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Kommissar Toppes zweiter Fall Die Krankenschwester José Bruikelaer wird erhängt aufgefunden. Vollkommen unerwartet, am Abend zuvor hatte die lebenslustige junge Frau noch gefeiert. Kurze Zeit später der nächste Todesfall: ein Musiker, gestorben an einer Überdosis. Laut Freundin nahm er aber keine Drogen. Kommissar Toppe kommt ein böser Verdacht: Was, wenn jemand eine Rechnung zu begleichen hat? Und sie es mit einer Serie perfekt getarnter Morde zu tun haben?
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2012
Hiltrud Leenders • Michael Bay • Artur Leenders
Grenzgänger
Toppes zweiter Fall
Rowohlt Digitalbuch
Gabi entschuldigte sich jetzt schon zum vierten Mal dafür, dass die Gartenmöbel nicht zueinanderpassten. Toppe schwitzte. Er hatte sein Jackett schon gegen halb zehn abgelegt, als die letzten Gäste gekommen waren, trotzdem klebte ihm das Hemd am Rücken. Es war wirklich ungewöhnlich warm für Anfang Mai, und die Terrasse war einfach zu klein für die rund dreißig Leute, die sie eingeladen hatten. Man hatte kaum Platz, sich zu drehen, ohne jemanden zu berühren.
Noch bis gestern hatte Gabi ihn damit verrückt gemacht, dass das Wetter umschlagen könnte und sie die Einzugsfete nach drinnen verlegen müssten – der neue schöne Cottoboden! Zehn Minuten, bevor die ersten Gäste kamen, hatte sie noch ein letztes Mal aufgewischt, denn Toppe hatte beim Bierfassschleppen vergessen, sich die Schuhe an der Haustür auszuziehen, und überall Lehmabdrücke hinterlassen. Nun ja, das würde sich auch noch ändern, wenn der Eingang erst mal gepflastert war, demnächst.
«Soll ich Ihnen ein Bier mitbringen, Herr Toppe?» Astrid Steendijk, die im letzten Jahr als Praktikantin bei ihnen gearbeitet hatte, griff nach seinem leeren Glas. Ihr machte die Wärme ganz offensichtlich nichts aus.
«Nein, lassen Sie nur, Astrid, ich komme mit.»
Gemeinsam zwängten sie sich zum Fass durch.
«Ab Montag bin ich wieder bei Ihnen im KI. Ich freu mich schon drauf.»
Toppe füllte zwei frische Gläser und reichte ihr eins.
«Ja, ich freue mich auch.»
«Schön ist Ihr Haus geworden, gefällt mir. Wer war denn der Architekt? Van Wickeren?»
Er nickte.
«Das sieht man immer irgendwie, finde ich. Und was haben Sie mit dem Garten vor?» Sie deutete auf die beiden frisch angeschütteten Berge Muttererde.
«Na ja, viel Wiese und Obstbäume, ein paar Sträucher und Beete vielleicht. So genau haben wir uns das noch nicht überlegt.»
«So einen Naturgarten? Das find ich gut. Ist ja auch schön groß, das Grundstück. So würde ich auch gern mal wohnen.»
Jemand legte Toppe von hinten die Hand auf die Schulter. «Helmut.»
«Ja? Ach, du, Norbert.»
«Ich fürchte, da kommt was auf dich zu.» Van Appeldorn grinste und wies mit dem Kinn auf Ackermann, den Kollegen vom Einbruchsdezernat, der am anderen Ende der Terrasse an einem Tisch saß und just in diesem Moment mit seinem Ehering gegen sein Altglas klopfte. Das Gemurmel der anderen Gäste verstummte so plötzlich, als hätte jeder nur darauf gewartet. Ackermann sprang auf und krähte: «Tätää, tätää, tätää … wir wollten et uns nich’ nehmen lassen, Herr Toppe, die Kollegen un’ ich, und deshalb ham wer alle zusammengeschmissen, auch für Ihre Gattin, weil wer dachten, so wat haben Sie bestimmt noch nich’ in Ihre Sammlung, wie man so schön sagt, und deshalb – Franz!»
Aufs Stichwort kamen in diesem Augenblick zwei Kollegen aus dem Wohnzimmer und trugen einen seltsamen schwarzen Gegenstand zu Toppe hinüber.
Toppe schluckte.
«Wunderschön», hörte er seine Schwiegermutter hauchen.
Es war ein schmiedeeiserner Fußabtreter: ein magerer Dackel mit einem Schild in der Schnauze, auf dem in verschlungenen goldenen Buchstaben ‹Herzlich willkommen› glänzte. Toppe schaffte es irgendwie, ein Lächeln hervorzuzaubern, und versuchte, sich mit ausgestreckter Hand zu Ackermann durchzudrängeln. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Gabi das Geschenk überschwänglich bewunderte.
«Nee, nee, Momentchen noch», winkte Ackermann ab. «Wir haben nämlich noch wat … Alles klar, Jungs? ’n kleines Ständchen, sozusagen … un’ eins … un’ zwei:
Toppe ist unser bester Freund.
Lustig wird’s immer, wenn er erscheint.
Schön kann er bauen, wunderbar Haus,
Wir wünschen Glück ihm zuhauf.»
