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Die Sechziger sind gerade angebrochen, als Annemarie mit ihren Eltern auf «Pfaffs Hof» zieht, gelegen in einem kleinen katholisch geprägten Ort am Niederrhein. In den Ecken des dunklen, baufälligen Gebäudes sammeln sich Staub, Enttäuschung und trotzige Stille. Die Stille heißt Peter, wie Annemaries älterer Bruder, der gehen musste, weil er zu viele Fragen über den Krieg stellte. Das hat die Mutter dem Vater nicht verziehen. Annemarie auch nicht so richtig, deswegen sagt sie dem Vater auch nichts von Mutter und den Männern hinter der Spülküchentür. Während die Eltern die Fassade einer normalen Kindheit aufrechtzuerhalten versuchen – mit Ausflügen in den Märchenwald und bunten Tüten zum Nikolaustag –, flüchtet Annemarie in ihre Bücher und liest sich nach Bullerbü. Zwischen Mutters Klagen und Vaters Schweigen träumt sie davon, eine Studentin zu sein, die alles weiß und Herrenarmbanduhren trägt wie Astrid Lindgren. Stattdessen bekommt sie erst einmal Perlonstrumpfhosen und eine Barbiepuppe. Doch die Zeichen der Zeit stehen auf Umbruch und Annemarie ist fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen … Eine berührendes Buch, das den Zeitgeist der sechziger Jahre lebendig werden lässt, mit einer Heldin, die durch ihren starken Freiheitswillen inspiriert.
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2018
Hiltrud Leenders
Roman
Die Sechziger sind gerade angebrochen, als Annemarie mit ihren Eltern auf «Pfaffs Hof» zieht, gelegen in einem kleinen katholisch geprägten Ort am Niederrhein. In den Ecken des dunklen, baufälligen Gebäudes sammeln sich Staub, Enttäuschung und trotzige Stille. Die Stille heißt Peter, wie Annemaries älterer Bruder, der gehen musste, weil er zu viele Fragen über den Krieg stellte. Das hat die Mutter dem Vater nicht verziehen. Annemarie auch nicht so richtig, deswegen sagt sie dem Vater auch nichts von Mutter und den Männern hinter der Spülküchentür.
Während die Eltern die Fassade einer normalen Kindheit aufrechtzuerhalten versuchen – mit Ausflügen in den Märchenwald und bunten Tüten zum Nikolaustag –, flüchtet Annemarie in ihre Bücher und liest sich nach Bullerbü. Zwischen Mutters Klagen und Vaters Schweigen träumt sie davon, eine Studentin zu sein, die alles weiß und Herrenarmbanduhren trägt wie Astrid Lindgren. Stattdessen bekommt sie erst einmal Perlonstrumpfhosen und eine Barbiepuppe. Doch die Zeichen der Zeit stehen auf Umbruch und Annemarie ist fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen …
Eine berührendes Buch, das den Zeitgeist der sechziger Jahre lebendig werden lässt, mit einer Heldin, die durch ihren starken Freiheitswillen inspiriert.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2018
Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Redaktion Dinah Sophie Fischer
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Umschlagabbildung Rosmarie Wirz/Getty Images
ISBN 978-3-644-40284-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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«Keine neun Monate nach der Hochzeit wusste ich, was für einen Satan ich geheiratet hatte.» Mutter blinzelte, weil ihr der Schweiß in die Augen lief.
«Papperlapapp», sagte Tante Guste, «du hast bloß Kaffeedurst, sonst würdest du nicht so reden.» Sie ließ den Aufnehmer in den Putzeimer platschen und zwinkerte mir zu.
Ich kannte keinen anderen Menschen auf der Welt, der «Papperlapapp» sagte, aber es war ein großartiges Wort. Und auf einmal war mir nicht mehr kalt.
«Annemie», Guste stupste mich an, «ich koche Kaffee, und du schmierst uns ein paar Schnitten Rosinenstuten mit dick Butter, Wicht.»
«Wicht» sagte auch mein Opa Emil, Gustes jüngerer Bruder, oft zu mir, und er hatte mir erklärt, dass es nicht «Zwerg» bedeutete, sondern so etwas wie «kleines, liebes Mädchen». Manchmal sagte er auch «Ströppken».
Mutter schimpfte vor sich hin: «Lässt mich mit dem ganzen Elend hier einfach alleine …», drückte sich beide Fäuste in den Rücken und stöhnte.
«Papperlapapp», sagte Guste wieder. «Stefan kann doch nichts dafür, dass er Nachmittagsschicht hat.»
«Und ab morgen hat er ja Urlaub», sagte ich leise.
Guste drückte meinen Arm. «Eben, und ich bin ja auch noch da.»
Dann lachte sie laut. «Klein, aber stark wie ein Ochse. So, jetzt geh und wasch dich mal, Gerda, dann sieht gleich alles wieder besser aus.»
Am Vortag waren wir in das alte Haus gezogen, in dem es so furchtbar schmutzig war und in dem schwere, dunkle Möbel standen, die uns nicht gehörten.
Vater hatte zuerst eine Schubkarre und eine Schaufel besorgt und den ganzen Müll und Schutt, der die Böden bedeckte, rausgefahren und hinter dem Schweinestall abgekippt. Danach hatte er gefegt, und Mutter hatte geschrubbt.
Und dann war er irgendwann zu seiner Spätschicht aufgebrochen. Mutter hatte mir eine Schüssel mit Essigwasser und einen Lappen gegeben. «Wir müssen die Schränke auswaschen, damit wir den Muff hier rauskriegen. Fang du mit der Anrichte da drüben an.»
Muff war wohl der Geruch, der in allen Zimmern waberte und der so bitter auf der Zunge schmeckte.
