Die Schlacht um Paris - Armin von Hohenstein - E-Book

Die Schlacht um Paris E-Book

Armin von Hohenstein

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Beschreibung

Der deutsche Heeresbericht meldet: Einkesselung von Verdun abgeschlossen, Vormarsch nach Westen geht weiter. Großes Hauptquartier, 18. Februar 1919. Westlicher Kriegsschauplatz: Am dritten Tag der Frühjahrsoffensive konnte der deutsche Vormarsch planmäßig fortgesetzt und weitere Geländegewinne erzielt werden. Nach dem großen Durchbruch an der Westfront bei Stenay gelang es, den Großraum Verdun vollständig einzukesseln, nachdem sich die Spitzen der beiden deutschen Armeen in St. Mihiel vereinigt hatten. Die Hauptlast dieses großangelegten Umfassungsmanövers trugen die gepanzert-motorisierten Verbände, allen voran die 5. Panzer-Eskadron und das 2. Kastrup-Panzerbegleitbataillon. Im Kessel sind nun mehrere feindliche Armeen eingeschlossen. Darüber hinaus konnte auch der Vormarsch in Richtung Westen fortgesetzt werden. Der Erste Generalquartiermeister Ludendorff

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Kaiserfront Extra

 

 

Band 1

Die Schlacht um Paris

 

von

Armin von Hohenstein

Inhalt

Titelseite

Kapitel 1: Die Ruhe vor dem Sturm

Kapitel 2: Des Fähnrichs Feuerprobe

Kapitel 3: Ziel erkannt, Kräfte gespannt!

Kapitel 4: Unternehmen Cherusker

Kapitel 5: Die große Kesselschlacht

Kapitel 6: Paris!

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Impressum

Kapitel 1: Die Ruhe vor dem Sturm

Kiel, 1.11.1918

 

»Das ist die Ruhe vor dem Sturm …«, hatte der liebenswerte Mensch, mit dem er die Notunterkunft teilte, noch gebrummelt, bevor er selig, tief und fest eingeschlafen war. Seitdem sägte der bärtige bayrische Unteroffizier vor sich hin, als ginge er in den heimischen Wäldern mit großangelegten Holzfällerarbeiten zu Werke; der Zufall wollte es, dass Feldwebel Sepp Edmayr im Zivilberuf tatsächlich Forstarbeiter war.

Ruhe vor dem Sturm? Von wegen!, seufzte der Fähnrich in Gedanken. Dennoch ging das königlich-bayrische Schnarchen fast vollständig in dem Sturm unter, der draußen tobte: Unablässig peitschte und prasselte der Regen gegen die Fenster, die zum Glück klein genug waren, um nicht von den Windböen, die mit enormer Wucht von der Ostsee auf die Küste zurasten, eingedrückt zu werden. Nein – das war alles andere als die Ruhe vor dem Sturm! Das war ein Sturm, der dem blutjungen Fähnrich vom Gott Donar persönlich geschickt wurde, so dachte er bei sich, als Vorbote dessen, was da auf ihn, seine Truppe und das ganze Deutsche Reich in den nächsten Tagen und Stunden zukommen sollte …

