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Das erfolgreiche Trio vom Niederrhein mit einem neuen mitreißenden Krimi! 1988 beschlossen Leenders/Bay/Leenders, gemeinsam Krimis zu schreiben. 1992 erschien ihr Erstling «Königsschießen» und wurde auf Anhieb ein Erfolg. Ihre Bücher um das Klever Kommissariat 11 sind seitdem in jährlicher Folge erschienen. Was der Schänzer Bauer Dellmann in seiner Erntemaschine findet, ist gewiss nicht auf dem Feld gewachsen. Es ist ein schauerlicher Fund, ein menschlicher Fuß im Herrenschuh. Toppe und sein Team vom Klever Kommissariat 11 müssen, um diesen Mord zu enträtseln, ihre Ermittlungen in alle Richtungen ausdehnen. So krempeln sie auch auf der Schanz das Unterste zuoberst, was die mürrischen Dörfler nur noch abweisender werden lässt. Selbst als das Rheinhochwasser bedrohlich steigt, verharren die Schänzer nach alter Sitte eingeschlossen hinter Flutmauern. Unter ihnen ist der Mörder.
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2011
Hiltrud Leenders
Michael Bay
Artur Leenders
Die Schanz
Roman
Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,
die Fluten spülen, die Fläche saust.
«Ich trage dich, Mutter, durch die Flut,
noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut.» –
«Auch uns bedenke, bedrängt wie wir sind,
die Hausgenossin, drei arme Kind!
Die schwache Frau!… Du gehst davon!»
Sie trägt die Mutter durchs Wasser schon.
«Zum Bühle da rettet euch! harret derweil;
gleich kehr ich zurück, uns allen ist Heil.
Zum Bühl ist’s noch trocken und wenige Schritt;
doch nehmt auch mir meine Ziege mit!»
Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,
die Fluten wühlen, die Fläche saust.
Johann Wolfgang von Goethe: aus Johanna Sebus
Die Festungsmauern waren vor drei Jahren verstärkt worden. Man hatte auch neue Schutztore eingebaut, die mit ihrem kalten Grau und den glatten Betonfassungen beklemmend funktional wirkten und so gar nicht zum beschaulichen Dorf passen wollten.
Ulrike Beckmann betrachtete die Fotos im Schaukasten an der Mauer und schmunzelte über die liebevolle, aber linkische Darstellung der Dorfgeschichte und der «Schanzer Fähre im Wandel der Zeit». Die neue Hochwasserschutzanlage, las sie, war kinderleicht zu bedienen, die Tore konnten notfalls von einer Person geschlossen werden.
Ulli schlenderte durch die Öffnung zwischen den meterdicken Mauern zum Dorf hinaus und ließ ihren Blick über die fetten Weiden mit ihren hohen Pappelgruppen schweifen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass dieser Ort bei Hochwasser zu einer Insel wurde. Der Rhein war Kilometer entfernt, und der kleine Altrheinarm zu ihrer Linken hatte wahrlich nichts Bedrohliches an sich. Sie entdeckte die Mastspitzen zweier Segelboote, die gemächlich Richtung Hafen glitten.
Vor ihr lag das Fußballfeld vom FC Vorwärts Schenkenschanz, auf dem Parkplatz daneben beugte sich ein junger Mann über die offene Haube eines alten Mercedes und schraubte am Motor herum. Er trug ölfleckige Hosen, Arbeitsschuhe und ein weißes Unterhemd. Mitten im Oktober – Ulli zog unwillkürlich die Schultern hoch. Sie grüßte, doch er gönnte ihr nicht mal einen Blick, knallte die Motorhaube zu, hechtete in den Wagen, startete ihn mit großem Getöse und bretterte röhrend an ihr vorbei Richtung Rhein. Der Weg verlor sich hinter Bäumen. Sie konnte das Auto nicht mehr sehen, zu hören war es allerdings gut.
Ungeduldig schaute sie auf ihre Armbanduhr – so langsam konnte Norbert wirklich mal auftauchen – und wandte sich wieder dem Dorf zu. Hinter ihr kam im Rückwärtsgang der Mercedes wieder angeschossen, in so mörderischem Tempo, dass sie unwillkürlich einen Satz zurück hinter das Fluttor machte und dabei über die Füße eines Mannes stolperte, der dort rauchend gegen den Mauervorsprung gelehnt stand.
«Oh, Entschuldigung!» Sie fing sich so gerade eben noch.
«Schon gut…» Er schaute an ihr vorbei. Sein Haar war von einem stumpfen Kupferrot, sein Gesicht mit zahllosen Sommersprossen überzogen. Er mochte etwa in ihrem Alter sein.
Ulli zuckte die Achseln und ging langsam weiter. Wo blieb Norbert nur? Um drei Uhr hatten sie sich hier treffen wollen, um mit der Wirtin der «Inselruh» ihre Hochzeitsfeier zu besprechen. Ihr Magen machte einen kleinen Satz. Es gab immer wieder Momente, in denen sie es nicht glauben konnte, dass sie tatsächlich heiraten würde, in weniger als drei Wochen. Mit neununddreißig Jahren! Dabei hatte sie sich geschworen, sich niemals mit jemandem fest zusammenzutun.
Zwanzig nach drei. Mochte der Himmel wissen, was ihn wieder aufgehalten hatte. Sie musste verrückt sein, ausgerechnet einen Kripomann zu heiraten. Zehn Minuten gab sie ihm noch, dann würde sie die Besprechung mit der Wirtin allein angehen.
In einem kleinen Sonnenfleck vor der «Inselruh» stand eine verwitterte Bank aus Schmiedeeisen und Holzlatten. Ulli knöpfte ihre Jacke auf, setzte sich und lehnte sich vorsichtig zurück. Das Holz sah nicht besonders vertrauenerweckend aus.
Vor den Toren der Festung röhrte der Mercedesmotor wieder auf, die Abgaswolke wehte bis zu ihr herüber. Sie rümpfte die Nase.