In den Ecken der Kredenz, die ich mir vorgenommen hatte, saß dicker grüner Pelz, und ich ekelte mich so, dass ich würgen musste. Da nahm Mutter mir den Lappen weg und kniff die Lippen zusammen. «Lass, ich mach’s selbst.»
«Wo sind denn unsere Möbel?», fragte ich.
In unserem Haus im Dorf, das Vater selbst gebaut hatte, als ich geboren wurde, hatten wir im Wohnzimmer helle Möbel aus Korb gehabt und eine neue Küche.
«In der Scheune.» Mutter holte eine Wurzelbürste und noch mehr Essigessenz, um dem Schimmel auf den Leib zu rücken.
Das Haus, in dem wir nun wohnen mussten, war ein alter Bauernhof, und er lag einsam zwischen Feldern und Wiesen kurz vor einem dunklen Tannenwald, der «Reiherbusch» hieß.
Wenn man zum Hof wollte, musste man eine sehr lange, schmale Straße nehmen, die noch nicht asphaltiert war. Erst kam rechts der Hof von Lehmkuhls und gegenüber das spitze, weiße Häuschen von Maaßens. Dann ging es noch ein Stück weiter die Straße hoch, bis man rechts in einen holprigen Feldweg abbog, in dessen tiefen Löchern Wasser stand.
Und ganz am Ende lag dann «Pfaffs Hof» – so hieß unser neues Zuhause.
Es stand quer zum Feldweg, und man musste links um die Ecke gehen, um zur Vordertür zu kommen, die man aber nicht benutzte, wie mir Vater erklärt hatte. Man ging weiter um das Haus herum zur Hintertür, die in die Spülküche führte.
Vor dem Hintereingang stand eine riesengroße Linde – «Über zweihundert Jahre alt», sagte Vater und hörte sich an, als fände er das schön –, die schuld daran war, dass es in der Wohnküche niemals hell wurde.
Wenn man die Vordertür benutzte, kam man direkt ins Wohnzimmer. Rechts und links davon gab es noch zwei Zimmer. In einem standen ein Kleiderschrank und ein breites Eichenbett mit Schnitzereien, in dem anderen Wohnzimmermöbel.
Aber diese Zimmer waren für uns verboten, sie gehörten Trudi Pfaff, obwohl sie nicht darin wohnte. Und ich durfte dort nicht spielen, auf gar keinen Fall.
Pfaffs, denen dieser Hof einmal gehört hatte, konnten keine Kinder bekommen, worüber sie sehr traurig waren. Aber die Schwester von Frau Pfaff hatte den Pfaffs schließlich eins von ihren sehr vielen Kindern geschenkt, ihre jüngste Tochter Trudi, und die hatte dann hier gelebt.
Aber dann waren ihre neuen Eltern ganz plötzlich kurz nacheinander gestorben, und Trudi stand mutterseelenallein da. Und weil sie gerade erst fünfzehn war, bekam sie einen Vormund und ging zu ihren anderen Eltern zurück, weil sie nicht wusste, wo sie sonst wohnen sollte, sagte Vater.
Ich fand die Geschichte traurig und auch ein bisschen grausam.
«Man kann doch sein Kind nicht verschenken!»
«Ach», Vater winkte ab, «das sind Pfälzer, die waren schon immer anders.»
«Die sprechen auch anders», mischte Mutter sich ein.
Vater gluckste. «Die sagen Grumbeere!»
«Was soll das denn heißen?», wollte ich wissen.
Vater musste lachen. «Pippers.»
«Sprich wie ein Mensch!», schimpfte Mutter. «Kartoffeln heißt das.»
Jedenfalls konnte es passieren, dass Trudi manchmal bei uns wohnen würde.
Und an diesem Morgen war Guste gekommen, um zu helfen. Ihr Sohn Ruben hatte sie mit dem Auto gebracht, den ganzen Weg vom Bergischen Land.
Reingekommen war er nicht, sondern hatte nur dumm gegrinst – «das riecht mir hier zu sehr nach Arbeit» – und war gleich wieder zurückgefahren.
«Ganz schön finster ist es hier», hatte Guste festgestellt und alle Fenster aufgerissen. «Wenn wir die erst einmal geputzt haben, sieht das schon viel besser aus.»
Dann war sie durch die Zimmer getippelt, um sich alles anzuschauen.
Guste war nicht viel größer als ich. Wenn sie auf einem Stuhl saß, baumelten ihre Füße in der Luft.
«Na, wenigstens stehen die Betten schon», sagte sie zufrieden.
Das war das Erste, was Vater in Angriff genommen hatte, nachdem die Böden so einigermaßen sauber waren und man erkennen konnte, welche Farbe das Linoleum hatte. Grau in der Wohnküche, dunkelrot in der guten Stube; in der Spülküche mit dem tiefen gemauerten Becken lagen rote und graue Steinfliesen im Schachbrettmuster.
Das Ehebett hatten wir aus unserem Haus im Dorf mitgebracht.
Das Ehebett mit den beiden Nachtschränkchen und der Garnitur, drei grünen Läufern, je zwei lange an den Bettseiten und ein kürzerer am Fußende.
Außerdem unseren Kühlschrank, den Fernsehapparat und einen Sisalteppich für das Wohnzimmer.
Das Bett war für uns drei, Vater, Mutter und mich.
Ich schlief auf der Besucherritze.
Schon immer. Mutter hatte extra einen schmalen Matratzenkeil nähen lassen, damit ich einigermaßen bequem lag.
Ich hatte noch nie allein geschlafen.
Ich besaß kein eigenes Bett.
