Gnadenthal - Hiltrud Leenders - E-Book

Gnadenthal E-Book

Hiltrud. Leenders

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Beschreibung

Die Vergangenheit holt jeden ein. Eine Kabarettgruppe aus alten Studientagen – wie jedes Jahr treffen sich alle Mitglieder für einige Tage auf Schloss Gnadenthal, um ein neues Programm einzustudieren. Aber dieses Mal fliegen von Anfang die Fetzen – die Vorbereitung der Jubiläumsgala wird zu einer bitteren Abrechnung und endet mit einem Mord. Als Toppe und sein Team vom KK 11 zu dem abgeschiedenen Schloss gerufen werden, finden sie einen auf den ersten Blick einfachen Fall vor, stoßen jedoch auf eine Fülle von Motiven, die weit in die Vergangenheit zurückreichen – und jeder kann der Täter sein.

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Seitenzahl: 228

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Hiltrud Leenders

Michael Bay

Artur Leenders

Gnadenthal

Kriminalroman

Erster Teil

Eins

Es war ein trister Sommer für ihn gewesen, überschattet vom unwürdigen Hin und Her um Unterhaltszahlungen und Versorgungsausgleich, vom übereilten Umzug in eine neue Wohnung, in der nichts stimmte. Und als andere, immer noch süß nach Sonnenöl duftend, die letzten Sandkörner aus ihren Reisetaschen rieseln ließen, hatte er mitten im Schulbuchgeschäft gesteckt. Die Heimsuchung eines jeden Buchhändlers, eine ärgerliche Plackerei, alles andere als lukrativ, aber notwendig, wenn man konkurrenzfähig bleiben wollte.

Martin Haferkamp streckte sich und drückte kurz die Faust ins Kreuz. Er war einfach müde. Bald wurden die Tage wieder kürzer, dann war es kaum hell geworden, wenn er morgens die Buchhandlung aufschloss, und schon finster, wenn er abends nach Hause ging. Er seufzte und beugte sich über den großen Karton, in dem er den Papierkram der letzten Wochen und alles mögliche andere abgelegt hatte, das ihm im Weg gewesen war. Endlich ging es wieder ruhiger zu im Laden – der Kundenstrom floss nicht allzu üppig, aber doch so beständig, dass er sich keine Sorgen machen musste–, und er konnte sich die Zeit nehmen, wieder Grund ins Geschäft zu bringen. Als die Türklingel ertönte, kümmerte er sich nicht weiter darum, denn Frau Moor war unten im Laden. In der Regel kam sie zurecht, und die Laufkundschaft mochte sie.

Er stutzte. Aus einem Stapel Steuerformulare leuchtete ihm etwas grell Orangefarbenes entgegen. Mit spitzen Fingern zog er eine Girlande aus böse grinsenden Pappkürbissen heraus und warf sie in die Abfallkiste. Frau Moors letztjährige Idee für eine herbstliche Fensterdekoration. Halloween, der 31.Oktober – wie der Muttertag irgendwann von Amerika herübergeschwappt und vom Handel gierig aufgenommen. Wie lange mochte es noch dauern, bis man diesen Rummel hier als heimischen Brauch ansah? Gehirnwäsche war im Grunde eine einfache Geschichte.

Er konnte sich erinnern, dass er getobt hatte, als die Moor mit dem Kram angekommen war, und er war eigentlich sicher gewesen, dass jeder Plastikkürbis, jede Gummispinne und jedes Glitzergedärm im Müll gelandet waren. Auf die Schnelle hatte er dann ein paar Körbe bunter Herbstblätter, Walnüsse und Kastanien organisiert, Martinslaternen aufgehängt und passend dazu einige konventionelle Titel dekoriert, leichte Kost eben.

In diesem Jahr, beschloss er, würde er die Dekoration gleich selbst übernehmen. Am 31.Oktober war Reformationstag, und er würde irgendwo eine massive, verwitterte Holztür besorgen und eigenhändig Luthers 95Thesen anschlagen, mit geschmiedeten Nägeln.

Die Sprechanlage summte, anscheinend brauchte Frau Moor seine Hilfe. Er seufzte wieder, rückte den Hemdkragen zurecht und trat auf die Galerie hinaus. Unten am Kassentisch wartete Hansjörg Möller.

«Grüß dich!» Haferkamp lief die Treppe hinunter.

Möller sah ihm kühl entgegen. «Hast du was von Frieder gehört?», fragte er näselnd. Wie immer sprach er so leise, dass man sich anstrengen musste, ihn zu verstehen.