Von der Kirche her kam ein rotgrünes Gefährt in hohem Tempo heran, einer dieser übergroßen Tret-Gokarts, die man in letzter Zeit so oft sah. Der Junge, der ihn lenkte, war eigentlich zu alt für dieses Spielzeug, bestimmt schon fünfzehn. Aber da kamen auch schon drei kleinere Kinder hinterhergeflitzt, ein Junge und zwei Mädchen. «Ej, komm zurück, du Arsch! Geb wieder!» Der Kleine kämpfte mit den Tränen. Der Ältere fuhr einen eleganten Bogen und bremste knapp vor dem Rothaarigen. Lässig stieg er aus und gab dem Gokart einen Tritt, sodass er auf den Jungen zurollte. «Jetzt piss dir mal nich’ in die Hose, du Spacko!»
Dann stieß er dem Rothaarigen den Ellbogen in die Seite. «Mann, Voss, du stinkst. Haste Parfüm draufgetan? Haste etwa ’ne Alte?»
«Lass mich in Ruhe.» Der Mann ließ den Zigarettenstummel fallen, stieß sich von der Mauer ab und schlurfte ins Dorf zurück an Ullis Bank vorbei, zu gebeugt für sein Alter.
«Klaus?» Die Frau, zu der die dunkle Stimme gehörte, kam aus einer Seitengasse gelaufen. Sie trug enge, ausgewaschene Jeans und eine dünne, bestickte Bluse, und sie war barfuß. «Klaus, ach, Gott sei Dank! Ich glaub, ich hab gerade ziemlichen Mist gebaut. Können Sie mir schnell helfen?»
Der Mann lächelte. «Ich komm schon.»
Ulli betrachtete die Häuser gegenüber, manche sehr alt, manche jüngeren Datums, die meisten aus dunklem Backstein, alle schmuck mit getöpferten Namensschildern, Blumenkästen und -kübeln, in denen späte Geranien und Männertreu blühten. Schräg links stieg eine Gasse zur Mauerkrone steil an. Das Gebäude an der Ecke dort wirkte verwahrlost, der gelbe Putz schlug feuchte Blasen, die Fensterscheiben waren blind. 1883 war es erbaut worden, wie ein paar eiserne Ziffern über der Haustür bezeugten.
An Nr.17 – anscheinend waren die Häuser auf der Schanz einfach durchnummeriert worden – hatte jemand eine Hochwassermarkierung angebracht: 1926 war das Wasser bis zur Oberkante der Haustür gestiegen.
Na, endlich! Norbert kam die Straße hinuntergeschlakst. Wieder machte Ullis Magen einen Hüpfer. Sie nahm ihre Schultertasche, stand auf und ging ihm entgegen. «Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt.»
Er umfasste ihre Taille, zog sie eng an sich und küsste sie. «Da müsste ich ja wohl verrückt sein.» Dann schaute er sich verdrossen um. «Aber dass es ausgerechnet hier sein muss!»
«Ach komm, du weißt genau, dass ich’s romantisch haben will, wenn ich mich schon traue.»
«Ich kann hier beim besten Willen nichts Romantisches entdecken, bloß Mief. Aber wenigstens», fuhr er fort, den Schalk in den Augenwinkeln, «bleibt mir so die Kutschfahrt erspart. Oder willst du tatsächlich die hundert Meter von der Kirche bis zur Kneipe mit Pferd und Wagen zurücklegen?»
«Natürlich nicht!» Auch Ulli schmunzelte. «Das hätte keinen Stil. Nein, wir werden einen richtigen Hochzeitsparademarsch haben: Du und ich vorneweg, die ganze Gesellschaft hinterher, und meine Vorschulkinder stehen am Straßenrand und streuen Blümchen, einen ganzen Teppich. Die sind schon ganz wild drauf.»
Van Appeldorn sah sie prüfend an, sie schien es ernst zu meinen. «Im November?», entgegnete er matt.
«Im November», bestätigte sie nickend. «Ich hätt’s ja auch lieber im Mai gehabt, aber du bist es doch, der es so eilig hat. Die paar Kilo Treibhausrosen werden uns schon nicht ruinieren. Und die Kutsche bleibt im Programm, dass du dir da keine falschen Hoffnungen machst. Wir steigen in Düffelward ein, setzen mit der Fähre über den Altrhein und fahren vom Anleger mit der Kutsche zur Kirche.»
Er lächelte. Ulli hatte sich ihr ganzes Leben lang, das wahrhaftig nicht immer leicht gewesen war, ihren Kindertraum von einer Märchenhochzeit im Prinzessinnenkleid bewahrt. Und sie hatte sich in dieses Hundert-Seelen-Dörfchen verguckt mit seinen Festungsmauern und seiner wechselvollen Geschichte.
«Vorsicht!» Van Appeldorn konnte sie gerade noch gegen die Hauswand schieben, als der Gokart, diesmal mit sechs Kindern besetzt, angefahren kam.
«Hier Kind zu sein, ist bestimmt klasse», meinte Ulli. «Aber jetzt komm, die Frau wartet sicher schon.»
Die Kneipe war leer bis auf einen Mann an der Theke, der, eine Tasse Kaffee vor sich, Zeitung las. Sein graues Haar war recht lang und gelbstichig, sein Gesicht kantig, die Brauen buschig und schwarz. Als Ulli und van Appeldorn hereinkamen, sah er kurz hoch, grüßte aber nicht.
Die Einrichtung der Kneipe stammte aus den Siebzigern, alles in Braun und Beige, nur statt der damals üblichen orangefarbenen Akzente viel Tingeltangelrosa; schwere Gardinen, Eichenmöbel, Puppenlämpchen mit Goldfransen.
Van Appeldorn suchte Ullis Blick, aber die schien es nicht zu bemerken.
«Noch einen Kaffee, bitte, wenn es nicht zu viel Mühe macht», bellte der Mann am Tresen in seine Zeitung. Er sprach mit einem ganz leichten Akzent.
