Die Schicksalswächterin - Gabriele Breuer - E-Book

Die Schicksalswächterin E-Book

Gabriele Breuer

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Beschreibung

Österreich im Jahr 1760: Kurz vor ihrer Hochzeit wird die junge Sophie Gräfin von Waldbach von einer Krankheit schwer entstellt. Eine Nachricht ihres Onkels rettet sie vor einem abgeschiedenen Klosterleben: Sophie wird von Kaiserin Maria Theresia an den Wiener Hof gebeten, um dort zur Erzieherin ausgebildet zu werden. Doch Sophies Freude wandelt sich schnell in Entsetzen: Einige der Kinder, für die sie verantwortlich ist, wurden im Zuge der Auswanderung von lutherischen Protestanten von ihren Eltern getrennt, um bei Hofe im katholischen Glauben erzogen zu werden. Unter ihnen ist Caroline, die kleine Tochter des Stallmeisters Benno. Dieser ist seiner Tochter heimlich gefolgt und hat sich als Reitlehrer an der Wiener Hofreitschule eingeschlichen. Bald schmieden Sophie und Benno einen waghalsigen Plan, um Caroline zu befreien.

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Das Buch

Österreich im Jahr 1760: Die junge Sophie Gräfin von Waldbach steht kurz vor ihrer Vermählung mit dem wohlhabenden Peter Graf von Bebendorf, als eine Krankheit ihr Gesicht entstellt. Daraufhin löst Peter die Verlobung auf. Glücklicherweise wird die Gräfin an den Wiener Hof gebeten, um dort als Erzieherin zu arbeiten.

Die kinderliebe Sophie entschließt sich kurzerhand, das Angebot anzunehmen. Am Hof wächst Sophie eines der Mädchen, die widerspenstige kleine Caroline, besonders schnell ans Herz. Carolines Mutter ist bereits verstorben, von ihrem Vater, einem lutherischen Protestanten, wurde sie getrennt, um nun im katholischen Glauben erzogen zu werden.

Während ihrer Reitstunden trifft Sophie auf den jungen Reitlehrer Benno. Er scheint die Narben in Sophies Gesicht gar nicht zu beachten, und die beiden kommen sich langsam näher. Doch er hütet ein Geheimnis, das beide in große Gefahr bringt …

Die Autorin

Gabriele Breuer, geboren 1970, lebt mit ihrem Mann und Sohn in Köln. Sie arbeitet in einem Seniorenheim und schreibt nur in ihrer Freizeit.

Von der Autorin sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Magd und das TeufelskindDer Fluch der SeherinLuzifers TöchterDie BernsteinbrautDie Bierbrauerin

GABRIELE BREUER

Die Schicksals-wächterin

Historischer Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1516-4

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: Arcangel Images / © Miguel Subreira (Frau); Bridgeman Images / © Kunsthistorisches Museum, Vienna, Austria / De Agostini Picture Library / G. Nimatallah / The imperial castle Schlosshof, garden side, 1759–1760 (oil on canvas), Bellotto, Bernardo (1720–80) / (Stich)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Rosi

1. KAPITEL

Es war kein Abschied für immer, das wusste ich nun ganz gewiss. Bald schon würde ich jeden Tag an seiner Seite verbringen. Dieses Gefühl war schön und aufregend zugleich. Graf Peter von Bebendorf winkte mir noch einmal zu und ritt davon. Gerührt sah ich ihm nach, bis er zu einem kleinen Punkt in der Ferne geworden war. Neben mir stieß meine Schwester Püpperl unter ihrem Sonnenschirm einen Seufzer aus. Ich fiel ihr um den Hals.

»Himmel, Sophie! Du erdrückst mich ja fast.« Püpperl wand sich aus meiner Umarmung und ordnete ihr nussbraunes Haar, in das die Sonne goldene Strähnen zauberte.

Der Sommer im Jahr 1760 machte seinem Namen auch an diesem Julitag alle Ehre, und mein Mieder klebte mir unter dem lindgrünen Kleid feucht am Leib. Doch das störte meine Hochstimmung nicht, denn Graf Peter hatte heute um meine Hand angehalten. Um meine Hand, die Hand der Sophie Gräfin von Waldbach.

Püpperl strich mir über den Arm. »Ich wünschte, ich würde auch bald von einem Mann wie Peter umworben …« Wehmütig blickte sie in die Ferne, wo sich die Berge mit ihren Wäldern hinter den sattgrünen Weiden erhoben.

»Das wirst du. Warte nur ab.« Ich dachte wieder an Peter, der schon bald zu uns auf das Gut nahe Graz ziehen würde. Die Sägemühle, die nach Papas Tod nur noch selten in Betrieb war, wollte er wieder zum Leben erwecken. So hatte er es versprochen. Alles würde gut, und Mama bräuchte sich nicht mehr um unser Auskommen zu sorgen.

»Wie denn, wenn alle schmucken Männer im Krieg sind?« Püpperl holte mich aus meinen Gedanken. Ihr trauriger Blick schnitt mir ins Herz.

»Der Krieg wird bald vorbei sein, und dann heiratest du einen tapferen Soldaten«, versuchte ich sie zu trösten. Ich war wirklich zuversichtlich, dass der Krieg, in dem die Habsburger gegen die Preußen kämpften, bald vorbei sein würde. Vier Jahre dauerten die Schlachten um Schlesien mittlerweile schon. Jahre, in denen die meisten gesunden Männer sich fernab der Heimat befanden. Ich dankte Gott, dass Peter nicht wehrpflichtig war. Seit seiner Geburt litt er unter einem verkürzten Bein und benutzte einen Gehstock. Doch dieser Makel konnte ihn nicht entstellen. Er war hochgewachsen, hatte fuchsrotes Haar, das ihm in weichen Wellen auf die Schulter fiel, und die schönsten Augen der Welt. Sie waren grün wie die Petersilie in unserem Kräutergarten. Stets lag ein Strahlen darin, wenn er mit mir scherzte.

Püpperl wischte sich mit einem Spitzentuch die Schweißperlen von der Stirn. »Lass uns zurück ins Haus gehen, bevor unsere Kleider grässliche Flecken vom Schwitzen bekommen. Ich habe das Gefühl, meine Haut bräunt sich schon.« Missmutig hakte sie sich bei mir unter und zog mich zu dem Herrenhaus unseres Gutes. Püpperl hieß eigentlich Eleonore, war zwei Jahre jünger und einen Kopf kleiner als ich. Dafür aber rundlich, besonders um die Hüften. Zu mir sagten die Leute oft, sie müssten zweimal hinschauen, um mich einmal zu sehen. Was jedoch nicht für meinen Busen galt, denn der war groß und passte so gar nicht zu meiner schlanken Statur. Peter schien das nicht zu stören, also sollte es mich von nun an auch nicht mehr kümmern.

Meine neuen Lederschuhe drückten, und ich humpelte neben Püpperl den Weg entlang bis zur Eingangstür. Inmitten der hügeligen Landschaft mit den Weiden und Wäldern strahlte unser weiß getünchtes Haus in der Sonne. Baumdicke Säulen stützten den großen Balkon über dem Eingangsportal. Die hohen Fenster sorgten für ausreichend Licht in den Räumen. Es war ein stattliches Haus, das der liebe Papa mehr als zwanzig Jahre zuvor gekauft hatte. Ich vermisste meinen Vater immer noch schmerzlich, nachdem er vor zwei Jahren im Krieg gefallen war. Doch auch diesen trüben Gedanken schob ich rasch zur Seite. Alles würde gut, wenn erst Peter die Führung der Sägemühle in die Hand nahm. Mama, Püpperl und ich konnten für immer auf unserem Gut bleiben. Der Gedanke beruhigte mich unendlich.

In der Eingangshalle umgab mich eine angenehme Kühle. Das ganze Haus roch immer noch nach dem Mohnstollen, den Mama am Vormittag gebacken hatte. Wortlos ließ Püpperl mich stehen und trottete die geschwungene Treppe hinauf. So wehmütig wie heute war sie äußerst selten. Ich sah ihr nach, wie sie im oberen Stockwerk verschwand. Ob sie gar eifersüchtig war? Aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Bisher hatten wir uns immer nur das Beste füreinander gewünscht. Ich nahm meine Haube vom Haar, legte sie auf der Kommode ab und betrat die Wohnstube.

