Marina, Marina - Grit Landau - E-Book
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Marina, Marina E-Book

Grit Landau

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Beschreibung

Die wechselvolle Geschichte eines italienischen Dorfes und seiner Bewohner und der Roman einer leidenschaftlichen Liebe für alle, die Italien und das italienische Lebensgefühl lieben Eine große Liebesgeschichte mit viel italienischem Flair. Anfang der 1960er Jahre eroberte der Schlager "Marina, Marina" die Herzen der Italiener und der ganzen Welt. Der junge Nino aus dem kleinen Küstenort Sant'Amato an der Riviera versteht das nur zu gut, betet er doch – zwar heimlich, doch dafür umso heftiger – selbst eine Marina an: die schöne Frau des Friseurs und Mutter seines besten Freundes. Doch Marina beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit einem Mann, dessen Identität Nino erst viele Sommer und etliche canzoni später erfahren soll. Bis dahin spinnt das Schicksal seine Fäden: Ninos Tante erfüllt sich einen lang gehegten Traum, der Cousin seines Vaters verliebt sich in eine deutsche Urlauberin, die von einem Hotelbalkon stürzt, und auch Marinas geheime Liebe bleibt nicht ohne Folgen. Begleitet von den Hits der Saison, wird der Leser Zeuge vom Leben und Lieben in Sant'Amato, von Tragödien, deren Ursprung weit in die italienische Vergangenheit zurückreichen, und von Dramen, die das Leben der Bewohner für immer verändern.

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Seitenzahl: 498

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Grit Landau

Marina, Marina

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Kennen Sie noch den Schlager »Marina, Marina«? Anfang der 1960er Jahre machte er Furore und eroberte die Herzen in Italien und der ganzen Welt.

Der junge Nino aus dem kleinen Küstenort Sant’Amato an der Riviera versteht das nur zu gut, betet er doch – zwar heimlich, doch dafür umso heftiger – selbst eine Marina an: die schöne Frau des Friseurs und Mutter seines besten Freundes. Doch Marina beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit einem Mann, dessen Identität Nino erst viele Sommer und etliche canzoni später erfahren soll. Bis dahin spinnt das Schicksal seine Fäden: Ninos Tante erfüllt sich einen lang gehegten Traum, der Cousin seines Vaters verliebt sich in eine deutsche Urlauberin, die von einem Hotelbalkon stürzt, und auch Marinas geheime Liebe bleibt nicht ohne Folgen.

Begleitet von den Hits der Saison, wird der Leser Zeuge vom Leben und Lieben in Sant’Amato, von Tragödien, deren Ursprung weit in die italienische Vergangenheit zurückreichen, und von Dramen, die das Leben der Bewohner für immer verändern.

Inhaltsübersicht

Le Famiglie1960Uno1961DueTre1962Quattro1963CinqueSei1964Sette1965Otto1967Nove1968DieciUndici1944Dodici1980TrediciQuattordiciEpilogNachwortRezepteAGNELLO AL FORNO (im Buch Seite 14)SUGO ALLE VONGOLE (im Buch Seite 38, 42, 45)SORBETTO AL BASILICO (im Buch Seite 347)MusikDankGlossar
[home]

Le Famiglie

LANTERI

 

Davide Lanteri, Besitzer der wichtigsten Olivenplantage und Ölmühle von Sant’Amato, der Frantoio Lanteri

Nunziata Lanteri, seine Frau, eine geborene Parodi, Schwester von Don Benedetto und Luca Parodi

Nino, ihr ältester Sohn und Erbe, ein Tierfreund und leidenschaftlicher Taucher

Mariangela, ihre Tochter

Leonida »Leo« Lanteri, Davides Vater, ein Kriegsheld

Gioia Lanteri, Davides Mutter, stammt aus Sardinien

Bragadin, der ehemalige Pressmeister der Frantoio Lanteri

 

 

VASSALLO

 

Carlo Vassallo, Friseur in Sant’Amato, einst der beste Freund von Leo Lanteri

Marina Vassallo, seine Frau, geboren und aufgewachsen in Rom, in einem Arme-Leute-Viertel nahe der Cinecittà

Matteo, ihr ältester Sohn, ein Nachwuchsfußballer

Flora, ihre Tochter, später Sekretärin in Rom

Raffaele, Marinas jüngster Sohn, er kommt ganz nach seinem Vater und Großvater

Sofia Vassallo, Carlos Schwester, eine Ex-Krankenschwester

 

 

PARODI

 

Luca Parodi, der Verkehrspolizist (poliziotto) von Sant’Amato, ein Nichtsnutz mit Hang zum Glücksspiel

Stella Parodi, seine bildhübsche Frau, eine geborene Amoretti. Stella wurde schon mit fünfzehn Mutter, sie träumt von einer Karriere als Schönheitskönigin.

Giuseppe »Beppe«, der älteste Sohn und das klügste Mitglied der Familie Parodi. Ein Selfmademan.

Violetta, die Tochter von Stella und Luca

 

 

AMORETTI

Mafalda Amoretti, eine geborene Lanteri. Leos jüngere Schwester, im Krieg Partisanin. Witwe des Kommunisten Vincente Amoretti.

Gianni, ihr Sohn, ein Kinderarzt. Aus Familientradition ebenfalls Kommunist.

Stella, ihre Tochter und jetzige Frau von Luca Parodi

Buffon, ihr Hund, ein gescheckter Tigerdackel

 

 

MORONE

 

Enzo Morone, illegitimer Halbbruder von Leo Lanteri. Kriegsgewinnler, Filmproduzent und reicher Geschäftsmann.

Alice Grand, seine Frau Nr. 3, ein US-Starlet mit Drogenproblem

Isabella, la Giraffa, seine einzige Tochter

 

 

GLI ALTRI

 

Don Benedetto, Sant’Amatos Pfarrer, später Weihbischof in Genua, ältester Bruder von Nunziata und Luca Parodi

Renate »Reni« Klopp, Tochter des deutschen Industriellen Willy Klopp aus Wuppertal

Giorgio Merlan, ein berühmter Opernregisseur aus München

Lilo Merlan, seine erste Frau, eine Fotografin

Maestro Barnabà, Buchhändler in Rom, im Nebenberuf Souffleur am Theater, eine Art geistiger Ziehvater für Marina

Agnese Parodi, eine entfernte Tante der Geschwister Nunziata, Luca und Benedetto Parodi

Guy Barone, geboren als Gaetano Baroni in Alassio, jetzt US-Showstar mit Engagement im Hotel »Riviera« in Las Vegas

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1960

»Mi sono innamorato di Marina  …«

 

 

Titel: »Marina«, Künstler: Rocco Granata, Jahr: 1959, verkaufte Singles in Italien bis Ende 1960: 1 Million, weltweit insgesamt: 10 Mio.

Granata sagte über die Geburt seines größten (und einzigen) Hits: »Ich improvisierte damals in einer Bar, während meine Bandkollegen Pause machten. Da sah ich das Plakat mit dem Mädchen und der Reklame für diese bekannte Zigarettenmarke damals: Marina.«

Uno

Es ist für Marina.«

Jetzt war es raus. Nino hatte zum ersten Mal ihren Vornamen laut ausgesprochen, hatte sie genannt wie in seinen Träumen. Nicht signora Vassallo. Nicht la Romana wie die meisten Alteingesessenen in Sant’Amato. Nein, Marina nannte er sie. Ma-ri-na. Nur drei Silben, und doch steckte in ihnen die ganze Sehnsucht seines dreizehnjährigen Lebens.

Beppe, sein Cousin und zweitbester Freund, zeigte sich unbeeindruckt.

»Häh?«, sagte er und kratzte sich hinter einem seiner abstehenden Ohren. »Welche Marina?«

»Na, Marina Vassallo.«

»Die vom Frisiersalon da drüben?« Beppe wollte schon zum anderen Ende der Piazza zeigen, doch Nino fiel ihm in den Arm.

»Ja, Mensch.«

»Nein.«

»Doch.«

»È vero?«

»Wenn ich es doch sag.«

»Was, die Frau von Carlo Vassallo? Matteos Mutter?«

»Ja, verdammt. Nicht so laut.«

»Aber, aber …«, sein Freund rang nach Worten, »die ist ur-alt. Mamma sagt, die ist sogar älter als papà, und der ist fünfunddreißig.« Beppe schüttelte fassungslos den Kopf. Dann sah er Nino streng ins Gesicht.

»Ninù, du verarschst mich.«

»Tu ich nicht.«

Beppe streckte beide Zeigefinger aus, tippte und rieb sie längs aneinander und schnitt eine ungläubige Grimasse. »Du willst mir also tatsächlich weismachen, du treibst es mit der Mutter deines Pultnachbarn?«

Gott, wie konnte Beppe nur!

»Was? … Nein!«, rief Nino. »Und hör bloß auf, so über sie zu reden. Ich …«, er zögerte, »… ich liebe sie.«

Ungläubiges Schweigen.

»Du liebst sie?« Beppes Augen wurden rund wie die Glasmurmeln, mit denen er früher immer die anderen Dorfjungen abgezogen hatte. Dann begann er haltlos zu lachen.

»Schau dir den an, Buffon!«, rief er ihrem vierbeinigen Begleiter zu, der daraufhin höflich wedelte. »Wir reden hier von der Mutter seines Lieblings Matteo, dieses hirnlosen Kickers, ja? Der Mutter, Buffon! Und: Er liebt sie …« Beppes Stimme troff vor Spott.

