo diese Süßkirschen pflückte. Trotz ihres Alters balancierte die Tante auf einer Klappleiter, die sie in die Krone eines noch recht jungen Baums geschoben hatte, und sammelte die Früchte in einem großen Korb. Ihre Dackeldame hüpfte derweil um den Fuß der Leiter und bellte.

»Sie mag es nicht, wenn ich klettere – und sei es auf einen Hocker!«, rief sie Gianna fröhlich entgegen, als diese die Steintreppen herunterlief. »Sie sorgt sich, dass ich mir etwas brechen und dann nicht mehr mit ihr Gassi gehen könnte.«

»Signorina ist eben klug«, sagte Gianna und kraulte das Tier hinter den Ohren. »Das gilt leider nicht für andere.«

Aus dem Kirschbaum kam statt einer Antwort nur ein Schnaufen. Zia Mafalda hatte offenbar beschlossen, sich ihren Erntetag auf keinen Fall von Ermahnungen vermiesen zu lassen. Und, zugegeben, es war ein herrlicher Tag für die Obsternte. Die Sonne besaß noch Kraft, auch wenn das Licht allmählich weicher wurde. Die Luft hing schwer von den Düften eines ganzen Tages, und die Schwalben begannen mit ihrer abendlichen Jagd um die Dachfirste.

Gianna wartete am Fuß der Leiter. Als die Tante keine Anstalten machte zu sprechen, platzte sie heraus: »Erstens: Lass dir doch helfen mit dem Obst. Und zweitens: Warum hast du mir nicht gesagt, was mit mammas Aufzeichnungen ist?«

Nach einem kurzen Schweigen kam aus dem Blätterdach der Kirsche: »Was soll denn mit ihnen sein?«

»Sie sind völlig sinnverdreht. Ganz seltsam. Ich würde fast sagen, das ist nicht die Vorlage zu mammas Buch.«

»Wieso? Geht es nicht um Cogne und die Partisanen?«

Die Tante zupfte an einem Kirschenzweig, und Gianna hatte das untrügliche Gefühl, dass ihr etwas verschwiegen wurde. »Doch, aber gerade das ist es ja.«

»Versteh ich nicht.« Mafalda war die Ahnungslosigkeit in Person, als sie mit dem Erntekorb von der Leiter herabstieg. »Uff, ist das schwer diesmal, aber eine Pracht, eine wahre Pracht. Hier, schau.« Sie präsentierte Gianna eine blutrote Kirsche, doch diese ließ sich nicht beirren.

»Ich glaube, du verstehst sehr gut. Zia, ich liebe dich, aber halt mich nicht zum Narren. Du kennst diese Aufzeichnungen. Und du kennst mammas Geschichte. Mein Gott, du warst Leos Schwester und staffetta bei den Partisanen, du hast sie womöglich für die Garibaldini geworben …«

»Ich hatte damit nichts zu tun«, verteidigte sich die alte Dame. »Maria hat selbst entschieden, in den Widerstand zu gehen.«

»Aber sie war doch hier, im Jahr vor meiner Geburt. Hierher nach Sant’Amato kam sie im Juni 1944, herrje, so beginnt doch ihr Buch! Zumindest in der Version, die du in jedem Buchladen von Bozen bis Brindisi kaufen kannst. Jetzt sag mir bloß nicht, es sei anders gewesen.«

Gianna hatte sich in Rage geredet.

Mafalda stellte den Korb ab. »Doch, so war es. Sie kam aus Turin zu uns, keine zwei Wochen nach dem venerdì di sangue …« Sie stockte und brach ab.

»Es tut mir leid«, murmelte Gianna und verwünschte ihre Taktlosigkeit. An jenem »Blutfreitag«, wie er im Ort seitdem hieß, hatten die Faschisten in Sant’Amato gewütet. Mafaldas Bruder und ihre Schwägerin waren damals gestorben, zusammen mit einem halben Dutzend weiterer Dorfbewohner. Kaum einer sprach je darüber. Und doch hatte es kaum einer vergessen.

Zia Mafalda bekreuzigte sich still und seufzte. Dann fuhr sie mit fester Stimme fort. »Was blieb Maria anderes übrig? Turin erlebte schwere Luftangriffe, sie war ausgebombt, schlief auf einer Pritsche im Studentenheim. Und mit den Schwestern in Aosta, na ja …« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Dann schlossen die Turiner Universitäten endgültig. Die Lage war aussichtslos. So flüchtete deine Mutter hierher und geriet mitten ins Chaos nach dem Wüten der Faschisten. Dabei kam sie doch selbst kaum über den Tod ihres Vaters hinweg …«

»Zia, ich will dich nicht quälen«, unterbrach Gianna ihre Tante, »aber auch das weiß ich. Mammas Leben, das Buch … ich glaube, ich kann inzwischen jedes Detail herbeten.« Zumindest dachte ich das immer, fügte sie im Stillen hinzu.