Toppe beneidete Gabi, die prustend in der Küche verschwinden konnte. Er musste hier stehen bleiben und durchhalten.
Sein Freund Arend Bonhoeffer, der Pathologe aus Emmerich, grinste ihm von der Tür her frech ins Gesicht.
«Bist du etwa auch daran beteiligt, Norbert?», presste Toppe zwischen den Zähnen hervor.
«Sehe ich etwa so aus?»
Als der Gesang verstummt war, herrschte sekundenlang Stille.
«Wunderbar, Ackermann!» Van Appeldorn applaudierte. «Ganz wunderbar! Und jetzt setz dich, Ackermann, und trink dir noch einen.»
Und Ackermann setzte sich.
Toppe trat van Appeldorn auf den Fuß.
«Muss natürlich anständig einbetoniert werden, das Ding», hörte er seinen Schwiegervater dozieren. «Na ja, wenn man bloß noch so könnt, wie man will. Wissen Sie», wandte er sich an Bonhoeffer, «ich hab ja unter anderem auch die Betonarbeiten hier am Bau gemacht. Unter anderem!»
«Tatsächlich, Herr Kuipers? Hatte Helmut die Geschichte nicht an einen Unternehmer vergeben?», fragte Arend Bonhoeffer interessiert, und Toppe freute sich still.
«Teilweise, nur teilweise. Viel musste ich natürlich schwarz machen lassen und selber mit anpacken. Ist ja sonst gar nicht zu bezahlen.»
«Sie sind selbst vom Fach?»
Toppe nahm sich noch ein Bier und freute sich weiter.
«Nee, nee, nicht direkt. Aber ich hab natürlich mein Lebtag mit Bauen zu tun gehabt. Da hat man schon so seine Erfahrung, kann ich Ihnen sagen. Mir macht so leicht keiner ein X für ein U vor.»
Bonhoeffer nickte nur, aber der Schwiegervater entließ ihn noch nicht. «Sagen Sie mal, was anderes: Sie sind doch quasi auch Doktor, gewissermaßen, oder? Ich hab mir doch hier auf’m Bau einen Bruch zugezogen, in der Leiste, wissen Sie. Und mein Schwiegersohn hat doch extra so eine Versicherung für Unfälle auf’m Bau und so. Und jetzt sagt mir doch mein Doktor, die Versicherung zahlt da gar nichts, weil, das käm gar nicht vom Bau. Das kann doch wohl nicht, oder?»
Toppe zwängte sich zum anderen Ende der Terrasse durch, wo van Appeldorn, Berns, Heinrichs und van Gemmern zusammenstanden.
«Wenn jetzt das Dach runterkommt, ist fast die komplette Mordkommission auf einen Schlag hin», flachste er. «Was gluckt ihr denn hier zusammen?»
«Wir haben gerade über das Bild im Esszimmer gefachsimpelt», antwortete van Gemmern. «Gefällt mir.»
«Mir auch. Hat uns Sofia zum Einzug geschenkt.» Toppe sah sich suchend um, aber er konnte Sofia nirgendwo entdecken. «Arends Freundin, sie ist Malerin.»
«Das wissen wir doch», nickte Heinrichs. «Ich hab doch gesagt, das muss von der Terhorst sein.»
«Sicher, sicher, das wusste ich auch.» Berns klopfte Toppe auf die Schulter. «Bloß billig ist die ja nun nicht gerade. Aber geschenkt ist natürlich was anderes.»
«Wer hat eigentlich Bereitschaft heute?», fragte Heinrichs.
«Ich», sagte van Appeldorn und hob sein Cola-Glas. «Mich trifft es ja immer, wenn’s was zu trinken gibt. Du, Paul, bist natürlich immun gegen Alkohol. Oder hast du keinen Dienst?»
Berns winkte ab. «Die ein, zwei Gläschen hauen doch einen richtigen Mann nicht um. Übrigens, sag mal, Klaus, versetzt dich deine Süße heute?» Er zeigte mit seinem dicken Finger auf Astrid Steendijk, die sich gerade mit Toppes Schwiegervater unterhielt. «Also, in diesen engen Jeans, richtig lecker.» Er lachte anzüglich, aber Klaus van Gemmern sah ihm ungerührt in die Augen und schwieg.
Toppe wusste, was er an van Gemmern so mochte.
«Helmut», tönte die schrille Stimme seiner Schwiegermutter herüber. «Helmut, nun komm doch schnell und fass mal mit an! Jetzt sei doch vernünftig», schimpfte sie dann, «Alfred, du weißt doch, du darfst nicht mehr so schwer heben.»
Der Schwiegervater hielt den Eisendackel in den Händen.
«Er wollte mit mir nur einen passenden Platz dafür aussuchen», entschuldigte sich Astrid.
«Ach, der Mann ist ja so unvernünftig!» Die Schwiegermutter war jetzt richtig in Fahrt. «Will sich ja partout nicht operieren lassen. Dabei sag ich die ganze Zeit: Alfred, geh nach Goch. Anneliese ihr Mann ist auch nach Goch gegangen, und der war ja so zufrieden. Auch die Zimmer so schön und alles.»
Toppe nahm seinem Schwiegervater den Dackel aus den Händen und trug ihn ins Haus. Das Ding war tatsächlich ganz schön schwer.