Mama saß in ihrem cremefarbenen Sonntagskleid auf dem Sofa. Neben ihr lag die schwarze Mischlingshündin Minou und ließ sich von ihr den Bauch kraulen.

Mama sah auf und lachte vergnügt. »Was habe ich dir gesagt? Er wird um deine Hand anhalten.«

»Und daran waren Sie sicher nicht ganz unschuldig, liebe Mama.« Meine Röcke raschelten, als ich mich zu ihren Füßen auf dem weichen Teppich niederließ. Mamas dunkle Augen funkelten vergnügt inmitten der feinen Linien, die sie umkränzten. Ihr einst schwarzbraunes Haar war mittlerweile so grau wie Stein, dennoch trotzte sie ihrem reifen Alter von über fünfzig Jahren mit erfrischender Jugendlichkeit. Für mich würde Mama wohl nie alt werden.

Sie strich mir über die Wange. »Es ist höchste Zeit, dich zu vermählen. Findest du nicht?«

Mit meinen 21 Jahren fühlte ich mich zwar noch nicht als alte Jungfer, jedoch wollte ich keinen Tag länger als nötig darauf warten, von Graf Peter vor den Altar geführt zu werden. Dreimal hatte er uns besucht, nachdem Mamas Bruder Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Der gute Onkel Friedel, der am Hofe unserer Kaiserin Maria Theresia als Stallmeister diente, hatte beste Verbindungen zum Adel. So auch zu Peters Vater, dem alten Graf von Bebendorf, der im Herzogtum Bayern eine Burg besaß und sich ebenfalls auf die Holzverarbeitung verstand. Wie Mama mir erzählt hatte, würde sein Sohn wohl unsere beiden Betriebe zusammenführen wollen. Bei dem Gedanken an die zukünftige Zeit sah ich die Welt um mich herum in den hellsten Farben. Sicher würde ich Peter schon bald nach unserer Hochzeit mehr lieben als mein eigenes Leben. Liebe wuchs nämlich mit der Zeit, wie Mama immer betonte.

»Sophie, mein Kind, du verlierst dich wieder in Tagträumen.« Sanft rüttelte Mama an meiner Schulter. Neben ihr gähnte Minou herzhaft und gab ein leises Fiepen von sich.

Ich besann mich auf Mamas letzte Frage und nickte. »Eine größere Freude, als meine Hochzeit mit Graf Peter von Bebendorf zu arrangieren, hätten Sie mir wirklich nicht bereiten können.« Als mir plötzlich bewusst wurde, wie viel es zu tun gab, sprang ich auf und glättete die Seide meiner Röcke. »Wir müssen die Verlobungsfeier bekannt geben, die Gäste müssen geladen werden, und natürlich muss die Schneiderin kommen, um Maß für mein Brautkleid zu nehmen. Ich will die schönste Braut von ganz Österreich sein!« Die Worte sprudelten nur so aus meinem Mund.

Mama sog tief den Atem durch die Nase und sah aus dem Fenster. »Sicher, Sophie. Gleich morgen beginnen wir mit den Vorbereitungen.« Sie erhob sich vom Sofa, ging zu der Kommode unter dem Fenster und öffnete eine Schublade, aus der sie ihre Stickarbeit hervorholte.

Wie mir ihre hängenden Schultern verrieten, belastete sie etwas. Gewiss waren es die Geldsorgen, wie so oft in letzter Zeit. Ich presste beschämt die Lippen aufeinander. In meinem Glückstaumel hatte ich gar nicht darüber nachgedacht, wie Mama die Kosten für ein aufwendiges Fest, ein noch aufwendigeres Kleid und ein pompöses Mahl aufbringen sollte.

Nachdem sich meine Mutter wieder auf dem Sofa niedergelassen hatte, setzte ich mich neben sie und legte die Hand auf ihren Unterarm.

»Verzeihen Sie, Mama. Meine Worte waren unüberlegt. Ich hatte vergessen, dass wir nicht über die Mittel verfügen, ein rauschendes Fest auszurichten.« Immer noch musste ich mich an unsere Armut gewöhnen, nachdem Papas Ersparnisse aufgebraucht waren.

»Wir werden sehen, was sich machen lässt«, erwiderte Mama und hielt den Blick weiterhin auf ihre Stickarbeit gerichtet.

Eine Frage trieb mich um, die ich nicht unausgesprochen lassen wollte. »Weiß Graf Peter von unserer Misere?«

»Ja, Friedel hat mit offenen Karten gespielt, als er mit den Grafen in Bayern korrespondierte.« Mama stach die Nadel mit dem rostroten Stickgarn durch das Leinen in ihrer Hand. »Die Sägemühle wird der Familie deines zukünftigen Gatten überschrieben. Im Gegenzug wird vertraglich festgehalten, dass die Grafen von Bebendorf für unser Wohl sorgen.« Mama sah von ihrer Stickarbeit auf. »Für dein Wohl, das deiner Schwester und mein Wohl – bis ans Ende unserer Tage. Das Erste, worum ich Peter oder gar seinen Vater bitten werde, ist eine Hochzeitsfeier, die deiner gerecht wird, mein liebes Kind.«

Das Lächeln, das ich mir abzwang, schmerzte in meinen Wangen. Ich wusste genau, wie schwer es Mama fiel, andere um etwas zu bitten. Damals, als wir noch Bedienstete in unserem Haus hatten, waren ihr selbst die einfachsten Anweisungen kaum über die Lippen gekommen. Stets war sie der Küchenfrau zur Hand gegangen, hatte der Waschfrau die Wäsche in die Kammer getragen und die Treppe an den Tagen gefegt, an denen das Zimmermädchen Hausputz gehalten hatte.

In diesem Augenblick betrat Püpperl mit langem Gesicht die Wohnstube. »Mama, mein Monatsleiden hat mich befallen, und ich kann die Vorlagen nicht finden.« Sie hob Minou vom Sofa, setzte die Hündin auf den Fußboden und ließ sich neben Mama nieder, ehe sie seufzend den Kopf an Mamas Schulter lehnte. »Wenn es doch nicht immer so wehtun würde.«

Nun verstand ich, warum meine Schwester zuvor so gedrückter Stimmung gewesen war. Einmal im Monat konnte Püpperl ziemlich unausstehlich werden. Im Gegensatz zu mir machte ihr die Monatsblutung immer sehr zu schaffen. Während ich lediglich unter einem Ziehen im Bauch litt, überfielen sie unsägliche Krämpfe, begleitet von Stimmungsschwankungen. An diesen Tagen weinte Püpperl viel und nörgelte an allem herum. Ich nahm ihre Hand und strich darüber.

Püpperl entzog sie mir jedoch gleich wieder. »Lass mich! Was weißt du denn schon von meinem Leiden? Für dich scheint immer nur die Sonne«, keifte sie.

Meine Hand zuckte zurück, als hätte sie darauf geschlagen. Ihre Worte schmerzten mich. Ich erhob mich vom Fußboden und ließ meine Schwester mit Mama allein. Auf der Treppe zum Obergeschoss, wo meine Stube lag, kam mir der Gedanke, dass sich Püpperl vielleicht in Peter verliebt haben könnte. Nein, das war Unsinn. So war sie nicht. Püpperl neidete mir Peter nicht. Bald würde ihr Leiden vorüber sein und die Tage wieder mit ihrem Lachen erfüllt.

In meiner Stube setzte ich mich auf das Bett, über das ich am Morgen die weiße Tagesdecke mit den gestickten Buschröschen geworfen hatte, und streifte mir die Schuhe von den Füßen. Dann zog ich die Beine an, griff nach dem Buch auf meinem Nachttisch und versuchte, mich mit einer Schrift über die Tanzkunst abzulenken. Ich sah mich mit Peter auf unserer Hochzeit tanzen, und die Fröhlichkeit kehrte in mein Herz zurück.

Doch dann dachte ich an Peters Bein, mit dem er gewiss nicht anmutig tanzen konnte. Ich klappte das Buch zu und beschloss, nach meiner Schwester zu sehen. Ich fand sie im Garten, wo sie auf einer Decke unter einem Apfelbaum saß. Beim Anblick ihrer Tränen erschrak ich.