Giovanni Lanteri, von aller Welt nur »Nino« gerufen, fühlte, wie sein ganzer Kopf erglühte. »Pssssst«, zischte er, »nicht so laut.«

Sie hockten an der Ostseite von San Pietro auf einer Bank im Schatten der Pinien, schnippten Steinchen über das Pflaster des Kirchplatzes und warteten darauf, dass sich zia Mafaldas altersschwacher Dackel so weit erholte, dass sie weitergehen konnten. Pure Zeitverschwendung nannte Ninos Mutter Nunziata diese Touren und zog jedes Mal ein Gesicht, wenn er losging, um den Hund von Mafaldas Grundstück zu holen, wo er – ab und an mit Essensresten versorgt – allein wachte, während die Tante im ospedale lag.

»Was hast du nur immer mit all dem Viehzeugs?«, schimpfte sie dann und forderte, er solle lieber seinem Vater mit der Sense zur Hand gehen, beim Mähen in den Hainen. Wozu sonst seien die Sommerferien da? Helfen solle er und lernen, wie ein Lanteri zu leben: für die Erde, für die Oliven. Nicht für unnütze Viecher, die man längst entsorgen sollte. Nino hörte seiner Mutter zu und nickte, zog dann aber trotzdem los, zum alten Buffon, zu den Hafenkatzen oder zur Delfinbucht – ja, am allerliebsten hinunter zum Meer, wo ihn das türkisblaue Wasser lockte und das silbrig schimmernde Leben darin. Denn was war ein Mensch ohne Herz, ohne Träume? Nino dachte an seine Pläne für die Zukunft und wusste: Die Enttäuschung seiner Mutter würde unendlich sein, wenn er Sant’Amato eines Tages verließe. Den Gedanken an die Reaktion seines Vaters schob er weg.

Nino hockte weiter neben dem kichernden Beppe und bereute längst, dass er ihn überhaupt um Hilfe gebeten hatte, als dieser sich endlich beruhigte.

»Na gut«, sagte Beppe und zeigte sein übliches Komplizen-Gesicht, »ich versteh schon, dass du diesmal nicht deinen heiß geliebten Matteo fragen kannst. Da Juventus Turin also wegfällt, darf jetzt wieder Sampdoria Genua ran, was?«

»Ach, komm schon.« Nino wunderte sich ein wenig über Beppes Eifersucht. Trotzdem befürchtete er nicht, dass dieser ihn hängen ließ. Sein Cousin mochte ein Schlawiner sein, jemand, der aus Kontakten Profit schlug, dazu noch ein eitler Geck und Fan des falschen Fußballvereins – doch wenn es darauf ankam, das wusste Nino, hatte er keinen treueren Freund als ihn.

»Ma che cazzo vuoi? Ich kapier’s immer noch nicht!«, rief Beppe jetzt. »Ich soll dir eine Single besorgen?«

»Ja.«

»Aber welche? … Ah, die mit ihrem Namen etwa?« Beppe summte die Melodie, und Nino nickte. »Kriegst du das hin?«

»Keine Chance. Die läuft doch rauf und runter im Moment, ist bestimmt komplett ausverkauft.«

»Deshalb frag ich ja dich …«

»Hmmm«, machte sein Cousin und schnalzte mit der Zunge. »Das wird dich was kosten …«

»Wie viel?«

Nino hatte in den vergangenen Monaten sein Taschengeld so eisern gespart wie noch nie, aber das würde er Beppe nicht verraten, sonst würde sein Geschenk für Marina noch teurer werden.

»Lass mich überlegen«, sagte Beppe. »Ich muss dazu nach Imperia, du weißt schon, zu dem Plattenladen gleich hinterm Dom im Stadtteil Porto Maurizio. Dazu brauch ich den Roller, den bekomm ich nur mittwochs organisiert, wenn der alte Testa ihn nicht braucht. Und meine Eltern dürfen das nicht spitzkriegen. Also, das wird schwer. Sehr schwer …«

»Jetzt sag schon. Wie viel?«

Beppe zog die Nase hoch. »Dreitausend. Und ein halbes Päckchen Chesterfields.«

»Sei pazzo?!«, rief Nino und tippte sich an die Stirn. »Ich geb dir die Hälfte und fünf Zigaretten. Mehr hab ich nicht.«

Beppe prustete los, stieß ihm scherzhaft in die Seite.

»Ein Lanteri ohne Geld? Schon klar, erzähl das Don Benedetto bei der nächsten Kollekte. Zweifünf und sechs.«

»Du ruinierst mich …«, stöhnte Nino, »mehr als zweitausend geht wirklich nicht.«

»Zweifünf und sechs. Letztes Wort.«

»Stronzo!«

»Letztes Wort.«

Beppe erhob sich und streckte Nino die Hand hin. Um sie herum erwachte der Kirchplatz nach der Mittagshitze zu neuem Leben. Der dicke Ottavio schloss seine Bar an der Ecke auf, die Metzgerei seines Bruders nebenan zog rasselnd die Schutzgitter hoch, die zweite Tageshälfte begann. Auch im Frisiersalon drei Häuser weiter surrten die Jalousien; Nino achtete darauf, nur ja nicht hinzusehen. Die neue signora Morone klapperte auf Pfennigabsätzen an ihnen vorbei, ihre Pudeldame im Schlepptau. Sofort spitzte Buffon die Ohren, rappelte sich auf und fiepte. Nino gab sich einen Ruck. Was tut man nicht alles aus Liebe.

»Also gut, Halsabschneider«, sagte er, stand ebenfalls auf und schlug ein. Beppe lächelte.

»Gleich morgen bringst du mir das Geld, ja? Unten am Strand, im Laden für die Touristen, hab ich ein Polohemd gesehen, das letzte in meiner Größe. Genauso eins trägt Celentano. Und nächsten Donnerstag bekommst du dafür die Single.«

Sie schlenderten los und tauchten ins Labyrinth der Gässchen und Treppendurchgänge von Sant’Amato ein. Wenig später hatten sie die Altstadt durchquert und wanderten über die Via della Rivolta und den Klippenweg zurück zu zia Mafaldas Anwesen, das sich am Ortsrand an den Steilhang schmiegte. Vom Meer kam ein lauer Wind, auf dem die Möwen gelassen hinunter zum Hafen glitten. Unten am Strand öffneten sich die ersten Sonnenschirme. Nino sog den Geruch des Meeres tief in seine Lungen und lächelte. Ferienzeit. Und endlich reichte sein Erspartes für den Tauchkurs.

Die beiden Freunde hatten die Hälfte des Pfades schon hinter sich, da blieb Beppe unvermittelt stehen.

»Aber hör mal, eins frag ich mich doch die ganze Zeit: Warum ausgerechnet die Vassallo? Ich mein, keine Frage, die ist eine Granate. Auch mamma guckt böse, wenn papà neuerdings lieber zu Vassallos Salon geht als zum alten Ruggero und seinem Barbiermesser im Hinterhof. Und klar, die kann kochen, dass du denkst, du hörst die Engel im Himmel singen, das wissen wir alle spätestens seit ihrem agnello al forno zu Ostern. Aber ich bitte dich, Ninù, schau dich doch mal an! Du bist jung, du hast das gute Aussehen der Lanteris, musst dich auch nicht mit meinen Fledermausohren rumschlagen, warum nimmst du dir nicht ein junges, hübsches Mädchen?« Beppes Miene nahm einen andächtigen Ausdruck an. »Ich weiß, sie spielt in einer anderen Liga als wir – aber hast du neulich Isabella gesehen? Die hat Klasse.«

»Die Tochter von Enzo Morone? Ich bin doch nicht lebensmüde.«

»Oder meinetwegen auch Matteos Schwester Flora? Warum die Mutter?«

Ja, warum nur, dachte Nino. Weil keine andere so lebendig ist? Weil keine in ihrer Küche ganze Filme nachspielt? Weil ich es liebe, wie sie mit dem Radio um die Wette singt? Und süchtig bin nach ihrem heiseren Lachen? Weil mich die Sehnsucht nach ihr nächtelang wachhält? Weil ich es jedes Mal, wirklich jedes Mal, kaum erwarten kann, bis ich sie endlich wiedersehe?

Nino zuckte mit den Achseln und schwieg.

»Nun ja, egal«, sagte Beppe und lachte, »amore regge senza legge, das hast du dir nicht ausgesucht.«

Sie hatten Mafaldas Haus erreicht und sperrten Buffon in den Hof, wo er mit hängenden Ohren zurückblieb – ein geschecktes Ungetüm mit Drahtbürstenbart und Elendsblick. Bevor sie sich trennten, packte Nino seinen Cousin an der Schulter und starrte ihn eindringlich an.

»Das ist doch klar, oder? Kein Wort zu niemandem.«

Beppe machte ein beleidigtes Gesicht.

»Hab ich dich je verraten?«

*

Nino musste diesmal nicht lange warten. Zwei Tage später, an einem Samstag, nahm ihn sein Vater Davide Lanteri mit hinunter nach Sant’Amato, zum Haareschneiden im Salon Vassallo. Ninos Mutter Nunziata hatte sich ein paar spitze Bemerkungen über die Rückkehrer aus der Hauptstadt nicht verkneifen können, doch sein Vater hatte ihre Einwände mit einer Handbewegung beiseitegewischt.

»Die Vassallos sind ebenso gut wie der Friseur in Alassio und eindeutig besser als Ruggero mit seinem Triefauge. Ich will Carlo beistehen, so, wie er meinem Vater früher beigestanden hat. Und egal, wie lange er weg war, egal, wen er dort geheiratet hat – er ist ein Santamatino wie wir.«

Nunziata schürzte die Lippen, und auch Nino war überrascht. Denn es kam kaum je vor, dass sich sein schweigsamer Vater in den Alltag der Familie oder in Dorfangelegenheiten einmischte. Diese Dinge zu organisieren, überließ er Ninos Mutter, die so viel besser darüber reden und auch streiten konnte als er. »Du hattest doch davon gesprochen, mit mir heute vielleicht nach Alassio zu fahren«, sagte sie jetzt.