Haferkamp spürte altvertrauten Ärger in sich aufsteigen. «Nein», antwortete er und lehnte sich gegen den Tresen.

Möller kniff die Lippen zusammen. «Ich versteh das nicht. Wir wollten spätestens am ersten September mit den Proben anfangen, das war ganz klar so abgesprochen. Jetzt haben wir schon den achten, und Frieder ist nicht aufzufinden. In der Agentur sagen die mir, er wär nicht da, und sein Handy ist auch abgeschaltet.»

«Ich weiß.»

«Ich finde, das geht einfach nicht. Wir kriegen das Ding doch nie mehr rechtzeitig auf die Beine gestellt. Wir haben ja nicht einmal Texte!» Möller schaffte es, besorgt und gleichzeitig herrisch zu klingen.

«Natürlich haben wir Texte», entgegnete Haferkamp ruhig. «Ich habe reichlich Material, und soweit ich weiß, waren Kai und Dagmar auch nicht faul. Wenn wir wollten, könnten wir sofort anfangen zu proben.»

Möller riss die Augen auf. «Ohne Frieder? Das meinst du nicht ernst.»

Haferkamp zuckte die Achseln, aber Möller achtete nicht darauf. «Ich kapier’s einfach nicht. Die Termine für die Auftritte stehen fest, der WDR schneidet die Veranstaltung live mit, sogar einen Sendetermin gibt es schon.»

Frau Moor, die die ganze Zeit in ihrer Nähe beschäftigt gewesen war, schnappte nach Luft. «Sie kommen ins Fernsehen? Mit Ihrer Kabarettgruppe?»

Möller brachte ein halbes Lächeln zustande. «Zum Jubiläum, ja, dreißig Jahre ‹Wilde 13›.»

Haferkamp bedachte seine Mitarbeiterin mit einem langen Blick. Schließlich senkte sie den Kopf und zog sich in die Kochbuchabteilung zurück.

Er dehnte den verspannten Rücken. «Soweit ich gehört habe, hat Frieder Schloss Gnadenthal längst gebucht, und zwar für die gesamten Herbstferien.»

«Wer sagt das?»

«Dagmar.»

«Ach so», gab Möller säuerlich zurück.

Haferkamp betrachtete ihn – eines Tages würde der Neid ihn fressen.

Er schmunzelte. «Große Klausurtagung, heißt es. Na, wie auch immer, vierzehn Tage reichen vollkommen. Wir sind ja keine Anfänger.»

«Vierzehn Tage am Stück?» Möller rang die Hände. «Wie soll ich denn so lange aus meiner Firma raus? Das muss doch alles organisiert werden.»

«Wem sagst du das? Entschuldige mich einen Moment.» Haferkamp wandte sich dem jungen Mädchen zu, das gerade in den Laden gekommen war. «Kann ich Ihnen helfen?»

Sie lächelte. «Nein danke, später vielleicht. Ich schau mich erst mal um. Wo stehen denn die Romane?»

«Auf der Galerie. Die Treppe hinauf und dann links.»

Möllers klebriger Blick folgte ihr quer durch den Laden.

Haferkamp grinste. «Hansjörg?»

«Hm?» Widerstrebend drehte sich Möller ihm wieder zu. «Eigentlich hast du Recht, wir sind wirklich keine Anfänger mehr.» Dann betrachtete er seine Fingernägel und polierte sie kurz am Jackenärmel. «Vierzehn Tage in Klausur – gar keine schlechte Idee, eigentlich. Ich meine, Frieder wird sich schon was dabei gedacht haben, er hat ja eine Nase für so was.» Er straffte die Schultern. «Gib mir doch schon mal deine Texte, dann kann ich vielleicht ein paar Rollenkonzepte machen.»

Haferkamp schüttelte den Kopf. «Ich muss noch ein bisschen daran feilen. Außerdem will ich ein paar Sachen mit Dagmar und Kai abstimmen. Wir setzen uns am Wochenende zusammen.»

«Etwa nur ihr drei?»

Haferkamp zog die Augenbrauen hoch. «Der große Meister ist ja nicht zu erreichen. Aber mach dir nicht ins Hemd, wird schon klappen.»

«Hm, wissen die anderen Bescheid? Wegen der Herbstferien, meine ich.»

«Keine Ahnung, du kannst ja mal einen Rundruf starten.»

Ihm war ein bisschen flau.

Den ganzen Tag über hatte er keine Zeit gefunden, etwas zu essen, und dann, weil er endlich mit seiner Wohnung vorankommen wollte, hatte er beim Italiener nebenan nach Ladenschluss auf die Schnelle eine Lasagne verschlungen, die ihm jetzt wie ein fetter Klumpen im Magen lag.