Aus der angrenzenden Küche vernahm man zunächst nur ein unwilliges Brummen, dann kam eine Frau heraus und knallte ihm ein Kaffeekännchen hin, ohne ihn auch nur anzusehen.
Stattdessen musterte sie van Appeldorn. «Sind Sie das Hochzeitspaar, was angerufen hat? Ich bin Bea Lentes. Kommen Sie durch, ich zeig Ihnen unseren Saal.» Ihre helle Hose betonte das ausladende Hinterteil, der kurze Pullover ihre diversen Bauchröllchen, und die sicher fünf Zentimeter hohen Plateausohlen unter den pinkfarbenen Lackschuhen mussten beim Servieren recht hinderlich sein.
Der Saal war eine angenehme Überraschung – weiß getünchte Wände, ein gewachster Terracottaboden, blau und weiß eingedeckte Tische.
«Hab ich alles renovieren lassen», betonte Frau Lentes. «Ich will schließlich auch Gäste von außerhalb, die es gern was moderner haben.»
Sie war nicht begeistert, dass das Hochzeitsbuffet von außerhalb geliefert werden sollte, aber selbst Ulli hatte dem Schenkenschanzer Angebot – «Macht bei uns alles die Frau Boos aus der 16, die ist Profi» – nichts Romantisches abgewinnen können: Jägerbraten, Römerbraten, Putengeschnetzeltes. «Mit alles, was Sie an Beilagen wollen, und für Nachtisch Herrencreme, Zitronencreme und alles; warten Sie mal, ich hol den Prospekt.»
Die Hände auf eine Stuhllehne gestützt, beugte die Wirtin sich vor. «Also, Essen nicht von uns! Da kann ich bloß hoffen, dass anständig was getrunken wird, sonst rechnet sich das für mich nämlich nicht. Ich mein, das müssen Sie verstehen, die Saalmiete alleine, die bringt es nicht. Ich hab ja schließlich die ganze Wäsche.»
Sie war recht jung, Anfang dreißig vielleicht, und hatte ein hübsches Gesicht, das sie leider unter zu schwerem Make-up, schwarzem Lidstrich und hellblauem Lidschatten versteckte.
«Es wird bestimmt gut getrunken», beeilte Ulli sich. «Auf alle Fälle hätten wir gern Champagner, wenn die Gäste eintreffen. Ich glaube, so zehn bis zwölf Flaschen können es schon sein.»
Die Wirtin guckte stumpf. «Wir haben bloß Sekt.»
«Meinen Sie nicht, dass Sie über Ihren Lieferanten auch Champagner besorgen könnten?» Van Appeldorn merkte, wie bemüht freundlich er klang.
Knapp eine Stunde später schien alles geregelt zu sein.
Auf dem Parkplatz an der Dorfeinfahrt strubbelte er Ullis Koboldhaare. «Na, zufrieden?»
Sie lächelte. «Musst du zurück ins Präsidium?»
«Ja, aber nur kurz. Es ist so viel Schreibkram liegen geblieben, und Helmut wollte, wenn’s geht, heute früher weg. Die stecken immer noch in ihrer Renovierung. Aber so, wie’s aussieht, bin ich spätestens um sieben zu Hause.»
«Fein, dann mache ich in der Zwischenzeit endlich die Einladungen fertig.» Sie drehte sich langsam um und betrachtete die sonnenbeschienene Ebene. «Hoffentlich hält sich das Wetter noch ein paar Wochen. Ich glaube, es bringt Unglück, wenn es einem den Schleier verregnet.»
«Hast du denn einen Schleier?»
«Selbstverständlich!»
Er legte ihr den Arm um die Schultern und deutete auf die Schiffsmasten, die so gerade eben über den Deich lugten. «Die werden ihre Boote bald rausholen müssen. Das Wasser steigt. Drück mal ganz fest die Daumen, dass dein Plan mit der Kutsche und der Fährfahrt klappt. Wenn es im Süden so weiterregnet, kriegen wir hier richtig Probleme.»
Die Luft in dem kleinen Büro war zum Schneiden dick. Wie immer, wenn sie längst überfällige Berichte schreiben mussten, rauchten van Appeldorn und Toppe eine Zigarette nach der anderen. Peter Cox zerknüllte seine Lucky-Strike-Packung. Er hatte das tägliche Kontingent, das er sich zugestand, schon vor einer Stunde ausgeschöpft und rang mit sich.
«Gibst du mir eine Zigarette, Helmut?», fragte er schließlich resigniert.
«Nimm dir eine!» Sein Chef wandte den Blick nicht vom Bildschirm ab, er beschäftigte sich gerade mit dem tätlichen Angriff dreier alkoholisierter Jugendlicher auf einen Kinobesucher am letzten Freitag. Auch als das Telefon klingelte, reagierte er nicht, also griff Cox quer über den Schreibtisch zum Hörer: «KK 11, Cox am Apparat.» Er lauschte eine Weile und notierte eine Adresse.
«Ich sage das jetzt wirklich ungern», meinte er dann in die Runde. «Mir ist klar, dass du in vier Tagen heiratest und jede Menge um die Ohren hast, Norbert, ich weiß auch, dass Helmut unbedingt Bilder aufhängen muss, von meinen eigenen dringenden Plänen mal ganz abgesehen, aber ich fürchte, wir müssen das für den Moment vergessen. Es gibt Arbeit. Ein Bauer in Schenkenschanz will einen Menschen geschreddert haben.»
Van Appeldorn schauderte. «Vorsätzlich?»
Cox zuckte die Achseln. «Er sagte, er erntet gerade sein Maisfeld ab, und da sei ihm was in den Häcksler gekommen. Zuerst dachte er an ein Reh, aber es guckt noch ein halber Fuß mit Schuh raus.»