Fähnrich Hans von Dankenfels konnte vor lauter Anspannung kein Auge zutun, zu groß war seine innere Unruhe, die durch das Toben der entfesselten Naturgewalten draußen eine unwirkliche Begleitmusik bekam. Der morgige Tag würde wohl der Tag der Wahrheit für ihn sein, denn er würde vielleicht seine Feuertaufe, vielleicht seine soldatische Bewährung, vielleicht aber auch … seinen Tod bringen? Vor dem Tod fürchtete er sich nicht – zu natürlich und notwendig schien ihm dieser als Ordner allen Lebens auf der Erde zu sein. Wenn es an der Zeit wäre, würde ihn Freund Hein schon holen, da war er unbesorgt. Auch vor seiner soldatischen Bewährungsprobe fürchtete er sich nicht, auch wenn er Respekt vor seiner Aufgabe als Kommandant eines Zuges hatte. Mulmig wurde ihm und wohl allen seiner Kameraden bei dem Gedanken, morgen vielleicht auf Matrosen schießen zu müssen. Vielleicht gar noch auf Zivilisten? So wie bei der Niederschlagung der Unruhen in Folge des Januarstreiks. Oder auf Kameraden in Feldgrau? Der Gedanke an einen blutigen Bürgerkrieg belastete ihn wie jeden anderen Angehörigen der neuaufgestellten »Kaiserlichen Schutztruppe« (KASTRUP) auf das Äußerste. War das nicht ein Widerspruch in sich? War die Truppe nicht mit dem erklärten Ziel ins Leben gerufen worden, jeglichen Versuch einer Revolution schon im Keim zu ersticken? Ja – aber das war nun einmal leichter gesagt als getan; auch wenn die junge Garde des Kaisers neben der militärischen Ausbildung auch Wert auf intensive ideologische Schulung legte. Sie sollten geistig und eben nicht nur militärisch auf ein mögliches Eingreifen im Inneren des Reiches vorbereitet werden. Der Gründer und Kommandeur der KASTRUP, General von Lindenheim, hatte einmal von »Weltanschauungskriegern« gesprochen, die in der Lage sein müssten, nicht nur alle äußeren, sondern auch alle inneren Feinde abzuwehren. Dementsprechend waren sie nicht nur auf die militärischen Erfordernisse des Häuserkampfes vorbereitet worden, sondern man hatte ihnen eingeschärft, dass bei möglichen militärisch geführten Auseinandersetzungen im Inneren nur eines zählte: der Befehl! Von bedingungsloser Pflichterfüllung und Gehorsam würde in dieser Lage der Fortbestand von allem abhängen, was ihnen heilig war. Dennoch … dennoch war es nicht so einfach auf andere Deutsche – auf Landsleute, auf die eigenen Brüder zu schießen. Der blutjunge Fähnrich wusste aber, dass er es tun müsste, wenn der Befehl käme – so wie seine Kastrup-Kameraden im Januar, als sie das erste Mal eingesetzt wurden, um die Ordnung im Inneren des Reiches wieder herzustellen. Die Niederschlagung der Unruhen kostete Tausende das Leben – und brachte der neuaufgestellten Kastrup im Volke den wenig schmeichelnden Beinamen »Bluthunde des Kaisers« ein.

Von Dankenfels hatte schwer mit sich zu ringen, obwohl er äußerlich völlig ruhig und mit offenen Augen dalag. Letztendlich kam er immer wieder zu dem Schluss, dass dieser Schierlingsbecher geleert werden musste; und wenn es denn nötig sei, dann bis zum letzten Tropfen und ohne dabei eine Miene zu verziehen. Er versuchte sich für das, was da kommen mochte, Mut zu machen und rezitierte immer wieder Sätze des Philosophen Friedrich Nietzsche. Schon als Primaner begeisterte er sich für Nietzsches »Zarathustra«; wie elektrisiert war er, als er damals das erste Mal den Begriff »amor fati« hörte und in einem Sekundenbruchteil begriff, dass diese Liebe zum Schicksal nur eine totale sein konnte und keinerlei Kompromisse zuließ. So war es für ihn – wie auch für seine Familie – selbstverständlich, sich freiwillig zu den Waffen zu melden, praktisch von der Schulbank weg. »Dein Abitur kannst Du problemlos später nachholen, jetzt sieh erst mal zu, dass wir den Krieg nicht verlieren«, hatte sein Vater ihm gesagt, nachdem Hans’ Entschluss, einzurücken, bei seiner Mutter erwartungsgemäß nicht auf Gegenliebe gestoßen war. Sein alter Herr war alles andere als ein Hurra-Patriot; er war erfüllt von echter, tiefer Vaterlandsliebe, aus der auch die Sorge sprach, den Krieg zu verlieren. Denn die Lage stand nicht zum Besten im vierten Jahr des Völkerringens.

Baron Lothar von Dankenfels hatte einst noch die Uniform des Zaren getragen, jedoch seinen Abschied genommen, als sich die allgemeine Lage der Baltendeutschen in Russland im ausgehenden 19. Jahrhundert zusehends verschlechterte. Er empfand die Russifizierungspolitik ebenso ungerecht wie undankbar, angesichts dessen, was die Deutschen für das Zarenreich geleistet hatten. Er sah daher für die Deutschen im Baltikum, das sie seit rund 700 Jahren besiedelt und geprägt hatten, keine Zukunft mehr. Der Baron nutzte eine für ihn günstige Gelegenheit, als es galt, das Erbe eines kinderlosen Onkels im Erzgebirge anzutreten, um mit seiner Familie den Weg ins Reich anzutreten. Zugleich verkaufte er schweren Herzens sein Landgut auf der Insel Ösel und wagte in Sachsen einen unternehmerischen Neuanfang, als er ein Sägewerk aufbaute, um das Holz der Wälder des alten Rittergutes Eberstein direkt verarbeiten zu können. Für seinen Sohn bedeutete dies das Ende einer unbeschwerten Kindheit auf der Insel, die bei dem estnischen Gesinde Saaremaa hieß. Zwar mangelte es ihm auch auf Eberstein nicht an materiellen Dingen, dennoch war es eben nicht sein Zuhause, in dem er geboren worden war, in dem er seine Spielkameraden gehabt hatte, mit denen er sorglos zu Lande und im Wasser herumgetollt war. Die kleinen Knirpse liebten es schon mit vier oder fünf Jahren, »Ritter« zu spielen; es war eine kleine Märchenwelt, in der sie da am Ostseestrande lebten. Und die in Sichtweite befindliche Arensburg sorgte dafür, dass sie diese Märchenwelt als sehr real empfinden mussten. Waren sie denn etwa keine Ritter? Großvater erzählte ihnen doch an langen Winterabenden immer von der Geschichte des Deutschen Ordensstaates und dass auch unter ihren Vorfahren Ordensritter gewesen waren. Immer wieder las er ihnen von Hermann von Salza und den vielen anderen großen Gestalten des Deutschen Ritterordens vor. Mit sieben Jahren wurde er jäh aus dieser vertrauten, kindlichen Märchenwelt fortgerissen …