»Das können wir später ja noch machen.«

»Aber kann Nino nicht auch nächsten Samstag gehen?«, beharrte seine Mutter, die es noch weniger leiden konnte, wenn Dinge, die ihre Kinder betrafen, ohne ihr Zutun geschahen. »Vassallo und seine Römerin bleiben uns da unten ja wohl erhalten, leider Gottes.«

Die grünen Augen seines Vaters wurden hart wie unreife Oliven. »Wir gehen heute.«

Nunziata setzte zu einer erneuten Erwiderung an, doch die ruhige Stimme ihres Mannes ließ sie verstummen.

»Cara, adesso basta.«

 

Nur wenig später folgte Nino der breitschultrigen Gestalt seines Vaters die Stufen der Scaletta di San Pietro hinab, zwischen Agaven und Scheibenkakteen, den Berghang im Rücken und vor den Augen die Bucht, ganz weit und zartblau im Licht des Vormittags. Sonst liebte er diese Gänge mit seinem Vater. Der ältere Lanteri schritt voran, der jüngere hinterher. Generation folgte auf Generation, so sicher wie der nächste Sonnenaufgang draußen über dem Meer. Nino betrachtete seinen Vater, dessen wiegenden Gang und kompakte Statur, von der Arbeit im Hain und den langen Tagen auf den Oliventerrassen geprägt. Ja, Davide Lanteri war stark, doch in den Erzählungen der Alten blieb er stets il Giovane. Zu mächtig war das Echo seines eigenen Vaters Leonida, des Kriegshelden, der weit oben in den Bergen lag – unerreicht, ungeborgen und unvergessen.

Nino wusste, es war vor allem dem Opfer seines Großvaters geschuldet, dass die Familie Lanteri im Ort größten Respekt genoss. Und gerade ihn, den Heldenenkel mit dem weichen Herzen, schien man besonders zu lieben. Nino fühlte sich in den gepflasterten Gassen von Sant’Amato, den carruggi, stets willkommen und flüchtete oft hierher, wenn ihm das Joch seines Erbes, die stille Arbeitswut seines Vaters und die Gebete seiner Mutter zu viel wurden. Heute allerdings erfüllte ihn der Abstieg vom Gut hinunter in den alten Ortskern – über lange Treppen und Treppchen, auf ausgetretenen Stufen und überwucherten Torwegen – nicht wie sonst mit Freude. Stattdessen war ihm, als führe ihn sein Vater zum Schafott.

Wie sollte er es nur ertragen, mit ihr zusammen in einem Raum zu sein, während alle zusahen? Wie konnte er vermeiden, dass er sich verriet? Denn es war eine Sache, nachmittags bei Matteo vorbeizuschauen – wenn er mit ihm Diktat übte oder ihn zum Angeln oder Schwimmen abholte – und dabei auch Marina anzutreffen, zu einer Tageszeit, wo Mütter und Kinder unter sich blieben. Aber dieser Gang zum Friseur war eine andere, viel heiklere Angelegenheit. Matteo würde fehlen, samstags war Fußballtraining, dafür würden sein Vater und Marinas Mann Carlo zugegen sein, erwachsene Männer. Und die würden das Begehren womöglich erkennen, das jedes Mal durch seinen Jungenkörper tobte, sobald Marina auftauchte. Eine schreckliche Vorstellung, die Ninos Schritt lähmte, sodass er, sobald sie Sant’Amato erreicht hatten, immer weiter zurückfiel, je näher er und sein Vater der zentralen Piazza kamen. Dass er dort zudem noch auf seinen Mitwisser Beppe Parodi traf, der gerade mit den Perretti-Brüdern am Brunnen herumlungerte und der Welt sein neues Polohemd präsentierte, machte es nicht besser.

»Buongiorno, signor Lanteri.«

»Ciao, wie geht’s?«

»Ah, lässt du dir die Haare machen, Ninù?«

»Wunderbar!« So grüßten und witzelten sie, und obwohl Nino auf Beppes Schweigen vertraute, brach ihm der kalte Schweiß aus, sodass ihm binnen Sekunden das Hemd auf der Haut klebte. Na großartig, und jetzt auch noch Flecke unter den Achseln.

Die Glasfront in der Mitte der Tür zum Frisiersalon trug die Aufschrift Vassallo – Parrucchiere dal 1896. Carlo Vassallo war zwar erst im vergangenen Winter aus Rom zurückgekehrt, als Erbe seines Onkels, doch die Mitglieder seiner Familie frisierten die Santamatini schon in dritter Generation, und so verströmte der Salon mit seinen holzverzierten Wandspiegeln und den lederbezogenen Frisierstühlen den Duft alten Handwerks und vergangener Zeit. Als Ninos Vater den Messingknauf der Tür drehte und sie eintraten, bimmelte ein Glöckchen im Innern und verriet ihr Kommen. Doch niemand war da. Das heißt, natürlich herrschte Betrieb im Salon: Carlos redselige Schwester Sofia fegte Haarbüschel zusammen und trug sie nach draußen. Signora Bruzzone – wie immer ganz in Schwarz – stemmte sich mit bereits fertig frisiertem Haar aus dem Stuhl und griff nach ihrem Gehstock. Stadtrat Rossi, mit verräterisch dunklen Koteletten, richtete vor dem Wandspiegel neben der Garderobe seine Krawatte, und die winzige signora Pertini hockte in der Mitte, den halben Oberkörper unter einer gigantischen Trockenhaube. Doch Carlo selbst war nicht zu sehen, und auch die einzige Person, auf die es Nino ankam, fehlte. Davide Lanteri schickte einen Gruß in die Runde, der von allen Seiten erwidert wurde. Dann blieben sie neben der Tür stehen und warteten. Wo ist sie?

Als Marina Vassallo aus dem Hinterzimmer eilte, mit den Händen noch im hastig hochgesteckten Haar, brachte sie ihren typischen Duft nach Ginsterblüten mit sich; Nino hatte den Namen des Parfums, das sie verwendete, trotz heimlicher Inspektionen im Bad der Familie Vassallo noch immer nicht herausbekommen. Sie begrüßte Vater und Sohn Lanteri hastig, entschuldigte sich mehrmals ohne besonderen Grund und lotste sie an signora Pertini vorbei zu den Frisierstühlen im hinteren Teil des Salons. Wie üblich, wenn Nino auf Marina traf, versetzte ihm ihr Anblick eine Art schwachen Stromschlag. Bemerkte denn niemand, wie vollkommen diese Frau war? Der Sitz ihres Kleides: perfetto. Die Rundung ihrer Hüften: rasant. Ihr Mund mit der winzigen Lücke zwischen den Schneidezähnen: unwiderstehlich.

Ninos Handflächen wurden feucht, und sein Herz begann zu rasen, als er sich ausmalte, wie er Marinas Lippen berührte, zuerst mit der Hand, dann mit dem Mund. Wie er sie küsste und küsste und dabei Knöpfe öffnete und mit seiner Hand unter den dünnen Baumwollstoff glitt und … Das Bimmeln des Glöckchens, als Sofia wieder eintrat, holte ihn zurück.

Jetzt schürzte Marina ihre unwiderstehlichen Lippen, als Ninos Vater ihr Anliegen beschrieb. Carlo, beschied sie Davide dann, sei heute zur Nachsorge in die Klinik nach Sanremo gefahren – das Herz eben, ja leider – und sie als Ungelernte mit Sofia allein im Salon. Dem Jungen könne sie das Haar schneiden, auch sicher ordentlich, nur wolle er selbst nicht lieber abwarten, bis mit Carlo wieder ein Friseurmeister da sei? Oder doch lieber Ruggero Barberi bemühen, anstatt sich in ihre Hände zu begeben?

»In Ihrem Fall hätte ein Haarschnitt, wie ich sehe, ähm …«, sie stockte, »ja auch noch etwas Zeit. Also, ich meine …« Marinas halb vollendete Sätze standen wie Fragezeichen im Raum.

Sein Vater strich sich mit den Händen durch das dunkle Haar, das sich im Nacken allerdings tatsächlich kaum lockte. Dann sagte er: »Glauben Sie, ich könnte es bereuen?« Er betrachtete sie mit ruhigem Blick.

»Nein«, murmelte Marina, »natürlich nicht.«

»Also?«

Nino hatte noch nie erlebt, dass sein Vater etwas Unüberlegtes tat. Es musste ihm daher ernst sein mit seinem Wunsch, die Familie Vassallo zu unterstützen.

Marina räusperte sich, bevor sie antwortete.

»Va bene. Dann der Junge als Erster. Bitte, hierher …«

Sie winkte Nino zu sich nach vorn und wies ihm einen Platz zu. Dann griff sie nach dem Schutzumhang.

Ihre Finger waren kühl. Sie strichen ihm prüfend durchs Haar, von der Stirn und entlang der Schläfen nach hinten, und schoben sich dann gegen den Strich seinen Nacken hinauf. Sie berührt mich. Nino atmete tief ein und aus. Ihm kam ein verwegener Gedanke: Konnte es sein, dass Marina ihn ebenfalls mochte? Besonders mochte? Warum sonst sollte sie ihn derart verwöhnen? Er schmiegte seinen Kopf in ihre Handflächen und war versucht, die Augen zu schließen, wagte es jedoch nicht. Mein Gott, mag sie mich etwa?!