Toppe runzelte finster die Brauen. «Ich hatte so etwas vor Jahren schon einmal. Ein Tippelbruder, der im Maisfeld seinen Rausch ausschlafen wollte. Wenn das einer von diesen alten Häckslern ist, können wir uns auf was gefasst machen.» Er nahm seine Jacke. «Schick uns den ED raus, Peter, ja?»
«Klar, sofort. Braucht ihr mich da draußen, was meinst du?»
Toppe schüttelte den Kopf. «Kann ich mir nicht vorstellen.»
«Dann würde ich wohl gern bald Feierabend machen, ich muss nämlich dringend ein paar Sachen besorgen.»
Es war der erste Hof rechts, wenn man auf dem Deich Richtung Schenkenschanz fuhr, ordentliche Gebäude, ein akkurat angelegter Gemüsegarten, der Weg, der zum Maisfeld führte, war asphaltiert. «Dem scheint’s nicht schlecht zu gehen», meinte van Appeldorn. Fette Viehweiden, ein abgeernteter Acker, das Maisfeld war sicher an die zwei Hektar groß und nicht einmal zu einem Viertel abgemäht. Toppe schaute über die Schulter, von hier aus konnte man die Festung nicht sehen.
Bauer Dellmann wartete neben seinem Häcksler, einer alten, aber sorgfältig gepflegten Maschine, groß wie ein Mähdrescher. Er hatte Mühe, sich zu sortieren, und war leichenblass.
«Dass mir so was passieren muss!», jammerte er. «Und alles bloß, weil es so schnell gehen musste. Die haben doch Sturm gemeldet!»
Toppe schaute hoch, dunkle Wolkenfetzen fegten über den Himmel. Es dämmerte, obwohl es nicht einmal vier Uhr war.
«Und ich pass doch immer so auf, weil ich früher schon mal ein Tier drin hatte», lamentierte Dellmann weiter. «Eigentlich hätt ich ja schon längst eine neue Maschine kaufen wollen, aber ich dacht, dies Jahr tut es die alte noch. Und jetzt das! Da wird man doch verrückt bei!»
«Wäre denn so was mit einem neuen Häcksler nicht passiert?», wollte van Appeldorn wissen.
«I wo! Die sind doch heute mit allen Schikanen, Sensor, Metalldetektor und was weiß ich noch alles. Die schalten sich sofort ab, wenn was ist. Aber die alte Möhre hier, die hackt dir alles kurz und klein.» Er deutete auf die Maispflanzen und schüttelte sich. «Ich mein, so ’n Knochen ist doch auch nicht dicker wie so ’ne Stange hier.»
Ungefähr zwanzig Meter vor dem Häcksler stand ein Traktor mit einem Hänger für das Häckselgut. Ein Junge, siebzehn oder achtzehn Jahre alt, sprang vom Treckersitz und kam langsam näher.
«Mein Sohn», erklärte Dellmann.
Der junge Mann war noch blasser als sein Vater. «Hallo», grüßte er tonlos und räusperte sich.
Eine heftige Windbö jagte über das Feld, die Maisstangen bogen sich raschelnd, Spreu flog auf.
Van Appeldorn hustete und schaute Toppe an. Sie hielten beide einen Moment inne, dann beugten sie sich über das Maisgebiss vorn am Häcksler.
Ungefähr ein Drittel des Fußes war unversehrt geblieben. Es steckte in einem braunen Herrenhalbschuh, das Leder war blank gewichst.
Man hörte einen Wagen heranrollen, der Erkennungsdienst, Klaus van Gemmern, seit Jahren ein Ein-Mann-Betrieb. Er blieb neben seinem Auto stehen und sah sich einen Augenblick gründlich um, dann kam er schnell herüber und hockte sich neben sie. Toppe hörte, wie er scharf durch die Zähne einatmete, aber sein Gesicht blieb unbewegt. «Dann wollen wir mal. Ich rufe ein paar Kollegen. Bis dahin müsst wohl oder übel ihr mir zur Hand gehen.»
Er sprang auf die Füße, lief zum Hänger hinüber, kletterte hinauf und betrachtete den Inhalt. «Das mittlere Sieb dürfte reichen», murmelte er und ließ sich wieder herunter.
«Das hier muss alles abgedeckt werden. Es fängt gleich an zu regnen. Planen hab ich im Auto.» Er warf van Appeldorn den Schlüssel zu und drehte sich zum Bauern um. «Haben Sie Platz in Ihrer Scheune?»
«Ja, schon, aber…»
«Dann fahren Sie den Anhänger bitte gleich dort rein.»
Der Sohn trat einen Schritt vor und nickte, er schien froh, etwas tun zu können.
Toppe nahm Dellmann zur Seite. «Jetzt erzählen Sie mir mal, was eigentlich genau passiert ist.»
Dellmann kehrte die Handflächen nach oben. «Da gibt es nix zu erzählen. Ich fahr meine Reihen ab, und auf einmal denk ich, ich hab da was liegen sehen. Zack, war es auch schon weg, schneller, als wie ich die Maschine ausmachen konnte. Ich wusste nicht mal, dass es ein Mann war, bis ich den Schuh gesehen hab.»
Van Gemmern hatte inzwischen, zusammen mit van Appeldorn und dem Jungen, die Plane über den Hänger gezogen und schaute Toppe fragend an. «Ich lass das ganze Feld mit Flatterband absperren.»
Toppe nickte. «Wir müssen wissen, wie und von wo der Mann ins Feld gekommen ist, also Schuhspuren, Reifenspuren. Wo haben Sie angefangen zu mähen, Herr Dellmann?»
«An dem Weg vorne, da auf der Ecke. Wenn da Reifenspuren waren, hab ich die bestimmt alle platt gefahren. Jedenfalls, gesehen hab ich keine.»
Kurz darauf kamen drei Streifenwagen den Weg herunter, dahinter der Transporter für den Generator, die Kabel und die großen Lampen. Gleichzeitig öffnete der Himmel seine Schleusen, dicke Regenschleier fegten über die Ebene.