Wie sehr wünschte er sich gerade jetzt, in den quälenden Stunden der Ungewissheit vor seiner großen Bewährungsprobe, in dieses Gefühl trauter Kindheitserinnerungen zurück. Wohlig warm war in dieser Novembersturmnacht nichts und traut in dieser Notunterkunft, einem Büro eines kurz zuvor geschlossenen und requirierten roten Verlagshauses, ebenso wenig. Zwar waren die Büroräume, in denen Offiziere und Unteroffiziere Quartier bezogen, nicht ganz so unbequem wie die große Lagerhalle, in der die Mannschaften ihren Schlafraum bezogen hatten – das war aber auch schon alles. Unablässig peitschten und prasselten Sturm und Regen an die Fenster und erzeugten jene so eigenartige Atmosphäre, die dazu angetan ist, Menschen in Gedanken in andere Zeiten und Orte zu tragen. Wahrscheinlich war es die Kälte, die dem jungen Fähnrich mittlerweile in alle Glieder kroch und so die Aufmerksamkeit seines geistigen Auges mit dem real vorhandenen Bedürfnis nach Wärme verband und ihn in Gedanken an den Kamin im elterlichen Hause versetzte: Die mächtige, sich nach oben hin verjüngende Esse bildete den unbestrittenen Mittelpunkt der Eingangshalle, die aufgrund ihrer Größe genauso gut als Kaminzimmer hätte tituliert werden können. Die mit Backsteinen ummauerte Feuerstätte war Anziehungspunkt für jegliche Art von Besuch, genauso wie für die eigene Familie. Wie alle liebte auch Hans diesen Platz am offenen Feuer, der für ihn zugleich einer der wenigen wirklich heimeligen Plätze in der neuen Heimat war und den jungen Baron in Erinnerung an glückliche Kindheitstage auf Ösel schwelgen ließ …

Vor seinem geistigen Auge entstanden das flackernde Feuer am offenen Kamin und die Teilnehmer jener Jagdgesellschaft im Herbst letzten Jahres; jener Abend, der sich ihm tief ins Gedächtnis eingebrannt hatte, und der seinen weiteren Lebensweg noch nachhaltig beeinflussen sollte … Heimelig war es an jenem Abend beileibe nicht gewesen. Es war eine eigenartige Stimmung damals – irgendwie aufgewühlt, irgendwie gespannt und unheimlich tiefgründig. Das war keine wirkliche Jagdgesellschaft, das war ein Herrenabend der besonderen Art, denn trotz mehrerer geschossener Rehböcke befand man sich in keiner ausgelassenen Stimmung. Das Kriegsgeschehen an allen Fronten wurde diskutiert, der geheimnisvolle Thronwechsel und die vielen anderen schwer verständlichen Ereignisse dieses Jahres bis hin zu den jüngsten Nachrichten von einer »roten Revolution« in Russland – oder waren das doch nur Gerüchte?

Wie immer war es sein Vater gewesen, der als Hausherr ganz gerne derartige Kamingespräche mit einigen einleitenden Worten eröffnete: »Meine Herren, wenn mir einer von Ihnen letztes Jahr all das, was wir in diesem Jahr erlebt haben, detailliert vorhergesagt hätte, wäre er von mir wohl zum Arzt geschickt worden.« In der Zuhörerschaft machte sich ein allgemeines Schmunzeln und Kopfnicken breit. Der baltische Baron räusperte sich unmerklich, um dann länger und umfassender auszuholen: »Das Kriegsjahr 1917 hat militärisch wiederum völlig neue Lagen mit sich gebracht. Der Kriegseintritt der Amerikaner auf der einen, der Sturz des Zaren auf der anderen Seite, bieten neue Risiken und Chancen. Wir müssten unsere Chancen mitten im Kriege zu einer neuen europäischen Friedensordnung wahrnehmen, die an die Hochzeit des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation anknüpfen könnte. Sollte Russland endgültig zusammenbrechen, müsste die Gunst der Stunde genutzt werden und den Völkern zwischen weißem und schwarzem Meer die Freiheit geschenkt werden. Auf gleicher Augenhöhe würde es diesen dann möglich sein, als Bündnispartner ihren Platz in einem Reichsverband zu finden. Freie Völker aus freien Stücken unter einem gemeinsamen Dach – und im Kern das Reich aller Deutschen. Wäre das nicht eine Botschaft an die Welt?«

