Die Bernsteinbraut - Gabriele Breuer - E-Book

Die Bernsteinbraut E-Book

Gabriele Breuer

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Rügen um 1300: Die junge Kaufmannstochter Antonia sieht nach dem Tod ihres Vaters einem harten Schicksal entgegen. Gegen ihren Willen muss sie den herrischen Conrad von Drachenfels heiraten und mit ihm ins Siebengebirge ziehen. Dort trifft sie den ehemaligen Bernsteintaucher Jaramir und findet in ihm bald einen Vertrauten und Verbündeten. Erschüttert muss sie feststellen, dass er mit anderen Verschleppten ausgerechnet für ihren Gemahl in einem Steinbruch schuften muss. Antonia fasst einen mutigen Plan, die Menschen zu befreien, obwohl der brutale Conrad sie zu entdecken droht. Allen Widrigkeiten zum Trotz ist sie entschlossen, den anderen Gefangenen zu helfen und mit Jaramir glücklich zu werden. Um ihrem Schicksal zu trotzen, muss Antonia schließlich all ihren Mut aufbringen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Rügen um 1300: Die junge Kaufmannstochter Antonia sieht nach dem Tod ihres Vaters einem harten Schicksal entgegen. Ihr Bruder verheiratet sie gegen ihren Willen mit dem her­rischen Conrad von Drachenfels. Sie muss ihre Heimat an der Ostsee verlassen und mit ihm ins Siebengebirge ziehen. Dort trifft sie auf den ehemaligen Bernsteintaucher Jaramir und findet in ihm bald einen Vertrauten und Verbündeten. Erschüttert muss sie feststellen, dass er mit anderen Verschleppten ausgerechnet für ihren Gemahl in einem Steinbruch unter schlimmsten Bedingungen schuften muss. Antonia besucht die Gefangenen von nun an oft, bringt ihnen zu essen und fasst schließlich einen mutigen Plan, sie zu befreien, obwohl der brutale Conrad sie zu entdecken droht. Allen Widrigkeiten zum Trotz ist sie entschlossen, den anderen Gefangenen zu helfen und mit Jaramir glücklich zu werden. Um ihrem Schicksal die Stirn zu bieten, muss Antonia schließlich all ihren Mut aufbringen ...

Die Autorin

Gabriele Breuer, geboren 1970, lebt mit ihrem Mann und Sohn in Köln. Sie arbeitet in einem Seniorenheim und schreibt nur in ihrer Freizeit. Unter dem Namen Gabi Breuer veröffentlicht sie auch Unterhaltungsromane.

Von Gabriele Breuer sind in unserem Hause bereits erschienen:

Luzifers Töchter

Die Magd und das Teufelskind

Gabriele Breuer

DieBernsteinbraut

Historischer roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1091-6

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage September 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © FinePic®, München (Kette); © Private Collection / Bridgeman Images (Landschaft)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für die wertvollsten Menschen in meinem Leben

Josef und Marcel

1

Antonia wischte den Staub von den hölzernen Truhen und sah sich zufrieden in der Kaufmannsdiele um. Die Ballen mit dem edlen Tuch, die hier zwischengelagert wurden, hatte sie mit sauberem Linnen abgedeckt, stets darauf bedacht, keinen von ihnen dem Licht auszusetzen, das durch die hohen Fenster fiel. Auch durfte das Tuch nicht zu nahe am Ofen lagern, der in die Wand eingemauert war. Wenn nebenan in der Küche Brot gebacken wurde, beheizte der Ofen gleichzeitig die Diele, damit die Waren nicht feucht wurden. Das Gleiche galt für die Säcke mit den Gewürzen wie Safran und Muskat, die sie zusätzlich noch vor Nagetieren schützen musste. Dazu hatte sie Fallen aufgestellt, aus denen sie jeden Morgen die kleinen pelzigen Kadaver entfernte.

Die Verantwortung für die Kaufmannsdiele zu tragen sowie den Haushalt des Vaters zu führen erfüllte Antonia mit Stolz. Noch einmal sah sie sich um, ob auch alles in bester Ordnung war, und betrat dann die Küche. Als sie nach dem Weidenkorb griff, kam die alte Gertrud aus der angrenzenden Vorratskammer. In der einen Hand hielt sie drei Eier, in der anderen einen Krug Milch. Sie stieß mit ihrem ausladenden Hintern die Tür der Kammer hinter sich zu.

»Wo wollt Ihr denn schon so früh am Morgen hin?«, fragte sie und hob dabei die grauen Augenbrauen.

»Auf den Markt«, entgegnete Antonia und verließ rasch die Küche, bevor Gertrud ihr einen der täglichen Vorträge über den Unterschied einer Magd und einer Hausfrau halten konnte.

Die aufgehende Sonne kroch über die Dächer der Häuser und tauchte den Marktplatz von Stralsund in ein goldenes Licht. Dieser Sommer des Jahres 1310 nach Christi Geburt war einer der heißesten, den Antonia je erlebt hatte. Trotz der frühen Stunde feilschten bereits etliche Mägde mit den Bauern, die noch nicht einmal alle ihre Waren von den Karren geladen hatten. Wenn Fleisch, Käse und Fisch erst einmal der Mittagshitze ausgesetzt waren, würde über dem Marktplatz ein entsetzlicher Gestank aufsteigen, und den wollte keine der Frauen in die Nase bekommen.

Die Ferkel, die in ihrem Käfig von einem Fuhrwerk abgeladen wurden, quiekten erbärmlich, als wüssten sie, dass bald ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Am anderen Ende des Markplatzes stapelten die Korbmacher ihre Ware. Neben ihnen schnatterten Gänse, ebenfalls in Käfigen eingesperrt. Sie drängten ihre Köpfe durch die Holzstäbe und zogen sie wieder zurück, wenn sich ihnen jemand näherte.

Um diese frühe Stunde waren nur wenige Damen des vornehmeren Geschlechts zu sehen. Sie standen abseits des Getümmels und hielten ein Schwätzchen.

Antonia hingegen drängte sich mit den Mägden an den Fischstand, auch wenn dabei sicher der feine Stoff ihrer Cotte knittern und ihr Haar später entsetzlich nach Fisch stinken würde. Eine neue Ladung Heringe war in der Nacht am Hafen von Stralsund eingetroffen. Vater liebte diese salzigen Fische mehr als ein Stück fettes Fleisch. Wenn Antonia sie in Butter briet und mit Sahne verfeinerte, waren sie für ihn kein Armeleuteessen mehr.

Antonia hoffte, Vaters Kogge würde bis zum Abend im Hafen eintreffen. Er handelte mit exotischen Gewürzen, die er in Venedig einkaufte und hier an der See weitervertrieb. Antonia vermisste ihn jedes Mal schmerzlich, wenn er in die fernen Länder reiste. Ohne ihn war es so still in dem großen Backsteinhaus nahe dem Rathaus, dass Antonia es an manchen Tagen kaum aushielt. Erst recht, nachdem die Mutter vor einigen Jahren an einer späten Schwangerschaft gestorben war. Doch letzte Nacht hatte sie geträumt, wie ihr Vater durch die Pforte des Hauses schritt und sie lachend in die Arme nahm. Gewiss bedeutete dies, dass er am heutigen Tage heimkehrte. Ja, es musste so sein. Eine Woge des Glücks erfasste Antonia, und sie ging in Gedanken Vaters Kleidung durch, die sie nach seiner Abreise gewaschen und geglättet hatte. Seine Tuniken und Beinlinge lagen ordentlich gefaltet in den Truhen. Die Spinnweben an der Decke des Kontors hatte sie gestern noch mit dem Reisigbesen entfernt. Auf seinem Arbeitspult waren das Rechenbrett poliert, das Tintenfass aufgefüllt und die Gänsekiele gespitzt. Sogar einen neuen Stapel Pergament hatte sie besorgt. Falls Vater heute heimkam, hätte sie an alles gedacht.