»Gut«, sagte Marina schließlich leise und legte den Kopf schief, als wolle sie Maß nehmen. Dann griff sie zu Kamm und der Friseurschere, glitt mit Feingefühl unter eine seiner Locken und schnitt sie ab.

Nino wurde schwindlig.

Sein Vater war inzwischen hinter ihnen zur Sitzgruppe neben der Garderobe geschlendert, wo ihn Michele Rossi, assessore municipale im Rathaus, mit der Vertraulichkeit des alten Schulfreunds begrüßte.

»Ciao Davide, come stai?«

»Ciao Miché, è tutto a posto, alles bestens, danke.« Damit begannen die beiden Männer eine oberflächliche Unterhaltung.

Alles bestens?

Bei Rossi lag schon seit März ein Genehmigungsgesuch der Familie Lanteri zur Pflanzung am Colle Sereno. Nino wusste, welche Schlüsselrolle diese Pflanzung in den Plänen seines Vaters spielte. Er wusste außerdem, dass ihnen die Zeit davonlief, weshalb sie Rossi schon vor Wochen einen diskreten Umschlag hatten zukommen lassen. Er hatte die Flüche seines Vaters gehört, über die Unfähigkeit der Verwaltung und seine Abhängigkeit von Rossi, diesem stronzo corrotto. Doch das würde der Stadtrat nie erfahren. Ein Davide Lanteri wahrte stets das Gesicht. Wie bekam sein Vater das nur hin? Dort stand er, im blütenweißen Hemd, das im Gegensatz zu Ninos eigenem noch wie frisch gebügelt aussah. È tutto a posto. Und nur wer seinem Vater so nahestand wie er selbst, hätte an der Sorgfalt, mit der dieser den Sitz seiner Armbanduhr richtete, ablesen können, unter welch innerer Anspannung sein Vater in diesem Moment stand.

Davide Lanteri plauderte mit Rossi über das Wetter und die Serie A, berichtete auch, wie es den Tanten in Amerika ging – »Ja, beide sind in Philadelphia verheiratet, gut versorgt, danke«. Er schenkte Rossi jedoch schon nach kurzer Zeit nicht mehr die Aufmerksamkeit, die diesem andere in seiner Lage zugebilligt hätten. Stattdessen verfolgte er durch den großen Wandspiegel, wie sein Sohn die Haare geschnitten bekam.

Die Zeit dehnte und dehnte sich – bis ins Unendliche. Nino atmete Marinas Ginsterduft ein, seine Kopfhaut kribbelte unter ihren Fingern, und er spürte, wie sich die Härchen an seinen Unterarmen aufstellten. Oh, ja, mach weiter, flehte er still und ergab sich ihrer Schere, mach weiter und hör nicht auf. Nie mehr.

»So, fertig«, murmelte Marina endlich. Sie fuhr mit den Fingern durch sein Haar, kämmte es mechanisch, während auch ihr Blick zum Spiegel wanderte und zu seinem Vater, der sich soeben von Rossi verabschiedete. Nein, bitte! Nino überkam der irrwitzige Wunsch, Marinas Hände festzuhalten, sie zu sich auf den Stuhl zu ziehen und zu küssen. Stattdessen klebte er stocksteif in seinem Sitz und starrte auf sein Spiegelbild. Marina lächelte ihn an, fegte ihm die Haare ein letztes Mal von Schulter und Rücken. Dann waren ihre Hände fort.

Als Nino mit weichen Knien aufstand und mit seinem Vater den Platz tauschte, knuffte ihn dieser freundlich in die Seite.

»Gut siehst du aus. Da hat sich signora Vassallo aber besonders viel Mühe gegeben. Bekomme ich auch so eine liebevolle Behandlung?«

Marina schoss die Röte ins Gesicht. Sie murmelte einen Dank und presste die Lippen zusammen. Dann wies sie mit förmlicher Geste zum Stuhl.

»Bitte hier, signore …«

Warum ist sie so nervös?, wunderte sich Nino. Da kam ihm ein schwindelerregender Gedanke. Fürchtete Marina etwa, dass jemand mitbekam, wie bevorzugt sie ihn behandelte? Ninos Herz machte einen Satz. Die Sorgfalt, die sie auf seinen Haarschnitt verwendet hatte, ihre verlegene Reaktion auf den Scherz seines Vaters – bewies dies nicht, dass Marina ihn vielleicht wirklich mochte? Nino taumelte auf seinen Warteposten bei der Garderobe und rang noch um Fassung, als es laut klapperte.

Marina war die Friseurschere entglitten und zu Boden gefallen. Sein Vater Davide hob sie schnell auf und gab sie ihr zurück. Dann nahm er auf dem Frisierstuhl Platz und nickte Marina zu, ruhige Erwartung im Blick – und dahinter eine Art verborgenes Funkeln, das Nino bei seinem Vater sonst nur sah, wenn dieser die allererste Probe des neuen Öls verkostete. Für einen Moment, so kam es ihm vor, schien der ganze Salon auf etwas zu warten. Dann straffte Marina die Schultern, griff nach einem Rasiermesser und beugte sich über Davides Nacken.

»Stillhalten, bitte …«

»Marina wird sich wunderbar um Sie kümmern«, kam es von Sofia, die gerade Ninos Haare unter dem Stuhl wegfegte. »In Rom hat Carlo sie damals beim besten Friseur von Trastevere untergebracht, ohne Ausbildung. Ein Naturtalent. Mit dem Rasiermesser ist sie fast so geschickt wie ein Barbier alter Schule, das kann ich Ihnen versichern, signor Lanteri.«

»Ich habe keinen Zweifel daran«, erwiderte sein Vater und lächelte. Dann senkte er den Kopf ein wenig und schloss die Augen.

Leise umspielten Geigen ein bittersüßes Akkordeon. Aus dem Radio neben dem geöffneten Salonfenster dudelte die x-te Sondersendung zum plötzlichen Tod von Mario Lanza. Dessen Herz hatte in einem römischen Hotel aufgehört zu schlagen, was die RAI zum Anlass nahm, fast stündlich den letzten Hit des Startenors über den Äther zu schicken: Arrivederci Roma.

Ninos Anspannung legte sich etwas. Hat doch keiner was gemerkt, dachte er, während Lanzas bel canto den Raum füllte. Er rieb sich ein paar Schnitthaare aus dem Nacken und wollte schon nach der Gazzetta dello Sport greifen – von der Titelseite lächelte Boniperti von Juventus Turin –, als auch draußen plötzlich jemand zu singen begann, und das so laut, dass er das Radio mühelos übertönte …

 

Mi sono innamorato di Marina

una ragazza mora, ma carina …

 

Beppe Parodi paradierte durch die Strophe, seine heisere Stimme eine einzige Herausforderung. Als Ninos panischer Blick zum Fenster schoss, konnte er gerade noch das Blitzen in den Augen seines Cousins erahnen, bevor dieser sich wieder wegdrehte, die Arme ausbreitete und den Refrain wie einen Schlachtruf über das Kopfsteinpflaster der Piazza schmetterte.

 

Marina, Marina, Marina,

ti voglio al più presto sposar …

 

Weiter kam er nicht, denn die so Besungene stürmte mit hochrotem Kopf zum Fenster und knallte es zu. Dann drehte sie am Lautstärkeregler des Radios und gab Mario Lanza damit die akustische Oberhand im Salon zurück.

»Wie schade«, murmelte Ninos Vater, und ein kaum merkliches Zucken umspielte seine Mundwinkel. Schade? Nino wunderte sich. Seit wann hatte sein unmusikalischer Vater Sinn für Gesang? Mit seiner angeborenen »Schwäche«, wie er es nannte, hätte sein Vater Caruso nicht einmal von einem jaulenden Hund unterscheiden können.

Sofia Vassallo seufzte und machte ein kummervolles Gesicht.

»Oh, ja, signor Davide, da haben Sie recht, wirklich schade! So eine traurige Geschichte … Lanza war ja noch so jung …«, murmelte sie und wiegte sich im Takt der Melodie. Im Spiegel bemerkte Nino, wie sein Vater den singenden Beppe vor den Fensterscheiben beobachtete.

»So ein schönes Lied«, murmelte Davide Lanteri. Sein Blick glitt zurück in den Raum und zu Marina. »Wo sind nur die Frauen geblieben, die ein Kompliment wie dieses noch annehmen?«

Marina hob die Augenbrauen. »Und wo sind die Männer, die es noch wagen, solch ein Kompliment zu machen?«

Mit diesem Satz kehrte sie an ihren Platz hinter Davides Stuhl zurück und hob erneut die Schere. Eine Weile hörte man nur Scherenklappern und Lanzas Tenor, und Nino wurde auf seinem Platz ganz unruhig. Etwas, so schien es ihm, lag in der Luft. Aber was? Ein Streit? Ehe er darüber nachdenken konnte, schoss ihm die Erkenntnis auch schon wie flüssige Lava durch die Adern: Das Lied – Marina – sie sah es als Kompliment! Sie wünschte sich, dass ihr jemand dieses Kompliment machte. Das war die Lösung! Und er, Nino Lanteri, würde ihr das Lied schenken! Nicht heimlich, sondern persönlich. Vor lauter Aufregung wäre Nino fast aufgesprungen. Ursprünglich hatte er vorgehabt, die Single irgendwie, im Salon oder bei der Sonntagsmesse, in Marinas Handtasche zu schmuggeln, zusammen mit einem anonymen Gruß. Doch das würde nicht genügen, erkannte er jetzt. Marinas Antwort auf die scherzhafte Frage seines Vaters war klar gewesen. Sie wartete auf einen Mann, der den Mut besaß, sich ihr zu erklären. Nur einen solchen wollte sie. Und bei Gott, sie sollte ihn bekommen! Ninos Herz klopfte bis zum Hals.