»Sind die Schmerzen so schlimm?«, fragte ich sie.

Rasch wischte sich meine Schwester mit einem Spitzentuch die Nässe von den Wangen. Dann sprang sie auf und lief davon. Kopfschüttelnd sah ich ihr hinterher und fragte mich, was ich wohl verbrochen hatte.

2. KAPITEL

Seelenruhig stand der Schimmel in der Sonne und zupfte die Wiesenkräuter aus der Erde. Benno wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn, bevor er langsam auf das Tier zuging. Er wusste, wie impulsiv das Pferd sein konnte, wenn er sich ihm zu schnell näherte. Thomas reichte ihm das Halfter, das Benno kurz darauf ganz langsam über den Kopf des Schimmels streifte. Nachdem er es festgezogen hatte, atmete er erleichtert auf. Wieder einmal war das Pferd ausgebrochen und bis auf den Kamm des Berges galoppiert. Dabei war der Deckhengst das wertvollste Tier auf seinem Gut, er stammte nämlich in erster Linie aus dem Geschlecht der Andalusier. Seine ganze Barschaft hatte Benno für ihn hergegeben, denn er war sich sicher, dass die Nachfahren der Zucht es bis an die Spanische Reitschule schafften. Ein Geschäft, welches ihnen so viel Geld einbringen würde, dass sie endlich die Schule würden bauen können.

Benno sah zu Thomas. Sein Schwager nickte zufrieden. »Lass uns in einem Gebet dem Herrn danken«, sagte Thomas und faltete die Hände vor der Brust. Dann neigte er den Kopf mit dem schütteren strohblonden Haar und murmelte einige fromme Worte. Er war wohl der gläubigste aller Protestanten in ihrer Gemeinde. Benno hingegen beließ es bei einem kurzen Nicken und sparte sich das Gebet für die Abendandacht auf. Ihm reichte es, einmal am Tag zu beten. Wer wusste schon, wie lange sie als Lutheraner noch unentdeckt blieben. An die Folgen durfte Benno gar nicht denken. Er sah hinab ins Tal zum Kern ihrer Streusiedlung nahe der Gemeinde Sankt Sebastian. Die Messen in dem Gotteshaus, dessen Turm mit dem Kreuz zwischen den Häusern aufragte, wurden nur noch zum Schein besucht. Fast alle Siedler, die sich hier niedergelassen hatten, folgten im Geheimen dem lutherischen Glauben. Daher trafen sie sich zur Lesung des Evangeliums an einem versteckten Ort, den die Welt hinter dem Tal mit dem kristallklaren See nicht kannte.

»Wir sollten zurückgehen«, sagte Thomas, nachdem er einen Blick in den Himmel geworfen hatte. Benno nickte nur, da sein Schwager seine Worte nicht verstehen konnte. Ein Kanonenschlag hatte ihm im Krieg das Trommelfell beider Ohren zerfetzt.

In der Ferne türmten sich graublaue Wolken über den kargen Gipfeln der Berge. Benno wickelte den Strick des Halfters um seine Hand und führte den Schimmel den Hang hinab ins Tal. Es dauerte nicht lange, und er vernahm das erste Grollen am Himmel. Der Schimmel, den er Mael genannt hatte, weitete die Augen und schnaubte aus den geblähten Nüstern. Beschwichtigend redete Benno auf ihn ein und zog ihn weiter.

Als sie die Weidezäune ihres Gutes erreichten, hatten die Wolken den Himmel zur Gänze verdunkelt und tauchten das Wohnhaus und die angrenzenden Ställe in ein Zwielicht. Die ersten Tropfen platschten auf das Gras, und Benno beschleunigte seinen Schritt. Während Thomas ins Wohnhaus eilte, brachte Benno Mael in einen der Ställe. Gerade als sie beim Tor angelangt waren, erhellte ein Blitz den Himmel, dem ein ohrenbetäubender Knall folgte. Mael stieg mit den Vorderflanken auf. Bei dem Versuch, ihn unten zu halten, verrenkte sich Benno beinahe die Schulter. So rasch er konnte, ließ er den Strick von seinen Händen abrollen und sprach beruhigend auf den Schimmel ein. Mittlerweile hatte der Himmel endgültig seine Schleusen geöffnet, und Hagelkörner prasselten auf sie herab. Benno öffnete das Tor und zerrte Mael in den Stall. Als das Pferd sicher in seiner Box stand, atmete er tief durch. Mael schien sich jedoch nicht beruhigen zu wollen. Nervös tänzelte er auf der Stelle, die Augen immer noch weit aufgerissen.

Benno strich ihm über den Hals. »Schscht, ist ja gut, mein Großer. Dir geschieht nichts«, flüsterte er in das aufgestellte Ohr des Tieres. Über ihm trommelte der Regen aufs Dach, doch das Grollen des Donners erklang bereits gedämpfter. Wie es schien, verzog sich das Gewitter wieder. Benno verspürte den Schmerz in seiner Hüfte. Immer, wenn das Wetter umschlug, glaubte er, die Narbe würde aufreißen. Obwohl die Verletzung, die er sich vor drei Jahren in der Schlacht bei Prag zugezogen hatte, längst verheilt war, schien es ihm an regnerischen Tagen, als steckte die Kugel immer noch in seinem Fleisch. Das war natürlich Unsinn. Der Feldarzt hatte sie ihm damals entfernt und ihn nach einigen Wochen der Genesung zurück zu seiner Frau und der Tochter auf das Gestüt geschickt. Da war er 22 Jahre alt gewesen, und Gesine hatte noch gelebt. Zu dem Schmerz in der Hüfte gesellte sich unvermittelt ein weiterer, der jedoch in seinem Herzen tobte und den er um ein Vielfaches schlechter ertragen konnte als seine Kriegsverletzung. Im kommenden August jährte sich der Tod seiner Frau zum ersten Mal. Der Tag, an dem sie den Kampf gegen die rote Ruhr verloren hatte, war der schlimmste in seinem ganzen Leben gewesen. Gedankenverloren strich er dem Pferd über den Hals. Mael schien sich unter seinen Händen zu beruhigen und knabberte an Bennos Haar. Benno zwang sich, aus der Schwärze seiner Gedanken aufzutauchen, und tätschelte Mael zum Abschied den Hals. Als er den Stall verließ, blinzelte schon wieder eine blasse Sonne durch die letzten Wolken am Himmel. Das Gewitter war wohl nicht ganz über die Berge gekommen.

Benno eilte zu dem Wohnhaus, in dem er mit seiner Schwester Resi und ihrem Mann Thomas lebte. Ohne sie würde er es wohl nicht schaffen, neben der Arbeit auf dem Gestüt noch seine fünfjährige Tochter Caroline großzuziehen.

In der Küche stand Resi am Kohleofen und rührte in einem Kessel, der einen verführerischen Duft nach Speck verströmte. Benno strich seiner Tochter über das Haar, das sich genau wie seines dunkel um den Kopf lockte. Wie die Leute in ihrer Streusiedlung behaupteten, war sie Benno mit ihren fast nachtschwarzen Augen wie aus dem Gesicht geschnitten.

Carli legte ihre Puppe neben sich auf den Boden, sprang auf die Beine und schlang die Arme um Bennos Bauch. »Ich hatte Angst um dich«, sagte sie.

»Mein Herz, das war nur ein kleines Gewitter. Was sollte mir schon geschehen?« Er beugte sich zu ihr hinab und küsste ihr Haar.

Seit Gesines Tod litt das Mädchen unter der ständigen Angst, auch ihn zu verlieren. Konnte er es ihr verdenken? Auch er hätte keinen Sinn mehr in seinem Leben gewusst, wenn das Kind ihm auch noch genommen würde. Benno hob die Kleine auf seine Arme und drückte sie an sich. »Ich werde immer bei dir bleiben, das verspreche ich dir.« Die Worte schnürten ihm die Kehle zu. Wer wusste schon, was der Herr dort oben im Himmel mit ihm vorhatte? Krankheiten und Tod machten vor keinem Menschen halt, ob reich oder arm. Die Blattern zum Beispiel breiteten sich selbst im kaiserlichen Schloss zu Wien aus und verschonten auch den Adel nicht. Benno spürte den harten Herzschlag in seiner Brust. Es verging kein Tag, an dem sich nicht die Angst wie eine eisige Faust um sein Herz schloss. Nicht zuletzt, weil sie sich der Gemeinschaft der Protestanten im Dorf angeschlossen hatten, die ihre Zusammenkünfte im Geheimen abhielten.