Die Mägde, die mit ihr in der dritten Reihe vor der Fisch­waage warteten, plapperten aufgeregt über einen Ritter des Deutschordens, den sie in den Gassen gesehen hatten. Dunk­les, lockiges Haar hatte er und Schultern, hinter denen sich gleich zwei Frauen verstecken konnten. Antonia hörte genauer hin. Die honigfarbenen Augen mit den langen Wimpern, von denen eine der Mägde schwärmte, passten genau zu Severin. Ob ihr Bruder etwa in Stralsund war? Antonia wagte es kaum zu hoffen. Seit etwas mehr als zwei Sommern gehörte Severin nun dem Deutschorden an und war seitdem nicht mehr zu Hause gewesen. Nur ab und zu hatte er eine Botschaft übermitteln lassen, dass es ihm gutging, dort im Ordensland, wo er auf der Marienburg lebte.

In Gedanken an Severin versunken, bekam Antonia gar nicht mit, dass sie bereits an der Reihe war. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute der Fischhändler sie an.

Rasch gab sie die Bestellung der gesalzenen Heringe auf. Nachdem sie die Ware bezahlt und in ihrem Korb verstaut hatte, bahnte sie sich einen Weg über den Marktplatz hin zu der Kirche Sankt Nikolai, deren Glocken zur Laudes schlugen. Aus der Ferne konnte sie bereits den Rappen sehen, der vor ihrem Haus an der Tränke festgebunden war. Severin war wirklich heimgekehrt! Antonia beschleunigte ihren Schritt. Als sie das Portal des Hauses mit ihrem Schlüssel öffnete, pochte ihr Herz heftig vor Freude.

Über drei Stockwerke zog sich das Wohnhaus im Schatten der Kirche hin und war somit eines der prächtigsten Gebäude von Stralsund. Als Antonia kurz darauf das Kontor betrat, stand Severin mit dem Rücken zu ihr und unterhielt sich mit Vaters Schreiber Hannes. Der weiße Umhang seines Ordens reichte ihm bis zu den Lederstiefeln. Das Haar hatte er im Nacken mit einem Band aus schwarzer Seide gebändigt. Sein Atem ging schwer, und als Antonia dann die geweiteten Augen des Schreibers sah, wusste sie, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.

Sie blieb hinter Severin stehen und schluckte. »Wie schön, dich zu sehen, Bruder.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.

Severin sog tief den Atem ein und drehte sich zu ihr um. Mit zittrigen Fingern strich er sich das Haar aus der Stirn. »Ich wünschte, ein erfreulicherer Anlass hätte mich hierhergetrieben.«

Antonia hatte das Gefühl, als zöge sich eine Schlinge um ihren Hals. »Was ist denn passiert?« Sie wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen.

»Die Kogge, mit der Vater auf dem Weg hierher war, ist gesunken. Sie haben seinen Leichnam am Strand von Rujana gefunden.« Severin presste die Lippen aufeinander.

Antonias Brustkorb verkrampfte sich, und die Schlinge um ihren Hals schnürte ihr endgültig die Luft ab. Vor ihren Augen verschwamm das Kontor. Der Korb mit den Heringen fiel zu Boden.

»Das kann nicht sein!«, rief sie. »Nicht so nahe dem Heimathafen.«

Severin trat auf sie zu und legte die Hände auf ihre Schultern. »Pack deine Sachen, Schwester. Wir reisen nach Rujana.«

Wenn Vater wirklich tot gewesen wäre, hätte Severin sie doch tröstend in den Arm genommen, hätte mit ihr geweint, doch seine Miene war regungslos, regelrecht verhärmt – von Trauer keine Spur. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Sag mir, dass dies ein Irrtum ist! Wer weiß schon, welch arme Wasserleiche die See angespült hat! Doch gewiss nicht unseren Vater.«

Severin stieß den Atem aus. »Doch, Antonia.«

Verzweifelt sank sie neben dem Weidenkorb zu Boden. Ihre Finger schlossen sich um den Henkel. »Hier, sieh. Ich habe ihm seinen geliebten Hering gekauft. Er kann nicht tot sein. Außerdem habe ich geträumt, er käme heute heim.« Sie rüttelte an dem Korb und hatte gleichzeitig das Empfinden, sie würde auch an ihrem Kopf rütteln, so dass die Gedanken von links nach rechts stoben. Es waren grausame Gedanken, Bilder von Vaters Leichnam, der am Strand von Rujana im Sand lag. Algen hatten sich in seinem grauen Haar verfangen, und seine Augen starrten sie aus einem bleichen Gesicht an.

Severin kniete sich neben sie. Zögernd strich er mit den Fingerspitzen über ihren Rücken. Aus ihren Augen traten Tränen und rannen ihr über die Wangen. Auch Severin schluchzte jetzt und bewies ihr damit endgültig, dass sie den Vater für alle Zeiten verloren hatte. In diesem Augenblick fuhr der Schmerz so heftig durch ihren Leib, dass sie sich zusammenkrümmte. Antonia ballte die Fäuste in ihrem Schoß und schrie ihren Kummer laut hinaus. Immer wieder, bis sie jemand am Arm fasste und mit sanfter Stimme auf sie einredete. Antonia sah in die Augen des Medicus, der die Familie behandelte. Doch auch der alternde Julius vermochte sie nicht zu beruhigen. Unaufhörlich rissen Wunden in ihrem Herzen auf und ließen sie vor Schmerz schier den Verstand verlieren. Dann spürte sie einen Holzbecher an ihren Lippen.

Julius strich ihr das Haar aus der Stirn. »Trink, mein Kind. Der Saft wird den Schmerz erträglicher werden lassen.«

Gierig leerte Antonia den Becher. Die Medizin schmeckte bitter, und hinter ihren Lidern drückten weiterhin die Tränen. Erneut schluchzte sie auf. Doch dann wurde sie allmählich ruhiger, und der Schmerz wich einer Gleichgültigkeit, die sie ermüdete. Wie ein Häufchen Elend sank Antonia in sich zusammen. Severin hob sie auf seine Arme und brachte sie in ihre Kammer, wo er sie auf das Bett legte. Kurz darauf fiel Antonia in einen traumlosen Schlaf.

Hektische Schritte auf dem Holzboden weckten sie. Antonia wusste nicht, wie lange sie gelegen hatte, doch der Schmerz in ihrem Herzen kehrte mit voller Wucht zurück. Kurz sah sie zu Severin hinüber, der ihre Reisetruhe packte. Dann drückte sie das Gesicht ins Kissen und ließ ihren Tränen abermals freien Lauf. Sie wollte nicht nach Rujana, um Vaters Leichnam zu begraben. Sie wollte hier in Stralsund bleiben und ihm seinen Hering braten. Anschließend würde sie ihm den Gemüsegarten zeigen, in dem die Karotten reif waren. Sicher war alles nur ein Irrtum. Bald schon würde er heimkehren. Vater war nicht tot! Antonia hieb die Fäuste in die Kissen. Da legte sich die Hand ihres Bruders auf ihren Rücken.

»Du musst stark sein, wie Vater sich das gewünscht hätte. Glaubst du, er will dich so leiden sehen?«

Antonia schüttelte den Kopf. »Ich halte den Schmerz nicht aus. Das werde ich nie verwinden.« Sie hob den Blick und sah, wie auch in Severins Augen die Tränen glänzten. Ihr Bruder presste die Lippen zusammen. Dann sagte er: »Glaube mir, Antonia, du bist stärker, als du denkst. Der Herr hat ihn zu sich geholt. Er wird seine Gründe dafür haben.« Severin wandte sich von ihr ab und legte ein weiteres Kleid in die Truhe. Grün wie Moos glich die Seide ihren Augen. Antonia hatte es vor dem diesjährigen Osterfest schneidern lassen. Was sollte sie damit auf Rujana?

»Leg es zurück«, herrschte sie Severin an. Augenblicklich schlug sie die Bettdecke fort und stieg aus dem Bett. Ihr Zopf hatte sich gelöst, und das rotbraune Haar fiel in Wellen über ihre Schultern. Antonia strich eine Haarsträhne hinter das Ohr und schaute in die Truhe.

»Warum hast du es so eilig, dass ich nicht einmal selbst meine Sachen packen kann?«

Severin sah sie ernst an. »Die Hitze wird Vaters Leichnam zusetzen. Du weißt, was das bedeutet.«

Mit Hilfe ihrer Entrüstung versuchte Antonia, die grausamen Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen und kniff die Augen zusammen. »Natürlich weiß ich das.« Obwohl sie mittlerweile zwanzig Lenze zählte, schien Severin in ihr immer noch das kleine Mädchen zu sehen. Schon damals, als sie noch Kinder waren, hatte er es sich nicht nehmen lassen, sie ständig zu belehren, da er älter war als sie. Wenn auch nur zwei Winter.