»Zumindest wäre es auch der späte Sieg der Revolutionäre von 1848 – und der von ihnen geforderten großdeutschen Lösung; aber bitte ohne die Habsburger«, merkte Dr. Eckert an.

»Dieser Krieg«, fuhr Lothar von Dankenfels fort, »hat es bei aller Grausamkeit erst möglich gemacht, meine Herren. Nun liegt es an uns, ›den Mantel des Schicksals‹ zu fassen, wie Bismarck es formuliert hat.« Bei diesem letzten Satz öffnete der Baron beide Hände, während er sie zugleich auf ein imaginäres Ziel vor ihm zu bewegte, als wolle er den Mantel des Schicksals selber zu fassen kriegen; doch er schien zu zögern und wollte nicht zupacken. Stattdessen legte er eine bedeutungsschwere Pause ein, um danach fast stimmlos fortzufahren: »Mögen die Götter unserem neuen Kaiser beistehen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert, wenn wir diesen Krieg nicht gewinnen …«

Am offenen Feuer des Kamins schwebte über diesem guten Dutzend deutscher Männer, Landadligen, Unternehmern und Angehörigen des Bildungsbürgertums spürbar an diesem Abend die eine Frage: »Was passiert, wenn wir diesen Krieg nicht gewinnen?« Jedem war klar, dass dieser Krieg aufgrund seines Ausmaßes mit nichts zuvor in der Geschichte vergleichbar war – aber was bedeutete das letztlich für jeden Einzelnen, wenn das Deutsche Reich unterliegen würde? War es so, wie Vater und andere Adlige fürchteten, dass eine Niederlage das Ende der Monarchie und damit auch den Verlust ihrer Stellung bedeuten würde? Wäre gar eine Revolution ähnlich der französischen 1789 in Deutschland denkbar? Das konnte doch nicht sein – das durfte einfach nicht sein. »Deshalb müssen wir diesen Krieg gewinnen – koste es, was es wolle!«, hatte der Sohn des Barons trotzig in die Runde gerufen und damit anerkennende Blicke und Kopfnicken geerntet. Dieser Krieg, das wusste er und so hatte er es jetzt auch in den letzten Monaten und Wochen gehört, würde wohl alles entscheidend sein. Aber »alles entscheidend« – hieß das nicht auch, dass alle Faktoren entscheiden würden? Würde dieser Krieg denn wirklich nur an der Front entschieden und nicht auch an der Heimatfront – im Hinterland? »Dieser Krieg wird nicht nur militärisch, sondern auch ideologisch entschieden«, hörte er noch die Stimme seines alten, scharfsinnigen Lateinlehrers Dr. Eckert, einem gern gesehenen Gast bei den Herrenabenden auf Gut Eberstein. »Dieser Eindruck drängt sich mir jeden Tag ebenfalls immer mehr auf«, bekräftigte der Unternehmer Wilhelm Fuchs, dessen Textilbetrieb bereits bei Ausbruch des Krieges für das Heer produziert hatte und nun ganz auf Zulieferbetrieb umgestellt und mit dementsprechend großer Belegschaft aufgestockt wurde. »Die roten Agitatoren werden jeden Tag frecher. Und das sind schon längst nicht mehr nur die Sozis, sondern noch radikalere Elemente, die da dieses Jahr aufgetaucht sind: Spartakisten und ähnliches Gesindel …« Fuchs, ein energischer, wenn auch manchmal etwas ungehobelter Mann, machte eine verächtliche Handbewegung.