Resi verteilte die Holzschalen auf dem Tisch. Ihr Haar hatte sie zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden, der sie älter erscheinen ließ, als sie war. Anders als Bennos Haar war ihres so dünn, dass die Kopfhaut hindurchschien.

»Du siehst aus, als hätten sich die Gewitterwolken hinter deine Stirn geschlichen. Willst du nicht dem Herrn danken, dass der Blitz uns nicht getroffen hat?«, sagte sie.

Benno hob den Blick. »Ja, das sollte ich tun.« Er wusste genau, dass Resi während des Gewitters ununterbrochen um ihr Leben gebangt hatte.

Thomas nahm seinen Löffel in die Hand und wartete mit großen Augen auf die Portion Eintopf, die Resi in seine Schale gab. Als der Dampf vor seiner Nase aufstieg, sah er Benno an.

»Nun steh nicht rum, ich will endlich anfangen.« Mit einem kurzen Nicken deutete Thomas auf die beiden Stühle ihm gegenüber. Dann sah er zu seiner Frau. »Und du mach auch voran.« Sein Hunger ließ ihn allmählich ungeduldig werden. Noch bevor sie alle saßen, ratterte er ein Gebet herunter, stopfte sich anschließend den ersten Löffel in den Mund und verdrehte genüsslich die Augen.

Auch Benno ließ sich den Erbseneintopf schmecken. Neben ihm schwärmte Carli von dem neuen Fohlen und vergaß vor lauter Plapperei fast ihre Mahlzeit. In diesem Sommer hatte Benno damit begonnen, ihr täglich Reitunterricht zu erteilen. Doch heute hatte Mael ihre Pläne durchkreuzt. Carli hielt in ihrer Schwärmerei inne und blickte versonnen zum Fenster. In den Strahlen der Nachmittagssonne, die in die Kochstube fielen, tanzten Staubkörner.

»Gehen wir gleich noch zu meinem Pferdchen?«, fragte die Kleine, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.

Benno tippte ihr auf die Schulter. »Sicher, aber nur, wenn du deine Schale leer isst.«

»Mag nicht mehr.« Carli löste sich aus ihren Träumereien und schob die Schale von sich.

Augenblicklich traf sie Resis enttäuschter Blick. »Schmeckt es dir nicht?«

»Doch, es ist lecker«, sagte das Kind, »aber nun hab ich keinen Hunger mehr.«

Benno schüttelte den Kopf. »Erst wird gegessen und dann geritten.« Er wusste genau, dass Carli nach dem Reitunterricht über einen leeren Bauch klagen würde.

Seine Tochter legte die Hände auf seine Oberschenkel, neigte den Kopf und blickte ihn mit großen Augen an. »Bitte, Papa. Bitte, bitte. Ich hab doch heute so lange auf dich gewartet.«

Thomas unterbrach ihr Flehen. »Was hat sie denn?«

Mit einer Geste, bei der er imaginäre Zügel in der Hand hielt, versuchte Benno ihm verständlich zu machen, was Carli wollte.

Statt ihm den Rücken zu stärken, dass sie damit noch warten musste, nickte Thomas nur und löffelte weiter seinen Eintopf. Auch Resi sagte nichts und aß stumm. Es schien Benno unmöglich, dem drängenden Blick seiner Tochter länger standzuhalten. Seufzend sah er in seine Schale, die noch zur Hälfte gefüllt war. »Es gehört sich nicht, vom Tisch aufzustehen, während die anderen noch essen.«

Carli ließ von ihm ab, setzte sich gerade hin und faltete die Hände im Schoß. Nach Gesines Tod hatte sie kaum etwas mit Appetit gegessen und war so dünn wie ein Vögelchen.

Benno sank das Herz in der Brust. »Drei Löffel von dem Eintopf isst du noch, ja?«

Seine Tochter zählte drei Finger ab. »So viel, und dann gehen wir zu meinem Pferdchen?«

»Genau, so viel.«

»Gehen wir auch, wenn die Tante und der Onkel noch nicht mit essen fertig sind?«

Benno steckte in der Zwickmühle. »Nein«, sagte er mit dünner Stimme.

»Dann esse ich auch keine drei Löffel.«

Missbilligend schüttelte Resi den Kopf. »Himmel, was für ein Possenspiel. Da vergeht einem ja der Hunger.« Ihre eisblauen Augen funkelten zornig.

Benno spürte, wie Groll in ihm aufstieg. »Weshalb sollte dir der Hunger vergehen? Hat sie dir etwa in den Eintopf gespuckt? Nein. Also?«

Carli kicherte hinter vorgehaltener Hand.

»Wir sollten unsere Mahlzeit schweigend zu uns nehmen und bei jedem Bissen dem Herrn danken, dass wir nicht hungern müssen. Das Mädchen ist alt genug, dies zu beherzigen. Lehre sie gefälligst die Demut, wie es unser Glauben vorgibt.«

»Meine Tochter ist erst fünf. Da darf sie wohl noch Rosinen im Kopf haben.«

Carli fasste sich an die Stirn. »Hab doch gar keine Rosinen da drin.«

Benno schnaubte. »Aber wenn mein Kind an deinem Tisch nicht willkommen ist, werde ich mir einen eigenen zimmern.«

»Streitet ihr etwa?« Abwechselnd blickte Thomas von einem zum anderen.

Resi sprang auf, nahm ihre Schale und kippte den Rest in den Kessel. »Kein Wort darf man über dein Balg verlieren. Himmel, Benno! Wenn du so weitermachst, verziehst du Caroline noch zu einem Gör.«

Vor Bennos Augen verwandelte sich Resis Gestalt in ein flammendes Meer. Bevor er sich vergaß, fasste er nach Carlis Hand und zog sie vom Stuhl. »Meinem Balg und mir ist der Hunger vergangen.« Mit Wut im Bauch verließ er die Küche. Neben ihm schluchzte Carli, und er spürte, wie er vor Zorn zu zittern begann.

Als er kurz darauf im Stall den Geruch der Pferdeleiber einatmete, legte sich seine Wut langsam. Er strich Carli über den Kopf und drückte sie an sich. Gesine hätte sicher gewusst, wie sie dem Kind gerecht werden konnte. Sie hätte es geschafft, die Kleine zu erziehen, ohne sie zu verletzen. Resis Worte über Carli hatten ihn wie ein Faustschlag in den Magen getroffen. Carli war sein Mädchen, das Liebste, was er auf der Welt besaß. Niemand durfte ihr etwas antun, und wenn es auch nur ein böses Wort gegen sie war.

Auf Carlis mageren Wangen glänzten die Spuren ihrer Tränen. Sie wischte sich mit dem Ärmel des grauen Kittelkleids über das Gesicht und zog die Nase hoch. »Bist du böse auf mich?«

»Auf dich? Nein, gewiss nicht.« Benno drückte ihr einen Kuss in die Locken.

»Auf Tante Resi?«

»Ja, schon«, sagte er mit gesenkter Stimme.

»Ich will aber nicht, dass ihr euch zankt.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Ich bin daran schuld, oder?«

»Nein, Carli. Du bist nicht daran schuld.«

»Wer dann?«

»Menschen streiten sich. Nicht jedem gefällt das, was der andere macht. So ist es eben.«

Auch wenn Benno versuchte, die Sache so einfach wie möglich zu beschreiben, ärgerte er sich immer noch über Resi. Sie wusste doch nicht, was es hieß, ein Kind zu erziehen! Hatte keine Ahnung, wie sehr einem ein solch kleiner Mensch ans Herz wachsen konnte.

Carli wand sich aus seinem Arm. »Nach dem Reitunterricht pflücke ich Tante Resi einen Strauß Blumen. Dann ist sie bestimmt wieder gut mit mir.« Hüpfend lief sie zu dem Pferch, in dem ihr Pferd stand. »Wir reiten zu der schönen Blumenwiese.«

Wenn das Mädchen Resi verzieh, dann sollte er es ihr gleichtun. Der Grund für diesen Streit war zu banal, um damit noch mehr Zeit zu vergeuden. Benno straffte die Schulter und folgte seiner Tochter.