Die Tür zum Gäste-WC war abgeschlossen.
«Bist du da drin, Gabi?»
«Ja.»
«Mach mal auf.»
Sie hatte sich die Lippen nachgemalt.
«Müde?», fragte er.
«Es geht so. Läuft doch eigentlich ganz gut, oder?»
«Willst du meine ehrliche Meinung hören?»
Sie lachte. «Die sieht man dir aus zehn Metern Entfernung an. Reiß dich mal ein bisschen zusammen, ja?» Dann runzelte sie die Stirn. «Meinst du, das Essen reicht? Das Fleisch ist schon fast weg. Ich hätte doch mehr bestellen sollen.»
«Quatsch, das reicht dicke.»
«Ja, du bist bestimmt satt geworden.» Sie tätschelte seinen Bauch. «Es wird bald mal wieder Zeit für eine Diät. Du näherst dich deiner Schallgrenze.»
«Quatsch», knurrte Toppe wieder.
Gabi nahm seine Hand. «Jetzt komm. Wir können nicht beide so lange wegbleiben.»
Toppe öffnete die Tür. «Ich lege jetzt Musik auf. Vielleicht tanzt ja jemand.»
Als sie durch die Diele gingen, klingelte das Telefon. Toppe ignorierte es, aber Gabi holte ihn im Wohnzimmer ein: «Sag Norbert Bescheid. Es ist was passiert.»
Van Appeldorn telefonierte kurz und kam dann auf die Terrasse zurück.
«Musst du los?», fragte Toppe.
Van Appeldorn nickte: «Und der Erkennungsdienst wird auch gebraucht.» Er winkte van Gemmern und Berns.
Toppe durchstöberte seine Beatles-Sammlung und entschied sich schließlich für Rubber Soul. Vorsichtig drehte er die Boxen um, sodass die Musik durch die offenen Türen nach draußen in den Garten dringen konnte.
«Mein Gott, Helmut.» Seine Schwiegermutter hielt sich gequält die Ohren zu. «Du bist doch keine achtzehn mehr. Mach die Musik leiser, man versteht ja sein eigenes Wort nicht. Und die Nachbarn …»
«Die Nachbarn sind alle hier, Thea», entgegnete Toppe.
«Ach was, das hört man ja bis bei van de Kemp.»
«Die Musik bleibt genau so laut, wie sie jetzt ist.»
Gegen halb eins brachen die Ersten auf. Toppe hatte einen dicken Wollpullover übergezogen, ein paar Bier getrunken, der Musik zugehört – es hatte keiner getanzt, aber das machte nichts – und die meiste Zeit einfach den Mund gehalten. Einen Sohn zeugen, ein Haus bauen … jetzt fehlte nur noch der Baum. Und den würden sie auch bald pflanzen.
Um kurz vor zwei blieb nur noch eine Handvoll Gäste übrig: Arend, Sofia, Astrid und Heinrichs. Toppe fühlte sich endlich wohl.
Arend zwinkerte ihm zu: «Und jetzt legst du mal eine anständige Jazzplatte auf, Helmut.»
«Genau, und dazu trinken wir uns einen richtig guten Schnaps.» Toppe grinste und stand auf.
«Helmut», warnte Gabi.
«Und du trinkst einen mit», antwortete er und küsste sie.
Als es gegen halb vier klingelte, war Toppe nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, aber glänzender Laune.
«Mensch, Norbert, find ich echt prima, dass du noch mal kommst.»
Er legte van Appeldorn den Arm um die Schultern und nahm ihn mit auf die Terrasse.
«Ich hab noch Licht gesehen.»
«Find ich echt prima. Setz dich zu uns.»
Van Appeldorn ließ sich auf die Bank fallen. «Hättest du jetzt wohl ein Bier für mich?»
«Na sicher. Was war’s denn?»
«Nicht so schön», antwortete van Appeldorn müde. «Krankenschwester, jung. Selbstmord, wie’s aussieht.»
«Na, wieder einigermaßen erholt vom Exzess am Samstag?», fragte van Appeldorn.
«Mittlerweile schon.» Toppe schaute zerknirscht. «Ich hatte wirklich ganz schön einen im Kahn.»
«Na, Sie hätten mich mal am Sonntagmorgen sehen sollen!» Astrid lachte. «Und ich musste dann auch noch so ein blödes Tennisturnier spielen. Ich kann Ihnen sagen … Aber gucken Sie mal, Herr Toppe, ich hab Ihnen was mitgebracht, als Einstandsgeschenk gewissermaßen.»
Es war Montagmorgen und Astrids erster Arbeitstag in Toppes Abteilung. Sie wickelte einen kleinen Blumentopf aus.
«Hübsch», sagte Toppe ein wenig verlegen. «Was ist das denn?»
«Na, riechen Sie doch mal.»
Toppe schnupperte und zuckte hilflos die Achseln. «Keine Ahnung.»
«Lavendel», erklärte Astrid, und Toppe und van Appeldorn mussten beide lachen.
«Ja, war Ihr erster Fall damals bei uns, nicht wahr?»
«Genau», sie nickte, «werd ich wohl nie vergessen: Lavendel gegen Ameisen.»
Sie stand ein wenig unschlüssig im Zimmer.