Ächzend kniete er sich hin, um die Rückwand am letzten Regal anzubringen.

In den Zimmern sah es noch so aus, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgefegt, stapelweise leere Kartons und halb ausgepackte Kisten, Kleidung, die er längst hätte waschen sollen. Nur die Küche war einigermaßen aufgeräumt. Er hatte sie vom Vormieter übernommen, dem es wohl hauptsächlich um Funktionalität gegangen war. Beim Frühstück hatte er eine Liste der Dinge aufgestellt, die er brauchte, um den Raum in den heimeligen Ort zu verwandeln, den er sich vorstellte, wo er für Freunde kochen, mit ihnen essen und bis in die Nacht hinein diskutieren wollte. Wo hatte er den Zettel hingelegt?

Haferkamp öffnete den Hosenknopf und holte tief Luft, dann hievte er das Regal hoch und schob es an die Wand. Im Schlafzimmer standen noch neun große Bücherkisten, aber Gott sei Dank hatte er sie mit System gepackt. Die Zeit hatte er sich genommen, obwohl er nicht schnell genug aus dem Haus hatte rauskommen können. Das Einräumen der Bücher in die Regale würde nicht lange dauern. Grimmig ballte sich sein Magen zusammen.

Die Erstausgaben, all seine sachkundig zusammengetragenen Schätze, es war eine Schande, dass er sie in diesen lackierten Normschränken unterbringen musste, aber Monika hatte die Mahagonivitrine behalten wollen. Sie hatte ein Riesentheater darum gemacht, dabei hatte sie gar keine Verwendung dafür – die paar Meter Taschenbuch, die sie ihr Eigen nannte!

Vermutlich würde sie den Schrank sowieso verkaufen und von dem Geld mit einer Rotte anderer Halbgebildeter – vornehmlich allein stehende, vertrocknete Gymnasiallehrer – auf eine dieser ‹Studiosus›-Reisen gehen, unter «qualifizierter Leitung», versteht sich: die Loireschlösser und die großen Kathedralen Europas. Oder vielleicht in diesem Jahr, mehr so urtümlich, die Galapagosinseln? Und in diesen Kreisen wollte sie den Mann finden, der sie «mal wieder zum Lachen brachte», mit dem sie sich «endlich wieder lebendig fühlte»?

Haferkamp lachte laut auf. Irgendwo inmitten der Kartonberge fing das Telefon an zu klingeln, also war es tatsächlich heute freigeschaltet worden. Er beachtete es nicht. Die Stereoanlage musste noch angeschlossen werden, und wenn morgen der neue Schreibtisch geliefert worden war, konnte er endlich seinen Computer wieder einrichten.

Er wusste nicht mehr, warum er sich auf diese Ehe eingelassen hatte. Sicher, es hatte ihm gefallen, dass Monika von Anfang an klargemacht hatte, dass sie keine Kinder wollte, vielleicht hatte das den Ausschlag gegeben. Mit ihr war er auf der sicheren Seite gewesen. Er hatte sich nie nach einer Familie gesehnt, er war glücklich gewesen, als er endlich zu Hause ausgezogen war und seine Ruhe gehabt hatte. Dabei war er beileibe kein Eigenbrötler, er hatte gern Freunde um sich, die seine Interessen teilten, mit denen er sich austauschen konnte. Aber was hatte er in dieser Ehe zu finden gehofft? Romantische Gefühle hatten doch nie eine Rolle gespielt.

Mit dem Fuß schob er die Regalverpackung aus dem Weg und ging in die Küche. Die Flasche Merlot, die er gestern geöffnet hatte, war noch halb voll. Er nahm ein Wasserglas vom Abtropfbrett und goss ein. «Weingläser», notierte er im Geist.

Endlich gab der Anrufer auf. Wahrscheinlich war es sowieso nur Hansjörg gewesen, der noch einmal, ganz beiläufig natürlich, versuchen wollte, vor den anderen an seine Texte zu kommen, um – wie hatte er es diesmal ausgedrückt? – ein «paar Rollenkonzepte zu machen». Lächerlicher Versuch! Und wie er auf die «Klausurtagung» angesprungen war, als hätte Frieder den Stein der Weisen entdeckt. In den dreißig Jahren hatten sie immer zwölf bis vierzehn Tage gebraucht, bis ein neues Programm stand, nur dass sie sonst zwei Termine dafür angesetzt hatten.