»Ja, etwas wagen, das haben die Männer früher gekonnt«, ließ sich Sofia vernehmen, während sie signora Pertini endlich von der Trockenhaube befreite. Ihre Stimme hatte einen schwärmerischen Klang angenommen, und in ihrem Gesicht leuchtete ein Lächeln auf. Einen Augenblick lang ließ dieses Lächeln wieder die blutjunge Sofia Vassallo aufscheinen, die Schwesternschülerin am ospedale militare, deren Bräutigam zwei Monate vor der Hochzeit zu den Partisanen gegangen und nie zurückgekehrt war. »Mein Alberto zum Beispiel, der hat sich aus seinem Lager in den Bergen einmal heruntergeschlichen, um mir nachts vor meinem Fenster ein Ständchen zu bringen. Dabei zechte gleich nebenan eine ganze Einheit Schwarzbrigadisten! Und Luigi Testa, die Jüngeren hier kennen ihn ja nur als Tüftler in seiner Werkstatt, der hat sich damals mit drei Deutschen gleichzeitig angelegt, weil die seine Verlobte – endlich hatte er eine! – belästigt haben. Oder denken wir nur an den alten Bragadin oder an Ruggeros Sohn Genio, der uns noch warnen wollte, der Arme. Aber vor allem natürlich – mi scusi, signor Davide, dass ich daran rühre – denken wir an das heldenhafte Opfer ihres Herrn Vaters. Ich habe in meinem Leben keinen mutigeren Mann getroffen als Leonida Lanteri. Keinen mit mehr Ehre. Keinen, der seine Familie und seine Frau mehr liebte. Und Gioia war seiner Liebe würdig, ich glaube, das hat sie an jenem unseligen Tag auch bis zum Schluss getragen, Friede ihrer Asche …«

In diesem Moment klirrte es, und die Tür des Frisiersalons fiel ins Schloss. Signora Bruzzone war grußlos gegangen und tappte jetzt, schwer auf ihren Stock gestützt, über die Piazza und hinab Richtung Meer nach Hause. Alle im Raum beobachteten durch die Glasfront, wie sie dabei ihren üblichen Umweg über ein Seitentreppchen nahm und so die Via dei Fossi umging, jene zentrale Gasse in Sant’Amato, in die signora Bruzzone seit jenem »unseligen Tag« nie mehr einen Fuß gesetzt hatte. Für einen Moment herrschte beklommene Stille im Raum. Dann fuhr Sofia fast trotzig fort: »Aber das muss man sagen dürfen, signor Lanteri, finde ich! Bei allem Unglück, das an jenem Tag geschah: Ihre Eltern waren Helden. Das darf nie vergessen werden, niemals!«

Bei diesen Worten wischte sie sich verstohlen die Augenwinkel und kehrte zu ihrem Besen zurück.

Nino beobachtete gespannt seinen Vater. Auch Davide Lanteri, das wusste er von seiner Mutter, ertrug es kaum, wenn die Sprache auf den venerdì di sangue kam, den Blutfreitag. Wie könnte er auch! Doch jetzt gab sich sein Vater unbeteiligt, so als ginge ihn Sofias Rede und signora Bruzzones Reaktion nichts an. Stattdessen neigte er seinen Kopf ein wenig nach links, um Marina Vassallos Schere ihre Aufgabe zu erleichtern, und warf einen kurzen Blick auf seine Uhr.

Keine zehn Minuten später waren sie dann fertig. Ninos Vater zahlte und winkte seinen Sohn mit einem knappen Nicken zu sich. Marina begleitete sie zur Tür und öffnete sie.

»Grazie,signore, für Ihren Besuch bei uns«, murmelte sie und nestelte an ihrer Frisur, aus der sich eine widerspenstige Locke löste.

»Jederzeit gerne wieder. Grüßen Sie Carlo von mir«, antwortete sein Vater und schob Nino durch die Salontüre hinaus in die Mittagssonne. Nino stand bereits ein Stück weiter oben auf dem abschüssigen Pflaster der Piazza, da stoppte sein Vater in der Tür des Salons und drehte sich nochmals um, als sei ihm im letzten Augenblick ein Gedanke gekommen. Seine Hand fuhr in die Hosentasche.

»Wie unverzeihlich, ich habe das Wichtigste vergessen. Hier, eine kleine Aufmerksamkeit zum Dank. Für Ihre Mühe mit dem Jungen. Es ist wirklich gut geworden …«

Er drückte Marina ein Bündel Lire-Scheine in die Hand und hielt diese kurz fest. Nino konnte den Betrag zwischen den ineinander verschlungenen Fingern nur schätzen, es war auf jeden Fall mehr als üblich.

»Mein Kompliment, signora Vassallo …«

Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Sein Vater und Marina standen dort unten im Schatten des Türrahmens beieinander, und Nino überkam auf einmal das Gefühl, als befände er sich im Traum eines anderen Menschen. Eines Traums voller Zeichen und Rätsel, deren wahre Bedeutung ihm verschlossen blieb. Lass dir von der Sonne nicht das Hirn wegbraten, schalt er sich. Dann verflog das Gefühl, und sein Vater schlenderte zu ihm herauf.

»Auf geht’s, andiamo«, sagte er, klopfte ihm auf die Schulter und schob sich an ihm vorbei. Nino sah Marina Vassallo noch immer in der Salontür stehen und ihnen nachblicken, die Lire-Scheine hielt sie fest umklammert.

Ciao, Marina. Er winkte ihr zum Abschied und folgte seinem Vater über die Piazza. Sie nahmen den gleichen Weg zurück, passierten die Kirche und stiegen dann die unzähligen Stufen der Scaletta di San Pietro hinauf, sein Vater voran, er hinterher. Die Rätsel verblassten, hinterließen in seinem Kopf das vage Echo einer Frage. Und erst fünf Treppenabsätze später konnte Nino den Sinn der Frage greifen: War da nicht ein handbeschriebener Zettel gewesen zwischen den Geldscheinen?

*

Nino duckte sich zwischen die Oleanderbüsche vor dem Haus der Vassallos und bebte vor Erwartung. Heute sollte es sein! Matteo hatte ihm erzählt, sein Vater Carlo würde bis spät in die Nacht unterwegs sein, um einen neuen Waschsessel aus Genua abzuholen. Matteo und seine jüngere Schwester wiederum verbrachten die Nacht bei Sofia, um auf dem Fernsehgerät der Tante das Halbfinale der campionato europeo in Frankreich zu verfolgen. Ihre Mutter Marina, sonst stets von Mann und Kindern umgeben, würde den Abend daher allein verbringen. Ja, Marina war allein und er auf dem Weg zu ihr, was für ein köstlicher Gedanke!

Die Via della Rivolta, in der die Friseurfamilie von Sant’Amato schon seit Ewigkeiten lebte, bildete den äußersten Ring der Altstadt und mündete an ihrem unteren Ende in die Auffahrt von der Küstenstraße. Wer hier wohnte, konnte sogar noch mit seinem Auto vor der Haustür parken und genoss den freien Ausblick über die Bucht, bekam jedoch auch jede Regung der Natur als Erstes zu spüren. Etwa den scirocco, den die Fischer schon gestern erwartet hatten und der jetzt vom Meer heraufstrich. Er trieb Nino roten Sand in die Augen und erhitzte sein Blut. Gut so, dachte er, schwül und unberechenbar, das ist das perfekte Wetter für diese Nacht. Wetter für Dummheiten. Jetzt-oder-nie-Wetter.

Unter dem Arm trug er die Single mit dem Lied, notdürftig in das Löwenkopf-Papier geschlagen, in dem sonst die Ölflaschen der Frantoio Lanteri eingewickelt wurden. Beppe hatte, allem Spott zum Trotz, Wort gehalten. Die Single war brandneu, die Albumhülle ungeöffnet. Aber jetzt kam das Allerschwerste: Nino musste klingeln und Marina zeigen, dass er ein Mann war, einer, der etwas wagte. Er schob sich aus seinem Oleanderversteck, zögerte, starrte auf die Tür. Hinter ihm, weit draußen auf dem Meer dröhnte das Nebelhorn eines Öltankers, der kurz vor dem Zielhafen Genua seinen Kurs ein letztes Mal anpasste. Der heiße Wind trieb das Echo seines Signals gegen die Tür des Hauses und weiter hinauf über das Dach bis zu den Oliventerrassen.

Marinas Tür.

Die Tür mit der Klinke, die sie jeden Tag benutzte. Die Klinke, die auch er, der Eindringling, jetzt berühren würde. Nino fühlte sich für einen Moment wie ein Dieb – es war nicht recht, was er tat. Oder doch? Was, wenn Marina ihn erwartete, was, wenn sie genau deshalb ihre Kinder zur Tante geschickt hatte? Er klingelte.

Irgendwo im Haus bimmelte eine Glocke. Nino, abwartend, betrachtete seine Finger auf dem Klingelknopf, begutachtete seinen mageren Arm mit dem hochgekrempelten Hemd und erschrak. Was war er nur für ein Schlaks, dünn wie eine Sardine! Scham überfiel ihn. Er verglich seine Arme und Hände im Geiste mit denen eines Mannes, eines Mannes wie sein Vater Davide. Breit waren dessen Hände, mit kurzen Fingern und Nägeln, die Gelenke stark, die Unterarme voller Sehnen und so kräftig, dass das Aufkrempeln der Hemdsärmel Mühe bereitete. Bei ihm, Nino, machte das Krempeln keine Mühe, stattdessen schlotterten ihm die Ärmel um die Ellbogen. Und in diese Ärmchen sollte die anbetungswürdige Marina sinken? Lächerlich! Nino schrak zurück, doch über ihm im Haus erklangen schon Schritte.