»Geh und lass mich für einen Augenblick allein, damit ich mich für die Reise fertigmachen kann.«

Unter Antonias Füßen schwankte der Boden. Nachdem Severin die Kammer verlassen hatte, stützte sie sich am Bettpfosten ab. Ihre Knie gaben nach, und sie musste sich auf die Matratze setzen. Abermals ließen Schluchzer ihre Brust erbeben. Ein letztes Mal noch wollte sie ungehemmt weinen und dann nie wieder Schwäche vor ihrem Bruder zeigen.

Kurze Zeit später wischte sich Antonia die Tränen von den Wangen und packte ihre Truhe.

Die Hitze trieb die Leute in ihre Häuser, und auf der Straße, die zum Hafen führte, waren nur wenige Händler unterwegs. In den engen Gassen spielten lachend die Kinder, denen die sengende Sonne nichts auszumachen schien. Als sich der Wagen jedoch dem Hafen näherte, wehte eine angenehme Brise von der See herein. Antonias Gesicht war nass von Schweiß und den Tränen, deren Flut nicht nachlassen wollte, auch wenn sie nicht mehr hatte weinen wollen. Vor dem Wagen ritt Severin auf seinem Rappen. Sein weißer Umhang mit dem schwarzen Kreuz auf der Brust bedeckte das Rückenteil des Hengstes.

Die Seeluft roch nach Tang und Fisch. Im Schatten der ­Lagerhäuser lungerten die Arbeiter herum, teilten sich ­einen Krug Bier und kauten auf Brotkanten. Die Räder der Ladekräne standen still und würden wohl erst wieder angetrieben werden, wenn die Sonne den Zenit überschritten hatte.

Severin ritt vor bis zu der Anlegestelle, von wo aus sie nach Rujana übersetzen sollten. Die alte Kogge, die sie samt dem Wagen und der Pferde über den Strelasund schiffen sollte, wurde von Rudermännern angetrieben. Selbst wenn der Wind gut gestanden hätte, wären die zerschlissenen ­Segel nicht mehr in der Lage gewesen, ihm Stand zu halten. Ein oder zwei Mal war Antonia mit Vater auf Rujana gewesen, um an den Festen des Fürsten Wizlaw teilzunehmen, die er ab und an auf der Rujanenburg abhielt. Damit wollte er seinen Einfluss auf die Stralsunder Patrizier festigen – meist jedoch erfolglos, da die Geschlechter das Lübische Recht auch weiterhin nicht akzeptierten.

Tief sog Antonia den Atem ein und stieg aus dem Wagen. Severin stand bereits beim Fährmann und handelte einen Preis mit ihm aus. Die ruhige See schwappte gleichmäßig ­gegen die Holzpflöcke der Anlegestelle und verströmte den Geruch von Tang. Knecht Mathias, der den Wagen gelenkt hatte, führte das Gespann samt Pferd auf die Kogge. Severin half Antonia über die Planke, dann führte auch er seinen Rappen auf die Fähre.

Als die Rudermänner kurz darauf die Kogge in Bewegung setzten, sah Antonia noch einmal zurück auf die roten Backsteinhäuser am Hafen von Stralsund. Nie wieder würde sie unbeschwert in dieser Stadt leben können, nie wieder glücklich sein. In ihrer Brust wog die Trauer schwer wie ein Mühlstein, und die Stille, der sich die Kogge mit jedem Ruderschlag mehr näherte, raubte ihr schier den Verstand. Antonia sah zu der Insel Rujana hinüber, hinter deren Ufern sich zwischen den Feldern sattgrüne Baumgruppen erhoben. Das Korn stand kurz vor der Ernte, und die Ähren wiegten sich im Wind. Neben Antonia blickte auch Severin stumm auf das Land inmitten der östlichen See. Der Wind frischte auf und wirbelte durch sein dunkles Haar. Mit zittrigen Fingern strich er sich die Strähnen aus dem Gesicht.

Bald schon erreichten sie den Fährhafen. Auch diesmal half Severin Antonia schweigend über die Planke. Stumm flehte sie ihn an, doch ein Wort zu sagen. Warum zweifelte er nicht daran, dass der Leichnam auch ein anderer Mann als der Vater sein könnte?

Nachdem sie das sandige Ufer hinter sich gelassen hatten, konnte sich Antonia nicht mehr zurückhalten. Eindringlich sah sie Severin an. »Woher wollen die Männer wissen, dass der Tote am Strand Kaufmann Koppler ist? Wer hier auf Rujana erkennt ihn auf Anhieb? So oft war er doch gar nicht hier.«

Severin hob die Schultern und schüttelte leicht den Kopf. »Vaters Kogge ist gesunken. Dafür gibt es einen Augenzeugen. Der Steuermann hat als Einziger das Unglück überlebt.«

Die Worte schlugen wie eine Keule auf Antonia ein und zerstörten den letzten Funken Hoffnung. Sie stieg in den Wagen und ließ die Weiden an sich vorbeiziehen. Die salzige Luft wich dem Duft des Korns, das auf den Feldern reifte. Hier und da ragte in den Ansiedlungen das spitze Dach einer Kirche auf. Antonia schloss die Augen und rief sich Vaters Antlitz ins Gedächtnis. Seine blauen Augen, mit Falten umkränzt, wenn er lachte. Stets hatte er sich den Bart gestutzt, der genau wie sein Haar von silbrigen Fäden durchzogen war. Für alle Zeit würde er einen Platz in ihrem Herzen haben.

2

Jaramir holte tief Luft und verschwand unter der Wasseroberfläche. Kaum einer der Bernsteinsammler von Rujana konnte so gut schwimmen, geschweige denn so lange die Luft anhalten wie er. Jaramir tastete den sandigen Boden ab und fand zwei große Bernsteine, die er in sein Netz legte. Dann tauchte er wieder auf und schwamm zurück ans Ufer, wo Dragan die anderen Bernsteinsammler beaufsichtigte. Mit Netzen, die an Stöcke gebunden waren, durchkämmten sie den Sand am Strand von Byntze.

Dragan drehte sich zu Jaramir um und begutachtete dessen Ausbeute. »Du bist wirklich der beste Taucher, der mir je begegnet ist.« Belustigt blitzten seine braunen Augen auf.

»Ich bin der Einzige, der dir überhaupt je begegnet ist.« Jaramir verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen und übergab Dragan das Netz. Dann hob er ein Tuch aus dem Sand auf und trocknete seine Haut sowie das Haar, das die Sonne längst aufgehellt hatte. Der Wind, der vom Meer her wehte, bescherte ihm einen Schauder.

»Wie ist die Ausbeute der anderen Männer?«

»Obwohl die See ruhig ist, bin ich zufrieden, und der Landvogt wird es auch sein.« Dragan schaute zu den Bernsteinsammlern, deren Netze sich nach und nach füllten. »Doch du wirst wieder einmal den Hauptanteil daran tragen.«

Einer der Männer trat auf sie zu und verbeugte sich vor ­Jaramir. »Seid gegrüßt, edler Herr.« Dann wandte er sich an Dragan und reichte ihm seinen Fund. In den Bernsteinen brachen sich die Strahlen der Sonne und ließen sie funkeln. »Viel ist es nicht. Ich hoffe, der Landvogt ist dennoch zufrieden.« Der Sammler sah wieder zu Jaramir und verbeugte sich abermals, ehe er zurück zu den anderen Männern ging.

Kurz darauf beendeten sie ihre Suche und übergaben Dragan ihre Netze. Jaramir hielt den ledernen Sack auf, in den sein Freund die Bernsteine schüttete.