Van Gemmern fluchte wild, bellte Befehle, fotografierte, ließ Markierungen anbringen, Maßbänder ausrollen, schickte den jungen Dellmann mit Traktor und Anhänger in die Scheune, fotografierte weiter. Erst als das ganze Feld abgesperrt, das Licht gebaut war und sich die Streifenpolizisten für ihre Suche nach Schuh- und sonstigen Spuren formierten, hielt er inne und drehte Toppe sein hageres Gesicht mit den rot geränderten Augen zu. «Fürs Erste können wir einschleppen.»
Der Bauer hatte sich nicht vom Fleck gerührt und schien sich mittlerweile etwas von seinem Schock erholt zu haben. «Einschleppen?», fragte er alarmiert. «Was soll das denn heißen?»
Van Appeldorn erklärte es ihm: «Wir nehmen Häcksler und Hänger mit in unsere Halle am Präsidium. Die müssen auseinander gebaut und untersucht werden.»
«Und wie soll ich meinen Mais runterkriegen? Das könnt ihr doch nicht machen!» Dellmann schnappte nach Luft. «Als wenn ich nicht schon genug Ausfall hätte, jetzt, wo die verdammten Gänse wieder kommen. Ich hab doch wohl Kacke genug am Kopp.»
«Tja.» Van Appeldorn betrachtete ihn ungerührt und strich sein nasses Haar zurück, das sich in dünnen schwarzen Schlangen um Stirn und Hals ringelte. «Da fragst du vielleicht mal einen netten Nachbarn, oder aber du nimmst dir einen Lohnunternehmer und schickst die Rechnung dann an die Polizeibehörden. So einfach ist das.»
Toppe fror. «Wer lebt alles auf Ihrem Hof?»
«Was?» Dellmann legte die Hand hinters Ohr. Der Wind machte eine Verständigung schwierig.
«Wer alles bei Ihnen wohnt!»
«Im Moment bloß meine Frau, mein Sohn und ich. Wir hatten noch zwei Polen, aber die haben Ende September aufgehört.»
«Gehen wir hinein. Wir müssen mit allen reden.»
Es war gut, ins Trockene zu kommen. Das Haus schmiegte sich dicht an den Deich, und in der Küche war das Windgeheul kaum zu hören. Frau Dellmann stellte ihnen dicke Steingutbecher hin und goss Kaffee ein. Mit Anfang vierzig war sie gute zehn Jahre jünger als ihr Mann.
«Ob ich irgendwen gesehen habe die letzten Tage? Mein Gott, was glauben Sie denn, wer hier so alles über den Deich fährt! Der Schulbus, die ganzen Schänzer. Ich mein, wenn man mal ebkes schnell in die Stadt will, nimmt man den Deich, nicht die Fähre. Die ist doch mehr für größere Transporte. Außer für die Touristen natürlich.»
«Ich hab keinen fremden Mann hier gesehen», sagte Dellmann müde. «Du denn, Uwe?»
Der Junge schüttelte stumm den Kopf. Ihm schien immer noch übel zu sein.
«Na, auf dem Hof war keiner, den ich nicht gekannt hätt», bekräftigte die Bäuerin.
Es war Nacht geworden, bis die Einteilung der Wachen und alles andere geregelt war und Toppe und van Appeldorn sich endlich auf den Weg machen konnten. Als sie auf die Deichkrone kamen, packte sie eine Windfaust und drückte sie mühelos auf die Gegenspur.
Van Appeldorn fasste das Lenkrad fester. «Da braut sich mächtig was zusammen.»
Toppes Heimfahrt gut eine Stunde später, nachdem er schnell noch die Eckdaten in den Computer eingegeben hatte, war abenteuerlich. Er schaffte es kaum, den Wagen auf der Straße zu halten. Der Wind hatte sich zu einem Sturm ausgewachsen, wie er ihn lange nicht mehr erlebt hatte, und das Unwetter nahm immer noch an Gewalt zu.
Tote Blätter und abgestorbene Zweige prasselten aufs Autodach, dann krachte nur wenige Meter vor ihm ein mächtiger Ulmenast auf die Straße. Er schaffte es so gerade eben, daran vorbeizumanövrieren, und atmete auf. Die Vorstellung, hier unter den Bäumen aussteigen zu müssen, um das Ungetüm von der Straße zu zerren, war wenig anheimelnd.
Die Scheibenwischer arbeiteten auf höchster Stufe, dennoch war draußen kaum etwas zu erkennen, das Auto schaukelte unkontrolliert.
Am Haus Wurt brannten sämtliche Außenleuchten, durch die Regenwand konnte er drei Gestalten ausmachen. Als er ausstieg, flog ein Schwarm Dachpfannen über ihn hinweg und zersplitterte zwanzig Meter weiter auf dem Boden.
Er rannte los. «Seid ihr denn alle verrückt geworden? Es ist lebensgefährlich hier draußen!»
Arend Bonhoeffer schaute hoch und schob seine Kapuze zurück. «Wir haben’s ja geschafft», brüllte er. «Ab nach drinnen, Mädels!»
Astrid und Sofia zögerten keine Sekunde, geduckt liefen beide auf die jeweilige Haustür zu.
«Was war denn?», brüllte Toppe zurück.
Bonhoeffer wich ein paar Schritte zur Seite, der alte Kastanienbaum knarzte bedrohlich.
«Die Abdeckung hatte sich losgerissen. Alles flog wild durch die Gegend.»
Sie hatten die Bodendielen, die sie noch verlegen mussten, draußen gestapelt gehabt. Jetzt lagen sie in einem Haufen kreuz und quer, aber wenigstens waren sie wieder mit Folie bedeckt und ein paar großen Steinen gesichert.
«Danke!»
«Keine Ursache!»
Sie brüllten sich weiter an und grinsten dabei.
«Noch einen Grog?»
«Bin zu kaputt! Die Dachziegel kommen runter!»
«Kein Problem, untendrunter ist alles dicht.»
«Wir sehen uns morgen übrigens beruflich», röhrte Toppe gegen den Wind.