Er leerte sein Glas und schaute auf die Uhr, erst kurz nach zehn. Noch nicht zu spät, sich mit dem Rest Wein an den Küchentisch zu setzen und letzte Hand an die Texte zu legen.

Das Telefon klingelte wieder. Vielleicht war es ja Dagmar.

Dagmar Henkel legte kopfschüttelnd den Hörer auf und ging hinüber ins Arbeitszimmer ihres Mannes. «Das war Hansjörg. Er hat einen Riesentanz veranstaltet, weil er nicht Bescheid wusste wegen der Herbstferien.»

Rüdiger brummte etwas, schaute aber nicht von seiner Zeitung auf.

Sie schmunzelte. «Außerdem hat er versucht, mir vorab schon meine Texte abzuschwatzen. Will sich wohl wieder die besten Rollen unter den Nagel reißen, der Blödmann. Er hat sich echt ins Zeug gelegt.»

«Sag mal», er sprach betont ruhig, «siehst du eigentlich nicht, dass ich dabei bin, den ‹Spiegel› durchzuarbeiten?»

Dagmar spürte, wie ihr heiß wurde. Sie setzte zu einer Erwiderung an, biss sich aber auf die Lippen und ging hinüber in die Küche, den einzigen Raum im Haus, in dem es richtig warm war.

Rüdiger hatte diesen riesigen alten Kasten von seinem Großvater geerbt, und sie waren gleich nach ihrer Heirat hier eingezogen. Damals hatten sie noch beide von einer Großfamilie geträumt, und die kleinen Schönheitsfehler am Haus hatten sie nicht gestört, die würde man nach und nach beheben, Hauptsache, es gab genügend Platz. Mit den Jahren hatten sich die kleinen Fehler zu großen Problemen ausgewachsen. Das Haus war zugig, viel zu groß, und die ungenutzten Räume verfielen mehr und mehr. Es brauchte dringend ein neues Dach, eine neue Isolierung, neue Elektroleitungen und vor allem eine neue Heizungsanlage.

Damit es unten einigermaßen warm war, hatten sie schon vor längerer Zeit aufgehört, das Obergeschoss zu heizen. Sie hatte ihr Arbeitszimmer aufgeben müssen und schrieb ihre Texte seitdem am Küchentisch.

Eine Sanierung würde Unsummen kosten, mehr, als sie aus dem Stand aufbringen konnten. Dagmar hätte das Mausoleum am liebsten verkauft, je eher, desto besser. Wozu brauchten sie noch ein ganzes Haus, eine Eigentumswohnung würde ihnen doch reichen, eine warme Wohnung ohne Stockflecken an der Badezimmerdecke, ohne feuchte Wände, von denen sich die Tapeten lösten, ohne Mausefallen.

Aber Rüdiger sperrte sich gegen den Verkauf, manchmal auf die sentimentale Art – dies sei schließlich sein Familienerbe, hier habe er seine Kindheit verbracht–, meist aber mit dem Argument, in diesem baulichen Zustand würde das Haus nicht den Preis erzielen, den ein Anwesen in dieser Lage normalerweise bringen würde. Seit Jahren kam das Thema immer wieder auf den Tisch, und seit Jahren drehten sie sich im Kreis.

Dagmar breitete eine alte Zeitung auf der Arbeitsplatte aus, nahm ein Bündel Karotten aus dem Gemüsekorb und fing an, es zu putzen. Schon vor Jahren hatte sie es sich angewöhnt, das Essen für den nächsten Tag so weit wie möglich am Vorabend zuzubereiten, denn für größere Kochaktionen war ihre Mittagspause zu kurz. Rüdiger vertrug abends keine üppige Mahlzeit, er konnte dann nicht schlafen und verfiel ins Grübeln. Also hatten sie sich darauf geeinigt, sich mittags, wenn auch oft nur für eine halbe Stunde, zu Hause zu einem warmen Essen zusammenzusetzen, in Ruhe und Frieden, Stress hatten sie schließlich beide genug in ihrem Job.

Gestern allerdings hatte sie die Sache gründlich vermasselt. Sie war nach einem unerquicklichen Gespräch mit absolut unerträglichen Eltern erst auf den letzten Drücker aus der Beratungsstelle gekommen, und zu Hause hatte die halbe Küche unter Wasser gestanden. Zum dritten Mal schon in diesem Jahr war aus unerfindlichen Gründen die Hauptsicherung herausgesprungen. Der alte Tiefkühlschrank, den sie beim Einzug übernommen hatten, war abgetaut, und alle Mahlzeiten, die sie an den letzten Wochenenden vorgekocht und eingefroren hatte, waren im Müll gelandet.