Als Dragan den Sack verschnürte, grinste er erneut breit. »Es ist schon erstaunlich. Sobald du mit den Männern den Bernstein sammelst, sind sie emsiger als je zuvor. Es ist ihnen wohl eine große Ehre, dass du dich mit ihnen gleichstellst.«

Jaramir winkte ab und zog sich sein Hemd über. »Die Bernsteinsuche macht mir eben große Freude. Warum sollte ich es bleiben lassen?«

»Bis das Gerede in der Herrschaft Streu zu Wizlaws Ohren dringt und er erfährt, dass du dich niederen Aufgaben widmest.«

»Er hat wohl größere Sorgen, als seinen Neffen dritten Grades zu tadeln, nur weil er den Bernsteinsammlern bei der Suche hilft.« Jaramir klopfte seine ledernen Sandalen aneinander, um sie vom Sand zu befreien, und behielt sie in der Hand. »Lass uns noch einen Krug Bier zusammen trinken, ehe ich auf die Burg reite.«

Barfuß schritten sie durch die Dünen, in denen der Wind sanft über die Gräser strich. Kurz darauf erreichten sie das Fischerdorf Byntze, wo sie das einzige Gasthaus aufsuchten. Es lag am Ufer des Mündungsarmes, der den nahegelegenen See mit dem Meer verband. Eine Schar Wildgänse flog über das seichte Wasser hinweg und ließ sich im Schilf nieder. Mittlerweile wurden die Schatten der Bäume länger. Dennoch wischte sich Jaramir den Schweiß von der Stirn, als sie das Gasthaus betraten. Es roch nach abgestandenem Bier und vermodertem Stroh. Der Wirt war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem roten Haarkranz und ebenso roten Wangen. Hin und wieder schlug er seine Frau – so erzählten es zumindest die Fischer von Byntze. In letzter Zeit zog es ­Jaramir immer öfter in das Dorf, wo er seinem Freund Dragan bei der Bernsteinsuche half. Er liebte die See, über der die Möwen kreischten, und den Strand mit seinem feinen, weichen Sand, der die Wärme der Sonne gefangen hielt.

In dem Gasthaus saßen lediglich drei Männer, die den Geruch von Fisch verströmten. Ihr weißes Haar hatte der Wind zerzaust, und die Gesichter waren von der Sonne gegerbt. Schweigend blickten sie auf ihre Krüge.

Dragan begab sich zu den Fischern und stützte sich mit den Handflächen auf dem Tisch ab. »Ihr hättet euch zum Bernsteinsammeln an den Strand begeben müssen, anstatt hier zu sitzen.«

Lediglich der Älteste schaute zu ihm auf. Wie sich Jaramir erinnerte, war sein Name Justus. Die anderen taten so, als ginge sie das alles nichts an.

Dragan hob die Augenbrauen. »Wenn ihr zu müde wart, hättet ihr auch eure Weiber schicken können.«

Justus lachte hämisch auf. »Wozu? Der Lohn ist karg. Nur der Fürst wird davon reich.« Mit herabhängenden Mundwinkeln blickte er zu Jaramir.

»Anders als im Ordensland ist unser Fürst gütig und entlohnt euch reichlich für eure Mühen. Also redet nicht solch einen Unsinn«, warf Jaramir verärgert ein.

Der Alte wich Jaramirs Blick aus und knirschte mit den wenigen verbliebenen Zähnen. Dann leerte er den Krug mit einem einzigen Schluck. Als er nichts mehr sagte, bestellte Jaramir beim Wirt zwei Bier. Da die Luft im Gasthaus stickig war, setzten sie sich an den Tisch unter der Fensteröffnung. Das Bier kühlte Jaramirs ausgedörrte Kehle, und bald schon verrauchte sein Ärger über den Alten.

Dragan wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und blickte zu Jaramir. »Wann sehen wir uns wieder?«

»Wenn das Wetter mitspielt, bin ich bald wieder hier.«

»Aber wenn die See in den nächsten Tagen ruhig bleibt, wird wohl kaum mehr Bernstein an Land gespült. Wonach willst du dann tauchen? Nach Krabben?«

»Sorge dich nicht um mich.« Jaramir lachte. »Du weißt doch, ich finde schon einen Grund, um an den Strand zu kommen.«

»Ja, so kenne ich dich.« Dragan nickte und leerte seinen Krug.

Kurze Zeit später band Jaramir seinen Schimmel von einem Baum, der in der Nähe von Dragans Hütte stand. Er klopfte seinem Freund zum Abschied auf die Schulter und stieg auf den Rücken des Pferdes.

Die Rujanenburg erhob sich auf einem waldlosen Hügel am Rande der Siedlung Berghen. Nahe der Meereszunge, die das Land von Jasmund trennte, ritt Jaramir auf die Wehrmauer zu. Zwei Männer in Kettenhemden bewachten mit ihren Lanzen das Tor. Als sie Jaramir sahen, öffneten sie die hölzerne Pforte, die sich nur schwer schieben ließ. Anschließend nahm der Größere der Männer seinen Helm vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Gut, dass Ihr kommt, Herr. Der Fürst ist da.«

Davon hatte Jaramir nichts gewusst, doch er freute sich, Wizlaw endlich wiederzusehen. Er trieb seinen Schimmel zur Vorburg, wo die Mägde bereits aufgeregt zwischen den Wirtschaftsgebäuden hin und her liefen. Ein Schwein wurde geschlachtet, den Gänsen wurden die Federn gerupft. Aus der Scheune karrten die Knechte Kohlköpfe und Rüben in die Küche. Über allem lag der Geruch von Blut und abgeflämmten Federn.

Jaramir sprang von seinem Pferd und brachte es zu den Ställen, wo schon der Wagen und die Pferde des Fürsten standen. Anschließend trat er durch den zweiten Wall und ging zur Hauptburg mit ihrem Palas und dem Wohnturm des Landvogtes, von wo aus man einen Blick über ganz Rujana hatte. Jaramir stieg die Außentreppe des Palas hinauf. Das aus Backstein gemauerte Gebäude bestand aus drei Stockwerken. Die halbrunden hohen Fenster waren in den beiden oberen Geschossen mit Waldglas aus Konstantinopel verschlossen. Vor dem Saal im unteren Stockwerk hörte Jaramir bereits Wizlaws Stimme, die erbost klang. Die zweiflügelige Tür stand einen Spalt breit offen, und Jaramir sah, dass der Fürst offenbar eine Auseinandersetzung mit dem Landvogt Hinricus hatte. Wizlaw trug eine weinrote Tunika, die ihm bis zu den Füßen reichte und um die Hüfte von einem Gürtel gehalten wurde. Die Goldfäden, die in den Brokat gesponnen waren, funkelten in der Abendsonne. Im Gegensatz zu Hinricus, der nur eine schlichte graue Tunika trug, wirkte Wizlaw wie ein Vogel aus dem Garten Eden. Aber sein Erscheinungsbild passte zu seinem schillernden Wesen. »Wizlaw der Junge« nannte er sich, und seine Minnelieder waren über die Grenzen des Fürstentums Rujana hinweg bekannt.

Jaramir wollte nicht länger lauschen und betrat den Saal. Unter dem Arm trug er den Sack mit dem Bernstein. Er verneigte sich vor dem Fürsten und grüßte ihn.

»Schön, dich zu sehen, Jaramir«, sagte Wizlaw in einem freundlichen Tonfall.

Jaramir lächelte. »Was treibt Euch auf die Burg? Seid Ihr und die Fürstin zur Erholung hier?«

»Margareta ist in Stralsund geblieben. Sie fühlt sich nicht gut. Ich hingegen bin hier, weil der Bernsteinfund in der letzten Zeit erheblich abgenommen hat.« Der Blick des Fürsten verfinsterte sich wieder. Er sah zu dem Landvogt, der sich mit fahriger Hand über den kahlen Schädel rieb. »Hinricus hat keine Erklärung dafür. Hast du vielleicht eine? Du beaufsichtigst doch die Bernsteinsammler. Hast du mal ihre Taschen kontrolliert?«

»Unter ihnen sind keine Schmuggler, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Gewiss liegt es an der ruhigen See in den letzten Wochen.«

Wizlaw winkte ab. »Die See war schon des Öfteren ruhig. Ich kenne die Erträge.«

Dass sich Hinricus von dem Bernstein etwas abzweigte, glaubte Jaramir nicht, denn der Landvogt war ein guter und ehrlicher Mensch. Aber das schien Wizlaw auch gar nicht in Erwägung zu ziehen.

Jaramir löste die Schnüre des Sackes. »Also – die Ausbeute des heutigen Tages würde ich nicht gerade mager nennen.« Er holte den größten der Bernsteine heraus, den er selbst gefunden hatte, und zeigte ihn Wizlaw.