Sie hatten den Pferch ausgemistet und mit frischem Stroh ausgelegt. Danach hatte Benno das Pony mit Carli im Sattel eine ganze Weile an der Longe traben lassen, bis er sah, dass die Sonne sich allmählich den Berggipfeln entgegenneigte. Wie erwartet sträubte sich Carli, den Reitunterricht zu beenden. Doch bald schon würde die Abendandacht beginnen, bei der eine neue Familie in der Gemeinde ihr Glaubenszeugnis auf die Luther-Bibel ablegen wollte. Benno sehnte sich nach ein wenig Ablenkung, nach Worten des Predigers, die ihnen allen in dieser Zeit vielleicht etwas Mut schenkten, und er sehnte sich danach, seinen inneren Frieden zu finden. Und vielleicht auch die Gelassenheit, Resi ihre harten Worte zu verzeihen.

Als sie das gescheckte Pony wieder in den Stall führten, überfiel Benno eine seltsame Unruhe. Es war ihm, als könne er die Leiber fremder Pferde riechen. Argwöhnisch sah er sich um, entdeckte jedoch nichts Außergewöhnliches. Die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten die Gipfel in ein warmes Licht. Die Vögel verabschiedeten sich mit ihrem Abendgesang vom Tag, und es roch noch immer nach feuchter Erde, die das kurze Gewitter getränkt hatte.

Carli zog die Schultern hoch und sah zu Benno auf. »Müssen wir zu der Andacht gehen? Ich bin so hungrig.«

Benno hatte nichts anderes erwartet und schüttelte den Kopf. »Siehst du, Carli. Hättest du deine Suppe aufgegessen, bräuchtest du nun keinen Hunger zu leiden.« Vielleicht war es ja eine gute Erziehungsmaßnahme, der Kleinen die Konsequenzen ihres Handelns nahezubringen. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, verspürte er ebenfalls Hunger. Eine Konsequenz seiner Nachgiebigkeit. Der Gedanke erheiterte ihn.

»Warum lachst du?«, fragte Carli. Ihre Augen funkelten zornig.

»Nur so.« Benno hob sie auf seine Arme, drückte sie an sich und strich ihr die Locken aus der Stirn. »Gleich nach der Andacht bekommst du ein herrliches Stück Käse. Bis dahin bist du tapfer, einverstanden?«

Über die Siedlung am See hallten die Glocken des Gotteshauses, das auch an diesem Abend nur wenige Siedler betreten würden. Stattdessen drückten sich die meisten Männer und Frauen an den Häuserwänden entlang. In dunklen Umhängen huschten sie lautlos durch die Gassen zu dem Pfad, der in die enge Schlucht führte. Benno sah sich um, ob sich kein Fremder in der Siedlung aufhielt, und folgte ihnen. Die Luft war drückend, als würde schon bald ein neues Gewitter aufziehen. Dann folgte er ebenfalls dem Pfad durch die hohen Tannen. Bald schon erreichte er die Höhle, deren Eingang sich hinter dichtem Buschwerk verbarg. Benno schob das dunkelgraue Tuch zur Seite und bückte sich, um durch die kreisrunde Öffnung in das Innere zu gelangen. Carlis Hand schob sich tiefer in seine.

Der Schein der Kerzen flackerte im Windzug und ließ die Schatten der Holzbänke an den Wänden tanzen. Die kühle Luft war angereichert mit dem Duft von Wachs und den Ausdünstungen der Gläubigen, die sich vor dem steinernen Altar versammelt hatten. Prediger Heinrich plauderte unbefangen mit ihnen. Wie bei jeder Andacht trug er den schwarzen Talar mit dem weißen Beffchen am Halsausschnitt, das mit Essensresten besudelt war. Linsen, vermutete Benno und setzte sich mit Carli auf eine der hinteren Bänke. Resis kalter Blick traf ihn, bevor diese ihre Aufmerksamkeit wieder den Worten des Predigers zuwandte. Weitere Gemeindemitglieder traten in die Höhlenkapelle und rutschten tuschelnd auf die Bänke. Prediger Heinrich beendete seinen Plausch, und die Leute, mit denen er gesprochen hatte, nahmen ebenfalls ihre Plätze ein. Sie waren insgesamt ungefähr zwölf Männer, zehn Frauen und einige Kinder, die miteinander alberten. Die neue Familie fehlte jedoch.

Als der Prediger die Arme hob, kehrte Ruhe ein. Die Flammen der Kerzen knisterten, und der Talar des Predigers raschelte. Plötzlich glaubte Benno, ein leises Wiehern zu hören. Er wandte den Blick zum Höhleneingang. Den Mitgliedern der Gemeinde war es streng untersagt, die Andacht zu Pferd zu besuchen. Um unentdeckt zu bleiben, sollten sie sich am besten im Schatten der Felswände bewegen. Erneut vernahm Benno ein Wiehern, und die Köpfe der anderen Teilnehmer der Andacht fuhren herum. Alle starrten auf den Höhleneingang, der immer noch mit dem Tuch verhüllt war. Nur Thomas blickte still auf seine Hände, die er in den Schoß gefaltet hatte.

»Ist etwa einer von euch zu Pferde hier?«, fragte Prediger Heinrich mit gesenkter Stimme.

Die Anwesenden schüttelten die Köpfe.

Carli wurde hellhörig. »Ein Pferd?«

»Leise«, flüsterte Benno und legte ihr den Zeigefinger auf den Mund. Sein Herzschlag beschleunigte sich.

Plötzlich riss jemand das Tuch vom Höhleneingang fort. Im dämmrigen Licht zeichneten sich die Umrisse mehrerer Männer ab.

»Im Auftrag der Kaiserin, ihr seid verhaftet!«, schrie einer der Eindringlinge.

Nachdem Bennos Augen sich an das Gegenlicht gewöhnt hatten, erkannte er die Rüstung der Männer. Die blankpolierten Helme ließen die Soldaten der Kaiserin um einen Kopf größer erscheinen. Sie richteten die Musketen auf die Gemeindemitglieder. Die Frauen kreischten, die Kinder schrien aus vollen Kehlen, und die Männer der Gemeinde starrten die Gardisten mit weit aufgerissenen Augen an. Sie saßen in der Falle wie die Kaninchen im Bau. Gut ein Dutzend Soldaten drängte in die Höhle. Einer von ihnen hob den Lauf der Muskete in die Höhe und feuerte einen Warnschuss ab. Steine rieselten in einer Staubwolke von der Decke. Prediger Heinrich warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den Boden und sah dabei aus wie ein schwarzer Teppich.

Benno schlug das Herz bis zum Hals. In seinen schützenden Armen biss sich Carli wimmernd auf die Fäuste. Im nächsten Moment spürte er das kalte Metall eines Gewehrlaufs an seiner Wange. Einer der Soldaten packte seinen Arm und versuchte, ihn von der Bank zu zerren. Benno wehrte sich mit Tritten, hielt Carli jedoch weiterhin fest in seinen Armen. Ein Luftzug zischte an seinem Ohr vorbei, dann spürte er einen Schlag gegen den Kopf, der ihn völlig benommen machte. Carlis Schreie quälten seine Ohren. Ein erneuter Schlag des Gewehrlaufs traf seine Schläfe, und Carlis Schreie hörten sich plötzlich weit entfernt an. Er umklammerte seine Tochter, bis das Licht in seinen Augen brach. Mit zunehmender Schwärze schwand auch seine Kraft. Er spürte, wie Carli ihm entglitt – und dann nichts mehr.

3. KAPITEL

Graf Peter lenkte die Kutsche vorbei an den Wiesen, auf denen die Blumen wie Farbkleckse in der Sonne leuchteten. Neben mir saß Püpperl mit einem Gesicht, das eher zu einer Beerdigung als zu einem Ausflug an den Grundlsee gepasst hätte. Seit Peter vor vier Tagen um meine Hand angehalten hatte, sprach sie kein Wort mehr mit mir. Fast fühlte ich mich, als hätte ich ihr den Geliebten ausgespannt. Doch statt weiterhin in ihr sauertöpfisches Gesicht zu sehen, blickte ich zum Toten Gebirge, das sich mit kahlen Gipfeln vor uns in den Himmel erstreckte. Bald schon erreichten wir den Grundlsee, der malerisch in einem Tal lag.