Nachdem sie aufgewischt, Rüdiger vergeblich am Sicherungskasten gewerkelt und schließlich einen Elektriker angerufen hatte und sie beide mit langen Zähnen den kalten Zucchiniauflauf gegessen hatten, war es mit ihr durchgegangen. «Ich halt’s hier nicht mehr aus!» Ihr waren tatsächlich die Tränen gekommen.

Rüdiger hatte sie nur kurz gemustert. «Das Haus könnte längst saniert sein, das weißt du so gut wie ich. Pump endlich deine Mutter an. Die hockt doch auf einem Geldberg.»

«Den braucht sie auch, wenn sie ins Heim muss. Und das kann jeden Tag so weit sein. Ihre Rente reicht nicht.»

«Dann pfleg du sie doch!» Den Satz hatte er quer über den Tisch gespuckt.

Sie hatte erschrocken geschwiegen, hilflos. Seit Jahren kämpfte sie mit ihrem Gewissen, denn ihr war klar, dass sie sich als einziges Kind um ihre Mutter zu kümmern hatte, aber sie wusste auch, was ihr blühte, wenn Rüdiger und ihre Mutter länger als ein oder zwei Tage unter einem Dach verbrachten. Viel schlimmer noch aber war die Vorstellung, ihren Job aufgeben zu müssen, den Beruf, den sie liebte, der sie ausfüllte. Sie schob die Möhrenscheiben beiseite und fing an, eine Zwiebel zu schneiden. Die Neonröhre über dem Spülbecken summte.

Dann pfleg du sie doch? Rüdiger wusste genau, was der Beruf ihr bedeutete, schließlich arbeiteten sie seit fast zwanzig Jahren in derselben Einrichtung, schließlich war es das, worüber sie sprachen.

Sie hörte ihn hereinkommen. «Ist noch Bier da?»

«Im Kühlschrank.» Sie drehte sich nicht um, packte die Zwiebelschalen und Möhrenabfälle sorgsam in die Zeitung ein.

«Tut mir Leid, Dagi, ich wollte dich nicht so anfahren.»

«Schon gut.»

Er hatte sich beharrlich nach oben gearbeitet und war seit zwei Jahren Leiter der Beratungsstelle, ihr Chef. Sicher war er stolz darauf, aber sie ahnte, obwohl sie nie darüber redeten, wie schwer es ihm oft fiel, Entscheidungen zu treffen, die allem, wofür er einmal gestanden hatte, zuwider liefen.

Als er ihr jetzt die Hand auf die Schulter legte, presste sie ihre Wange dagegen. «Hast du Ärger?»

«Nein, Herrgott!» Dann versöhnlich: «Du siehst ganz verfroren aus. Leg dich doch in die Badewanne.»

«Später vielleicht. Bringst du das hier für mich in den Grünmüll?» Sie drückte ihm das durchweichte Zeitungspäckchen in die Hand. «Ich muss mich an meine Sketche setzen.» Dann hielt sie inne. «Sag mal, verstehst du das mit Frieder? Wieso setzt er sich ausgerechnet jetzt ab? Das hat er noch nie gemacht.»

Rüdiger grinste breit.

«Jetzt erzähl schon! Schließlich hat er dich doch angerufen. Er muss doch was gesagt haben.»

Er zog übertrieben die Schultern hoch und legte das Abfallpäckchen auf den Tisch. «Was Genaues weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass es dringend war und dass es irgendwas mit seinem Herzliebchen zu tun hat.»

«Mit Patricia?»

«Eben der.»

Dagmar zuckte die Achseln. «Mir auch egal. Ich habe übrigens vorhin mit Martin telefoniert. Er, Kai und ich müssen uns möglichst bald abstimmen. Wir wollen uns am Wochenende zusammensetzen.»

Rüdigers Grinsen verblasste. «Aber auf gar keinen Fall bei uns! Ich habe die ganze Woche wahrhaftig genug am Hals, da habe ich keine Lust, am Wochenende auch noch den Gastgeber zu spielen.»

Sie sagte nichts, bückte sich nur, um einen Kochtopf aus dem Schrank zu nehmen und endlich die Möhren aufzusetzen, aber er war noch nicht fertig. «Ich find’s sowieso bescheuert, dass ich mir extra zwei Wochen Urlaub nehmen soll. Es reicht völlig, wenn ich in den letzten zwei, drei Tagen dazu komme, um Licht zu bauen. Vorher braucht ihr mich doch gar nicht.»