«Und was liegt heute an?»
Toppe und van Appeldorn saßen bequem an ihren Schreibtischen. Das Büro war klein, aber man hatte es irgendwie geschafft, vier Schreibtische hineinzuzwängen, dazu ein paar Stühle, einen Aktenschrank und einen Garderobenständer zweifelhafter Herkunft. Man konnte sich kaum rühren, geschweige denn aus dem Weg gehen.
«Nehmen Sie erst mal einen Stuhl und rücken Sie den hier auf die andere Seite von meinem Tisch», schlug Toppe vor.
«Gut. Was liegt denn nun an?»
Toppe kratzte sich den Bart.
Oben im Labor über dem Büro gab es ein lautes Gepolter, dann war es wieder still.
«Wir haben am Donnerstag einen Fall abgeschlossen», antwortete Toppe. «Und jetzt ist da die Sache, die Norbert am Wochenende in Atem gehalten hat.»
«Was war denn der letzte Fall?», wollte Astrid wissen.
«Eine üble Geschichte, liegt mir immer noch im Magen: Kindesmisshandlung mit Todesfolge.»
In diesem Augenblick ertönte von oben wieder ein lautes Poltern, gleichzeitig wurde die Tür geöffnet, und Heinrichs und Breitenegger betraten das Büro.
«Tach», ächzte Heinrichs. «Mann, die könnten endlich mal einen Lift einbauen in diesem Laden.»
«Wie wär’s stattdessen mit Abnehmen?», schlug van Appeldorn freundlich vor.
Heinrichs warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
«Seid ihr schon bei der Arbeit?»
Breitenegger zwängte sich mit einem Aktenstapel unter dem Arm an ihm vorbei zu seinem Schreibtisch. Dabei entdeckte er Astrid. «Ach, Frau Steendijk, sind Sie jetzt wieder bei uns? Gut, gut.» Er setzte sich und holte Pfeife und Tabak aus der Jackentasche. «Dann wollen wir mal die Ermittlungsakten für die Staatsanwaltschaft abschließen.»
«Die Kindesmisshandlung?» Astrid klang bedrückt. «Habt ihr öfter mit so etwas zu tun?»
«Nein», antwortete Toppe, «aber das will nichts heißen. Bei uns landen ja auch nur die allerschlimmsten Fälle, die mit schwerer Körperverletzung oder eben Todesfolge, wie in diesem Fall. Ein knapp zweijähriges Mädchen, das von dem Freund der Mutter dermaßen geschlagen wurde, dass es schließlich einen Milzriss hatte und daran starb.»
«Mein Gott, wie furchtbar», sagte Astrid leise. «Und wenn man bedenkt, dass immer nur die Sachen bekannt werden, die jemand anzeigt …»
«Ja», bestätigte Toppe, «die Dunkelziffer ist wahnsinnig hoch.»
«Ich kann so etwas nicht verstehen.» Astrids Stimme wurde lauter. «Wenn ich mitkriegen würde, dass jemand sein Kind misshandelt, würde ich das doch sofort anzeigen. Da würde ich keinen Augenblick zögern.»
Im Labor oben entlud sich ein weiteres Gewitter.
«Das sagt sich so leicht», mischte sich van Appeldorn ein. «Wie will man denn herausfinden oder gar beweisen, dass ein Kind tatsächlich misshandelt wird? Wenn’s jeden Abend schreit? Gut, dann kann ich vielleicht hingehen und die Eltern fragen, was los ist. Und die erzählen mir dann, das Kind hätte Blähungen oder so was. Wie will ich das denn überprüfen? Die lassen mich doch wohl kaum in die Wohnung und nachgucken.»
«Aber wenn das Kind Verletzungen hat, dann sieht man das doch.»
«Und? Dann ist es eben die Treppe runtergefallen.»
«Ja, aber man kann das Kind doch fragen», beharrte sie.
«Und Sie glauben, da käme was bei raus?», mischte sich jetzt auch Heinrichs ein. «Meistens sind die doch noch so klein, dass sie gar nicht sprechen können. Und die Älteren sind schon so kaputt, dass sie gar nichts mehr sagen.»
Oben zog eine Elefantenherde durchs Labor.
«Aber es muss doch Möglichkeiten geben …»
«Eigentlich nur, wenn jemand direkter Zeuge einer Misshandlung wird oder wenn jemand aus der Familie nicht mehr mitspielt. So wie in diesem Fall hier, wo die Mutter dann doch schließlich Anzeige gegen ihren Freund erstattet hat. Aber von außen, als Nachbar oder Lehrer oder was weiß ich, da hat man so gut wie gar keine Chance», sagte Toppe.
«Wie grausam.»
«Ja, verdammt grausam. Und es ist ja auch noch die Frage: Wo fängt Kindesmisshandlung überhaupt an? Bei Schlägen? Ich glaube, es gibt da sehr viel subtilere und genauso grausame Möglichkeiten», fuhr Toppe fort.
Aus dem Labor hörte man einen kurzen, trockenen Knall.