»Und so war es ja auch!«, rief Mafalda. In ihrem Gesicht spiegelte sich ihr innerer Aufruhr. »Maria wollte uns sehen, uns alle hier! Leos Widerstand gegen die nazifascisti hatte sie tief beeindruckt, sie wollte ihm nacheifern. Und sie mochte meine Schwägerin Gioia sehr, weißt du? Sie hat sich von Turin aus bis hierher durchgeschlagen. Keine Ahnung, wie sie das gemacht hat. Und als sie endlich hier ankam, fand sie nur noch mich vor und die verstörten Kinder.« Mafalda sah Gianna ernst an. »Sie kam zu uns, weil sie Halt suchte – und musste mithelfen, Gioia zu begraben.« Die Tante nahm den Erntekorb wieder auf und hielt ihn wie einen Schild vor sich. »Das hat sie in die Berge getrieben, das hat sie zur Partisanin gemacht! Als Maria Sant’Amato verließ, da hatte sie noch keine Ahnung von Politik. Da wollte sie nur eins: Rache für ihren Vater. Rache für Leo und Gioia.« Sie schüttelte den Kopf, und mit einem Mal sah sie so alt aus, wie sie tatsächlich war. »Es hat ihr nichts genützt. Rache nützt nie etwas.«

»Wieso sagst du das? Ihr Kampf hat sich doch gelohnt. Schau, was sie erreicht hat. Mamma hat das Land nach dem Krieg mitaufgebaut, sie war bei der Befreiung Turins dabei …«

»Bist du dir da so sicher?« Mafaldas Gesichtsausdruck war unergründlich. »Wie weit hast du schon in Marias Notizen hineingelesen?«

Ach ja, die Notizen.

»Genau darüber wollte ich mit dir reden.« Gianna berichtete der Tante von den geänderten Textpassagen und der zweiten Porträtskizze. »Diese Zeichnung ist anders. Und sie trägt eine Signatur. Wer ist ›JS‹?«

Diesmal ließ zia Mafaldas Antwort noch länger auf sich warten. Schließlich seufzte sie ergeben, setzte den Korb wieder ab und winkte Gianna hinter sich.

»Komm …«

Sie führte Gianna zur nächsten Gartenterrasse ein Stockwerk tiefer und zu einem großen Apfelbaum. »Erinnerst du dich, was es mit diesem Garten auf sich hat?« Sie strich über die rissige Rinde des Baumes und fuhr fort, ohne Giannas Antwort abzuwarten. »Das hier ist ein zuccalmaglio, ein prächtiger Winterapfel. Ich habe ihn gepflanzt, als mein Vater Alberto gestorben ist. Ich bin noch nie gern auf unsere Friedhöfe hier gegangen, zu viel Stein, zu viel Sonne, zu wenig Grün. Und so habe ich meinem Vater einen Baum gewidmet, der für ihn weiterlebt und um den ich mich kümmern kann. Es fühlt sich richtig und gut an, außerdem liefern die Äpfel einen vorzüglichen Belag für meine crostata di mele. Und so habe ich all die kommenden Jahre weitergemacht. Für jedes Familienmitglied, das gestorben ist, habe ich einen Obstbaum gepflanzt.«

»Auch für Leo und Gioia?«

Mafalda wies zum Ende der Terrasse, wo zwei knorrige Stämme mit prächtigen Kronen den Steilhang beschatteten. »Dort drüben. Sie liefern die köstlichsten Birnen, die du dir vorstellen kannst. Und die Süßkirschen, die ich gerade vorher geerntet habe, die habe ich für meinen armen Davide gesetzt und dessen große Liebe. Marina hieß sie. Aber das ist eine andere Geschichte … jetzt komm mit.« Die Tante führte Gianna ein Stück weiter zu einem Bäumchen, dessen Blüten einen betörenden Duft verströmten. »Schau, ich habe für Maria diese Wollmispel gesetzt. Sie stammt nicht von hier, ursprünglich kommt sie nicht einmal aus Italien. Doch seit Jahrhunderten wächst und gedeiht sie hier prächtig. Die Riviera ist nun ihre zweite Heimat. Denn genauso hat es Maria, deine Mutter, auch empfunden. Ihre ›Zuflucht‹ hat sie Sant’Amato immer genannt.«

Sprechen wir von derselben Frau, die uns immer allein hierher hat fahren lassen? Gianna murmelte, das habe sie bisher gar nicht gewusst.

»Sie hat mir einmal gesagt«, fuhr Mafalda fort, »es tröste sie der Gedanke, dass wenigstens ihre Kinder den ligurischen Sommer erleben dürfen. Weißt du, deine Mutter hatte viele Aufgaben, viele Gesichter. Sie hat es euch sicher nicht leicht gemacht …« Sie strich über das samtige Blatt des Bäumchens. »Aber diese Mispel, ihre Mispel, duftet wie keine zweite in meinem Garten. Und ihre Früchte, die nespole, schmecken zuckersüß.«

Wind kam auf und brachte ein tiefes Tuten vom Meer. Ein Tanker mit Exxon-Logo pflügte vor der Bucht durchs Meer und schob sich dem Hafen Genua entgegen. Ist Sant’Amato noch eine Zuflucht? Gianna war sich nicht mehr sicher. »Die Signatur auf dem Bild sagt dir wirklich nichts? Und die veränderten Passagen in mammas Notizen?«, hakte sie ein letztes Mal nach. »Ist das eine Art Urversion? Oder ein zweites Tagebuch?«

Mafalda seufzte. »Lies, dann wirst du verstehen …«