Die schönsten Weihnachtsgeschichten - Felix Hornstein - E-Book

Die schönsten Weihnachtsgeschichten E-Book

Felix Hornstein

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Beschreibung

Was macht eine gute Weihnachtsgeschichte aus? Felix Hornstein zeigt anhand der schönsten Nikolaus- und Weihnachtsgeschichten, dass diese auch ohne Weihnachten erstrangige literarische Werke wären. Doch kommt in ihnen der Menschwerdung Gottes und dem Sich-Auftun der himmlischen Wirklichkeit jeweils eine besondere Bedeutung zu. An Weihnachten sind Dinge möglich, die sonst nicht möglich sind, das Fest wird zur Sternstunde für die Welt und für die Menschen … Das Buch bietet jeweils Text und Interpretation. Fern von Kitsch und Sentimentalität hebt es verborgene Schätze und erschließt überraschende und ungewöhnliche Zugänge zur Bedeutung des christlichen Weihnachtsfestes. Advent und Weihnachten werden zur Chance, in tiefere Schichten des Lebens und des Glaubens hinabzusteigen.

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Seitenzahl: 316

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Felix Hornstein

Die schönsten Weihnachtsgeschichten

Felix Hornstein (*1960) ist Gymnasiallehrer für Latein, Katholische Religionslehre und Geschichte und unterrichtet am Gymnasium Tegernsee.

Felix Hornstein

Die schönsten Weihnachtsgeschichten

Neu gelesen und interpretiert

Patrimonium-Verlag 2020

Impressum

1. Auflage 2020

© 2020 Patrimonium-Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Erschienen in der Edition »Patrimonium Poeticum«

Patrimonium-Verlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.patrimonium-verlag.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb

Druck & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Umschlag:

Gestaltung Dietrich Betcher

Druckbuch:

ISBN-10: 3-86417-142-3

ISBN-13: 978-3-86417-142-0

E-Book:

ISBN-10: 3-86417-152-0

ISBN-13: 978-3-86417-152-9

Für meine Kinder

Toni, Hansi, Fini und Otto

Einleitung

Es gibt viele Weihnachtsgeschichten, aber nur wenige gute. Zu groß ist die Gefahr der Sentimentalität. Man transportiert die Geburt des Erlösers vom Heiligen Land nach Oberbayern oder in die Kaschubei oder nach Russland oder sonst wohin und reichert sie mit Lokalkolorit an. Man badet in der Idylle. Andere Geschichten berichten wehmutsvoll von der eigenen Kindheit und beschreiben das Weihnachtsfest mit den leuchtenden Kerzen und dem Christbaum und evozieren die Düfte nach Zimt und Vanille und Sternanis, nach Glühwein und nach Gänsebraten, die man bei uns gemeinhin mit dem Fest verbindet. Das Fest als Schlaraffenland und Kerzenflitter. Und als Zeit, in der die Familie noch einträchtig versammelt war.

Schließlich gibt es irgendwelche Begebenheiten ungewöhnlicher Art, die just am Weihnachtstag passiert sind oder irgendwelche Schwierigkeiten oder Missverständnisse mit den Geschenken, die mit dem eigentlichen Sinn des Festes aber wenig zu tun haben.

Und schließlich gibt es noch Väterchen Frost: An Weihnachten ist es gewöhnlich, jedenfalls in den meisten Geschichten, bitter kalt, der Schnee liegt meterhoch – jedenfalls tat er das in unserer Kindheit noch, weit entfernt von allem Klimawandel. Weihnachten, das heißt dann schöne Winterbilder und daneben Oasen von Wärme und Gemütlichkeit.

Manche Geschichten rationalisieren und moralisieren das Wunder der Weihnachtsnacht, zeigen etwa, wie jemand einen »Engel« findet, der ihm an diesem Tag aus der Patsche hilft, der einer armen Familie einen Fresskorb vor die Tür stellt oder eine Fuhre Holz vor dem Hof ablädt. Überhaupt findet sich Sentimentalität vor allem in Erzählungen von guten Werken just in dieser Nacht, wenn sich die Familien in ihren Häusern verbarrikadieren und beim bullernden Ofen besonders gerne Geschichten von Menschlichkeit hören. »Es ist von altersher in den Weihnachtsmärchen Brauch, alljährlich einige arme Mädchen und Knaben erfrieren zu lassen«, beginnt eine Weihnachtsgeschichte von Maxim Gorki.1

Anders die Geschichten von der Kriegsweihnacht. Das geht es um das existentielle Elend des Soldaten – Elend bedeutet ja so viel wie »im Ausland«, »fern der Heimat«. Es ist kalt, der Tod ist nahe, zu Hause feiern die Familien und man erlebt, was Weihnachten bedeutet, aus dem Abstand nur umso intensiver. Nie werden das Elend und das Getrenntsein von den Liebsten so existentiell gefühlt, ist doch Weihnachten in unseren Breiten das Fest der menschlichen Begegnung. Und gerade da kommt es oft zu menschlichen Begegnungen in unerwarteter Richtung, sogar über die Schützengräben hinweg. Der Landser weiß ja: Der da auf der anderen Seite ist wie du selbst, ihm geht es wie dir. Diese Geschichten sind also alles andere als kitschig. Und sie handeln von menschlicher Größe und Ahnungen des Friedens »inmitten der Nacht«.