Der Fürst runzelte die Stirn und wandte sich ab. Dann humpelte er ein Stück von den anderen Männern fort und schien nachzudenken. Wizlaw litt an einer Missbildung des Beins, da er als junger Mann bei einem Kirchgang niedergestochen worden war. Er hatte eine falsche Antwort gegeben und dadurch den Missmut eines Mannes auf sich gezogen.

Schließlich richtete Wizlaw den Blick wieder auf Jaramir. »Ich denke trotzdem, die Fischer bereichern sich daran. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Strand auch in der Nacht zu bewachen. Ich lege dir ans Herz, vertrauenswürdige Männer für diese Aufgabe zu finden. Belohne sie reichlich, damit sie nicht in Versuchung geraten, selbst den Bernstein zu stehlen.«

Jaramir fand Gefallen an der Idee. Und bis er die nötigen Wachen gefunden hatte, würde er gemeinsam mit Dragan die Aufsicht über den Strand übernehmen. Er verbeugte sich Abschied nehmend vor dem Fürsten und begab sich in die Schmiede der Burg.

Im Ofen brannte noch ein Feuer und erhellte die Hütte. Jaramir setzte sich auf den Schemel und holte den Bernstein aus seinem Lederbeutel. Der Fürst hatte ihm erlaubt, je vollen Mond einen für sich zu behalten. Jaramir verkaufte die Steine nicht, sondern fertigte Schmuckstücke daraus an. Er griff nach dem Säckchen mit der Schlämmkreide, schüttete etwas in eine Schale und wässerte sie. Dann schliff er den Stein und polierte ihn mit der Paste. Während der ganzen Zeit dachte er an die Bernsteinsammler und konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie sich auf unrechtmäßige Weise bereicherten. Jaramir bohrte ein winziges Loch in den Bernstein, um ihn an einem Geflecht aus silbernen Drähten zu befestigen, die er zu einem Kreis gebogen hatte. Der Stein leuchtete im Schein des Feuers, als Jaramir ihn an eine Kette band. Zufrieden mit seiner Arbeit betrachtete er das Schmuckstück. Vielleicht würde er es der Fürstin schenken, wenn sie ihren Geburtstag feierte.

3

Die Priorin des Klosters Berghen führte ihre Gäste zu der Kapelle, die sich dicht an die Klostermauer drückte. Sie war eine hochgewachsene Frau, und ihr Gesicht, das der weiße Schleier freiließ, war von unzähligen feinen Linien durchzogen.

Antonias Beine zitterten, als sie und Severin der Priorin über den Hof folgten. Die Abendsonne schickte ihre Strahlen über die Klostermauern und erhitzte Antonias Gesicht. In ihrem Magen verspürte sie eine Übelkeit, die sie schwindeln ließ. Sie wollte Vater so nicht sehen, wie sie es sich bereits die Fahrt über in Gedanken ausgemalt hatte.

Hinter den glaslosen Fensteröffnungen der Kapelle flackerte das Licht von Kerzen. Mit jedem Schritt wurde Antonia langsamer. Sie wünschte sich, Severin würde sie bei diesem schweren Gang stützen, doch er verschränkte nur die Hände hinter dem Rücken. Die Tür zur Kapelle quietschte, als die Priorin sie öffnete. Der Geruch von Weihrauch, der Antonia entgegenschlug, verstärkte ihre Übelkeit. Als sie über die Schwelle schritt, bemerkte sie jedoch nicht nur den Weihrauch, auch der süßliche Geruch des Todes mischte sich darunter. Antonia spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, und schluckte gegen den Würgereiz in der Kehle. Dann sah sie den Leichnam ihres Vaters vor dem kleinen Altar aufgebahrt und blieb wie versteinert stehen. Sie hatten Vater in ein weißes Tuch gewickelt und nur sein Haupt freigelassen. Severin fasste nach Antonias Schultern und schob sie näher zu dem Leichnam.

Vater sah so fremd aus! Das Gesicht aufgedunsen und blassgrün. Die geschlossenen Lider wirkten wie zusammengenäht. Kraftlos sank Antonia auf die Knie und legte den Kopf auf den gewickelten Leib. Der Gestank der Verwesung stieg ihr noch eindringlicher in die Nase, und sie glaubte, sich vor der Bahre übergeben zu müssen. Mit letzter Kraft ­erhob sie sich und schwankte aus der Kapelle, wo sie hinter einem Busch den wenigen Inhalt ihres Magens von sich gab.

Die Priorin war neben sie getreten und stützte sie. »Kommt, ich bringe Euch in Eure Kammer, wo Ihr Euch niederlegen könnt.«

Antonia schaute zu der Kapelle zurück. Durch die geöffnete Tür sah sie Severin vor der Bahre knien. Mit dem weißen Umhang und dem dunklen Haar wirkte er wie ein gefallener Engel. Sie wünschte sich sehnlichst, er würde ihr Trost spenden, doch Severin war ihr sehr nah und doch so fern zu­gleich. Wie schon in all den Jahren, in denen er dem Deutschorden diente. Nun war er ihr einziges verbliebenes Familienmitglied, und Antonia fühlte sich so einsam wie nie zuvor.

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und folgte der Priorin ins Gästehaus. Hinter einer kleinen Holztür lag der verwaiste Gastraum. Die Priorin zündete ein Talglicht an und geleitete Antonia zu der Stiege in der hinteren Ecke. Schweigend erklommen sie die Stufen, die zu einem kleinen Flur führten. Von diesem gingen vier Türen ab.

Die Priorin öffnete die erste von ihnen und betrat die Kammer. Durch das kleine Fenster fiel nur spärlich das Abendlicht, so dass sie ein weiteres Talglicht anzündete. Über dem Kopfende des Strohlagers hing ein hölzernes Kreuz. Außer einem Schemel, einem kleinen Tisch und einem Nachttopf gab es kein weiteres Mobiliar, doch die Schlafstätte war mit frischem Linnen überzogen, und das Stroh roch sauber. Antonia spürte das Verlangen, sich darauf niederzulassen, um sich ganz ihrer Trauer hingeben zu können.

Die Priorin sah sie mitleidig an. »Die Bestattung Eures ­Vaters wird morgen nach der Sext stattfinden.«

»Hier? Aber das geht doch nicht! Vaters Leichnam muss heim nach Stralsund«, stieß Antonia voller Entsetzen aus.

»Eine Überführung wird nicht möglich sein. Dazu ist der Leichnam Eures Vaters bereits zu stark verwest. Euer Bruder hat seine Zustimmung gegeben, dass er hier auf dem Kirchhof von Sankt Marien seine letzte Ruhe findet.« Die Priorin wandte sich zum Gehen. »Ich lasse Euch eine kleine Mahlzeit hinaufbringen.« Leise schloss sie die Tür hinter sich.

Fassungslos starrte Antonia die Tür an. Nicht jeden Tag zu Vaters Grab gehen zu können, war für sie unvorstellbar. Wie sollte sie ihm denn unter diesen Umständen angemessen gedenken?

Antonia zog sich bis auf das Unterkleid aus und legte sich auf das Lager. Die kleine Flamme des Talglichts vermochte kaum die Kammer zu erhellen. Lediglich einen flackernden Schatten warf es an die Wand aus grobgezimmerten Planken. Antonias Augen brannten, und sie schloss die Lider. Dennoch wollte das Bild des toten Vaters nicht mehr weichen. Abermals breitete sich Übelkeit in ihrem Leib aus, und sie wusste nicht, wie sie den Schmerz aushalten sollte.

Es klopfte an der Tür. Einen Lidschlag lang hoffte Antonia, es wäre Severin, doch es betrat nur eine junge Ordensschwester die Kammer. Auf einem Tablett brachte sie einen Krug, etwas Brot sowie ein Stück bröckelnden Käse. Sie stellte das Tablett auf den Boden, nickte kurz und verließ die Kammer wortlos wieder.

Antonia erhob sich und griff nach dem Krug. Sie würde zwar keinen Bissen hinunterbekommen, doch ihre Kehle war so trocken wie ein verdorrter Apfel, deshalb füllte sie den Holzbecher mit Wein und trank ihn in einem Zug leer. Der feine Geschmack von Honig legte sich auf ihre Zunge. Antonia goss nach und trank den zweiten Becher ebenfalls leer. Dann legte sie sich zurück und wartete darauf, dass die Schwere, die der würzige Wein versprach, in ihrem Kopf Einzug hielt. Bald darauf vernahm sie erneut Schritte auf der Stiege, die von Lederstiefeln zeugten. Als sie sich ihrer Kammer näherten, stützte sich Antonia mühsam auf die Ellenbogen.