Warum das so war, erzählte Mutter oft: «Annemarie war erst neun Monate alt, als wir damals in das Haus gezogen sind. Es war Dezember, eisig kalt, ein schlimmer Winter, sicher minus zwölf Grad, wenn nicht noch kälter.
Und der Verrückte hatte für den Innenputz so viel Zement genommen, dass das Wasser an den Wänden herunterlief und zu Eis wurde.
Jeder hat ihm gesagt, du bist nicht gescheit, so kann das Haus doch nicht atmen. Aber natürlich hat er sich nichts sagen lassen.
Der Kerl weiß ja alles besser. Gebaut wird für die Ewigkeit!
Der hat immer noch Hitler im Blut.
Was sollte ich denn machen? In der Wiege wäre mir das Kind doch erfroren, also musste ich es zu mir ins Bett holen.»
«Filter und Kaffee hab ich gefunden», sagte Guste und wühlte in einem der Kartons, die noch nicht ausgepackt waren, «wo sind die Filtertüten?»
«Hier an der Seite.» Mutter war wieder hereingekommen, ihr Gesicht war nicht mehr so rot.
«Warum kocht das Wasser denn noch nicht?» Sie legte den Handrücken an den Kessel. «Verdammt, der Ofen ist nicht heiß genug!»
Unser schöner weißer Elektroherd mit den vier Platten war noch nicht angeschlossen und stand in der Spülküche mit der Backofentür zur Wand. Also mussten wir auf dem riesigen rostigen Ofen kochen, der mit Holz befeuert wurde.
«Annemarie, auf der Tenne liegt ein Stapel Brennholz. Hol mal ein paar Scheite.»
Ich verschluckte mich und musste husten.
Auf der Tenne gab es tausend finstere Ecken, in denen jemand hätte lauern können.
«Ich hab aber Angst.»
Mutter verdrehte die Augen und griff zum Holzkorb, aber Guste war schneller. «Lass, Gerda-Kind, setz dich hin und leg ein bisschen die Füße hoch. Ist doch alles nicht mehr so leicht in deinem Alter.»
Mutter war vierzig und schwanger.
Im August würde ich Schwester werden. Eigentlich war ich das schon, aber meinen großen Bruder Peter kannte ich nicht richtig. Er war von zu Hause weggegangen, als ich noch ziemlich klein gewesen war.
Vater war zweiundfünfzig.
Zum Abendessen kochte Mutter Grießmehlsuppe mit Rosinen und Eischneeflocken.
Wir aßen am kleinen Küchentisch und setzten uns danach ins Wohnzimmer.
«Erzählst du mir, wie du Onkel Karl kennengelernt hast?», fragte ich.
Guste lachte. «Das hab ich dir doch schon erzählt.»
«Och bitte!»
Aber Mutter mischte sich ein: «Schluss jetzt, du gehörst ins Bett, es ist schon acht Uhr durch.»
«Ich muss doch morgen gar nicht in die Schule.»
«Das ist egal. Komm, du darfst auch auf meiner Seite einschlafen.»
Das fand ich schön, dann war ich nicht so nah an Vaters Kopfkissen, das nicht gut roch.
«Unglaublich, was du dir alles zusammenschwitzt!», sagte Mutter immer. «Wer weiß, was für fiese Träume dahinterstecken!»
Sie deckte mich zu und schaute mich an, das hieß Zeit fürs Beten.
Ich kannte zwei Abendgebete:
«Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu. Alle, die mir sind verwandt, Gott, lass ruh’n in deiner Hand. Alle Menschen, groß und klein, sollen dir befohlen sein. Amen.»
An diesem Abend nahm ich das kürzere, weil alles so unheimlich war und ich ganz schnell einschlafen wollte.
«Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Amen.»
Als Mutter vom Bettrand aufstand und das Licht ausknipste, wurde mir wieder kalt.
«Lass die Tür auf», rief ich. «Und lass das Licht in der Küche an, bitte!»
Da kam sie noch einmal zurück, bückte sich und drückte ihre Wange an meine. «Du musst keine Angst haben, wir sind doch im Wohnzimmer. Ach, Kind, wenn ich dich nicht hätte …»
Dann ging sie.
Ich zog mir die Decke über den Kopf. Die Tür zur Tenne hatte kein Schloss, durch die Spülküche hätte einer hereingeschlichen kommen können.
Mir wurde heiß, ich zog die Decke wieder herunter und versuchte, an etwas Schönes zu denken.
Vater hatte erzählt, dass dieses Haus schon zweihundertfünfzig Jahre alt war.
Ich versuchte auszurechnen, wann es dann gebaut worden sein musste.
Es dauerte eine Weile – das war dann wohl 1713 gewesen.
Ich wurde ganz aufgeregt: Guste war 1896 geboren, das war im letzten Jahrhundert, 1713 war dann ja noch ein Jahrhundert davor!
Was für Leute wohnten wohl damals in diesem Haus? Wie hatten sie ausgesehen, was hatten sie für Kleider getragen? Ob sie mit Pferdekutschen gefahren waren? Und was sie wohl gegessen hatten?
Bestimmt gab es Bücher darüber. Es gab über alles Bücher, das wusste ich.
Mutter und Vater hatten keine.
Aber ich hatte welche, in dem kleinen Karton neben dem Kleiderschrank.
Sogar meine alten Bilderbücher, die ich mit Omma gelesen hatte, waren noch da: «Die Häschenschule», «Bellinchen, das Glockenblumenkind» und «Der Struwwelpeter».
Bücher waren großartig, ich sammelte sie, seit ich «Wir Kinder aus Bullerbü» auf dem Büchertisch in unserer Schule im Dorf entdeckt hatte.
Der Tisch war eigentlich nicht für uns Kleine gedacht gewesen, die Älteren hatten sich etwas aussuchen sollen, das ihre Eltern ihnen zu Weihnachten schenken konnten.