«Wie bitte?»
«Beruflich! Morgen! Ich bring dir was!»
«Fein! Bis morgen dann!»
Der Sturm hatte die Atmosphäre nicht gereinigt. Neue Wolkenfelder waren gefolgt und hatten einen stetigen dicken Regen gebracht. Der Rhein stand so hoch, dass man die Zaunpfosten der Uferweiden nicht mehr sehen konnte, hier und da lugten ein paar Baumwipfel aus der riesigen Wasserfläche.
Toppe ließ den Wagen auf der Schleichspur der Emmericher Brücke ausrollen, schaltete die Warnblinkanlage ein und schaute sich um. Beim Hochwasser 1995 hatte der Rhein an den Deichkronen genippt. Man hatte die Dämme für den Verkehr gesperrt, denn vollgesogen waren sie schwammig wie Pudding gewesen. In aller Hast hatte man bei Zyfflich einen Querdeich gebaut und unzählige Sandsäcke gestapelt. In Holland hatte man ganze Ortschaften evakuiert, auf der deutschen Seite hatten THW und Bundeswehr mit großen Fähren das Vieh der Bauernhöfe in der Niederung abgeholt und in Notunterkünfte gebracht, etliche Rinder waren dennoch ertrunken. Man hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, aber dann war noch einmal alles gut gegangen.
Ein paar Lastkähne kämpften sich stampfend flussaufwärts, deutlich weniger als sonst, vielleicht war der Schiffsverkehr schon eingeschränkt worden.
Toppe schaute zu den Brückenpfeilern hoch. Vor Jahren hatte man sie im strahlenden Rot der Golden Gate Bridge lackiert, aber die Farbe war schnell zu einem matten Rosa verblichen, was ihm besser gefiel, es passte zum sanften Grau des Stroms.
Er bedachte die Kühltasche auf dem Beifahrersitz mit einem schiefen Blick. Klaus van Gemmern hatte den Fußrest samt Schuh aus dem Maisgebiss herausgelöst. Nun war es an Toppe, ihn nach Emmerich in die Pathologie zu bringen und bei der Untersuchung anwesend zu sein, eine Aufgabe, die ihm schwer fiel und vor der er sich gern drückte. Aber der zuständige Pathologe war sein Freund Arend Bonhoeffer, und der wusste mit der Panik, die Toppe bei jeder Leichenöffnung unweigerlich übermannte, umzugehen.
Während er mit seiner Kühltasche die verwinkelten Gänge entlangwanderte, fragte er sich wieder einmal, warum man forensische Abteilungen so gern in Kellergeschossen unterbrachte, die nicht nur bedrückend finster, sondern obendrein noch schlecht belüftet waren. Aber vielleicht bildete er sich den klebrig süßen Geruch auch nur ein.
Bonhoeffer saß in seinem Büro und diktierte einen Bericht. «Setz dich, ich bin gleich fertig.»
Toppe stellte die Tasche auf den Boden und nahm die Tageszeitung, die auf dem Schreibtisch lag. Ein Foto von der Altrheinbrücke bei Griethausen, die jeden Moment überflutet werden konnte, ein Bericht über die letzten «Jahrhunderthochwasser», auf Seite drei ein Leserbrief. Der Schreiber monierte die überfällige Sanierung eines neunzehn Kilometer langen, angeblich seit Jahren maroden Deichstücks zwischen Niedermörmter und Grieth. Der Deichverband wiegt uns in falscher Sicherheit, schrieb der Mann. Ein Bruch in diesem Bereich, da sind sich die Experten einig, ist vorprogrammiert, und bei der momentanen Wetterlage möglicherweise nur eine Frage von Tagen. Das nachfolgende Szenario mag man sich kaum vorstellen. Ich weise nur auf das Bedburger Industriegebiet hin, das völlig überflutet würde, ebenso das Industriegebiet von Kleve, das man intelligenterweise ins Flutgebiet gesetzt hat, obwohl es ausreichend Alternativen gegeben hätte.
Toppe runzelte die Stirn. «Hast du das gelesen?»
Bonhoeffer schaltete sein Diktaphon ab. «Der Typ hatte gestern schon einen Brief in der Zeitung. Angeblich bereiten sich die Niederländer auf die Sprengung von Deichen vor, damit ihre Grenzdörfer nicht absaufen. Für uns würde das bedeuten, die ganze Düffelt liefe voll, und Zyfflich, Keeken, Kranenburg und etliche andere Orte gäbe es nicht mehr.»
«Ja», sagte Toppe, «dieses Gerücht hab ich in letzter Zeit schon öfter gehört. Haus Wurt liegt ziemlich hoch, nicht?»
Bonhoeffer lachte. «Hoch genug, das Haus gibt’s seit dem fünfzehnten Jahrhundert. Wir kriegen allenfalls ein bisschen nasse Füße. Apropos Füße, sollen wir uns an die Arbeit machen?»
Etwa zur gleichen Zeit legte Peter Cox im Präsidium den Telefonhörer auf und rieb sich den Nacken. «Unser Bäuerlein», beantwortete er van Appeldorns fragenden Blick. «Wollte sich nochmal bestätigen lassen, dass die Polizei tatsächlich die Kosten für den Lohnbetrieb übernimmt, der ihm seinen Mais abmähen soll. Ich hab ihm lieber nicht gesagt, dass es gut und gern zwei Jahre dauern kann, bis er Geld sieht. Der war sowieso schon auf hundertachtzig wegen irgendwelcher komischen Gänse. Weißt du, was es damit auf sich hat?»
Norbert van Appeldorn, der gerade noch einmal im Geist die Checkliste für seine sechswöchige Hochzeitsreise nach Australien durchgegangen war, schaute ungläubig hoch. «Sag mal, du bist doch nicht erst seit gestern in Kleve! Liest du keine Zeitung?»
Cox reckte konsterniert das Kinn. «Selbstverständlich lese ich regelmäßig Zeitung. Ich habe die taz, Die Zeit und den Spiegel abonniert.»