Die Tür öffnete sich, und Severin steckte den Kopf durch den Spalt. Als er sie in ihrem Unterkleid sah, senkte er den Blick.

»Es ist gut, dass du versuchst zu schlafen, Schwester.«

Ehe Antonia etwas erwidern konnte, hatte er die Tür schon wieder geschlossen. Sie bedauerte es, ihre Röcke ausgezogen zu haben. Wie gern wäre sie hinter ihm hergelaufen, um nur ein einziges Mal von ihm in den Armen gehalten zu werden. Doch auch in dieser Stunde bezweifelte Antonia, dass ihr Bruder sich überhaupt dazu überwinden würde. Das hatte er nie getan, nicht einmal als die Mutter gestorben war. Sie schloss die Lider, dachte an die Zeit, die sie mit Vater verbracht hatte, und versuchte, seinen Geruch nach Gewürzen sowie sein warmes Lachen in ihrem Innern heraufzubeschwören.

***

Vom anderen Rheinufer aus gesehen schien es, als würde der Himmel über der Burg Drachenfels in Flammen stehen. Conrad wartete auf das Floß, das ihn übersetzen sollte. Es war die letzte Überfahrt vor Einbruch der Dunkelheit, und Conrad hatte es nur im Galopp noch geschafft, rechtzeitig einzutreffen. Lautlos glitt die Fähre über die Wogen des Flusses, der sich wie ein dunkles Band an dem Gebirge hinter Bonn vorbeischlängelte. Conrads Fuchsstute tänzelte schnaubend neben ihm. Er wusste, das Pferd mochte die Überfahrt nicht. Deshalb klopfte er ihm beruhigend auf den Hals und hielt ihm eine Karotte vor die Nüstern. Nur so ließ sich die Stute auf das schwankende Floß führen.

Der Fährmann verneigte sich vor Conrad. »Seid gegrüßt, Graf von Drachenfels«, sagte er in einem ehrfürchtigen Tonfall. Nachdem er sich wieder erhoben hatte, ließ er das Ruder durch das Wasser gleiten, und das Floß setze zur Überfahrt an.

Die Fuchsstute weitete die Augen, und Conrad gab ihr eine weitere Karotte. Als sie kurz darauf am anderen Ufer wieder festen Boden unter den Füßen hatten, schwang sich Conrad auf das Pferd und ritt den Pfad hinauf zur Burg Drachenfels. Der westliche Hang des Berges war dicht bewaldet, und bald schon würde Conrad nicht mehr die Hand vor Augen sehen können. Insgeheim ärgerte er sich, dass Meister Johannes ihn so lange aufgehalten hatte. Conrad hatte sich mit dem Dombaumeister in Köln getroffen, um die Gesteinslieferungen für die Kathedrale neu zu verhandeln. Wie Conrad fand, war der Stein mehr wert, als gezahlt wurde. Leider hatte sein Gegenüber kein Verständnis für die Erhöhung der Preise gehabt.

Nun, Conrad würde es verschmerzen können, denn dank der Helfer, die er beschäftigte, kam der Abbruch gut voran. Dieser Umstand ermöglichte Conrad, nicht nur den Dombaumeister zu beliefern, sondern auch andere Städte am Rhein, in denen Gotteshäuser gebaut wurden. Dass Conrad auch dorthin seinen Stein verkaufte, wusste Meister Johannes natürlich nicht und der Erzbischof ebenso wenig.

Conrads Groll über den Dombaumeister verflog jedoch schnell, als er an die Begebenheit dachte, die sich nach ihrem Gespräch auf dem Aldemarkt zugetragen hatte. Sie versprach ihm eine weitere lukrative Einnahmequelle. Diese und die Erträge aus dem Steinbruch würden ihn und seinen Bruder Rutger bald schon vor Reichtum stinken lassen. Conrad lachte still in sich hinein – so, wie andere über Rutger lachten. Längst hatte Conrad mitbekommen, dass die Wehleidigkeit seines Bruders in den anderen Grafschaften des Rheinlandes aufs Korn genommen wurde. Doch das Lachen würde den Leuten noch vergehen.

Als Conrad die Wehrmauer auf dem Drachenfels erreicht hatte, pfiff er auf eine bestimmte Art durch die Zähne – ein Zeichen für die Wachmänner, ihm das Tor zu öffnen. Conrad betrat den Burghof und übergab dem Stallmeister seine Fuchsstute.

Die Vorburg auf dem Drachenfels hatte mit ihren kleinen Türmen und Verliesen einst als Kerker gedient. Diese waren jedoch lange nicht mehr in Gebrauch gewesen. Die Hauptburg lag ein wenig tiefer auf einer ummauerten Plattform. Sie bestand aus mehrstöckigen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, die in die Burgmauer integriert waren. Inmitten des Hofes thronte der Wehrturm, durch dessen Fenster man auf das umliegende Land und bis nach Köln schauen konnte.

Conrad war froh, wieder daheim zu sein. Er betrat das Wohnhaus der Herrschaften, das er mit seinem Bruder Rutger, dessen Frau Metza und dem kleinen Friedrich bewohnte. Gewiss war das Abendmahl schon abgetragen worden, doch Conrad würde sich noch eine Köstlichkeit aus der Küche bringen lassen. Bei dem Gedanken daran gab sein Bauch ein gurgelndes Geräusch von sich. Er spähte durch den Türspalt in den Speisesaal, der wie erwartet im Dunkeln lag. Hinter der Tafel befand sich eine Tür, durch die man zu den Kochstellen im Wirtschaftsgebäude gelangte. Conrad nahm eine Fackel von der Wand, durchquerte den Saal und huschte in den Gang, der üblicherweise nur von den Bediensteten genutzt wurde.

Ein letztes Feuer brannte in der Küche. Darüber dampfte es schwach aus einem Kessel, und durch den Raum waberte der Duft von kaltem Braten. Conrad stieß mit der Stiefelspitze unsanft gegen den fülligen Leib der Magd, die neben der Kochstelle schlief. Die Haube war ihr vom Kopf gerutscht, auf dem sich karottenfarbenes Haar lockte. Die Magd schreckte auf und richtete eilig die Haube. Ihre Wangen waren vom Schlaf gerötet.

»He, du faules Stück«, knurrte Conrad, »ich bin hungrig. Bring mir ein üppiges Mahl in mein Gemach. Und zwar bald.« Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Küche.

Als Conrad kurz darauf die Fackeln in seinem Gemach entfachte, klopfte es auch schon zaghaft an der Tür. Er setzte sich auf das Bett, um seine Stiefel auszuziehen, und gewährte Einlass. Doch statt der Magd trat Metza ein.

Conrad hob die Augenbrauen. »Wo ist Rutger?«

Die lindgrüne Seide von Metzas Cotte raschelte, als sie an sein Bett trat. »Er schläft bereits tief und fest. Der Tag hat ihn angestrengt.«

Conrad schleuderte seine Stiefel in die Ecke. »Was soll ich denn sagen? Ich war den ganzen Tag in der Hitze unterwegs, während er hier in den kühlen Mauern gehockt hat.«

»Sieh es meinem Gemahl nach, Schwager. Du weißt, er ist krank.« Metza lockerte die Brustschnüre ihres Kleides und ließ die Seide über ihre Schulter gleiten.

Conrad blickte auf den milchweißen Ansatz ihrer Brüste. »Ich habe wichtige Neuigkeiten für meinen Bruder, die ich ihm gern noch am heutigen Tag mitgeteilt hätte.«

»Und die wären?« Die Schwägerin ließ die Seide noch ein wenig tiefer hinabgleiten, so dass Conrad bereits die rosigen Warzen ihrer Brüste erahnen konnte. Ein Ziehen fuhr durch seine Lenden. Behände löste Metza die Klammern in ihrem Haar. Bei dieser Bewegung rutschte ihr Kleid noch ein Stück weiter hinab. Doch ehe Conrad mehr von ihrer Brust sehen konnte, legten sich die hellen, seidigen Locken darüber. Bei der Vorstellung, welch sündigen Anblick sie verdeckten, sog er zischend den Atem durch die Zähne.