Aber weil Omma mir das Lesen beigebracht hatte, lange bevor ich in die Schule gekommen war, durfte auch ich mir den Tisch anschauen. Und die Bullerbü-Bücher hatten glänzende rote Umschläge gehabt und am besten von allen gerochen.
Seitdem wünschte ich mir zum Geburtstag und zu Weihnachten nur Bücher. Die waren teuer, und Mutter und Vater schenkten mir immer nur eins. Aber man konnte sie ja wieder und wieder lesen.
Als ich noch kleiner war, hatte ich immer nach Bullerbü gewollt. Mittlerweile wusste ich natürlich, dass es Bullerbü gar nicht gab, dass es nur ausgedacht war. Aber das war mir egal, ich konnte trotzdem in Bullerbü sein, wenn ich wollte.
Zum nächsten Weihnachtsfest wünschte ich mir die «Madita»-Bände, und als ich das am Nachmittag Guste erzählt hatte, war sie gleich ins verbotene Schlafzimmer geflitzt – sie durfte dort schlafen, weil Vater Trudi Pfaff gefragt hatte – und mit ihrem roten Notizbuch wiedergekommen, damit sie sich das aufschreiben konnte.
Ich überlegte, ob ich noch mal aufstehen sollte, um zu gucken, was Guste und Mutter im Wohnzimmer machten.
Aber da konnte ich Guste hören: «Mir ist das hier einfach zu kalt, Gerda, und der Fernseher ist ja auch noch nicht angeschlossen. Setzen wir uns lieber in die Küche, da ist es mollig.»
Ich betete, dass Mutter die Tür offen ließ.
Ich hörte für mein Leben gern zu, wenn Leute miteinander redeten.
Als ich noch jünger gewesen war, hatte ich mich oft irgendwo versteckt, hinter Türen oder in dem Spalt zwischen Kleiderschrank und Wand, und gelauscht.
Aber inzwischen wusste ich, dass ich nur irgendwo ganz ruhig in einer Ecke sitzen und in ein Buch schauen musste, dann vergaßen sie nach einer Weile, dass ich da war, und redeten einfach.
Nur Vater bemerkte mich manchmal. «Wände haben Ohren», sagte er dann immer leise mit ganz tiefer Stimme.
Guste und Mutter sprachen darüber, warum wir jetzt hier wohnen mussten.
Ich wusste, dass Vater im Bergischen Land ein neues Haus für Mutter gebaut hatte, wegen ihrem Heimweh, und dass wir alle dorthin umziehen sollten.
Ich musste deswegen manchmal heimlich weinen.
Unser altes Haus im Dorf hatte Vater an andere Leute verkauft. Die waren gekommen, hatten sich alles angesehen und hochnäsig genickt. «Für uns muss das aber zügig gehen.»
Und dann auf einmal sollten wir doch nicht mehr ins Bergische Land ziehen.
Ich hörte Mutter leise weinen. «Das Haus lag doch in der Walachei. Schon für Annemarie wäre es schlimm gewesen, zur Schule zu kommen. Fünf Kilometer bis zur nächsten Bushaltestelle! Aber jetzt mit einem Säugling? Ohne Auto, ohne Führerschein? Nein, nicht mit mir!»
«Das ist der Grund?» Gustes Stimme klang hart. «Wem willst du etwas vormachen, Kind?»
Mutter schluchzte auf, und ich wollte zu ihr, aber jetzt redete sie wieder: «Er hätte doch unser Haus nicht so schnell verkaufen müssen, wir hätten doch da bleiben können!»
«Dann hätte er kein Geld gehabt, den Bungalow im Bergischen fertig zu bauen, das weißt du ganz genau.»
Aber Mutter hörte ihr nicht zu. «Und jetzt sitze ich hier in diesem Drecksloch und weiß nicht, wo ich es herholen soll …»
«Das ist doch nur für den Übergang», sagte Guste streng. «Wenn der Bungalow erst einmal verkauft ist, sieht doch alles ganz anders aus. Glaubst du vielleicht, bei mir wäre immer alles rosig gewesen?»
Mutter murmelte etwas, und Guste kicherte. «Dass du jetzt ausgerechnet hier wohnst! Wenn das nicht Ironie des Schicksals ist.»
Dann sprachen sie übers Kinderkriegen und dass Guste damals für Mutter da gewesen war, aber das kannte ich alles schon: Mutter und Vater hatten im Krieg geheiratet, und als neun Monate nach der Hochzeit Peter auf die Welt kam, war Vater an der Front gewesen, Mutters zwei Brüder auch, ihre älteren Schwestern irgendwo beim Arbeitsdienst und ihre Eltern mit dem jüngsten Sohn in Polen, wo Opa vom Führer einen Hof geschenkt bekommen hatte. Und Mutter wohnte ganz allein in ihrem elterlichen Haus im Bergischen. «Ich war noch keine zwanzig Jahre alt …»
«Wenn ich dich damals nicht gehabt hätte, Güsken … Und jetzt steh ich wieder alleine da!»
«Papperlapapp», beschied Guste. «Das waren doch ganz andere Zeiten.» Ich schlief ein.
Vater hatte Urlaub, und als Erstes wurden unsere Korbmöbel aus der Scheune geholt.
Das klumpige Sofa aus Pfaffs guter Stube mit dem kratzigen Bezug musste raus.
Aber obwohl Guste stark wie ein Ochse war, kriegte sie es an ihrer Seite nicht hochgehoben.
Vater nahm sie in den Arm. «Stark wie ein ganz kleiner Ochse.»
Guste lachte. «Du fängst dir gleich eine!»