«Das kann man wohl sagen», ergriff Heinrichs das Wort. «Die Freundin meiner Frau ist Erzieherin in einem Kindergarten in Goch, und die hat eine Geschichte erzählt, bei der einem die Haare zu Berge stehen. Sie haben da im Kindergarten einen vierjährigen Jungen, der wohl schon immer durch sein merkwürdiges Verhalten aufgefallen ist. Immer, wenn der in Streitigkeiten oder Rangeleien verwickelt wurde, war er plötzlich ganz steif und fing dann an zu zittern. Aber er hat sich nie gewehrt, auch nicht, wenn die anderen ihm eins auf die Nase gegeben haben. Und wenn er sich weh tat, dann hat er nie geweint oder geschrien. Und dann stellt sich nach langen Gesprächen mit der Mutter raus, wie dieses Kind so lebt. Die Eltern – beide Pädagogen, wohlgemerkt – haben eine ganz genaue Vorstellung davon, was aus ihren Kindern einmal werden soll und wie man das erreicht. Der Junge wird jeden Morgen fünf Minuten lang eiskalt geduscht, damit er richtig abgehärtet wird. Die Eltern haben ihm versprochen, wenn er das dreihundertmal – man stelle sich das mal vor: dreihundertmal, ein vierjähriges Kind –, wenn er das durchhält, dann kriegt er ein richtiges Indianerzelt. Für 29,90 bei Woolworth. Indianer sind sein großes Vorbild, klar, genau wie bei uns damals. Die weinen nämlich nie, auch nicht, wenn sie sich weh tun. Der ältere Bruder ist im dritten Schuljahr und muss jeden Tag, nach seinen Hausaufgaben, einen Aufsatz schreiben, den die Eltern korrigieren und benoten. Und zwar wirklich jeden Tag, auch in den Ferien.»
«So was gibt’s doch gar nicht!»
«Doch, so was gibt’s sicher öfter», fuhr Heinrichs fort. «Die Erzieherin ist davon überzeugt, dass der Vater die Familie schlägt. Sie untersucht den Jungen immer wieder auf Verletzungen, aber bis auf ein paar blaue Flecken, zu denen der Junge nichts sagt – klar, ein Indianer kennt keinen Schmerz –, findet sie nichts. Und die Mutter hält den Mund.»
«Aber wie hat sie das mit der kalten Dusche denn rechtfertigen können?»
Im Labor krachte es laut.
«Ganz logisch. Das Kind sei so anfällig für Erkältungen und müsse abgehärtet werden.»
«Mein Gott, da muss man doch was machen können.»
«Was denn? Natürlich ist das Kindesmisshandlung. Aber es gibt keine rechtliche Handhabe. Schließlich liegt es im Ermessen der Eltern, wie sie ihre Kinder erziehen. Es heißt ja sogar ‹Erziehungsgewalt›, nicht wahr? Solange kein körperlicher Schaden vorliegt – wer redet schon vom seelischen! Solche Sachen sind bestimmt nicht selten.»
«Wahrhaftig nicht!» Toppe hatte schon die ganze Zeit etwas sagen wollen. «Und das erlebst du ja nicht nur in der Familie. Es geht um die Einstellung, die man überhaupt so zu Kindern hat. Wenn ich überlege, was ich voriges Wochenende bei einem Kinder-Fußballturnier erlebt habe.»
Und wieder polterte es oben.
«Mein Sohn spielt doch seit ein paar Monaten Fußball in der F-Jugend von Siegfried Materborn, und wir waren jetzt zu einem Turnier eingeladen bei diesem Klever Renommierclub. Uns ist schon immer aufgefallen, wie gedrillt die Kinder von dem Verein sind – und man muss bedenken, das sind Kinder zwischen fünf und acht. Und wie scharf die immer aufs Gewinnen waren! Jetzt weiß ich auch, warum.
Die Kleinen von dem Club hatten ihr erstes Turnierspiel 0:1 verloren und waren ganz schön niedergeschlagen, sowieso schon. Und da geht doch dieser Trainer hin, selbst höchstens neunzehn, holt die ganze Mannschaft zusammen und verschwindet mit denen im Gebüsch. Und dann höre ich auf einmal eine wahnsinnige Brüllerei und bin hin. Da saßen die Kinder auf dem Boden, und dieser Trainer hatte sich vor ihnen aufgebaut und brüllte die zusammen, aber wie! ‹Du dumme Sau! Du bist schuld, dass wir verloren haben. Du allein. Das ist doch wieder typisch für dich. Du denkst doch keine Sekunde an deine Kameraden.› Und einer von den Kleinen fing ganz zaghaft mit ‹aber› an. Da ging’s erst recht los: ‹Schnauze! Ich will keinen Ton mehr von euch hören. Schande bringt ihr über den ganzen Verein. Und keiner schämt sich dafür? Da wird mir ja ganz schlecht. Hier bleibt ihr jetzt sitzen und denkt nach, was ihr getan habt. Und wenn sich auch nur einer rührt, dann ist aber was los!›»
Astrid blieb der Mund offen stehen. «Das kann doch nicht wahr sein! Und dann?»
Von oben hörte man wieder ein lautes Donnern. Alle schauten irritiert zur Decke.
«Die Kinder saßen da und starrten auf den Boden, und keiner rührte sich mehr.»
«Und du hast nichts unternommen?», fragte van Appeldorn wütend.
«Doch, natürlich. Ich habe dem Typen mit einer Anzeige beim Fußballverband gedroht.»
«Und?»