Es klopfte erneut. Erschrocken zog Metza den Ausschnitt hoch.

Conrad grinste belustigt. »Es ist nur die Magd, die mir mein Mahl bringt.«

»Sie darf mich auf keinen Fall bei dir sehen. Ich kenne ihr Schandmaul.« Metza suchte Schutz in der Dunkelheit einer Nische hinter den Truhen.

»Ich hätte schon gewusst, wie ich sie zum Schweigen bringe.« Conrad schaute sich um. Als er sicher war, dass die Dunkelheit Metza verschluckt hatte, öffnete er und nahm das Tablett entgegen. Die Magd machte einen ungelenken Knicks und schloss leise die Tür. Der Duft von gebratenem Fleisch, der aus den Schüsseln stieg, ließ Conrads Magen ­erneut grummeln. Das Ziehen in seinen Lenden war vergessen. Er setzte das Tablett auf seinem Bett ab und ließ sich daneben nieder. Noch bevor Metza aus ihrem Versteck getreten und den Riegel an der Tür vorgeschoben hatte, gruben sich seine Zähne auch schon in den Fasanenschenkel.

Metza setzte sich zu seinen Füßen und legte die Hände auf seine Knie. Fast unmerklich glitten ihre Finger hinauf zu seinem Schritt, wo augenblicklich das Feuer wieder aufloderte. Conrad schob Metza das Haar über die Schulter, damit er ungehindert ihre Brüste betrachten konnte.

»Leg dich zurück in die Kissen, damit ich für dein körperliches Wohl sorgen kann.« Metza erhob sich und stellte das Tablett auf den Boden.

In freudiger Erwartung schwang Conrad die Beine auf das Bett und sank in die Federkissen.

»Schließ die Augen«, flüsterte Metza.

Er gehorchte widerstandslos und hörte die Seide ihres Kleides rascheln, als würde es zu Boden gleiten. Mit eisernem Willen nötigte er sich, die Lider geschlossen zu halten. Metzas nackte Füße huschten über den Steinboden. Kurz darauf spürte Conrad, wie eine kühle Walderdbeere seine Lippen streifte. Er schnappte danach und schluckte sie, ohne zu kauen. Ihn gierte nach einer ganz anderen Frucht. Er öffnete die Augen und riss Metzas nackte Gestalt an sich. Rasch befreite er sein Geschlecht aus der Bruche und schob sich über sie.

Der nächste Morgen brach mit der gleichen sengenden Hitze über den Drachenfels herein wie schon am Tag zuvor. Trotz der Kühle der Burgmauern stand Conrad beim Erwachen bereits der Schweiß auf der Stirn. Seine Hand fuhr über das Laken an seiner Seite. Er musste wohl schon geschlafen haben, als Metza in ihr Gemach und zu Rutger zurückgekehrt war.

Conrad setzte sich auf die Bettkante und rieb sich mit den Fingerknöcheln den Schlaf aus den Augen. Seine Gedanken schweiften zu der Begegnung, die er gestern auf dem Markt von Köln gehabt hatte. Rasch stand er auf und wusch sich das Gesicht mit dem Wasser aus der Waschschüssel.

Im Speisesaal saßen Rutger und Metza bereits an der morgendlichen Tafel, die mit Brot, Käse, Hirsebrei und Früchten gedeckt war. Conrad hatte Rutger vor Jahren geschworen, dass es ihnen hier auf der Burg Drachenfels niemals an irgendetwas mangeln würde. Das war nach dem Tod des Vaters gewesen und bis heute so geblieben. Conrad dachte an das Geschäft, das ihm bevorstand, und wusste, auch in nächster Zeit würde sich an der Völlerei nichts ändern. Er setzte sich zu Rutger und Metza an die Tafel. Die Wangen seiner Schwägerin röteten sich leicht, als sie ihm ein Lächeln schenkte. Rutger hingegen rührte gedankenverloren in seinem Hirsebrei. Im Gegensatz zu Conrad war er hochgewachsen und mager. Gleichgültig, was er aß und trank, er behielt immer seine dürre Gestalt. Die Leute munkelten, Conrad würde ihm die Teller leer essen, ehe der Bruder überhaupt sein Messer in die Hand genommen hatte. Das stimmte natürlich nicht, aber Conrad blieb angesichts des Geredes gelassen. Mitleid bekam der Mensch geschenkt, Neid hingegen musste er sich erarbeiten.

Conrad legte die Hand auf Rutgers Schulter. »Was bedrückt dich, Bruder?«

Endlich schaute Rutger auf. Mit seinen 38 Lenzen war er nur drei Jahre älter als Conrad, dennoch hatten sich bereits tiefe Falten um seine Augen gegraben. Auch sein Haar war nicht mehr aschblond wie Conrads, sondern grau wie das Fell eines Esels. Rutger trug das Haar in der Mitte streng ­gescheitelt und hinten zu einem Zopf gebunden. Conrad ­jedoch stutze sein Haar bis zur Schulter und ließ es fallen, wie es wollte.

Rutger legte den Löffel in die hölzerne Schale. »Ich sorge mich.«

»Weshalb?«, fragte Conrad und befürchtete, dass dies wieder einer der Tage war, an denen Rutger die Melancholie überfiel.

»Ich sorge mich, uns könnte das Geld ausgehen.« Rutger blickte auf die Tafel. »Sieh nur den reichlich gedeckten Tisch. Niemals können wir drei das alles essen. Wir sind viel zu verschwenderisch. Oder etwa nicht?«

Conrad stieß einen Seufzer aus und wandte sich seinem Bruder zu. »Was wir nicht verspeisen, essen die Bediensteten. Und was die nicht schaffen, bekommen die Schweine in den Trog. Was kümmert es dich? Es ist genug von allem da, und uns wird so schnell nichts ausgehen.«

»Das sagst du nur, um mich zu beruhigen.« Rutger schob die Schale von sich.

»Nein, das sage ich nicht, um dir Honig ums Maul zu schmieren, sondern weil ich zum Beispiel gestern eine weitere Geldquelle aufgetan habe.« Bald schon würde der Schwermut des Bruders vergehen, dessen war sich Conrad sicher. Er sah zu Metza. »Würdest du uns bitte allein lassen?«

Seine Schwägerin kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, wohl um einen boshaften Kommentar zu unterdrücken. Dann schüttelte sie missbilligend den Kopf und verließ den Saal.

Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, legte Conrad die Hand auf Rutgers Arm. »Du weißt doch, wir werden nie Hunger leiden müssen. Allein durch den Steinbruch, der dank unserer tatkräftigen Männer mehr denn je abwirft, verdienen wir reichlich. Und glaube mir, so rasch ist der neue Dom zu Köln nicht fertiggestellt. Da braucht es noch unzählige Floßladungen voll Steinquader, die noch unseren Enkeln und deren Kindern Reichtum verschaffen werden.«

Rutgers fahrige Hände, mit denen er die ganze Zeit den Saum seiner Tunika geknetet hatte, wurden ruhiger. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr seiner Kehle. Ein wenig bebte seine Unterlippe noch, aber wie Conrad wusste, würde auch das gleich nachlassen.

Tag für Tag musste Conrad dem Bruder die Sorge nehmen. Warum ihn diese Nöte allerdings plagten, war Conrad ein Rätsel. Wahrscheinlich lag es an seinem Geist, der nicht besonders helle war.

Conrad brach sich ein Stück Brot ab und steckte es in den Mund. Nachdem er es geschluckt hatte, war Rutger so ruhig, dass er ihm endlich die Neuigkeiten eröffnen konnte.

»Gestern hatte ich auf dem Marktplatz eine Begegnung mit einem Händler«, erzählte er. »Mit einem Bernsteinhändler, musst du wissen.«

Aufmerksam blickte Rutger ihn mit seinen dunkelblauen Augen an. »Bernstein?«

»Ja, richtig. Die Preise dafür sind immens. Der Mann schleift die Steine und fertigt daraus Rosenkränze und Schmuckstücke an. Leider fehlt es ihm oft an Rohlingen, denn der Deutschorden hält das Monopol im Bernsteinhandel. Und der Orden berechnet gesalzene Preise, wie du dir vorstellen kannst.«

Rutger verstand wohl, denn er nickte. »Dann darf der Mann in Wahrheit also gar nicht mit dem Bernstein handeln.«

»Laut dem Bernsteinregal nicht, da hast du recht. An seinem Stand bietet er deshalb Kramwaren an, aber unter der Hand verkauft er den Bernstein.«

»Und von wem bekommt er den ungeschliffenen Stein?« Rutger nahm seinen Löffel wieder auf und aß etwas von dem Brei.