Mutter hob das Sofa mühelos an. «Dann komm.»
Aber Vater schob sie beiseite. «Du trägst keine schweren Sachen mehr. Pack die Kartons aus und räum die Küchenschränke ein oder die Wäsche. Was nötig ist. Annemie, du hilfst ihr. Ich fahre zu Lehmkuhls. Wenn Pit nicht gerade auf dem Feld ist, packt der bestimmt mit an.»
Er holte sein Fahrrad von der Tenne und machte sich auf den Weg.
Früher hatte er ein Moped gehabt, aber das war kaputtgegangen, und Geld für ein neues hatten wir nicht, deshalb musste er jetzt mit dem Fahrrad zum Dienst fahren. Und es war ganz schön weit bis zum Gefängnis in der Stadt, wo er arbeitete. Aber er fand es nicht schlimm. «Halb so wild, ohne Gegenwind eine knappe halbe Stunde.»
An diesem Tag schien die Sonne, und Pfaffs Hof sah kein bisschen gruselig aus, sondern eigentlich ziemlich schön.
Der dunkelrote Backstein leuchtete richtig, und im Garten vor dem Haus, in dem das Unkraut so hoch stand, dass ich mich darin verstecken konnte, zeigten sich erste Blüten.
«Geh spielen», sagte Mutter, die mit Guste Geschirr und Besteck aus Zeitungspapier auswickelte.
Spielen, dachte ich. Was denn? Und mit wem?
Aber diesmal traute ich mich, mir draußen alles genauer anzusehen.
Hinter der Spülküche war der Schweinestall, aber den wollte ich mir nicht anschauen. Obwohl sicher schon lange keine Schweine mehr darin gestanden hatten, stank es aus den offenen Fenstern so eklig, dass mir ein bisschen schlecht wurde.
Am Rand der Weide, die bis zur Eisenbahnlinie ging, standen krumme Pfähle, hell wie Knochen.
Als ich näher kam, sah ich, dass es ein alter Zaun war, an einigen Pfosten kringelte sich noch rostiger Stacheldraht, und manche hatten kleine, tiefe Löcher.
Im Gras blinkte etwas. Ich bückte mich. Zwei Hülsen aus Metall, ganz glänzend. Ich steckte sie in meine Schürzentasche.
Auf der Wiese hinterm Schweinestall standen Lehmkuhls Kühe. Als sie mich am Zaun entdeckten, kamen sie langsam angetrottet und schnaubten mich an. Sie dufteten warm und süßlich nach Milch, und auch die Kuhfladen, die dort überall verteilt waren, rochen nicht schlimm.
Nette Tiere, dachte ich, ziemlich groß wohl, aber sie hatten ganz liebe Augen mit langen Wimpern.
Dann wanderte ich an einem verfallenen Schuppen mit verrostetem Werkzeug, Pflügen und Eggen vorbei über die Obstwiese bis zur Straße.
«Das ist ein Apfelbongert», hatte mir Vater erklärt, aber es standen auch ein paar Kirschbäume darin. Ich versuchte, die Bäume zu zählen, es waren über vierzig, und viele sahen sehr alt aus. Die Kirschen trugen schon kleine grüne Früchte. Ich mochte süße Kirschen sehr gern und freute mich auf einmal.
Lehmkuhls grauer Mercedes kam den Feldweg hochgetuckert, Vater hatte eine Hand am offenen Seitenfenster und ließ sich auf seinem Fahrrad ziehen.
Ich stahl mich näher heran und sah, wie Onkel Lehmkuhl in seinem schmutzigen Arbeitszeug ausstieg. Er war hässlich mit seinem schiefen Gesicht, den triefenden Augen und den roten abstehenden Ohren.
Ich grüßte leise, aber er beachtete mich nicht, sondern redete mit Vater.
Sie sprachen Platt miteinander.
Die Leute in unserem Dorf hatten alle so etwas Ähnliches wie Hochdeutsch gesprochen, deshalb hatte ich Vater bis dahin nur Platt reden hören, wenn einer von seinen Freunden oder Onkel Maaßen zu Besuch gekommen waren.
«Gut, dass Mutti jetzt nicht hier ist», dachte ich, «sie würde sich wieder aufregen.»
«Sprich anständig vor dem Kind!»
Onkel Lehmkuhl sagte «Jupp» zu Vater, und ich wurde ein bisschen wütend.
«Warum nennst du ihn Jupp?»
Onkel Lehmkuhl schaute mich an, als wäre ich nicht ganz gescheit. «Na, so heißt er doch!»
«Nein!» Am liebsten hätte ich mit dem Fuß aufgestampft. «Er heißt Stefan.»
Vater drückte meine Schulter so fest, dass es ein bisschen weh tat. «Du weißt doch, dass ich Josef Stefan heiße. Und Mutti findet Stefan eben schöner als Josef.»
Sicher wusste ich das, und deshalb durfte Onkel Lehmkuhl auch nicht einfach «Jupp» sagen, «Jupp» war ja noch blöder als «Josef».
Pit Lehmkuhl zeigte mir den Vogel und sagte etwas auf Platt, das sich nicht nett anhörte. Ich verstand nur die Wörter «Frau» und «apart».
Ich zeigte Mutter die Hülsen, die ich gefunden hatte.
«Wo hast du die her?»
«Die lagen im Gras, hinten bei dem alten Zaun. Was ist das denn?»
«Munition aus dem Krieg.» Ihre Stimme war ganz trocken. «Von Tieffliegern vielleicht … Schmeiß die weg!»
«Ich zeig sie Vati, der weiß bestimmt, was das ist.»
«Nein! Der will so was nicht mehr sehen. Wehe!»