»Trotzdem nimmt der Einfluss dieser Leute immer mehr zu, und das wohl nicht nur in Sachsen«, sagte Peter Forstmeier, Geschäftsführer einer Zwickauer Munitionsfabrik. »Je länger der Krieg dauert, umso schwieriger wird es, die Arbeiter bei der Stange zu halten. Wir alle wissen, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen schlecht sind, weil wir Krieg haben.« Forstmeier, der ein sehr ruhiger, jedoch immens fleißiger Mann war, starrte für einen Moment ins Kaminfeuer, schnaufte dann tief durch, und sagte: »Wir stecken in einem echten Dilemma. Ich bin überzeugt, wenn an einem Ort größere Streiks oder Unruhen ausbrechen, könnte das sehr schnell Schule machen – und dann gerät die Heimatfront ins Wanken. Wenn erst einmal die Rüstungsbetriebe lahmgelegt sind, versiegt der Nachschub für die Front binnen kürzester Zeit. Dann können unsere Feldgrauen nur noch die weiße Fahne hissen …«

Sein Blick suchte jenen von Major von Bückow, der nach seinen schweren Verwundungen bei Verdun nun primär als Verbindungsoffizier des Heeres zu kriegswichtigen Betrieben Verwendung fand. »Ob die Brisanz dieser Problematik unserem neuen Kaiser und der OHL wohl bewusst ist?«

Der Major versuchte erst gar nicht, der Frage auszuweichen, auch wenn sie nicht explizit an ihn gerichtet war. »Natürlich ist sie das. Die Nachrichten sind ja aus allen Bereichen mehr oder weniger gleichlautend. Tagtäglich kommen massenhaft Beschwerden und regelrechte Hilferufe wegen der schlechten Versorgungslage im Großen Hauptquartier an. Nicht nur wir, die direkt und indirekt mit der Rüstungsindustrie zu tun haben, wissen, wie die Arbeiter, vor allem aber die Frauen und die Kinder in der Heimat, zu leiden haben. Auch seine Majestät ist über die Zustände genauestens informiert. Dennoch kann weder er noch die OHL zaubern.« Von Bückow machte eine wohlüberlegte Pause, in der die Spannung unter seinen Zuhörern spürbar war, was noch durch das leise Knistern des Feuers im Hintergrund verstärkt wurde. »Dennoch wird es praktisch unmöglich sein, die Versorgungslage im Kriege zu bessern – am ehesten noch durch großflächige Raumgewinne in Russland. Dann wäre auch die Verfügungsgewalt über landwirtschaftlich intensiv genutzte Gebiete gegeben. Doch selbst wenn wir Russland völlig niederringen und Kontrolle über seine Kornkammer, die Ukraine, erlangen, wird auch dort erst im nächsten Sommer wieder geerntet. So sehr dieser Krieg auch mit der Heimatfront steht und fällt, im Moment kann unsere vorrangigste Aufgabe – neben dem Aufbau eines wirkungsvollen Propagandaapparates, der der Zersetzungsarbeit im Reiche endlich entgegenwirkt – nur sein, die innere Ordnung mit eiserner Hand aufrechtzuerhalten und jegliche Form von Unruhen schon im Keim zu ersticken! Genau deshalb wurde auch von seiner Majestät im September die Aufstellung der KASTRUP befohlen, um jeglicher Form der Wühlarbeit der Roten und anderer Reichsfeinde wirkungsvoll und mit allen Mitteln begegnen zu können. Die unter dem Kommando von General von Lindenheim stehende Truppe soll bereits zum Jahreswechsel einsatzbereit sein und annähernd über Divisionsstärke verfügen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass dieser ganze Defätismus nicht nur mit der schlechten Versorgungslage, sondern auch mit dem Zusammenspiel der inneren und äußeren Feinde des Reiches zu tun hat.«

Fuchs sah im Feuerschein des Kamins schon ein Menetekel und schluckte, als er die Frage stellte: »Würde diese neue Truppe denn auch fähig sein, auf meuternde Soldaten zu schießen?«

»Wenn es sein muss – «, antwortete von Bückow ernst, aber emotionslos, »ohne Rücksicht auf Verluste. Die KASTRUP, das muss jedoch gleich dazugesagt werden, ist keine bloße Prätorianergarde – sie ist eine Eliteeinheit, die auf einem neuen Ethos beruhen soll.« Von Bückows Worte hatten ihn damals am Kaminfeuer wie ein Blitz getroffen: Wie die Elementarkraft des die Dunkelheit ausleuchtenden Blitzes wusste Hans von Dankenfels in diesem Moment: Das ist meine Truppe! Wenige Tage danach, an seinem 17. Geburtstag, meldete er sich freiwillig.