Van Appeldorn konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. Peter Cox war seit knapp vier Jahren bei ihnen. Er hatte eine Unzahl seltsamer Marotten, aber weil er bei aller Verschrobenheit eigentlich ein netter Kerl war, der sich problemlos in ihr Team eingefügt hatte, nahm man sie meist amüsiert hin.
«Na, herzlichen Glückwunsch, damit kommst du bestimmt in den Himmel für politisch korrekte Intellektuelle! Entschuldige bitte die kleine Nachhilfestunde, aber als Polizist solltest du eigentlich täglich den Lokalteil der guten alten Niederrhein Post lesen. Zugegeben, ist oft schwer zu ertragen, aber in unserem Job durchaus von Nutzen.»
«Das magst du so sehen», antwortete Cox eingeschnappt, aber van Appeldorn kümmerte sich nicht darum. «Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du noch nichts davon gehört hast, dass jedes Jahr an die siebzigtausend Wildgänse bei uns am Niederrhein überwintern. Die meisten kommen übrigens aus Sibirien.» Er griente.
Cox warf einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr. «Die stehen unter Naturschutz, oder?»
«Ganz genau», bestätigte van Appeldorn. «Und das Problem ist, dass diese netten Vögel monatelang nicht etwa irgendein Niemandsland besetzen, sondern die Äcker der Bauern in der Düffelt. Seit Jahren herrscht hier Krieg zwischen dem Naturschutzbund und solchen Leuten wie unserem lieben Dellmann. Dem gehen die Gänse und der Artenschutz total am Arsch vorbei. Kannst du dir vorstellen, wie die Felder aussehen, wenn die Viecher sich wieder auf den Heimflug machen? Von den zahllosen Ökotouristen, die der NABU da jeden Tag in Bussen rumkarrt mal ganz zu schweigen. Seit Jahren gehen sich die Naturschützer und unsere dicken Buren an die Kehle mit allen Nickeligkeiten, die du dir vorstellen kannst, und weder der einen noch der anderen Partei mangelt es an Phantasie. Letztens wollte man den Bauern verbieten, Windkraftanlagen aufzustellen, weil angeblich die Gefahr besteht, dass eine Gans im Windrad geschreddert werden könnte.»
Cox lachte. «Bizarre Idee, die Tiere sind doch nicht blind! Kriegen die Bauern denn keine Ausgleichszahlungen für den Ausfall, den sie haben?»
«Doch, natürlich, die werden feste subventioniert.»
«Was regen die sich dann auf? Versteh ich nicht, die können doch froh sein, wenn sie fürs Nichtstun bezahlt werden.»
«Was weiß ich!» Van Appeldorn lehnte sich zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. «Bin ich Bauer? Anscheinend willst du, wenn du ein Mann der Scholle bist, dein Land beackern, und nichts darf deine Routine stören, von wegen Väter und Vorväter. Was soll’s, die Bauern jammern doch immer.»
«In der Materie kenne ich mich nicht aus», meinte Cox unbehaglich. «Ich will mir da kein Urteil erlauben.»
Van Appeldorn verschränkte die Hände im Nacken und blinzelte. «Wie gesagt, die meisten der unliebsamen Gänse kommen aus Sibirien. Da klingelte gerade eben was bei mir: Was macht eigentlich dein Cyberbaby? Wie hieß die Dame noch? Irina?»
Cox schob den Stuhl zurück und stand auf. «Was für ein dämliches Wort!» Er schien ernsthaft beleidigt zu sein. «Schon zwanzig nach», knurrte er, holte eine Tupperdose aus seiner Aktentasche, breitete eine gestärkte Serviette auf dem Schreibtisch aus und arrangierte sein tägliches Mittagsmahl: eine Flasche Mineralwasser, ein Glas, gebuttertes Schwarzbrot, Besteck und die Plastikdose, die heute mal nicht mit Salat, sondern frisch angemachtem Frühlingsquark gefüllt war.
Van Appeldorn nahm die Beine vom Schreibtisch. «Ich kann dich wirklich gut leiden, Peter, aber deine Macke mit den pünktlichen Mahlzeiten treibt mich in den Wahnsinn!»
Cox kaute und spülte mit einem Schluck Wasser nach. «Mir tut das sehr gut. Kann ich nur jedem empfehlen.» Er war nach wie vor verschnupft.
«Ach komm», meinte van Appeldorn versöhnlich. «Ich hab’s nicht bös gemeint. Wann kommt Irina denn endlich? Erzähl einem alten Mann, der gerade dabei ist, in seine zweite Ehe zu segeln, mal was Prickelndes.»
Cox hatte vor anderthalb Jahren im Internet eine sibirische Deutschlehrerin kennen gelernt und sich nachhaltig in sie verknallt. Das konnte van Appeldorn nachvollziehen, er hatte ein Foto der Dame gesehen. Schon seit einem Jahr war klar, dass Irina Cox besuchen kommen wollte. Ihr Visum, falls sie es denn bekam, würde für zwei Monate gelten, und so lange wollte sie auch bleiben, wenn man sie schon zum ersten Mal in ihrem fünfunddreißigjährigen Leben aus ihrem Land herausließ.
«Na ja, das Visum ist endlich durch, aber», druckste Cox, «ich hab halt Zweifel, immer noch.»
Van Appeldorn zuckte zurück, als Cox ihn jetzt Rat suchend anschaute. «Wir schreiben uns zwar schon seit Ewigkeiten, jeden Tag mindestens einmal. Ich habe das Gefühl, ich kenne sie in- und auswendig, aber Papier ist geduldig, denke ich manchmal. Verstehst du?»
Van Appeldorn rutschte auf seinem Stuhl herum. «Du kriegst das schon hin. Ich glaube, ich geh mal rüber in die Halle und gucke, wie weit van Gemmern inzwischen gekommen ist.»