«Das hat den nicht sonderlich gekratzt. Aber er ging dann weg. Und nach zehn Minuten kam er mit einem Karton Eis zurück. Meinte, jetzt hätten sie wohl eingesehen, was für einen Mist sie gebaut hätten, besonders der, den er ‹Daniel, du Flasche› nannte, aber das würden sie ja wohl nie wieder tun, und jetzt kriegten sie erst mal ein Eis. Und das nächste Spiel sei in zehn Minuten gegen Materborn, und das seien sowieso Pfeifen. Und dann hat er sie systematisch heißgemacht.»
«Gehirnwäsche», murmelte van Appeldorn, «auch nicht anders als bei der Mun-Sekte. Nein, aber ernsthaft, da muss man doch was unternehmen, Helmut.»
«Ja, muss man wohl.» Breitenegger nahm seine Pfeife aus dem Mund. «Aber wir sollten uns jetzt endlich an die Akten machen. Schließlich ist da ja auch noch diese Selbstmordgeschichte von Samstag.»
Heinrichs schüttelte unwillig den Kopf. «Du engagierst dich wohl mehr für den Tierschutz, was?»
Breitenegger kniff die Lippen zusammen. «Ich will dir mal was sagen, Walter, meine Frau ist Geschäftsführerin beim Kinderschutzbund in Kevelaer. Was meinst du, was ich dir alles zum Thema Kindesmisshandlung erzählen könnte.»
Oben im Labor polterte es kurz, dann war es wieder still.
«Nur», fuhr Breitenegger fort, «nur, wenn wir uns hier darüber aufregen, dann nutzt das keinem was. Das sollte man dann an geeigneter Stelle tun.»
«Hast recht», lenkte Heinrichs ein, «war ’ne blöde Bemerkung, Günther.»
Und schon wieder krachte es oben. Es hörte sich jetzt an, als ob jemand einen Stuhl umgeworfen hatte.
«Was, um Himmels willen, treiben die denn da oben?» Toppe stand auf, ging zum Fenster gleich neben seinem Schreibtisch und lehnte sich gegen die Fensterbank.
«Liegt der Abschlussbericht der Pathologie von dem Kind vor?»
«Ja, hier hab ich ihn», nickte Breitenegger.
«Und das ist ganz sicher, Günther, das mit dem Milzriss?», fragte Heinrichs.
«Ja. Warum fragst du?»
«Na ja, ich habe das noch mal nachgeschlagen. Da gab es 1963 mal diesen Fall Lecombier in Südfrankreich, in Lesparre, um genau zu sein. Fast identische Geschichte: Vater angeklagt, das Kind getötet zu haben. Todesursache: Milzruptur. Und später hat sich dann herausgestellt, dass das Kind einen Morbus Hodgkin hatte und die Milz sowieso schon im Eimer war.»
Heinrichs war in seinem Element. Er beugte sich weit über seinen Schreibtisch vor, und seine Augen blitzten.
Toppe verbiss sich ein Grinsen. Walter Heinrichs war ein 47 Jahre alter Niederrheiner aus Goch, mehr als korpulent, dabei aber außergewöhnlich agil, was wohl kaum ausblieb, wenn man eine zehn Jahre jüngere Frau hatte und vier Kinder. Das Jüngste war gerade drei Jahre alt, und man hatte sich noch nicht entschieden, ob es wirklich das letzte sein sollte. Heinrichs hatte sein Hobby zum Beruf gemacht. Schon als Junge hatte er sich ausführlich mit Kriminalistik beschäftigt. Er hatte nicht nur, so schien es Toppe immer, sämtliche Kriminalromane, die in der westlichen Welt jemals erschienen waren, gelesen, sondern auch alles, was an Fachliteratur zum Thema Gewaltverbrechen je auf dem Markt gewesen war. Es war Heinrichs’ Tick, immer anzumerken, dass es nichts gab, was nicht schon einmal da gewesen war. Und er verfügte über eine überaus lebhafte Phantasie. Manchmal konnte dies durchaus hilfreich sein – amüsant und spannend war es immer –, aber zuweilen waren seine Gedanken abwegig.
«Nein, Bonhoeffer sagt ganz klar, dass keine Vorschädigung der Milz vorliegt», entgegnete Breitenegger trocken.
Oben fiel wieder ein Stuhl um.
«Herrgott noch mal», rief Toppe und stieß sich von der Fensterbank ab, «jetzt reicht’s mir!»
Er eilte hinaus und die Treppe hinauf.
In der Tür vom Labor blieb er verblüfft stehen.
Van Gemmern stand auf einem einsamen Stuhl mitten im Labor und hielt sich mit beiden Händen an einer Lederschlinge fest, die an einem Deckenhaken hing. Er sah Toppe ungerührt ins Gesicht.
«Sind Sie verrückt geworden?», fragte Toppe, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. «Was soll denn das hier?»
Van Gemmern stieg ruhig von seinem Stuhl, ging zu einem der Labortische und zeigte wortlos auf ein Foto. Toppe sah es sich an. Es musste von dem Selbstmord am Samstag stammen. Man sah zwei baumelnde Beine und einen umgestürzten Stuhl.
«Und?»