«Was soll das denn jetzt?» Dagmar schaltete den Herd ein und holte innerlich Luft. «In all den Jahren haben wir immer gemeinsam das Programm erarbeitet, alle, auch du, Helmut und Johanna, selbst Heinrich. Und das war auch gut so. Du weißt genau, wie wichtig jeder Einzelne dabei ist, gerade euer Blick von außen drauf. Und jetzt zum Jubiläum im WDR, das ist doch eine Riesenchance!»

«O ja, klasse», blaffte er. «Fünfzig Jahre alt, und ich kriege endlich eine Riesenchance als Beleuchter. Wenn das keine Karriere ist!»

Zwei

Martin Haferkamp schaute sich um und lächelte. Er hatte eine Menge geschafft an den letzten Abenden. Es konnte durchaus passieren, dass er sich in dieser Wohnung irgendwann einmal zu Hause fühlte.

Heute hatte er Frau Moor die Verantwortung für die Buchhandlung überlassen und war schon um halb zwölf aus dem Laden verschwunden. Er hatte sich bewusst nicht abhetzen wollen, wollte es auch in Zukunft nicht mehr – es war an der Zeit, einiges zu überdenken und neu zu organisieren.

Gegen fünf würden Dagmar und Kai hier sein, und er freute sich auf das gemeinsame Essen. Alles war vorbereitet: Die Vorspeisenplatte stand abgedeckt im Kühlschrank, die Lammkeule lag, gut angebraten und fertig gewürzt, in der Kasserolle, er musste sie nur noch in den Ofen schieben. Und nach dem Essen bei einem Wein und später dann bei Kaffee würden sie sich an die Arbeit setzen, auch darauf freute er sich.

Im Hotel unten an der Straße, keine fünf Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, hatte er zwei Zimmer reservieren lassen. Die Zeit der Schlafsäcke und Isomatten war unwiederbringlich vorbei, nicht nur, weil sie es heute gern bequemer hatten, man wollte sich auch so nah nicht mehr sein.

Er strich leicht über die neue Schreibtischplatte aus honigfarbenem Holz, froh, dass er sich gegen Glas und Stahl entschieden hatte, die sanfte Farbe und das lebendige Material gefielen ihm. Vorsichtig stellte er die blaue Schachtel darauf ab und lüpfte den Deckel. Die Leute vom Fernsehen wollten in der Sendung zusätzlich zum alten Programm einen Rückblick auf die vergangenen dreißig Jahre bringen und hatten um alte Fotos gebeten. In dieser Schachtel lagen unsortiert die Aufnahmen aus den Jahren 1973 bis 1984, Gott sei Dank hatte er meistens die entsprechende Jahreszahl auf der Rückseite notiert.

Entschlossen machte er sich an die Arbeit und hatte schließlich zwölf unterschiedlich hohe Stapel vor sich liegen. Jetzt musste er nur noch eine Auswahl treffen, aber zunächst einmal brauchte er einen Kaffee. Vorgestern hatte er sich eine große Espressomaschine gekauft, ein Luxus, mit dem er lange geliebäugelt, sich aber nie zu gönnen gewagt hatte. Aber was hielt ihn jetzt eigentlich noch ab? Er musste kaum Unterhalt zahlen, konnte sich zehn Kaffeemaschinen kaufen und seinen letzten Cent für Bibliophiles ausgeben, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Er holte eine der neuen Capuccinotassen aus dem Schrank und nahm die Bedienungsanleitung für die Wundermaschine zur Hand. Wenn er Milch aufschäumen wollte, musste er die einzelnen Schritte immer noch nachlesen.

Mit dem Kaffee in der Hand stellte er sich ans Küchenfenster. Die spektakuläre Aussicht auf die Burg hatte letztendlich den Ausschlag für diese Wohnung gegeben, der Ausblick und die kleine Dachterrasse.

Seit siebzehn Jahren lebte er nun in dieser Stadt. Er hatte sie vorher gekannt durch die Treffen der ‹13› auf Schloss Gnadenthal und niemals den Wunsch verspürt, hier zu wohnen. Zu provinziell, zu konservativ, zu bescheiden war ihm alles erschienen. Aber dann hatte er die Gelegenheit gehabt, hier eine alteingesessene Buchhandlung zu übernehmen, und da hatte er nicht lange gezögert – solche Chancen waren dünn gesät. Mittlerweile lebte er gern hier, schätzte das Internationale durch die Nähe zu Holland, mochte die schwermütige Landschaft drumherum. Mit den Jahren hatte die Stadt sich gemausert, es gab jede Menge Kultur, aber womöglich war er selbst bescheidener geworden, ruhiger auf jeden Fall. Es ging ihm gut, durch seinen Beruf lernte er immer wieder Gleichgesinnte kennen, und er hatte sich über die Jahre einen überschaubaren Freundeskreis aufgebaut, Freunde, die ihm auch nach der Scheidung geblieben waren.