Sie nahm mir die Hülsen weg, warf sie in den Aschenkasten unter dem Herd und schüttelte die Asche, bis man nichts mehr sah.
«Und geh da bloß nicht mehr hin. Womöglich liegen da noch Blindgänger.»
Blindgänger – was für ein schönes Wort!
«Was sind Blindgänger?»
«Munition, die nicht hochgegangen ist. Bleib da weg!»
Am Nachmittag drückte Mutter Vater ein paar gerahmte Fotos in die Hand und zeigte ihm, wo er sie aufhängen sollte.
«Nimm aber diesmal bitte nicht deine fünfzölligen Nägel, die Bilder wiegen schließlich nicht zwei Zentner.»
Vater kriegte einen schmalen Mund. «Das muss schließlich halten.»
«Gerda», rief Guste, «zeig mir mal, wie deine olle Waschmaschine funktioniert. Das ist ja ein Vorkriegsmodell.»
Ich reichte Vater die Nägel an. «Das sind doch keine fünfzölligen, oder?»
Er antwortete nicht.
«Du kannst mir gleich helfen, neue Wäscheleine zwischen den Pfählen im Garten zu spannen», sagte er dann.
Ommas Foto hängte er ganz oben auf, knapp unter der Decke.
Ich fand, dass das komisch aussah.
So sah Mutter das wohl auch, als sie aus der Waschküche kam.
«Soll ich jedes Mal, wenn ich dran vorbeikomme, ‹Heil Mutter› sagen?»
Dann stieg sie auf einen Stuhl und hängte das Bild wieder ab.
Und alle anderen auch.
Ich kriegte Angst, aber Vater brüllte nicht – wohl weil Guste da war.
Er sagte gar nichts, der «Satan», nahm den Hammer und die Nägel und ging zur Vordertür hinaus.
«Morgen fährst du los wegen der Fernsehantenne», rief Mutter ihm hinterher. «Und zur Post musst du auch wegen dem Telefon.»
Pfaffs alter schwarzer Apparat stand auf dem Fernsehgerät, und Vater wollte, dass er angeschlossen wurde, damit wir Bescheid bekamen, wenn mal etwas passierte, weil wir so weit weg von allem wohnten.
Wir hatten noch nie Telefon gehabt.
Ich faltete meine Hände: «Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.»
Vater sprach beim Abendessen kein einziges Wort.
Mutter plapperte mit Guste.
Ich wusste, dass es jetzt Tage und Tage so gehen würde, und kriegte keinen Bissen runter.
Aber ich tat so, als würde ich essen, weil Mutter sonst traurig wurde und Vater zornig.
Als ich so viel Brot in meinem Mund hatte, dass ich fast brechen musste, rannte ich ins Badezimmer und spuckte alles ins Klo.
«Musste nur Pipi», sagte ich, als ich wieder zurückkam.
Vater ging ins Bett, obwohl es erst sechs Uhr war.
Mutter tippte sich kopfschüttelnd an die Stirn, hielt aber den Mund.
Sie hatte ihren Handarbeitskorb aus einem der Umzugskartons geholt und setzte sich ins Wohnzimmer, um das gelbe Mützchen für unser Baby fertig zu stricken.
Dort war es nicht mehr kalt, weil Vater morgens den Ofen angeheizt hatte, der jetzt leise vor sich hin bullerte.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Meine Bücher waren alle im Schlafzimmer, und da wollte ich bestimmt nicht reingehen.
«Komm mal mit. Ich will dir was zeigen.» Guste fasste meine Hand und zog mich zur Hintertür. «Die beruhigen sich schon wieder.»
«Ja.»
«Weißt du, es ist nicht so leicht, in Muttis Alter noch mal ein Kind zu kriegen.»
«Warum tut sie es dann?»
Guste lachte leise. «Das kann man sich manchmal nicht aussuchen.»
Wir gingen in den Garten vorm Haus, der an drei Seiten von einer hohen Hecke umgeben war. Links standen Stachelbeer- und Johannisbeersträucher, die hatten wir im Dorf auch gehabt.
Man konnte erkennen, dass wohl einmal Beete angelegt worden waren, aber nun waren sie schrecklich zugewuchert.
Guste schob mit ihrem kleinen Fuß ein paar Winden beiseite. «Schau dir das an, Erdbeeren! Und sie haben sogar Früchte angesetzt, obwohl sie kaum Licht kriegen, die tapferen. Wenn wir morgen das ganze Unkraut hier ausreißen, könnt ihr in drei Wochen Erdbeeren essen.»
Ich mochte Erdbeeren noch lieber als Kirschen und freute mich.
Dann entdeckte ich zwei lange Sandwälle.
«Das sind Spargelbeete», erklärte Guste. «Wenn sie noch tragen, müsstet ihr eigentlich bald ernten können.»
Ich sah nur trockenes, braunes Gestrüpp.
«Spargel wächst unter der Erde, lange weiße Stangen. Man erntet sie mit einem Spargelmesser. Aber am besten fragst du deinen Vater, ich kenne mich damit nicht so genau aus. Bei uns in der Gegend wächst kein Spargel, falscher Boden. Auf jeden Fall ist Spargel eine Delikatesse und richtig teuer.
Aber jetzt komm, ich wollte dir was ganz anderes zeigen.»
Sie zog mich weiter zum hinteren Ende des Gartens, wo dicht an dicht struppige Eiben wuchsen.
Guste bog ein paar Zweige zur Seite, und da stand mitten zwischen den Bäumen eine grün lackierte Bank aus Gusseisen.
«Eine Laube!» Guste strahlte mich an. «Ist das nicht herrlich?»
Sie ließ sich auf der Bank nieder und baumelte mit den Füßen.