»Das ist es ja. Hier und da trifft er auf einen Schmuggler. Doch der Orden wacht streng über die Strände des Ordenslandes. Von daher wird es für die Schmuggler zunehmend schwieriger, an den Bernstein zu kommen.«

»Und was haben wir damit zu schaffen?«

Conrad grinste breit. »Das Stichwort ist Rujana. Die Insel unterliegt dem dänischen König. Mit Sicherheit wacht dort niemand so streng über das Gold der Ostsee wie der Deutschorden an seinen Stränden.«

In Rutgers Stirn gruben sich tiefe Falten.

Conrad versuchte seine Besorgnis mit einem Lächeln wegzuwischen. »Wir reisen nach Rujana und sammeln dort den Bernstein am Strand, als wären es Muscheln.«

»Warum macht der Mann das nicht selbst?«

»Weil ihm die Kogge dazu fehlt. Und da wir eine besitzen, liegt es doch nahe, ihm zu helfen. Oder meinst du nicht?«

Rutger biss sich auf die Unterlippe. »Wir werden am Galgen landen.«

»Ach, was. Wir doch nicht.« Gelassen streckte Conrad die Beine unter dem Tisch aus und nahm sich eine Traube vom Teller. »Gleich morgen machen wir uns auf den Weg nach Rujana und beschaffen dem Mann eine ordentliche Fracht Bernstein.«

Rutger sprang von seinem Stuhl auf und fasste sich an die Brust. »Da ist es wieder! Dieses Herzrumpeln!«, schrie er mit weit aufgerissenen Augen und krallte die Finger in Conrads Arm. »Ich will nicht sterben. So hilf mir doch!«

Conrad stand auf und legte die Hand auf seine Schulter. »Beruhige dich, Bruder. Es geht vorbei, das weißt du doch.«

Rutger ließ den Kopf hängen und atmete in tiefen Zügen.

»Geht es wieder?«, fragte Conrad besorgt. Seit dem letzten Winter, als Rutgers kleiner Sohn Friedrich fast an einem Fieber gestorben war, hatte der Bruder diese Herzbeschwerden, die so schnell auftraten, wie sie wieder verschwanden. An manchen Tagen blieben sie sogar ganz aus, doch in der letzten Zeit häuften sie sich.

»Wir müssen mit unserer Reise noch warten.« Rutger krümmte sich keuchend. »Ich muss zur Ader gelassen werden.«

Conrad winkte ab. »Nein, danach fühlst du dich nur elender als zuvor. Seitdem du alle naselang blutleer bist, haben sich deine Beschwerden verschlimmert. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«

»Nein! Irgendwann bleibt mein Herz stehen, verstehst du das nicht? Ich habe solche Angst davor.«

Conrad nahm die Hand von Rutgers Schulter und setzte sich wieder an den Tisch. »Du musst einfach mal etwas ­anderes sehen und dich endlich von deinen unbegründeten Sorgen ablenken. Wir reisen morgen früh ab. Die Seeluft wird dir guttun, glaube mir. Und nun iss etwas, damit du zu Kräften kommst.

Rutger gehorchte und ließ sich ebenfalls nieder. Als er nach dem Löffel griff, zitterten seine Finger so sehr, dass dieser ihm erneut aus den Händen fiel.

Conrad nahm den Löffel vom Tisch, tauchte ihn in die Schale und begann, seinen Bruder zu füttern.

4

Als der Morgen graute, glaubte Antonia, gerade erst eingeschlafen zu sein. Lange hatte sie in der Nacht wachgelegen und um den Vater geweint. Irgendwann war sie dann wohl doch in den Schlaf gefallen, der ihr jedoch wirre Träume beschert hatte. Der tote Vater war in das Haus in Stralsund zurückgekehrt und hatte sich dort im Kontor an das Schreibpult gesetzt. Er hatte nach Verwesung gerochen und genauso ausgesehen wie in der Kapelle.

Antonias Hals brannte, und ihre Augen fühlten sich leergeweint an. Mit bleiernen Gliedern erhob sie sich aus dem Bett. Es klopfte an der Tür, und die Betschwester brachte ihr das Frühmahl, das lediglich aus einem Mehlbrei sowie einem Krug Bier bestand. Antonia verspürte immer noch keinen Hunger. Sie trat an den Waschtisch und wusch sich von Kopf bis Fuß mit dem Wasser aus der Waschschüssel. Wie würde ihr Leben wohl fortan aussehen? Immer noch war sie keinem Mann versprochen. Vater hatte mit seiner Entscheidung bis zum nächsten Frühjahr warten wollen, um die bestmögliche Verbindung für das Haus Koppler zu finden. Was sollte nun aus ihr werden? Antonia trocknete sich mit einem Tuch. Nach dem Tod des Vaters war Severin jetzt ihr Vormund. Insgeheim hoffte sie, er würde aus dem Orden austreten und nach Hause kommen. Doch so recht glaubte sie nicht daran.

Sie verließ die Kammer und suchte den Klostergarten auf, um dort auf die Bestattung des Vaters am Mittag zu warten. Die Äste der Bäume bogen sich unter dem Gewicht der sattroten Äpfel. Um die, die bereits zu Boden gefallen waren, surrten Wespen und labten sich an dem Fruchtfleisch. Auch an diesem Morgen schien die Sonne ungehemmt vom Himmel und erhitzte die Luft, die nach Gräsern und Blüten roch. Antonia setzte sich in den Schatten eines Apfelbaumes. Da hörte sie hinter sich das Gras rascheln und wandte sich um. Severin kam auf sie zu und hockte sich neben sie. Auch heute trug er seinen weißen Umhang mit dem schwarzen Kreuz, den sie von Tag zu Tag mehr verfluchte.

Antonia sah ihn böse an. »Wie konntest du nur zustimmen, dass Vater hier auf der Insel bestattet wird? Sein Leichnam gehört nach Stralsund, damit ich jeden Tag an seinem Grab beten kann.«

»Seine Leiche ist bereits zu stark verwest. Kein Fährmann hätte uns übergefahren. Außerdem bin ich mir sicher, dass du nicht in Stralsund bleiben wirst.« Severin fuhr sich mit der Hand über seinen Bartschatten.

»Was soll das heißen?«

»Dass ich mich nicht um das Haus kümmern kann. Entweder finden wir schleunigst einen Bräutigam für dich, oder wir müssen es verkaufen und mit dem Erlös deine Mitgift für ein Kloster sichern.«

Antonia sprang auf. »Sagtest du gerade Kloster?«

»Ja, sicher. Was ist daran so verwerflich?« Severin betrachtete seine Fingernägel.

»Vater ist noch nicht einmal unter der Erde, und du willst mich schon loswerden! Du bist einfach nur herzlos! Der Orden ist dir wichtiger als deine Familie.«

Severin schüttelte den Kopf. »Das stimmt so nicht. Aber ich habe vom Handel zu wenig Ahnung, als dass ich Vaters Geschäfte weiterführen könnte. Es bleibt mir keine andere Wahl.«

»Wir könnten eine Weile von Vaters Vermögen leben, bis ein Bräutigam für mich gefunden ist.«

»Ja, vermutlich könnten wir das.« Severin hob die Schultern. »Aber der Orden erlaubt mir keine längere Abwesenheit. Du weißt, ich habe einen Schwur geleistet.«

»Der Orden! Ich höre nichts anderes mehr!« Antonias Stimme wurde lauter. »Eher sterbe ich, als ins Kloster zu gehen!«

Severin erhob sich und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Nun beruhige dich doch. Ich habe nicht gesagt, dass dies ­alles morgen geschehen wird. Nach Vaters Bestattung suchen wir ein Gasthaus in der Nähe der Küste, wo du dich einige Tage erholen kannst. In dieser Zeit werde ich mir Gedanken machen, wie es mit dir weitergehen soll.«

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.