Nahe einer kleinen Kirche am Ufer breiteten wir unsere Decken aus. Die Blumen verströmten ihren süßen Duft, und vom See her war das leise Plätschern der Wogen zu hören. Peter hob die Körbe mit den Leckereien aus der Kutsche und ließ mich dabei nicht aus den Augen. Kläffend sprang Minou aus dem Wagen, lief zum nächsten Holunderbusch und beschnüffelte ausgiebig die unteren Äste. Peter ließ keine Gelegenheit aus, mir zuzulächeln. Püpperl hingegen sprach immer noch kein Wort. Sie entfernte sich vielmehr von uns und setzte sich unter eine Trauerweide nahe am Ufer.

Peter stellte die Körbe ab und sah ihr nach. »Was hat sie denn?«

»Wenn ich das wüsste«, erwiderte ich und kniete mich auf die Decke, um das Picknick vorzubereiten. Püpperls Monatsleiden war fast vorüber und konnte somit nicht mehr der Grund für ihre schlechte Laune sein.

Mama hob eine Augenbraue und half mir, den Korb auszuräumen. Sicher wusste sie, was mit Püpperl los war, hütete das Geheimnis jedoch standhaft.

»Ich versuche, mit ihr zu reden.« Peter schlenderte zu der Trauerweide und ließ sich neben meiner Schwester nieder.

Augenblicklich erhellte sich Püpperls Miene.

Mama sah ebenfalls zu ihnen hinüber. »Es ist nicht gut, wenn er sich zu viel mit ihr beschäftigt«, murmelte sie.

»Was meinen Sie?«, fragte ich nach, obwohl mir langsam schwante, was Püpperl bedrückte.

»Hast du noch nicht bemerkt, dass sie sich in ihn verguckt hat?«

Ich starrte die beiden an. Peter sagte etwas, das auf die Entfernung nicht zu verstehen war. Es musste jedoch etwas Erheiterndes gewesen sein, denn meine Schwester lachte plötzlich laut auf. Dabei verirrte sich ihre Hand wie zufällig auf Peters Oberschenkel.

»Siehst du, das meinte ich.« Mama presste die Lippen aufeinander. »Es wäre besser, wenn er sie gar nicht beachtete, dann verginge auch rasch ihre Schwärmerei.«

Der Anblick der beiden stach mir ins Herz. Sie scherzten miteinander, als würden sie sich schon ewig kennen. Püpperl legte den Kopf an Peters Oberarm und sah verträumt auf das Wasser. Ich sprang auf. Diese unsittliche Geste ging einfach zu weit! Was dachte meine Schwester sich dabei? Dass ich meinen Bräutigam mit ihr teilen würde? Ich hob meine Röcke an.

»Bleib!«, herrschte Mama mich an.

Ungläubig sah ich zu ihr. »Sehen Sie nicht, wie unsittlich sich Püpperl benimmt?«

»Ein eifersüchtiges Weib ist eine schlechte Ehefrau. Das wird Graf Peter nicht gefallen. Ich kümmere mich darum.« Mama schob mich zurück auf die Decke und näherte sich den beiden.

Als sie vor ihnen stand, sah Püpperl mit einem unschuldigen Blick auf, als könne sie kein Wässerchen trüben. Ich verstand nicht, was Mama sagte, doch ihr Gesichtsausdruck ließ wohl keine Widerrede zu. Peter erhob sich und kam zu mir herüber, während Mama weiter auf meine Schwester einredete. Ich schenkte Peter ein falsches Lächeln.

Er kratzte sich das glattrasierte Kinn. »Da hatte ich Püpperl gerade aufgeheitert, und nun macht Eure Frau Mama alles wieder zunichte. Verstehe einer die Frauen.«

»Sie heißt Eleonore«, zischte ich schärfer als gewollt. »Niemand außer mir darf meine Schwester Püpperl nennen.«

Peter lachte auf. »Weshalb denn nicht?«

»Weil nur ich das zu ihr sagen darf. Selbst Mama nennt sie nicht Püpperl.« Ich wich seinem Blick aus und starrte in den Picknickkorb.

»Ach, mein liebes Sopherl.« Er griff nach meiner Hand, führte sie an seine Lippen und blickte mich so reumütig an, dass mein Zorn im Nu verrauchte. Stattdessen spürte ich, wie die Wärme in mein Herz zurückkehrte.

Peter flüsterte: »Ihr glaubt nicht, wie sehr ich mich auf unseren Hochzeitstanz freue.«

Ungläubig sah ich ihn an. »Aber, Euer …« Ich schluckte die Worte hinunter, die nur allzu taktlos gewesen wären.

»Meint Ihr, mein Bein macht das nicht mit?« Er lächelte verschmitzt und schien keineswegs böse darüber zu sein, dass ich beinahe taktlos gewesen wäre. Dann sprang er auf und drehte sich unbeholfen im Kreis, bis er das Gleichgewicht verlor und mit dem Hintern auf die Decke fiel. Außer Atem strich er sich das Haar aus der Stirn. »Auf dem Wiener Hofball würde ich wohl keine gute Figur machen. Stellt Euch nur vor, ich läge der Kaiserin so zu Füßen wie nun Euch!«

Ich gluckste vor Lachen. Wäre Mama nicht in Sichtweite gewesen, hätte ich Peter vielleicht umarmt. »Wir können es bei unserem Hochzeitstanz ruhig langsamer angehen.« Für einen Augenblick versetzte ich mich in die ungewohnte Situation. Wie es sich wohl anfühlte, von ihm gehalten zu werden? Wie er wohl roch, wenn er mir ganz nahe war?

Mama und Püpperl kamen wieder zu uns. Meine Schwester blickte erneut drein, als sei sie gerade in einen Regenguss geraten. Ich öffnete den Korb, holte das Schälchen mit den kandierten Apfelscheiben heraus und hielt es ihr hin. Dieser Leckerei hatte meine Schwester noch nie widerstehen können, und sie griff zu. Zwar presste sie die Lippen weiterhin zu einem schmalen Strich zusammen, doch als Peter ihr ein Lächeln schenkte, bekamen ihre Augen wieder mehr Glanz. Mama hatte recht, Püpperls Schwärmerei für meinen Bräutigam war nicht zu übersehen.

Aus der Ferne vernahm ich Kinderlachen und wandte mich um. Ein Ehepaar mit zwei kleinen Mädchen und einem etwas größeren Buben breitete ihre Picknickdecke im Schatten einer Buche aus.

Ich drehte eine Stachelbeere zwischen Zeigefinger und Daumen und wandte mich an Peter. »Mögt Ihr Kinder auch so gern wie ich?«

»Aber sicher.« Peter nahm mir die Beere aus den Fingern und steckte sie sich in den Mund.

»Hättet Ihr lieber einen Buben oder ein Mädchen?«, fiel Püpperl in das Gespräch ein.

»Was für eine Frage! Beides natürlich.«

Erneut nahm ich eine Stachelbeere aus dem Picknickkorb. »Ich hätte am liebsten eine ganze Schar von Kindern. So wie unsere Kaiserin.« Bevor Peter mir erneut die Beere abnehmen konnte, schluckte ich sie rasch selbst hinunter.

Meine Schwester reckte sich nach dem Korb und zog ihn zu sich heran. »Du bist unhöflich, Sophie.« Sie sah mich mit erhobenen Augenbrauen an. »Die brave Gattin isst erst, wenn ihr Gemahl versorgt ist.« Sie reichte Peter eine Handvoll Beeren.

Was redete meine Schwester denn da? Ich verkniff mir eine bissige Antwort und befolgte lieber Mamas Ratschlag. Mit Eifersüchteleien beeindruckte eine Frau keinen Mann.

4. KAPITEL

Schritte polterten auf dem Gang, dann flog die Tür auf. Adele, die neben der Tür im Schlafgemach ihrer Herrin stand und das Erscheinen des Eindringlings mit voller Wucht zu spüren bekam, rieb sich unauffällig die Stirn. Als zukünftige Kammerfrau hatte sie zwar anwesend zu sein, durfte sich jedoch nicht bemerkbar machen. Ihre Handgriffe musste sie im Hintergrund verrichten. Auch dann, wenn ihr wie jetzt heftig pochend eine Beule wuchs und ihre Knie weich wurden. Noch mehr als die Beule pochte jedoch ihr Herz, als sie den Thronfolger Erzherzog Joseph erblickte.