«So einen geheimen Ort hätte ich als Kind wohl auch gern gehabt. Wo man mal in Ruhe lesen kann oder einfach für sich sein.»
Ich setzte mich neben sie.
Sie zubbelte an ihren Haaren.
Morgens band sie sie immer zu einem festen, kleinen Knoten im Nacken zusammen, aber schon bald lösten sich feine, krause Strähnchen und standen wild um ihr Gesicht herum.
«Aber du hattest keinen geheimen Ort, als du klein warst?»
«Ach, woher denn, mit drei kleinen Brüdern! Wenn ich mal lesen wollte, hab ich mich auf dem Heuboden verstecken müssen, aber dort haben die mich meist auch schnell aufgestöbert. Viel Zeit zum Lesen hatten wir sowieso nicht, wir mussten ja immer mithelfen. Das ist halt so auf einem Bauernhof.»
Dann guckte sie mich verschmitzt an. «Deshalb wollte ich ja auch nie einen Bauern heiraten. Immer nur harte Arbeit, das war nichts für mich.»
Ich kriegte also doch noch meine Geschichte, mir wurde ganz warm im Bauch.
«Weißt du, zu meiner Zeit war alles noch ganz anders. Da trafen sich die heiratsfähigen Mädels der umliegenden Höfe jeden Sonntagnachmittag zum Spinnen und Handarbeiten in der Stube, reihum, immer in einem anderen Elternhaus. Und dorthin kamen dann die Freier, um uns in Augenschein zu nehmen. Und nett mit uns zu plaudern.» Sie kicherte. «Obwohl es damit meist nicht weit her war. Und ich hab sie mir alle angeguckt, die jungen Bauernburschen. Ein paar staatse Kerle waren schon dabei, muss ich sagen, aber ich hab mir gedacht: Jeden Morgen um sechs Uhr Kühe melken, den ganzen Tag auf dem Feld, mindestens vier Blagen kriegen und niemals Ferien? Nicht mit mir, da bleib ich doch lieber allein, und wenn ich eine alte Juffer werde, mir ganz egal!
Aber dann war da einer dabei, der war nicht ganz so staats, der war klein, nicht viel größer als ich, aber der konnte tatsächlich nett plaudern. Und er kam jeden Sonntag wieder und interessierte sich ganz besonders für das Spinnrad, an dem ich saß.»
Sie riss einen kleinen Eibenzweig ab und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her.
«So ist das gekommen mit dem Karl und mir. Dass der eine richtig gute Partie war, wusste ich anfangs gar nicht, hätte auch keine Rolle gespielt, Hauptsache, er war kein Bauer. Und dann stellt sich raus, er ist der Sohn und Erbe vom größten Sägewerk im Kreis – Donnerschlag! Da siehst du mal, manchmal ist es gar nicht so schlecht, klein zu sein. Und manchmal schadet es auch nichts, wenn einen die Leute deshalb nicht für voll nehmen.
Wie unter Hitler, als alle wählen gehen mussten. Mir haben sie gesagt: Guste, geh wählen, sonst holen sie dich ab. Ha, hab ich gesagt, noch bestimme ich, wann und wen ich wähle, sollen ruhig kommen! Und? Haben sie mich abgeholt? Nein! Da siehst du mal. Und meine Kinder habe ich ‹Ruben› und ‹Rahel› genannt – schon extra!»
Sie lachte so sehr, dass sie Tränen in den Augen hatte, und ich lachte mit – es waren ja auch wirklich komische Namen.
«Nur über eins ärgere ich mich schon mein Leben lang: dass ich immer Kinderschuhe tragen muss. Dabei hätte ich so gern mal richtige Stöckelschuhe angezogen. Würde ich sogar heute noch.»
Dann schüttelte sie den Kopf, rutschte nach vorn und hüpfte von der Bank. «Aber wem soll ich wohl noch was vorstöckeln?»
«Wann musst du wieder nach Hause?», fragte ich bang.
«Am Donnerstag schon, leider.» Sie klang traurig. «Rahel braucht meine Hilfe mit den drei Kleinen, sie ist schon wieder in Hoffnung.»
Ich sagte nichts, vom Kinderkriegen wollte ich im Augenblick nichts mehr hören.
Guste nahm mich in den Arm und drückte mich. Sie roch nach «Mouson Uralt Lavendel» wie Omma.
«Was hältst du davon, wenn wir uns von jetzt an Briefe schreiben? Vielleicht können wir morgen mit dem Bus in die Stadt fahren und einen Briefblock und Kuverts kaufen.»
Die Milch holte Mutter jeden Abend bei Lehmkuhls, immer um kurz nach sechs, wenn die mit dem Melken fertig waren.
Sie hatte in einem der Küchenschränke eine verbeulte Aluminiumkanne gefunden und sie gründlich mit Ata geschrubbt, aber sie sagte, dass sie sich immer noch davor ekelte.
Also radelte Vater los und kam nach einer Weile mit einer neuen Milchkanne zurück.
Sie war aus dickem, weißem Plastik und hatte einen hellgrünen Deckel.
So eine schöne hatte ich noch nicht gesehen.
Mutter freute sich so sehr, dass sie ganz vergaß, dass sie und Vater nicht miteinander sprachen.
«Die ist aber schön!»
Vater nickte zufrieden, und ich wusste, dass nun alles wieder besser würde.
Mutter rief nach mir: «Komm, wir gehen Milch holen.»
Aber ich hatte keine Lust, ich wollte lieber in meiner Laube sitzen und «Kalle Blomquist» lesen.
Dann konnte ich vergessen, dass ich traurig war, weil Guste wieder nach Hause gemusst hatte.
Mutter ließ mich aber nicht. «Komm endlich. Das Milchholen musst du ab jetzt übernehmen, ich bin nicht mehr so gut auf den Beinen.»