Van Gemmern zuckte die Achseln. «Ich habe mittlerweile 44 Versuche mit dem Stuhl gemacht, und ich bin mir jetzt sicher, dass man den, wenn man draufsteht und ihn mit den Füßen wegstößt, niemals in diese Position bringen kann. Das hier», er tippte auf das Foto, «das hier kann kein Selbstmord sein.»
«Ach was, hören Sie nicht auf den Grünschnabel, Toppe. Der hat zu viele Krimis gelesen», ließ sich Berns aus dem Hintergrund vernehmen. Er saß dort, die Beine auf einen Labortisch gelegt, und las den ‹Express›.
Berns arbeitete seit vielen Jahren beim Erkennungsdienst, und einige Kollegen hielten ihn für besonders fähig und erfahren. Er war feist und laut, ein lästiger Zeitgenosse, der Arbeit schon von ferne roch und ihr möglichst aus dem Weg ging. Toppe mochte ihn nicht, und es fiel ihm gar nicht ein, auf seine Bemerkung einzugehen.
«Was meinen Sie?», fragte er van Gemmern. «Was ist mit der Position des Stuhls?»
«Na ja, sehen Sie, das ist ein Nachbau dieser Bauhaus-Freischwinger, und die haben einen sehr tiefen Schwerpunkt. Es ist gar nicht so einfach, so einen Stuhl umzukippen. Ich weiß das, ich habe nämlich selbst solche Stühle. Und wenn die wirklich einmal kippen, dann so gut wie nie nach hinten auf die Lehne. Ich habe das jetzt 44-mal versucht, und es ist mir noch nicht ein Mal gelungen.»
Toppe hatte aufmerksam zugehört und nickte nachdenklich. «Wie sind Sie nur darauf gekommen?»
«Ich weiß nicht, aber ich hatte schon am Samstag am Tatort so ein komisches Gefühl. Das hat mich bis heute Morgen nicht losgelassen.»
Er zeigte wieder auf das Foto. «Meiner Meinung nach liegt der Stuhl zu weit weg von der Toten. Auch das habe ich ausprobiert. Ich kriege den Stuhl nur dann annähernd so weit weggetreten, wenn ich meine ganze Kraft einsetze. Die Dinger sind ganz schön schwer. Und die Tote war knapp 1,60 m groß und ein ausgesprochenes Leichtgewicht.»
Toppe strich sich langsam über den Bart, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Wenn er unter Druck stand oder eine Situation besonders heikel wurde, fing er oft an, sich einzelne Haare aus dem Bart zu rupfen.
Berns kam beiläufig zu ihnen herübergeschlendert. Er warf Toppe einen verschwörerischen Blick zu und tippte sich vielsagend an die Stirn.
«Das erscheint mir gar nicht so unlogisch, was Sie da sagen, Herr van Gemmern», bemerkte Toppe gelassen. «Gehen wir doch mal runter und hören uns an, was Norbert dazu meint.»
Aber van Appeldorn war von van Gemmerns Theorie ebenso wenig überzeugt wie Berns. Er blieb skeptisch.
«Das hört sich alles ein bisschen nach Fernsehkrimi an, Klaus, wenn du mich fragst.»
«Meine Rede», warf Berns ein.
Heinrichs kratzte sich hörbar am Kopf: «Wartet mal, war da nicht im letzten ‹Colin Dexter› auch so eine Sache?»
Van Appeldorn hörte gar nicht hin. «Hast du daran gedacht, dass ihr oben im Labor einen Kachelboden habt? Im Zimmer des Mädchens liegt aber Teppichboden. Da rutscht doch so ein Stuhl ganz anders.»
Aber van Gemmern ließ sich nicht beirren. «Sicher habe ich daran gedacht. Aber da liegen diese Kunstfaserteppichfliesen. Die bremsen mehr als unser Kachelboden.»
«Was ja noch zu beweisen wäre», fiel ihm Berns ins Wort. «Wenn du schon diese etwas fragwürdige empirische Methode anwendest, lieber Klaus, dann musst du natürlich erst die richtigen Voraussetzungen schaffen. Also, das ganze Experiment noch einmal am Tatort, junger Mann.»
Toppe hob beschwichtigend die Hände.
«Und wenn ich noch etwas sagen darf», fing Berns wieder an, «kann ja sein, dass ich nicht genug Phantasie habe, aber wie soll das denn gelaufen sein? Wenn jemand anders das Mädchen aufgeknüpft hätte, dann hätte die sich doch wohl gewehrt, oder? Und davon war nun wirklich nichts zu sehen am Tatort, und, soweit ich das beurteilen kann, an der Leiche auch nicht.»
«Eben», bestätigte van Appeldorn.
«Moment, Moment», mischte sich Breitenegger ein. «Man könnte sie vorher erwürgt oder erdrosselt haben. Es ist doch nicht neu, dass das Erhängen hinterher nur Tarnung ist.»
«Ach was», wischte Heinrichs den Einwand beiseite, «so etwas ist doch leicht festzustellen. Dazu kann uns Bonhoeffer bestimmt etwas sagen. Man kann eine Strangfurche ganz leicht von einer Drosselmarke oder einem Würgemal unterscheiden. Und da gibt’s auch eine ganze Reihe anderer Merkmale. Wie sah denn das Gesicht der Toten aus?»