Es war Zeit, den Ofen vorzuheizen. Während er darauf wartete, dass die richtige Temperatur erreicht war, deckte er den Tisch. Schließlich goss er noch etwas Olivenöl ans Fleisch, schob den Bräter in den Ofen und stellte die Zeitschaltuhr ein. Dann ging er zum Schreibtisch zurück und nahm sich die Fotos der ersten beiden Jahre vor: 1973 und 1974 in der Mensa, zuerst in kleinen Gruppen, diskutierend, sehr ernsthaft, wichtig, dann größere Runden, zusammengeschobene Tische. Die Mädchen alle mit Mittelscheitel und glatten, langen Haaren oder viel zu krausen Dauerwellen. Nur Johanna sah anders aus, sie trug auch keine Plateauschuhe, keine weiten Kittel über ausgestellten Jeans. Sie hatte alles selbst genäht, handbemalte, bestickte, mit Perlen und anderem Schnickschnack besetzte merkwürdige Gewänder.

Und die Jungs fast alle ohne Haarschnitt, zottelig. Er selbst hatte einen flusigen Vollbart gehabt, schauderhaft, Vollbart und Kassenbrille. Und einen Bundeswehrparka, den er augenscheinlich nur selten abgelegt hatte, auf den frühen Fotografien war er jedenfalls überall dabei. Schwarzweißfotos selbstverständlich, Farbe war etwas für Mutti und Vati gewesen, für die Urlaube an der Nordsee oder an der Costa Brava.

Aufnahmen von den Proben für ihren ersten Auftritt auf der Bühne im Audimax. Wer war eigentlich auf die Idee gekommen, für die Weihnachtsfete der Germanisten ein Kabarettprogramm auf die Beine zu stellen? Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Sie hatten herumgeblödelt, der harte Kern, und auf einmal waren die ersten Sketche fertig gewesen. Dann hatte jeder von ihnen Freunde und Bekannte mitgebracht, bis sie schließlich mit Musiker, Techniker und den anderen guten Geistern dreizehn gewesen waren. «Die Wilde Dreizehn, das wär’s doch!» Er hatte Dagmars Stimme noch gut im Ohr. «Ihr wisst schon, die Piraten aus ‹Jim Knopf›.» Die ersten Proben. Wie fremd sie einander gewesen waren, wie linkisch sie auf der Bühne herumhampelten, alle eigentlich bis auf Frieder, Frieder und Kai, die waren vom ersten Moment an in ihrem Element gewesen.

Die ersten Sketche: Willy Brandts Rücktritt, die Ölkrise, der Militärputsch in Chile, die Straßenschlachten der ersten Hausbesetzer mit der Polizei in Frankfurt – wie hatten sie sich einen abgebrochen mit dem hessischen Dialekt! Baader-Meinhof natürlich, der Hungerstreik. Meine Güte, was für Rundumschläge sie damals verteilt hatten! Dennoch, es waren gute Sachen dabei gewesen. Einen von seinen eigenen Sketchen vom 74er-Programm hatte er für den Bestof-Teil des Jubiläumsprogramms rausgesucht. Mal schauen, ob er den durchsetzen konnte.

Als politisches Kabarett waren sie angetreten, und es wurde Zeit, dass sie sich darauf zurückbesannen. In den letzten Programmen hatte sich mehr und mehr Comedy breit gemacht, was an Frieder und seinem Gefolge lag. Bei den Diskussionen um die Auswahl der Texte hatte immer einer von denen das basisdemokratische Schwert geschwungen, und so hatte billiger Klamauk jedes Jahr mehr Raum bekommen. Abgesehen davon, dass er diesen geistigen Dünnpfiff verabscheute, fand er es unanständig, dem Publikum, das ihnen über viele Jahre die Treue gehalten hatte, so etwas vorzusetzen. Es mochte, wie er selbst auch, älter und leiser geworden sein, aber es stand immer noch links, war immer noch kritisch und geistig beweglich und erwartete – zu Recht – etwas zum Nachdenken und Nachfühlen.

«Puh, ich platze gleich!» Dagmar schob den Teller weg. «Es war absolut köstlich, Martin.»