Sie nahm mich an die Hand, und wir gingen unseren Feldweg entlang zur Straße.
Die neue Milchkanne schwenkte sie dabei hin und her.
Wir gingen zur Seitentür, die direkt in die Küche führte, und Mutter klopfte an.
Tante Lehmkuhl machte auf und freute sich ganz offensichtlich, dass Mutter kam.
Sie hatte zwar einen dicken Kugelbauch, war aber sonst klapperdünn, mit spitzen Knochen überall.
Ihre Stimme hörte sich immer an, als würde sie weinen, und sie redete so langsam, dass ich ganz kribbelig wurde, weil ich immer schon wusste, welches Wort als nächstes kam.
Sie streichelte meine Wange. «Annemie, du bist aber groß geworden!» Ihre Hand war rau und hart.
«Wann bist du denn ausgezählt?», fragte Mutter.
Tante Lehmkuhl stöhnte. «In drei Wochen.»
In der Küche war es dunkel und heiß, und es stank nach Schwein und gekochtem Kohl mit Zwiebeln.
Hinten neben dem großen Küchenschrank stand eine Hexe.
Ich erschrak so sehr, dass ich rausrennen wollte, aber Mutter hielt mich fest.
«Das ist Oma Lehmkuhl. Sag ‹Guten Abend›.»
Ich kriegte keinen Ton heraus.
Die Hexe hatte einen Buckel und schwarze Krallen an den Händen.
Ihr Kopf wackelte die ganze Zeit hin und her, und ihr lief Spucke aus dem Mund. Sie war ganz schwarz angezogen und hatte ein Kopftuch umgebunden.
Als sie angeschlurft kam, konnte ich riechen, dass sie nach Pipi stank.
Sie sagte etwas auf Platt zu Mutter.
Tante Lehmkuhl nahm mir die Milchkanne ab. «Komm mit, wir machen dir deine Kanne voll.»
Ich lief ganz schnell hinter ihr her.
Im Kuhstall war es zwar auch warm, aber nicht so stickig, und es duftete nach Milch und Heu.
Mit einem Messbecher schöpfte Tante Lehmkuhl die Milch aus einer der großen silbrigen Kannen in unsere neue Plastikkanne. «Zwei Liter, wie immer?»
Auf dem Heimweg trug ich die Kanne, der dünne Henkel schnitt mir in die Hand.
«Da gehe ich nicht alleine hin! Ich hab Angst.»
Mutter schüttelte den Kopf. «Vor Oma Lehmkuhl brauchst du keine Angst zu haben. Sie ist nur eine alte, kranke Frau.»
«Ich hab aber trotzdem Angst!»
«Das ist ganz egal. Du musst endlich auch eigene Aufgaben übernehmen.»
Wieso redete sie so komisch? So etwas hatte sie noch nie zu mir gesagt.
«Das sag ich Vati!», kam es aus mir heraus.
Mutter ließ sofort meine Hand los und blieb stehen. Ihre Augen waren ganz klein, als sie mir ins Gesicht schaute.
«Das tu ruhig. Vati will auch, dass du ab jetzt die Milch holst. Frag ihn doch. Alle Kinder hier tun das, Barbara auch.»
Vaters Urlaub war vorbei.
Er hatte Frühschicht, und als Mutter um halb fünf mit ihm aufstand, wurde auch ich wach.
Ich konnte hören, wie Vater die kalte Asche aus den Öfen in einen Zinkeimer fegte. Dann hörte ich Rascheln und Klappern. Er knüllte Zeitungspapier zusammen und legte Anmachholz darauf.
Jetzt fing der Flötenkessel an zu pfeifen, und Mutter nahm ihn schnell vom Herd. Sie goss Kaffee auf, das konnte ich riechen. Und ich roch auch, dass sie das Essen, das sie gestern schon vorgekocht hatte, wieder aufwärmte – Kartoffeln und Kohlrabi in Milchsoße. Das kam dann in den Henkelmann, den Vater mitnahm, damit er in der Mittagspause etwas zu essen hatte: drei Blechbehälter, die aufeinandergestapelt wurden, einer für Fleisch und Soße, einer für Gemüse, einer für Kartoffeln. Der für Fleisch blieb meistens leer, aber Mutter kochte im Gemüse oft Speck mit. Ich mochte keinen Speck, ich porkelte ihn immer raus. Dann schimpfte Vater: «Ich hätte Gott auf meinen bloßen Knien gedankt, wenn ich als Kind Speck gehabt hätte!»
Nach einer Weile kam Mutter wieder ins Bett zurück, und ich schlief noch ein bisschen.
Mutter nahm mich mit zu Maaßens, weil sie ihre neuen Umstandsröcke anprobieren sollte: zwei Trägerröcke aus Trevira in Dunkelblau und Flaschengrün.
«Die muss man nur kurz durchs Wasser ziehen», sagte Mutter, «schon sind sie sauber und ganz schnell wieder trocken.»
Onkel Maaßen kannte ich, er war Schneider, und er war oft bei uns im Dorf gewesen, weil er Kleider, Röcke und Mäntel geschneidert hatte für Omma, Mutti und deren Freundinnen und zum Maßnehmen oder zur Anprobe gekommen war.
Außerdem war er mit Vater zur Schule gegangen.
Ich wusste nicht genau, wie ich ihn finden sollte.
Er lachte nicht gern und schaute mich immer ganz genau an.
Er hatte zwei Kinder, Ludwig war schon groß, und Barbara war drei Jahre älter als ich. Sie war auch öfter mit ins Dorf gekommen, und Mutter sagte immer: «Geht doch ein bisschen raus zum Spielen.»