«Kalkweiß», antwortete van Gemmern lahm. Er wusste, worauf Heinrichs hinauswollte.
«Eben, das weist schon mal klar auf Erhängen hin. Beim Erdrosseln oder Erwürgen ist das Gesicht bläulich verfärbt und aufgedunsen. Überhaupt ist es so gut wie unmöglich, jemanden unauffällig durch Erhängen umzubringen, obwohl es da natürlich mal den Fall Gouffé gegeben hat …», überlegte er.
Toppe griff entschlossen zum Telefon und wählte die Nummer des Emmericher Krankenhauses.
«Kripo Kleve, Herrn Dr. Bonhoeffer, bitte.»
Man ließ ihn eine ganze Weile warten.
«Helmut, du bist es! Ich wollte dich auch gerade anrufen», meldete sich Bonhoeffer schließlich.
«Wieso?», fragte Toppe verblüfft.
«Ich habe da etwas gefunden, das möglicherweise darauf hindeutet, dass es sich hier bei dem Mädchen nicht um einen einfachen Suizid handelt.»
«Was? Mal langsam. Und wieso obduzierst du überhaupt schon?»
«Staatsanwalt Stein hat die Obduktion angeordnet. Wusstest du das denn nicht?»
«Nein, aber egal. Was sagtest du? Doch kein Tod durch Erhängen?»
«Doch, doch, das ist schon ganz eindeutig. Aber es liegt offensichtlich auch noch ein toxisches Geschehen vor. Ich habe unter anderem im Magen etwas gefunden. Ich bin noch nicht sicher, konnte nur einen Schnelltest machen, aber auf jeden Fall ist Atropin dabei. Die Sachen sind schon unterwegs nach Düsseldorf. Ich denke, ich kann dir wohl schon heute Mittag Genaueres dazu sagen.»
Toppe zog seinen Notizblock heran. «Atropin» schrieb er auf. «Und sie ist nicht erwürgt oder erdrosselt worden?»
«Nein, das ist sicher auszuschließen. Die Todesursache ist Strangulation durch Erhängen.»
«Dann verstehe ich das mit dem Gift nicht so ganz. Meinst du, sie hat sich zusätzlich noch vergiftet, um auf Nummer sicher zu gehen?»
«Vielleicht, aber Atropin wäre da sehr ungewöhnlich. Sie war Krankenschwester, musst du bedenken. Sie kannte sich bestimmt aus und konnte auch an alles rankommen, was gut und teuer ist. Barbiturate zum Beispiel, oder Digitalis. Vielleicht hat ihr ein anderer das Zeug gegeben. Aber ich will mich nicht festlegen, ich muss erst einmal wissen, um welches Gift es sich genau handelt und wie es wirkt. Also, warten wir’s ab.»
Toppe legte den Hörer auf und blickte vor sich hin.
Keiner sagte etwas. Breitenegger kratzte seine Pfeife aus.
«Gut», Toppe räusperte sich, «sieht ja so aus, als sei die Soko komplett.»
«Ich hör immer Soko.» Berns richtete sich auf.
Toppe gab kurz Bonhoeffers Befund wieder.
«Zwei Hinweise unabhängig voneinander, dass dies hier kein Selbstmord sein kann, reichen mir. Wir sollten uns alle dranmachen und das absolut sicher abklären. Norbert, erzähl mal.»
Van Appeldorn griff zu seinem Block.
«José Bruikelaer, 27 Jahre alt, 1,60 m groß und schlank. Kurzes aschblondes Haar, blaue Augen, Holländerin. Seit einem guten Jahr Vollschwester in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Emmerich. Wohnt im Schwesternwohnheim. Ihre Eltern haben einen Fahrradhandel in Nimwegen. Sie hat keine Geschwister. Die Kolleginnen und Kollegen beschreiben sie als fleißig, zuverlässig und selbstbewusst. Einen festen Freund hatte sie zurzeit nicht.»
«Wer hat die Tote gefunden?»
«Eine Kollegin, Barbara van Gimborn, mit der sie sich für 22 Uhr zum Essen beim Griechen am Geistmarkt verabredet hatte.»
«So spät?»
«Die Kollegin hatte Spätschicht. José Bruikelaer war am letzten Wochenende für den Frühdienst eingeteilt. Frau van Gimborn wunderte sich, dass José nicht kam, und ging so gegen halb elf zum Wohnheim, um nachzusehen, ob irgendwas passiert war. Sie klopfte an die Tür, aber niemand öffnete. Sie sagt, sie hätte gesehen, dass Licht brannte, und außerdem spielte das Radio, und da machte sie sich ernsthaft Sorgen. Sie lief rüber zum Krankenhaus und holte den Technischen Dienst, Herrn Küppers, der schließlich die Tür öffnen konnte. Die beiden haben dann die Tote gefunden.»
«War die Tür vom Wohnheim abgeschlossen?»
«Von außen ist die Tür nur mit einem Schlüssel zu öffnen, innen ist eine Klinke. Das heißt, man kann immer raus, rein kommt man aber nur, wenn man den passenden Schlüssel hat oder wenn einem jemand öffnet.»
«Und wer hat den Tod festgestellt?»
«Der diensthabende Internist vom Krankenhaus, ein Dr. Schulte-Wigges.»