Das sonst so blasse Gesicht rot vor Zorn, stapfte der Erzherzog in das Schlafzimmer seiner Mutter auf Schloss Laxenburg. Seine Schwester Elisabeth sah von dem Brief auf, den sie gerade schrieb, und hob die Augenbrauen. Josephs Verhalten zeugte von ungeheurer Respektlosigkeit, die sich auch ein Thronfolger nicht leisten durfte.

»Das ist nicht Euer Ernst, Maman!« Josephs Stimme klang abgehetzt. »Zu welchem Zweck habt Ihr der Einheit die Männer abgezogen?«

Den Rücken an einen Berg Kissen gelehnt, saß Maria Theresia in ihrem Bett, wo sie mit der Lektüre von Briefen beschäftigt war. Sie ließ das Blatt in ihrer Hand sinken und sah ihren ältesten Sohn an. »Seit wann muss ich dir über irgendetwas Rechenschaft ablegen?«

Adele kannte den Gesichtsausdruck ihrer Herrin, wenn diese sich zur Ruhe zwingen musste. Aber bei der Schar von Kindern war dies wohl die leichteste Übung für Maria Theresia, die vom Volk stets die Kaiserin genannt wurde, obwohl sie nicht dazu gekrönt worden war. Aber den Untertanen schien es gleich zu sein, dass lediglich ihr Gemahl Franz Stephan von Lothringen die Krone erhalten hatte, und so kümmerte es auch Adele nicht. Maria Theresia war für sie nicht nur die Erzherzogin von Österreich und Königin von Böhmen und Ungarn, sondern ebenfalls die Kaiserin des römisch-deutschen Reiches.

»Ich weiß genau Bescheid.« Joseph kniff die Augen zusammen.

Die Damen am Hof sagten, er sei ein schöner Mann, und erröteten, wenn sie ihm begegneten. Adele fand ihn ebenfalls sehr anziehend. Obwohl er vier Jahre jünger war als sie, wirkte er mit seinen 19 Jahren reif und gebildet. In manchen Nächten hatte sie schon davon geträumt, in seinen Armen zu liegen. Doch Joseph würdigte sie und die anderen Damen am Hof keines Blickes. Nie hatte sie gehört, dass er sich eine Frau in sein Gemach holte. Sein hellgepudertes Haar trug er im Nacken zusammengebunden oder unter einer Perücke versteckt. An den meisten Tagen wirkte der Blick aus seinen wasserblauen Augen melancholisch und nach innen gekehrt. Doch das täuschte, denn wenn der Erzherzog ein Ziel verfolgte, kam sein eiserner Wille zum Vorschein. So wie jetzt gerade.

Die Kaiserin straffte die Schultern. Der Hofstaat war längst an die Dispute zwischen ihr und Joseph gewöhnt, so dass auch der aktuelle wohl niemanden wunderte. Da der Thronfolger ein glühender Anhänger der Aufklärung war, stand er den Entscheidungen der Kaiserin meist skeptisch gegenüber.

»Worüber weißt du Bescheid? Wieder einmal über Dinge, die dich nichts angehen?« Maria Theresia räusperte sich diskret. »Noch bist du nicht der Mitregent des Kaisers, vergiss das nicht.«

»Noch nicht, aber bald.«

Die Tochter der Kaiserin, Erzherzogin Elisabeth, legte den Federkiel zur Seite und zupfte an ihrer kunstvoll aufgetürmten und dekorierten Frisur. Dabei fiel eine der winzigen Blüten aus den Locken und schwebte genau in das Tintenfass. Erschrocken zuckte die junge Erzherzogin zusammen. Adele fand, dass sie mit ihren 17 Jahren die schönste aller Töchter der Kaiserin war. Maria Theresia schien jedoch zu ihrer Tochter Maria Christina, die sie Mimi nannte, ein besonders inniges Verhältnis zu haben. Mimi war eine fröhliche junge Frau von 18 Jahren, die sich stets verliebte, sobald ein neuer Fürst den Hof besuchte. Auch nun saß sie mit verträumtem Blick im Sessel vor dem Fenster.

Joseph tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Teppich und traf dabei den Schnabel des Pfaus, der darauf abgebildet war. Seine Finger krampften sich um eine Schriftrolle, mit der er sich in die linke Hand schlug.

Adele richtete den Blick zum Kronleuchter an der Decke des Gemachs, in dessen Kristallen sich bunt das einfallende Licht brach. Joseph konnte sich noch so erzürnen, gegen die Kaiserin kam er nicht an. Wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte, dann blieb sie auch dabei. Rat holte sie sich allenfalls bei ihrem Kanzler Kaunitz.

Joseph brach das Schweigen. »Ihr wisst genau, was ich meine.«

»Ja, mein Sohn. Ich weiß genau, was du meinst.« Maria Theresia seufzte. »Dennoch solltest du dir die Ratespiele, die einem Verhör gleichen, abgewöhnen. Sag frei heraus, was dir auf dem Herzen liegt. Ansonsten verärgerst du nur dein Gegenüber.«

»Sollte es mit der Deportation der Lutheraner nicht vorbei sein?«

Die Kaiserin hob den Kopf. »Welche Deportation?«

Joseph schnaubte. »Die Leute einer kleinen Gemeinde in der Steiermark sind dieser Tage gefangen gesetzt worden.« Er kniff die Augen zusammen. »Wohin sollen sie deportiert werden? Wieder nach Siebenbürgen?«

Maria Theresia nahm mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck einen Brief auf. »Du meinst transmigriert, mein Sohn«, murmelte sie, während ihr Blick über die Zeilen flog.

»Nennt es, wie Ihr wollt. Ihr kennt meine Einstellung zu diesem Vorgehen.«

»Sicher kenne ich deine Ansichten. Bedeutet das auch, dass ich sie gutheißen muss? Nein. Es gibt nur einen wahren Glauben, und das ist der der Katholiken. Willst du, dass die Lutheraner unsere Kirchen plündern? Du weißt doch, wie sie sind. Sie stören den Landfrieden. Nur ein Land, das in seinem Glauben geeint ist, ist ein starkes Land.«

»Denkt um, Maman. Ansonsten spielt Ihr König Friedrich in die Hände.«

Die Kaiserin legte den Brief wieder zu den anderen. »Gerade deswegen werden die glaubensabtrünnigen Untertanen ja transmigriert, um nicht auf die Seite des Feindes zu wechseln. So bleiben sie unsere Untertanen und helfen uns gleichzeitig, Siebenbürgen wieder zu besiedeln.«

Mitten in diesem Disput stürmte die kleine Antonia ins Schlafzimmer, sprang auf das Bett der Mutter und hüpfte am Fußende herum.

»Maria Antonia, Schluss jetzt!« Energisch klopfte die Kaiserin mit der flachen Hand auf die Tagesdecke. »Benimmt sich eine junge Dame so?«

Die Vierjährige ließ sich auf den Po fallen, verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor.

Beim Anblick der kleinen Erzherzogin konnte Adele nicht ernst bleiben. In ihrem karamellfarbenen Kleid und mit der riesigen Schleife in den blonden Locken sah Maria Antonia einfach allerliebst aus. Aber in ihr schlummerte ein kleines Teufelchen, das seinen Geschwistern das Leben schwer machte.

Auch die Kaiserin konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wohl um es zu verbergen, rief sie: »Auf, auf, meine Lieben! Wir gehen in den Garten an die Luft«, und erhob sich aus dem Bett.

Augenblicklich sprang auch Maria Antonia auf und klatschte in die Hände. Joseph wollte noch etwas sagen, doch seine Worte gingen in dem Jubelschrei der Kleinen unter. Mimi, die eben noch abwesend aus dem Fenster gesehen hatte, erhob sich von dem Sessel und trat zu ihrem Bruder. Sie lächelte spöttisch. »Für dich wird es wirklich Zeit zu heiraten. Dann hört dir vielleicht endlich einmal eine Frau hier am Hof zu. Obwohl …« Mimi wickelte sich einer ihrer braunen Locken um den Zeigefinger und sah Joseph nachdenklich an. »Wenn du dich ihr gegenüber auch so aufbläst, könnte sie ebenfalls rasch die Ohren auf Durchzug stellen.«

Joseph kniff die Augen zusammen. »Vielleicht sollte ich ihr lieber den Umgang mit dir untersagen.«

»Besser nicht«, sagte Mimi schnippisch. »Für ihr Seelenheil wird sie eine gute Freundin am Hof brauchen. Das sieht Mama genauso.« Mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen wandte Mimi ihm den Rücken zu und verließ das Zimmer.