»Wer da?«, rief Marina.

Er antwortete nicht, die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Die Schritte kamen die Treppe hinunter. Nur weg von hier! Nino entdeckte, dass jemand die Tür zum Innenhof versehentlich offen gelassen hatte. Er entschied kurzerhand, die Single unter dem Türschlitz hindurchzuschieben und sich im Hof zu verstecken. Dort lauschte er mit laut pochendem Herzen. Huschte dann, einem Impuls folgend, die Außentreppe zur langen Veranda im ersten Stock hoch. Verbarg sich dort hinter einem üppig blühenden Sternjasmin, der sich um das Haus wand wie eine Schlange. Spitzte durch die halb offenen Fensterläden in ein Zimmer mit Messingbett und Kommoden aus dunklem Holz, wohin auch Marina gerade zurückkehrte, seine Single an die Brust gepresst. Die Single war noch eingewickelt – in Lanteri-Papier. Verdammt!

Nino fluchte lautlos und beobachtete gebannt das Geschehen. Die Sternblüten des Jasmins baumelten vor seinem Gesicht, ihr Vanilleduft benebelte seine Sinne. Du Vollidiot, schalt er sich, jetzt bist du dran! Das Papier wird dich verraten. Doch spielte das noch eine Rolle? Nino war viel zu berauscht von der Aussicht, einen Blick in Marinas Schlafzimmer zu erhaschen. Sie legte die Single auf den Tisch, dann entfaltete sie das Papier. Als sie mit den Fingern darüberstrich, murmelte sie etwas Unverständliches und stieß dann einen leisen Freudenschrei aus. Oh, Gott, sie erkennt das Papier.

Nino barg sein heißes Gesicht am Holz der Fensterläden, starrte ins Innere des Zimmers und vergaß die Zeit. Wie schön du bist, wie wunderschön.

Wie die meisten Frauen in Sant’Amato, wenn sie daheim waren und keinen Besuch mehr erwarteten, trug auch Marina einen Hausmantel und hatte ihr Haar auf Wickler gedreht. Unter dem Mantel erahnte Nino ein kurzes Unterkleid und helle Haut über dem Rand ihrer Strümpfe. Jetzt holte sie die Single aus der Hülle, lief mit ihr zu einem aufgeklappten Kofferplattenspieler, der auf ein niedriges Tischchen neben einem Sessel gequetscht war, und hantierte mit dem Tonarm. Sie wandte ihm den Rücken zu, der Mantelsaum tanzte um ihre Schenkel, und Nino fühlte, wie der scirocco sein Inneres erreichte. Trug sie Seidenstrümpfe? Die ersten Takte des Liedes erklangen, der Samba-Rhythmus setzte ein. Marina presste die Hülle der Single an ihre Brust wie einen Geliebten und begann, sich mit geschlossenen Augen hin und her zu wiegen. Dabei lächelte sie. Sie träumt von mir, dachte Nino, und sein Herz hüpfte, während der Gesang in den Refrain wechselte. O mia bella mora, no, non mi lasciare – ja meine Schöne, ich bitte dich auch, verlass mich nicht. Die Musik füllte den Raum, füllte Ninos Herz, und er hoffte, sie möge nie enden, so wie dieser Traum, dieser Moment, diese Nacht. Non mi devi rovinare – ja, dachte Nino, denn das wäre auch mein Ende. Er lauschte auf die letzten Takte des Liedes, beobachtete Marina, die mit der Single im Arm weiter- und immer weitertanzte, als habe sie nicht vor, je damit aufzuhören. Meine Schöne, versprochen: Eines Tages tanzen wir, du und ich. Nino wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht, als Marinas Bild langsam vor seinen Augen verschwamm.

Da ging unten die Haustür.

»Liebling, ich hab es schon früher geschafft …!«, rief Carlo Vassallo gut gelaunt, und schnelle Schritte kamen die Treppe herauf. Marina, kalkweiß im Gesicht, stoppte die Musik, riss die Single vom Gummi des Plattentellers und stopfte sie samt Hülle und Papier in die offene Schublade einer Wäschekommode.

»Carlo, Liebster«, rief sie dabei, »lass dir doch Zeit! Denk an dein Herz!« Sie knallte die Schublade zu, und in der gleichen Sekunde öffnete sich die Tür, und Carlo Vassallos leicht gebeugte Gestalt füllte den Rahmen. Der Friseur atmete schwer und musste sich abstützen, und Nino fand, dass er noch älter wirkte als die elf Jahre, die er seiner Frau voraushatte. Doch auf seinem hageren Gesicht lag ein strahlendes Lächeln.

»Ich musste mich doch beeilen für dich, meine Süße. Gerade heute.«

»Wieso?«

»Kannst du dir das nicht denken?« Er breitete die Arme aus.

Marina wirkte plötzlich verlegen. Statt zu antworten, lief sie auf Carlo zu, barg ihr Gesicht an seiner Brust, murmelte etwas. Er umarmte sie, strich ihr lächelnd über den Rücken.

»Nicht schlimm, meine Süße, ich sag’s dir gerne: Heute vor fünfzehn Jahren haben wir uns zum ersten Mal getroffen. Und ich hatte nicht damit gerechnet, überhaupt nicht. Du warst meine größte Überraschung. Fünfzehn Jahre, Marina! Die schönsten meines Lebens. Und ich freue mich schon auf die nächsten fünfzehn. Oder sagen wir lieber fünfzig?«

Er drückte sie an sich, nahm ihren Kopf in seine Hände, gab ihr einen Kuss, so innig, dass es Nino einen scharfen Stich versetzte. Wieso nur hat sie diesen alten Mann geheiratet? Sie hätte jeden haben können! Nach einem weiteren Kuss zog Carlo seine Frau zum Bett. Marina versuchte ein kleines, etwas atemloses Lachen, schob ihn sacht von sich.

»Ist es nicht ein bisschen früh nach dem Eingriff? Hat der Kardiologe nicht zwei Monate Karenz gefordert?«

»Nein, acht Wochen. Acht Wochen wie jedes Mal, meine wunderschöne, junge, verführerische Frau.« Mit diesen Worten hielt er sie fest, strich ihr über die Hüften. »Und diese acht Wochen sind heute vorbei. Noch ein Grund zu feiern, oder?«

Nino versuchte, endlich wegzusehen, konnte sich aber erst nach etlichen Minuten vom Fenster lösen. Leise kroch er rückwärts, schlich die Treppe hinab, hinaus aus dem Tor, zurück auf die Straße. Dort ging er zuerst und begann dann zu laufen. Er rannte die Straße hinunter, an den Häusern vorbei, immer schneller, bis er zur Via Aurelia kam, zu dieser späten Stunde ein verlassenes, schwarzes Band unter dem Nachthimmel, auf das der scirocco dünnes Geäst und Sand wehte. Ohne nach rechts oder links zu schauen, kreuzte Nino die Uferstraße und lief hinunter zum nächtlichen Strand. Er wollte allein sein und nachdenken, dazu brauchte er das Meer, sein Meer. Denn eines stand fest: Auch wenn es dem armen Carlo sein schon geschwächtes Herz brechen würde, auch wenn die Geschichte so hoffnungslos war wie nur irgendetwas, Nino, vom Rennen und vom Glück noch ganz außer Atem, war sich jetzt sicher: Sie liebt mich. Per Dio, so ist es. Marina liebt mich.

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1961

»Con ventiquattro mila baci …«

 

 

Titel: »24.000 baci« oder »24 mila baci«, Interpret: Adriano Celentano, Jahr: 1961, Nr.-1-Hit in Italien: 6 Wochen, nachdem der Rock-’n’-Roll-Newcomer aus Mailand erstmals beim Sanremo-Festival antrat und Platz 2 holte.

Wenig später gründete Celentano, wegen seines Tanzstils auch »il Molleggiato« – der Federnde – genannt, mit dreiundzwanzig Jahren sein eigenes, unabhängiges Musiklabel »Clan Celentano«, welches bis heute existiert.

Due

Baia delle stenelle, Freitag. Ich warte bis Mitternacht.

Marina Vassallo nahm den Zettel mit der verblichenen Schrift aus dem Nachtschränkchen, das sie jetzt seit fast einem Jahr stets abschloss. Dann faltete sie das Stückchen Papier und schob es in den Ausschnitt ihres Kleides. Obwohl sie allein im Zimmer war, fühlte sie sich beobachtet.

War er im vergangenen Sommer tatsächlich dort gewesen? Hatte er den Pfad kurz hinter dem Sarazenen-Turm hinunter zum Strand genommen und dort unten auf sie gewartet, vielleicht rauchend auf einem der schwarzen Felsblöcke, die dort mitten im Sand schliefen? Oder im Schutz der Steilklippen, die die »Bucht der Delfine« umschlossen wie die Schalen einer Muschel? Marina wusste es nicht. Und wie es aussah, würde sie es auch nicht mehr erfahren, denn Davide Lanteri hatte mit keinem Blick, keinem Wort jemals erkennen lassen, wie er über ihr Wegbleiben dachte. Vielleicht hatte er die Episode auch schlicht vergessen angesichts der weiteren Geschehnisse. Ihre Schwägerin Sofia, die als ehemalige Lazarettschwester mitten in der Nacht gerufen worden war, hatte ihren diskreten Nachfragen am nächsten Tag im Salon nicht lange standhalten können.