Haferkamp lächelte und drückte ihre Hand. Mit dem hellroten Haar, der sommersprossigen Haut und den blassen Wimpern war sie alles andere als eine Schönheit, aber er hatte sich gleich bei ihrer ersten Begegnung in ihre warmen Augen und ihr Lachen verliebt. In der Mensa war das gewesen, ihm war der Pudding vom Tablett gerutscht und auf ihrem Fuß gelandet. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden und waren unzertrennlich geworden. Dass sie damals schon mit Rüdiger zusammen gewesen war, hatte keine Rolle gespielt. ‹Mein kleiner dicker Ritter›, hatte sie ihn genannt, sie war sein ‹Faun› gewesen. Heute kamen sie ohne die kindischen Neckereien aus, aber sie waren sich immer noch nahe, auf eine angenehm unkomplizierte Weise.

«Dann mach ich uns mal einen Espresso, okay?»

«Für mich lieber einen Milchkaffee, wenn’s geht.» Kai stand auf und fing an, den Tisch abzuräumen. «Mir ist immer noch ein bisschen flau von der Fahrt. Setz dich nie zu diesem Flintenweib ins Auto, Martin, glaub mir, das ist lebensgefährlich.»

«Ha!» Dagmar lachte. «Immerhin fahre ich seit dreißig Jahren unfallfrei.»

«Und wie viele deiner Beifahrer sind in der Zeit am Herzinfarkt gestorben?»

«Gemeiner Kerl! Ist das der Dank dafür, dass ich extra den Umweg über Duisburg gemacht habe, um dich einzusammeln?»

Kai grinste nur. «Ich brauch jedenfalls einen Schnaps.»

«Im Kühlschrank steht Tequila.» Haferkamp öffnete die Spülmaschine und räumte das Geschirr ein.

«Willst du mich umbringen? Mittlerweile müsstest du wissen, dass ich keine klaren Schnäpse trinke.»

«Cognac und Gläser stehen da oben.»

Kai goss sich reichlich ein. «Wollte Frieder nicht an diesem Wochenende wieder da sein?»

«Hat Rüdiger jedenfalls gesagt», antwortete Dagmar.

«Aber warum und wohin er so plötzlich verschwunden ist, weiß Rüdiger auch nicht, oder?»

Dagmar zuckte die Achseln. «Ich glaube nicht.»

«Was soll das heißen?» Haferkamp reichte ihr einen Espresso. «Hat dein Göttergatte etwa Geheimnisse vor dir?»

«Kann schon sein. Er ist nicht besonders gut drauf in letzter Zeit.» Sie wischte Martins prüfenden Blick mit einer flüchtigen Handbewegung beiseite. «Du weißt schon, die ganzen Einsparungen im Sozialbereich. Jetzt ist er der Boss, der die Leute entlassen muss. Das geht ihm ganz schön an die Nieren.»

«Ja, ja, wie heißt es so schön? It’s lonely at the top.» Kai stellte ein Holzkistchen auf den Tisch. «Zigarillo gefällig?»

Dagmar schüttelte den Kopf und betrachtete ihn verstohlen. Er war immer ein auffälliger Mann gewesen, überschlank, mit einer drahtigen schwarzen Mähne, einer großen Hakennase und buschigen Brauen über kritisch blickenden Augen, die, wenn er auf der Bühne stand, vor Humor und Lebenslust nur so blitzten. Mit den Jahren war er immer grauer geworden, das waren sie ja alle, aber ihr fiel erst jetzt auf, wie gebeugt er sich hielt und dass er an Gewicht verloren hatte. Es ging ihm nicht gut, aber er würde nicht darüber sprechen.

Martin zündete sich ein Zigarillo an, strich sich über den Magen und lehnte sich genüsslich paffend zurück. «So lässt sich’s leben.»

«Jetzt krieg dich wieder ein.» Sie piekste ihm den Zeigefinger in den Bauch. «Wir haben noch einiges zu tun heute Abend.»

«Nichts lieber als das.» Haferkamp blinzelte. «Könnte allerdings hilfreich sein, wenn wir wüssten, wie viel Material Frieder beizusteuern hat.»

«Du kannst es ja noch mal auf seinem Handy probieren.»

«Ich bin doch nicht bekloppt!»

Kai nickte. «Wetten, wir drei kriegen mit unseren Texten und dem Best-of-Teil das Programm ganz alleine zusammen.»

«Schon, sicher», Dagmar zupfte an ihrem Pony, «aber das fänd ich doch schade. Ihr wisst genau, wie wichtig Frieders Sketche für die gesamte Dynamik sind. Sie bringen Farbe ins Spiel.»