*

Berlin, 2.11.1918

 

Die Kaschemme in einer kleinen Seitengasse eines übelbeleumundeten Kiezes im Wedding war an diesem trüben Novembertag nicht einladender als an jedem anderen Tag des Jahres. Für die wenigsten Berliner wäre sie wohl an irgendeinem Tag einladend gewesen; dennoch war sie an jenem Abend proppenvoll. Die Spartakisten hatten sich eingefunden, und es lag eine sonderbare Spannung in der Luft: Es sollte wohl wieder einer dieser Werbeabende für den Spartakusbund abgehalten werden, mit viel Schnaps, roten Agitatoren, die sich in Rage redeten, wenn sie ihre Revolutionsfantasien ausbreiteten und inbrünstig von der Diktatur des Proletariats schwärmten. Seit einem Jahr schon lief das nach immer dem gleichen Schema ab – seit einem Jahr, als für die Kommunisten eine neue Zeitrechnung begonnen hatte, als die bolschewistische Oktoberrevolution in Russland die Erde erzittern ließ. Seitdem hielten die marxistischen Menschheitsbeglücker ihre Stunde für gekommen, musste doch jetzt nur noch das russische Modell nachgeahmt und Sowjetdeutschland verwirklicht werden. Doch so einfach schien die Sache im Deutschen Reich nicht: Der neue Kaiser schien geschickter zu sein als sein Vorgänger und wild entschlossen, die Monarchie zu verteidigen. Gerade der Schock vom Januar, als das Militär rigoros gegen Streikende in der Rüstungsindustrie vorgegangen war, brannte sich tief in das Bewusstsein der Arbeiterschaft ein. Dennoch war man an diesem Abend wieder einmal zusammengekommen, um zu hören, wie es weitergehen sollte und wann sich endlich etwas änderte, in ihrem erbärmlichen Leben.

»Genossinnen und Genossen«, versuchte sich plötzlich jemand in der amorphen Geräuschkulisse Gehör zu verschaffen. An der Rückwand des Nebenraums der Destille, der nicht sonderlich groß war, stand der Redner des heutigen Abends: Es handelte sich um Peter Swoboda, zumindest war dies der Name, unter dem er auftrat. Der Mann mittleren Alters galt als Verbindungsmann nach Russland, und zumindest sein Auftreten ließ ihn glaubhaft als Kader der Bolschewiki erscheinen. Von seiner Aussprache her schien er aus Böhmen zu stammen. Naheliegend, dass es sich bei der schmierigen Gestalt um einen Deserteur handelte – vielleicht auch um einen Angehörigen der Tschechischen Legion; wer fragte in diesem Milieu schon danach? »An den Händen dieses Hohenzollern-Hurensohns klebt das Blut deutscher Arbeiter«, geiferte Swoboda in einem krächzenden Tonfall. Seine Majestätsbeleidigungen waren ebenso wenig neu, wie der für die vorderen Reihen unangenehme Umstand seiner extrem feuchten Aussprache. Im Normalfall wäre sein übliches Gezeter von den Anwesenden – die meisten von ihnen schon unter merklichem Alkoholeinfluss stehend – wohl eher als Hintergrundberieselung wahrgenommen worden. Nicht so heute! Man wartete mit Spannung auf »Etwas« … Man wartete auf das Signal zum Losschlagen – zum Aufstand: Auf Worte sollten endlich Taten folgen – egal welche! Für alle hier waren die Zustände seit Monaten, seit zumindest einem Jahr oder anderthalb, unerträglich geworden. Es musste endlich »Etwas« geschehen, darin waren sich alle einig; bei der Frage nach dem »Was« bröckelte die Einigkeit bereits, und beim »Wie« herrschte größtenteils Uneinigkeit. Mit sich selbst uneins war auch Heinrich Langenmüller. Einer, der aus einem typisch sozialdemokratischen Milieu kam, wenn man das wertfrei so sagen konnte: Fabrikarbeiter, 1914 Kriegsfreiwilliger, bei Arras schwer verwundet, stand er nun als Kriegsversehrter wieder in der Fabrik. Nicht unbedingt ein bedingungsloser Parteigänger der Sozialdemokraten, aber einer, der den gerechten Kampf der Gewerkschaften um bessere Arbeitsbedingungen als notwendig und sinnvoll ansah. Langenmüller saß bei seinem Bier am Tresen und grübelte über die Widersprüchlichkeiten des Lebens und des Krieges, während der Redner auf den eigentlichen Kern seiner Ausführungen zusteuerte, mit sich unüberhörbar überschlagender Stimme: »Und deshalb, Genossen, ist es nun endlich soweit: Schon morgen rufen wir die Revolution aus und jagen übermorgen die Ausbeuter zum Teufel!« Kurz meldeten sich vereinzelte Rufe der Zustimmung, während das Gros der fast hundert Anwesenden mit offenen Augen weiterhin gebannt auf den kommunistischen Demagogen starrte. Dieser nutzte den Moment der erhöhten Aufmerksamkeit, um in beschwörendem Tonfall fortzusetzen. »Schon morgen werden die Führer der Arbeiterschaft zum reichsweiten Generalstreik und zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten aufrufen, mit dem Ziel, den Kaiser zu stürzen und den Krieg zu beenden. Deshalb heißt es ab morgen für alle: Hinaus auf die Straße und Sturm auf das Stadtschloss!« Jetzt brach Jubel und Gejohle aus – das war das Signal, auf das alle warteten. »Ab morgen beginnt für uns eine neue Zeit: Die klassenlose Gesellschaft ist zum Greifen nahe – Hoch die internationale Solidarität!« Schwitzend und mit hochrotem Kopf stimmte der Redner zum Abschluss die Internationale an, die von den meisten Anwesenden mehr gegrölt als gesungen wurde. Anders als sonst, endete der Abend allerdings nicht mit diesem Akt proletarischer Gesinnungsmanifestation, sondern es prasselten sogleich Fragen über Fragen auf den schweißtriefenden Spartakisten herein.