»Ach, Marina, furchtbar war’s. Alles voller Blut, der Doktor nicht aufzutreiben, keine Hilfe sonst – ein Graus. Und stell dir vor, signor Lanteri selbst tauchte erst nach Mitternacht auf. Aber dem hab ich was erzählt. Aschfahl wurde er, als er’s endlich kapiert hat; denn glaub’s oder glaub’s nicht, sie hat ihm wahrhaftig nichts über ihren Zustand gesagt, diese elende Geheimniskrämerin. Dio mio, was führen diese Leute überhaupt für eine Ehe!? Und dann war’s eben zu spät. Ich sollte eigentlich auch meinen Mund halten. ›Schwör’s mir‹, hat sie gesagt und mich dabei so fest am Arm gepackt, dass ich – schau, hier! – immer noch ganz blau und grün bin. Perbacco, was diese Frau für eine Kraft hat, wie eine Wahnsinnige, selbst nach diesem Blutverlust. Und dann nur Gebete und Psalmen von Schuld, von Feuer, von Blut, mir wurde regelrecht angst und bange. Richtig gewaschen bekam ich sie auch kaum. Aber was regt sie sich auf? Sie hat immerhin Kinder …« An dieser Stelle war Sofia zu ihrem Lieblingsthema abgeschweift, dem bitteren Los einer Frau ohne eigene Familie, und Marina hatte nicht mehr zugehört.

Baia delle stenelle, ich warte bis Mitternacht.

Er hatte sich in den darauffolgenden Monaten ihr gegenüber so verhalten, als habe es diese Nachricht nie gegeben. Und manchmal war Marina sogar der verrückte Gedanke gekommen, seine Botschaft entspränge nur ihrer Einbildung, wäre ein Ausdruck ihrer überhitzten Fantasie. Der Schreck schoss ihr dann in alle Glieder, und sie erfand vor Carlo und den Kindern eine Ausrede, um hoch ins Schlafzimmer zu laufen und im Nachtschrank nachzuschauen. Dort hortete sie zwischen alten Kinokarten und maestro Barnabàs sorgfältig gehüteten Textheftchen zu Shakespeares Dramen die Single in ihrer Schutzhülle und den Zettel mit seiner Botschaft. Ihr geheimer Schatz.

Das Lanteri-Papier, in welches die Single eingewickelt gewesen war, hatte sie weggeworfen. Sie war ja nicht völlig von Sinnen, viel zu leicht ließe sich sonst eins und eins zusammenzählen. Doch das Lied legte sie auch jetzt noch gelegentlich auf, und den Zettel trug sie jeden Sonntag auf ihrer Haut. Immer wenn sie damit rechnen konnte, ihn zu sehen.

»Marina! Wie weit seid ihr?! Der Wein für die sagra muss vorher noch zu Ottavio in die Kühlung.« Carlos Stimme verriet leichte Ungeduld.

»Geh schon vor, ich komme mit Flora nach!«, rief sie und bürstete ihr Haar. »Und trag nicht alles allein, nimm Matteo mit, damit er sich nützlich macht.« Nützlicher jedenfalls als seine Schwester, die sicher gerade erst aufstand. Wovon waren halbwüchsige Mädchen eigentlich immer so müde? Marina seufzte, setzte sich an den Schminktisch und kramte ein paar Nylons aus der Schublade. Während sie die Strümpfe aufrollte, begutachtete sie ihre nackten Schenkel und Knie. Gute Beine waren das! Vielleicht nicht mehr so straff wie früher, aber glatt und gebräunt, davon konnte Nunziata, diese Eiskönigin, nur träumen. Gott, was gäbe sie dafür, ihr den Zettel ihres Mannes ins hochmütige Gesicht zu schleudern. Und was täte sie nicht dafür, die Zeit zurückzudrehen.

Ich warte bis Mitternacht.

Davides Nachricht hatte, auch wenn sie darüber nur ungern nachdachte, vieles verwandelt: was sie sah, wenn sie morgens in den Spiegel blickte, wie sie ihr Leben mit Carlo empfand zwischen Zuhause und Frisiersalon. Vor allem hatte sich dieser Ort für sie verwandelt, Sant’Amato. Fegte der Wind nun vom Meer in ihre Straße, dann zerrte er an ihr und lockte mit geheimen Versprechen. Im Schlagschatten der Häuser und Natursteinmauern erschienen plötzlich verschwiegene Winkel, und jeder Blick, jedes Kopfnicken, ja selbst das buongiorno in Ottavios Bar bekam auf einmal einen versteckten Hintersinn. War alles ein Schwindel? Unter der schläfrigen Oberfläche des Provinzstädtchens, in das Marina ihrem Mann vor zwei Jahren notgedrungen gefolgt war – denn was blieb ihnen anderes übrig nach Carlos Kündigung –, zeigte sich jetzt ein zweites Sant’Amato, ein Sant’Amato der Strudel und Untiefen, die sich demjenigen auftaten, der es wagte zu springen.

Doch zu spät, vorbei, das Spiel ist aus. Er will dich nicht mehr, und du allein hast es verpatzt. Auch wenn Marina sich immer wieder sagte, dass sie recht getan hatte, damals nicht zur Bucht zu gehen – was also hätte sie sich im Nachhinein vorwerfen müssen! –, blieb da doch diese Stimme in ihrem Kopf, die ihr zusetzte, wann immer sie in den Spiegel sah. Feigling, raunte die Stimme. Und: Ist Nunziata seitdem auch nur ein Deut freundlicher geworden? Und: Was brauchst du noch Rücksicht zu nehmen? Worauf wartest du?

Ach, Schluss jetzt damit!, dachte Marina und bedachte ihr Ebenbild im Schminkspiegel mit einem bösen Blick. Als hätte ich überhaupt eine Wahl. Als wäre ich ein Mann und könnte entscheiden. Als könnte ich etwas tun.

Sie stand abrupt auf, zurrte sich den Strumpfgürtel um die Taille, befestigte die Nylons und schlüpfte dann in den schwarzen Rock. Sie knöpfte die Baumwollbluse über der Brust zuerst ganz zu und öffnete dann nach einem kurzen Blick in den Spiegel wieder einen Knopf. Schaut nur her, dachte Marina, das ist das Einzige, was eine Frau tun kann. Es folgte das Make-up: tiefrote Lippen, getuschte Wimpern, nachgezogene Brauen, gepuderte Haut. Ihre Maske gegen die Angst, ihr Schutzschild gegen die Häme der hiesigen Frauen, allen voran deren Wortführerin Nunziata, die keine Gelegenheit ausließ, Marina ihre Herkunft spüren zu lassen. Sie steckte ihr Haar hoch, fixierte ihre Locken mit Haarspray und suchte nach den Pumps mit den strengen Absätzen, die sie stets beim Kirchgang trug. Wenigstens ihr Äußeres würde perfekt sein. Sollte er nur sehen, was ihm entging. Die Blicke der anderen würden es ihm zeigen. Und wer wusste schon, vielleicht …

Es klingelte an der Tür. So früh, noch vor der Messe? Hatte Carlo etwas vergessen?

»Flora! Machst du auf? … Flora?!«

Keine Antwort. Stattdessen dröhnte Musik aus dem Zimmer ihrer Tochter. Dieser Rocksänger aus Mailand, Celentano, drohte seiner Liebsten vierundzwanzigtausend Küsse an und klang so, als habe er Energie für mindestens die doppelte Menge. Marina fluchte leise, huschte auf Strümpfen die Treppe hinunter zur Haustür und öffnete.

Draußen stand Nino Lanteri. Der beste Freund ihres Sohnes errötete heftig und streckte ihr einen Korb entgegen. Darin lagen eine Flasche Lanteri-Öl und ein feucht glitzerndes Netz Venusmuscheln.

»Signora Vassallo, für Sie«, brachte er stotternd hervor, »ich soll die Muscheln vorbeibringen. Mit freundlichen Grüßen von … von meinen Eltern.«

»Deinen Eltern?«

Er zögerte. »Ähm, so hat er’s mir gesagt.«

»Tu padre?«

Nino nickte, das Gesicht halb abgewandt, und Marina wunderte sich einmal mehr über sein Verhalten. Was ist in letzter Zeit mit dem Jungen los? Er sieht mich doch fast jede Woche. Davides Sohn, ebenso alt wie Matteo, hatte im vergangenen Jahr einen Wachstumsschub gehabt und überragte sie jetzt schon fast mit seinen vierzehn Jahren. Zum Glück kam er äußerlich nicht nach seinem Vater, sondern besaß die langgezogenen Gesichtszüge und die Statur seiner Mutter. Marina hätte es kaum ertragen, ständig Davides jugendliche Kopie um sich zu haben. Es reichte, quälte sie schon genug, das Original bei jeder Sonntagsmesse zu sehen. Ja, das reichte völlig: Davide, manchmal nur eine Bankreihe weiter vor ihr, kaum eine Armlänge von ihr entfernt; so nah, dass ihr der Geruch seines Rasierwassers wie zum Hohn in die Nase stach. Bergamotte und Eisenkraut. Unerreichbar.

Und was sollten jetzt die Muscheln? Marina sah Nino fragend an. Dieser räusperte sich, bevor er antwortete: »Sie mögen für heute Abend für die Pasta Ihren berühmten sugo allevongole machen, ist die Bitte. Und falls Sie noch etwas dafür brauchen, mögen Sie es mir einfach sagen …«

Ninos Stimme erstarb, er blickte zu Boden.

Was ich brauche? Weiß dein Vater das denn nicht? Marina bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, während mit einem Mal irrwitzige Freude ihr Herz erfasste. Es ist doch nicht vorbei! Es geht wieder los. Und diesmal spielst du mit.