Erzherzogin Elisabeth steckte den Federkiel zu der Blüte in das Tintenfass, glättete sich die Röcke und sah zu ihrer Mutter. »Ich würde mich gern noch umziehen, wenn es recht ist.«

»Wozu?« Die Kaiserin musterte sie von der aufgetürmten Lockenpracht bis zu den Fußspitzen. »Dein Kleid ist frei von Falten und Schmutzflecken.«

»Aber es könnte mir zu warm werden. Außerdem würde ich gern mein Gesicht neu pudern.« Elisabeth biss sich auf die Unterlippe.

»Ach, was.« Die Kaiserin winkte ab. »Wenn ich dich jetzt gehen lasse, sehe ich dich erst zur Dämmerung wieder. Der Nachmittag ist zu schön, um ihn mit Eitelkeiten zu verbringen.«

Joseph hob die Nase und sog den Atem ein. »Ein Duftwässerchen könntest du allerdings vertragen, liebe Schwester.«

»Habe ich dich um deine Meinung gefragt? Kümmere du dich lieber um deine Angelegenheiten, zum Beispiel die Transmigranten.« Elisabeth warf ihrem Bruder einen finsteren Blick zu. »Was ist das denn?«, krähte Antonia.

Die Kaiserin hob sie auf ihre Arme. »Untertanen, die nach Siebenbürgen umgezogen sind.« Sie runzelte die Stirn. »Wo ist eigentlich deine Aja? Hast du sie etwa wieder an der Nase herumgeführt?«

Antonia schüttelte so heftig den Kopf, dass die Schleife über ihr Ohr rutschte. »Schläft.«

Ein livrierter Diener öffnete die Tür, und die Kaiserin ließ Joseph stehen, ohne noch ein Wort an ihn zu richten. Adele trat hinter Maria Christina in den langen Flur des Schlosses.

Als die Kaiserin bemerkte, dass Joseph und Elisabeth ihr nicht folgten, blieb sie stehen und wandte sich um. »Allez, Kinder! Wo bleibt ihr denn? Die anderen sind gewiss längst draußen.«

Ein Murren war zu hören, es kam von Joseph. »Leider müsst Ihr beim Scheibenschießen auf meine Gesellschaft verzichten.« Festen Schrittes verließ er das Gemach in die entgegengesetzte Richtung, wo sich der Aufgang zu seinen Räumen befand.

Die Röcke angehoben, sah Elisabeth ihm nach. Sie schien wohl noch zu überlegen, ob sie lieber ihm oder der Kaiserin folgen sollte, zog dann aber die Stirn kraus und lief auf ihren hohen Seidenschühchen hinter der Kaiserin her.

Obwohl ihre Beule nahezu unerträglich schmerzte, hätte Adele dem Erzherzog nur zu gern Trost gespendet. Leider war es jedoch ihre Aufgabe, der Kaiserin auf Schritt und Tritt zu folgen.

5. KAPITEL

Sophie! Wo bleibst du denn?« Mamas Stimme hallte die Stiege herauf.

Fahrig nestelte ich an den Nadeln, die in meinem Haar steckten, und stieg anschließend mit Püpperls Hilfe in das Kleid. Peter hatte es mir vor drei Tagen schicken lassen – samt einer Schneiderin, falls noch Änderungen nötig waren. Ein Traum aus cremefarbener Seide, bestickt mit lindgrünen und zartrosa Blüten. Die Ärmel waren mit zarter Tüllspitze abgesetzt und der Einstecker, der in den Ausschnitt geschoben wurde, mit Wachsröschen verziert. Doch das Gewand ließ sich nur schwer drapieren, da meine Unterröcke über dem ovalen Reifrock Falten warfen, die sich unschön durch die Seide abmalten. Dazu raubte mir das Korsett beinahe den Atem. Die Schneiderin hatte die Taille wohl etwas arg eng genäht.

»Sophie!« Mamas Stimme tönte erneut durch das Haus.

»Ja, doch!«, rief ich zurück. »Ich komme sofort.«

Seit dem Morgen versuchte ich eine Niedergeschlagenheit zu verdrängen, die mir wie Blei in den Knochen hing. Sicher rührte diese von der Aufregung her, die ich über die Verlobung empfand. Warum nur hatte ich Püpperl nicht früher zu mir gerufen? Dann hätten wir uns jetzt nicht so sputen müssen.

Meine Schwester riss an dem Rückenteil meines Kleids und stöhnte auf. »Mama geht mir auf die Nerven.«

»Tatsächlich? Gut zu wissen.«

Erschrocken wandten Püpperl und ich uns um. Mama stand im Türrahmen und schüttelte den Kopf.

»Die ersten Gäste sind bereits eingetroffen. Willst du sie warten lassen?«

»Wer ist es denn?«

Mama hob die Augenbrauen. »Die Grafen und die Gräfin von Bebendorf.«

Meine Hände begannen zu zittern. Mit solch einem frühen Eintreffen meines zukünftigen Mannes und seiner Eltern hatte ich nicht gerechnet. Püpperl nestelte mit fahrigen Bewegungen an meinem Kleid herum.

»So geht das nicht. Lass mich mal.« Mama trat neben sie und zupfte an dem Gewand, bis alles an der richtigen Stelle saß. »Du brauchst unbedingt eine Kammerzofe.« Mit geschickten Händen schob Mama mir den Einstecker in den Ausschnitt und befestigte ihn am Korsett. »Ich werde Graf Peter darauf hinweisen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wir sollten seine Großzügigkeit nicht mit immer neuen Bitten strapazieren. Ich bin mir sicher, nach der Hochzeit wird er mir von selbst eine Zofe zur Seite stellen.«

Püpperls Hände huschten über mein Haar. Die Spitze einer der Nadeln stach in meine Kopfhaut, und ich schrie auf. Meine Schwester stellte sich schon die ganze Zeit so ungeschickt an! Fast hätte sie mir sogar die teuren Strümpfe zerrissen.

Mama beachtete mein Gejammer nicht und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du recht. Peter hat uns wirklich schon so viel Gutes getan. Mehr, als nötig gewesen wäre.«

Das stimmte. Seit er um meine Hand angehalten hatte, hatte sich unser Haushalt um drei Mägde erweitert. Sogar einen Verwalter für das Sägewerk hatte Peter eingestellt. Es war ein älterer Mann, der vor zwei Tagen in das kleine Haus neben dem Werk eingezogen war. Damit der Betrieb endlich wieder aufgenommen werden konnte, suchte er nun nach weiteren fähigen Männern.

Auch den Termin für die Hochzeit hatte Peter bereits festgelegt. Sie sollte am zehnten Tag im Oktober dieses Jahres stattfinden.

Mama zupfte ein letztes Mal an meinem Ärmel. »Und nun lassen wir unsere Gäste nicht länger warten.«

Püpperl stürmte durch die Tür und eilte uns voraus.

»Eleonore! So bleib doch zurück!«, rief Mama ihr nach. Doch ihre Ermahnungen waren umsonst, denn Püpperls Absätze klapperten bereits auf der Treppe. »Wie ungestüm sie ist«, raunte Mama. »Es wird wahrlich schwer, für sie einen Mann zu finden.«

Ihre Worte schmerzten mich. »Es wird sich gewiss ein Mann finden, der ihre Art zu lieben weiß.« Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass es jemanden gab, der Püpperls Wesen nicht mochte, auch wenn sie durch das Leben galoppierte wie ein junges Fohlen. Und auch, wenn sie sich mir gegenüber die letzte Zeit ziemlich unfreundlich benommen hatte. Bisher war mir zumindest niemand begegnet, der Püpperl ablehnte. Sie war stets bei allen der Liebling gewesen, beim Onkel und beim Vater erst recht.

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