»Wann genau geht es los?«, kam es von links, »Muss nur der Kaiser weg, oder der ganze Adel? Ich will die Junker weghaben!«, von rechts, und »Wer wird Reichskanzler – oder gibt’s den nich mehr?« aus der Mitte des überfüllten Raumes.

»Wir wollen plündern! Wir wollen plündern!«, skandierten wiederum einige versoffene, versiffte Gestalten aus dem Tresenbereich.

»Ruhe«, brüllte Swoboda heiser und versuchte, sich wieder Gehör zu verschaffen. Als sich die Menge beruhigt hatte, setzte er bedächtig und bestimmt fort: »Ich bin aus Gründen der Geheimhaltung nicht befugt, über organisatorische Details der kommenden Tage zu sprechen. Das ist auch nicht notwendig: Notwendig ist, dass ab morgen in dieser Stadt allgemeine Meuterei und Ungehorsam herrscht. Ihr sollt und müsst unbedingt auf die Straßen und nicht zur Arbeit gehen! Auf der Straße werdet ihr – so oder so – die Verlautbarungen der Arbeiter- und Soldatenräte mitkriegen. Wichtig ist nur, dass ihr auf den Straßen seid und euch nach Möglichkeit in und um das Regierungsviertel bewegt. Nur als Masse können wir die Militärs und Monarchisten bezwingen!«

»Und wenn sie auf uns schießen?«, fragte ein Junge schüchtern.

»Deshalb müssen ja absolut ALLE auf die Straße«, erwiderte Swoboda. »Auf Frauen und Kinder werden sie nicht schießen, die sind der beste Schutzschild.«

»Und … und, wenn doch?«, stammelte der Junge ängstlich. Swoboda sah ihn mit einem eisigen und durchdringenden Blick an, dann antwortete er langsam, aber fast fauchend: »Für den Frieden und für Sowjetdeutschland muss jedes – hörst du, Bürschchen – JEDES Opfer gebracht werden!« Der eiskalte Zyniker, der ihm ohnehin schon von vornherein unsympathisch war, forderte Langenmüller heraus, während nicht nur der bleich gewordene Junge, sondern wohl auch die meisten Anwesenden von ihm eingeschüchtert wurden.

»Wer sagt denn überhaupt, dass wir Frieden haben werden, selbst wenn der Kaiser gestürzt wird?«, erklang Langenmüllers sonore Stimme aus dem Tresenbereich in das Nebenzimmer, das durch keinerlei Abtrennung vom Schankraum separiert war.

Swoboda lächelte milde, wie ein nachsichtiger Lehrer einem hilfsbedürftigen Schüler gegenüber: »Die ganze Welt will Frieden, Genosse. Nur die deutschen Militärs und Monarchisten nicht, sie haben diesen Krieg doch angefangen.«

Langenmüller, der mittlerweile vom Tresen aufgestanden war und sich einen Schritt in Richtung Nebenraum bewegt hatte, erwiderte süffisant: »Ach so – dann waren die es wohl, die den Erzherzog Franz Ferdinand erschossen haben, oder?« Das saß!

Swobodas Augen blitzten dunkel auf, und er zischte in scharfem Ton zurück: »Wir brauchen hier am Vorabend der Revolution keine Kriegsursachendebatte zu führen. Der preußische Militarismus hat uns in die Katastrophe des Krieges geführt, unabhängig davon, wer den ersten Schuss abgegeben oder die erste Mobilmachung zu verantworten hat. Und deshalb müssen die herrschenden Klassen gestürzt werden.«

Langenmüller ließ sich damit nicht abspeisen: »Auch eine Arbeiter- und Soldatenregierung wäre gezwungen, den Krieg fortzusetzen oder aber die Friedensbedingungen der Alliierten zu akzeptieren, die vielleicht noch schlimmer als der Krieg sind.«

»Damit haste nich janz unrecht, Heini«, bemerkte der Tresennachbar Langenmüllers, der zugleich auch ein Arbeitskollege war.