»Also gut, gib her«, sagte sie und nahm Nino den Korb ab. »Ich denke, es passt schon.« Sie überlegte kurz, bevor sie hinzufügte: »Ich gebe noch einen Spritzer chinotto dran, ein bisschen bitter darf es wohl schmecken. Wie alles Schöne im Leben. Sag das deinem Vater, ja?«

Nino nickte verlegen. Die Musik in Floras Zimmer wurde lauter gedreht, dröhnte in der ganzen Gasse. Zu Celentanos angedrohten Küssen gesellte sich jetzt ein angriffslustiges Saxofon.

Madonna, wie lang kann ein Lied nur sein!

Nino blieb, wo er war, und sah Marina an wie ein Schlachtkalb. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie von ihrer Tochter zur Genüge. Ragazzi und ihre Launen.

»Was ist?«, fragte sie. »Haben wir noch was vergessen?«

»Nein, signora.« Er ließ die Schultern hängen und erinnerte Marina nun noch mehr an Flora. Sie wurde ungeduldig.

»Ah, du willst sicher zu Matteo!«, rief sie. »Dann lauf zur Kirche, er ist schon auf dem Weg …«

Mit diesen Worten schloss sie die Tür, trug den Korb in die Küche und verstaute die Venusmuscheln im Kühlschrank. Dann stürmte sie die Treppe hinauf zurück ins Obergeschoß, scheuchte ihre Tochter aus dem Bett, trieb sie energisch ins Bad, stellte die Musik ab und suchte unter saftig-römischen Flüchen weiter nach ihren Schuhen. Währenddessen verfiel ihr Herz in wilden Galopp. Einen sugo willst du also? Den sollst du haben!

 

 

Später, auf dem Weg zur Messe, summte sie vor sich hin. Vierundzwanzigtausend Küsse, was für ein Blödsinn. Mir würde ein einziger reichen. Sie hatte sich kurzerhand für ein paar rote Sandalen entschieden, die seit Jahren in ihrem Schrank verstaubten. Deren Absätze ließen sie größer erscheinen, hoben sie aus der Menge der Alten und Matronen heraus und verwandelten den Gang hinauf zu San Pietro, über die Katzenköpfe des Pflasters, in einen Balanceakt. Er wird es bemerken, ganz sicher, dachte sie. Doch was ist, wenn es ihm nicht gefällt? Was, wenn es ihn abstößt? Die Menschen drängten in die Kirche. Carlo kam ihr vom Portal aus entgegen, schloss sie kurz in die Arme und raunte ihr ein Kompliment ins Ohr. Marina fühlte einen Kloß im Hals. Ihr schwindelte.

Bin ich ein schlechter Mensch?

Auf dem marmornen Treppenaufgang tastete sie nach dem Arm ihres Mannes. Carlo reichte ihn ihr und lächelte ihr zu. Seine Hand war warm.

Ja, das bin ich. Und nur Gott allein weiß, wie schlecht.

Während die Vassallos Nachbarn und Bekannte begrüßten, studierte Marina möglichst unauffällig die Gesichter in der Menge. Wo saß die Familie Lanteri?

In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti …

Der Barockbau von San Pietro war an diesem Sonntag bis auf den letzten Platz besetzt. Keine sagra del pesce begann ohne Gottes Segen für die Boote und Netze, und so waren die ersten Bankreihen diesmal auch für die Fischerfamilien reserviert, vielköpfige Sippschaften, deren wettergegerbte Oberhäupter sich in ihre besten Anzüge gezwängt hatten. Dahinter erst sortierten sich die übrigen Santamatini in den Bänken. Abgesehen von der leicht geänderten Sitzordnung nahm die Messe ihren üblichen Gang. Don Benedetto am Altar beendete seine Eröffnung und orderte mit einem herrischen Wink in Richtung des Organisten ein Zwischenspiel aus sinnlosen Läufen. Monotonie legte sich auf die Gemeinde, leerte die Gesichter. Man drängte sich etwas improvisiert zusammen, stand sich gerade in Marinas Bank ziemlich auf den Füßen. Deshalb dauerte es fast bis zum Gloria, bis ihr nervöser Blick den schwarz verhüllten Kopf von Nunziata Lanteri entdeckte, die kein Gotteshaus ohne altmodischen Spitzenschleier betrat. Na, endlich!

… per omnia saecula saeculorum …

Marina atmete aus und stimmte erleichtert mit ein. »Amen.« Als sich nach dem Gebet alle setzten, stellte sie allerdings fest: Etwas war doch anders als sonst.

Davide fehlte.

Eine Panne in der Ölmühle, hörte sie später. Die Reparatur würde dauern, vermutlich bis zum Festessen am Abend.

*

Die Musik setzte ein, als Marina die Piazza betrat, in den Händen eine der Schüsseln mit den dampfenden Muscheln. Der dicke Ottavio liebte Jazz, Swing und als Instrument neuerdings vor allem die Hammondorgel. Er hatte die Musikbox seiner Bar bis zur Tür gewuchtet und versorgte die Gesellschaft nun mit einem sirrenden Klangteppich, ganz so, als säßen sie in Rom auf der Via Veneto und nicht an Holztischen zwischen Metzgerei, Polizeiwache, Frisiersalon und Kirche. Das weiche Abendlicht überzog alle Gesichter mit einem rosigen Schimmer, und die Akustik trug jede Stimme, jedes Lachen und jedes Flüstern über den Platz. Es ist fast wie früher auf der Bühne oder am Set, dachte Marina, und da überleben nur Profis. Also Klappe, Szene fünf, die erste, und los!

Sie hielt direkt auf die voll besetzten Tischreihen zu. Ist dies auch Wahnsinn, so hat es doch Methode, rezitierte sie leise für sich. Sie dachte an die Ersatzstrümpfe, die sich jetzt in ihrer Handtasche rollten. An die Stecknadeln, die ihren Büstenhalter im Ausschnitt fixierten. An die halbe Dose Haarspray in ihrem toupierten Haar. Ja, vielleicht bin ich wahnsinnig, doch auf jeden Fall gerüstet. Aber – wo bist du? Ihr Blick glitt suchend über die Menge.

»Mamma, warte …«

Sie versuchte, die Stimme auszublenden. Jetzt kommt es darauf an. Kinn hoch. Bleib locker. Lächle …

»Wirklich, mamma, das ist so ungerecht …« Die Stimme nahm den sattsam bekannten Quengelton an. Hör nicht hin, konzentrier dich, nein, hör nicht …

»MAMMA!! Jetzt wart doch mal!«

Marina seufzte und drehte sich um, bemüht, ihre Ungeduld zu verbergen. Warten. Was tat sie anderes den ganzen Tag, die ganzen vergangenen Jahre.

»Mamma, è un tormento! Ich breche gleich zusammen …«

Ihre Tochter Flora stapfte hinter ihr her, das Gesicht missmutig verzogen. Auch sie balancierte eine Schüssel sugo in den Händen und schien schwer an ihr zu tragen – ob wegen des Gewichts der Meeresfrüchte oder der Peinlichkeit, vor den Augen der anderen ragazzi Essen durchs Dorf zu tragen, konnte Marina nicht einschätzen. Es war ihr auch gleich. Flora, mit den schmalen Gliedmaßen und der markanten Nase eine Miniaturausgabe ihres Vaters, war seit geraumer Zeit sowieso ständig in Nöten wegen irgendeiner Nichtigkeit, hockte in ihrem Zimmer, blies Trübsal, stöhnte wegen jeder an sie herangetragenen Bitte. War sie selbst mit dreizehn auch so reizbar gewesen? Möglich, aber dann nur, weil sie halbe Tage für Brot aus Maismehl angestanden hatte, das es dann doch nicht gab. Weil sie nicht hatte einschlafen können vor Magenknurren, mit dreizehn, mit vierzehn, eigentlich die ganze Zeit. Doch durfte sie ihrer Tochter vorwerfen, dass diese den Biss des Hungers nicht kannte? Sollte sie sich nicht stattdessen beglückwünschen, dass Flora eine warme Mahlzeit überhaupt als Zumutung empfinden konnte? Denn das hieß doch, dass sie selbst, das Mädchen aus der Gosse, ihren Kindern ein besseres Leben bieten konnte. Ja, sie hatte es geschafft, den ganzen langen Weg von Quadraro hierher – zu sugo alle vongole und einem Leben ohne Not. Ma davvero! Wo ist er denn jetzt?

Marina schickte Flora zum unteren Ende der Tafel, wo Carlo mit Mafalda Amorettis Sohn Gianni beisammensaß. Gianni, erst seit Kurzem von einem Besuch in der Heimat seines italoamerikanischen Vaters zurückgekehrt, redete lebhaft auf Carlo ein. Erregte Satzfetzen sagten ihr, dass die beiden wieder eine ihrer geliebten politischen Debatten führten, wahrscheinlich von Gianni angestoßen, denn der junge Arzt brannte trotz seines bürgerlichen Berufs für den Kommunismus fast so sehr wie für blonde Strandschönheiten. Ihr Ältester, Matteo, saß neben seinem Vater über einem Teller Pasta und beobachtete verstohlen, wie seine Schwester Flora den erstaunlichsten Gast der sagra begrüßte. Isabella Morone war mit Flora zur Grundschule gegangen, wurde jedoch seit ihrem Wechsel aufs liceo in Genua kaum je im Ort gesichtet. Und wenn, dann nie ohne Bewachung. La Giraffa, wie die anderen Jugendlichen Enzo Morones hochgewachsene Tochter nannten, wurde auch diesmal von ihrem Fahrer begleitet, der wie ein Schatten hinter den Stuhlreihen Posten bezogen hatte. Isabella nahm Flora die Schüssel mit den Muscheln ab und sagte etwas, was diese mit einem glücklichen Lachen quittierte. Un tormento, dieser Abend, aber sicher, mein Kind,