Cox nickte und widmete sich wieder seinem Quarkbrot. «Du könntest mich vorher noch kurz aufklären. Ich bin landwirtschaftlich nicht so bewandert, aber ich dachte immer, bei der Maisernte würden die Kolben gleich auf dem Feld gedroschen und nur die Körner abtransportiert.»
«Das stimmt auch», antwortete van Appeldorn, «so macht man das mit Körnermais. Aber bei uns in der Gegend ist der Futtermais wesentlich häufiger. Und bei der Sorte werden die Stangen knapp über dem Boden abgeschnitten und als Ganzes gehäckselt. Der Brei kommt dann in Silos und wird über den Winter ans Vieh verfüttert.»
«Verstehe, besonders groß sind die Häckselteile dann wohl nicht…»
Der Anhänger stand mit hochgekippter Ladefläche am Ende der Halle. Neben dem Berg von Gehäckseltem kniete van Gemmern mit einer kleinen Schaufel und einem Sieb. Weiter vorn waren zwei Männer in den weißen Overalls des Erkennungsdienstes dabei, die Häckselmaschine in ihre Einzelteile zu zerlegen.
«Ich habe Verstärkung aus Krefeld kommen lassen», erklärte van Gemmern. «Aber auch so werden wir Tage brauchen. Das verdammte Zeug klebt und klumpt, gut durchweicht von fünf Litern Blut.»
Van Appeldorn betrachtete das bräunlich rote Mus und rümpfte die Nase.
«Ja», brummte van Gemmern und schaufelte die nächste Portion aufs Sieb, «ganz taufrisch war unser Junge nicht mehr.»
«Hast du denn schon irgendwas?»
«Eine Gürtelschnalle, ein paar Knöpfe und ein Stück Leder, das vermutlich zu einem Uhrarmband gehört», antwortete van Gemmern, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. Wenn er sich in eine Aufgabe verbissen hatte, ließ er sich von nichts und niemandem aufhalten, und es konnte passieren, dass er dreißig Stunden und mehr am Stück arbeitete.
Bonhoeffer hatte den Fußrest in einen inkubatorähnlichen Glaskasten gelegt und behutsam durch zwei Eingriffslöcher mit Ärmeln das Stück Schuh und die Spitze einer dunkelgrünen Wollsocke abgezogen. Dabei waren ein paar Fliegen aufgestoben.
«Die fangen wir uns gleich», murmelte er.
Toppe trat näher heran. Besonders verwest sah der Fuß nicht aus, aber man konnte ein paar Maden winken sehen.
Bonhoeffer stocherte mit einer Sonde. «Ganz wenige Puppen nur», sagte er. «Das bedeutet, der Mensch ist noch nicht länger als zwei Wochen tot, zwischen sechs und vierzehn Tagen, würde ich meinen.»
«Das ist aber nicht besonders genau», maulte Toppe.
Bonhoeffer lächelte, dieses Spiel hatten sie schon zigmal gespielt. «Mit meinen bescheidenen Mitteln hier geht’s eben nicht besser.»
Aber der biologische Sachverständige beim LKA würde anhand der Fliegen und Maden, die ihm in einem belüfteten Behälter zugeschickt würden, und am Stadium der Puppen den Todeszeitpunkt näher eingrenzen können.
«Dann lass uns mal mit dem Offensichtlichen beginnen: Es handelt sich um einen rechten Fuß, kein Tierfraß wegen des Schuhs. Ein Herrenschuh, braunes Leder, könnte ein Sioux sein, nicht gerade preiswert, sorgfältig eingecremt.»
Er drehte das Exponat langsam um. «Gepflegte Zehnägel, keine Hornhaut, graue und dunkle Körperhaare. Und was haben wir hier? Reich mir mal das Skalpell, Helmut.»
Er streckte die Hand aus, aber als nichts passierte, richtete er sich auf. «Jetzt guck nicht so. Gib’s mir einfach, und dann lauf in die Küche und hol eine Scheibe Wurst oder ein Stück Fleisch. Die Fliegen brauchen Nahrung in ihrem Kasten da, sonst gehen sie ein, bevor sie in Düsseldorf ankommen.» Er schmunzelte. «Du kannst dir ruhig Zeit lassen.»
Toppe schlenderte zum Parkplatz und rauchte erst einmal eine Zigarette. Bis er die Küche gefunden, in der Cafeteria eine Cola getrunken und noch eine geraucht hatte, war eine Dreiviertelstunde vergangen.
Bonhoeffer hatte im Großzehgrundgelenk eine Arthrose entdeckt, außerdem Harnsäurekristalle, die auf eine Gicht hinwiesen. «Es handelt sich also um einen älteren Menschen, ab sechzig aufwärts, würde ich schätzen.»
«Um einen Mann?»
«Ziemlich sicher, ja. Für eine Blutprobe hat es nicht gereicht, aber ich habe Gewebe aus den Zwischenzehenmuskeln entnommen. Damit kann das LKA Blutgruppe und Geschlecht bestimmen und die DNA-Analyse machen.»
Toppe beschloss, auf dem Rückweg noch einmal bei Bauer Dellmann vorbeizufahren. Auch ohne die Untersuchungsergebnisse aus Düsseldorf konnte er sich jetzt ein Bild vom Toten machen: ein über sechzig Jahre alter Mann mit vermutlich ergrautem, früher einmal dunklem Haar, der wahrscheinlich sozial nicht allzu schlecht gestellt war, denn er hatte teures Schuhwerk getragen und seine Füße gepflegt. Vielleicht konnten Dellmanns mit dieser Beschreibung etwas anfangen.
Er hatte Glück – die Brücke über den Altrhein in Griethausen war noch passierbar, auch wenn hin und wieder eine kleine Welle über die Fahrbahn schwappte.
Frau Dellmann stand in der Küche und kratzte Essensreste aus einer gusseisernen Kasserolle. Möhreneintopf, und es roch nach geräuchertem Speck. Toppes Magen knurrte aufdringlich.