»Vom Franzmann brauchen wir uns keine fairen Friedensbedingungen erhoffen – die wollen sicher das ganze Rheinland von uns«, warf ein anderer ein.

»Und … und vom Tommy ooch nich: Die neiden uns doch alles und wollen uns als Wirtschaftskonkurrenten ausschalten!«, stammelte einer ganz vorne.

Swoboda merkte, dass er Langenmüller zum Schweigen bringen musste, um bei den Anwesenden keinen Zweifel an der Sinnhaftigkeit der in Wahrheit höchst kühnen Aufstandspläne aufkommen zu lassen. »Die Völker sind kriegsmüde und die Arbeiter wollen nicht aufeinander schießen, willst du das etwa bestreiten?«, brüllte Swoboda.

»Ich weiß nicht, ob mich die Kugel eines Arbeiters oder die eines Angehörigen eines anderen Standes getroffen hat, das ist mir auch egal«, erwiderte Langenmüller postwendend und nun auch lauter, um von allen verstanden zu werden. »Ich weiß, dass es eine englische Kugel war und sie hat mich getroffen, weil ich als Deutscher an der Front gegen England stand. Auch die Arbeiter auf den britischen Inseln werden kriegsmüde sein und nicht auf uns schießen wollen. Aber sie werden es tun, weil sie es tun müssen. Das ist ein Krieg auf Sein oder Nichtsein und wenn wir ihn verlieren, dann Gnade uns Gott. Egal, wer dann in Deutschland regiert, der Kaiser oder der Sowjet, dann geht es um den Bestand unseres Vaterlandes!«

»Der Arbeiter hat kein Vaterland!«, brüllte nun jemand aus einer anderen Ecke heraus und die Gemüter erhitzten sich merklich. Der Geräuschpegel stieg im gleichen Maße und schon längst hatte sich der Disput zwischen Langenmüller und Swoboda in Dutzende kleinerer Streitgespräche zersplittert und mündete nun in ein chaotisches Stimmengewirr ein.

»Wenn die Armeen des Kaisers siegreich durch das Brandenburger Tor ziehen, dann hat die Geschichte ihren Sinn verloren!«, brüllte Swoboda schon fast verzweifelt und mit brechender Stimme mehr in die Menge als in Richtung Langemüllers. Aber es war zu spät, die Situation war ihm entglitten. Das atomisierte Gewirr von Stimmen und Stimmungen war nicht auf Linie zu bringen. Soll das etwa der Auftakt zu einer Revolution sein?, fragte sich Swoboda in ohnmächtiger Wut, als die Versammlung sich auflöste und die Teilnehmer sich tröpfchenweise auf den Heimweg begaben.

Kapitel 2: Des Fähnrichs Feuerprobe

2.11.1918 Kiel

 

»Achtung!«, brüllte Feldwebel Edmayr, dem die Überraschung ins Gesicht geschrieben war, mit hochrotem Kopf: Niemand geringerer als der Bataillonskommandeur stand da plötzlich im Türrahmen des Büros, das als provisorische Offiziersmesse diente.

»Rührt Euch«, gab dieser kurz, knapp und hektisch zurück, die militärische Grußbezeugung mehr angedeutet als ausgeführt. Der baumlange Offizier knallte förmlich seine Aktentasche auf den Kartentisch und presste ein »nehme an, dass ohnehin alle Offiziere und Unteroffiziere anwesend sind« hervor, noch ehe er überhaupt aus dem Mantel heraus war.

»Jawohl, Herr Major!«, antwortete der Kompaniechef, Leutnant Henschel, nicht weniger verdattert, als zuvor Feldwebel Edmayr. Allen war klar, dass der unangekündigte persönliche Besuch des Bataillonskommandeurs eine besondere Bedeutung haben musste.

Dieser mochte die Kader der 1. Kompanie auch nicht lange auf die Folter spannen: »Meine Herren, Sie werden über mein unerwartetes Erscheinen erstaunt sein, aber die jüngsten Ereignisse haben eine Lagebesprechung dringend erforderlich gemacht.«

Offiziere und Unteroffiziere der 1. Kompanie des 2. Kastrup-Bataillons formierten sich lautlos um den Kartentisch; die Spannung unter ihnen schien so groß zu sein, dass sie beinahe das Atmen vergaßen.