Als freilich meist gescheiterten Versuch, der Kitschfalle zu entkommen, betrachte ich manche moderne Weihnachtsgeschichten. Da wird Weihnachten verfremdet, es wird als Täuschung und Betrug entlarvt, als kommerzielle Veranstaltung, hinter der doch jeder nur seinen eigenen Vorteil sucht, dabei aber letztlich einsam und allein bleibt. Der weihnachtliche Trost gilt selbst als Kitsch. Hier artikuliert man ineins den Generalverdacht gegen die religiöse Hoffnung und gegen den Kapitalismus.

Ernst zu nehmen sind freilich die Darstellungen des Schicksals der Armen und der Einsamen an diesem Tag: Wie wird es ihnen da gehen, wenn alle feiern und niemand für sie Zeit hat? Aber das ist ein schwieriges Genus und ich kenne nur wenige Beispiele für gute Geschichten dieser Art. Denn der hohe Ton macht eine Geschichte noch nicht zu einem Stück guter Literatur. Meist enthalten diese Versuche zu viel Moralin: Hier finden wir die Anklage gegen die selbstzufriedenen Bürger, die, so der unausgesprochene Verdacht, auf Kosten der anderen feiern. Aber dieser Vorwurf trifft nicht immer. Denn manchmal geht es ja auch um das Teilen der Festesfreude und um das Weitergeben des Lichtes.

Ein Sonderfall ist die weihnachtliche Idylle: Sie steht meist unter Kitschverdacht, ist aber durchaus nicht in allen Fällen kitschig und kann sogar weit in die Tiefe reichen. Überhaupt verstecken sich mitunter tiefsinnige Geschichten unter Weihnachtsschmuck: Dann werden auf leichtfüßige Weise große Wahrheiten ausgesprochen.

Wenn es aber so schwierig ist, was in aller Welt zeichnet dann eine wirklich gute Weihnachtsgeschichte aus?

Die wirklich guten Geschichten sind meines Erachtens die, die auch ganz ohne Weihnachten gute Geschichten wären, in denen dem Weihnachtlichen aber eine ganz besondere Rolle zukommt. Gute Weihnachtsgeschichten berichten von einem existentiellen Ereignis oder Geschehen in der Welt der Menschen, das in Verbindung mit dem Kairos von Weihnachten eine besondere Wendung nimmt. Das ist das entscheidende Stichwort: Der Kairos, der rechte Augenblick. Weihnachtsgeschichten handeln von dem besonderen Augenblick, von der Zeit einer besonderen, spürbaren Nähe Gottes in dieser Welt, von einer Herabkunft des Friedens, der wie ein Katalysator eine wunderbare Wandlung der Menschen und der Verhältnisse bewirkt. Da geht es um ein Geschenk, das »zur rechten Zeit« gebracht wird, um die, die sich am Weihnachtstag versöhnen und zugleich ihre Familien aus einer alten Feindschaft erlösen, da geht es um den einsamen Gottsucher, der an diesem Tag der Herrlichkeit des verborgenen Gottes ansichtig wird, da geht es um einen bösen Räuber, der seine Wildheit verliert, um einen nutzlosen Menschen am Rande der Gesellschaft, der die Aufgabe seines Lebens findet, um ein böses, verhärtetes Herz, das an diesem Tag aufgebrochen und ins Leben zurückgebracht wird, um Geschenke, die die junge Liebe in ihrer grenzenlosen Offenheit zeigen. Oder auch um einen Baum, der zum Weihnachtsfest leuchten durfte und doch sein Glück nicht fand.

Weihnachten ist das Fest der Menschwerdung Gottes, das Fest, an dem sich zeigt, dass diese Welt mehr ist als ein einsam und sinnlos durch die Weiten des Universums schwebender Materieklumpen, da geht es um einen Frieden, der in dieser Welt und doch nicht von dieser Welt ist, um den besonderen Moment, in dem Dinge möglich sind, die sonst undenkbar erschienen, um Überfluss und Fülle und Herrlichkeit. Und immer um das Licht, das in die Finsternis kommt. Die Tragik des göttlichen Lichtes kennt jeder, der schon einmal in die Evangelien von Jesus Christus hineingeschaut hat: »Die Finsternis hat es nicht ergriffen« (Joh 1,5): Bei Weihnachten geht es darum, dass dieses Licht von manchen ergriffen wird, in denen sich dabei das Wunder der Menschwerdung neu vollzieht. Das Licht will ja nicht allein bleiben, es will andere erleuchten und anstecken: »Er gab ihnen Macht, Söhne Gottes zu werden«, heißt es bei Johannes weiter (Joh 1,12).

Die wirklich wichtigen Veränderungen dieser Welt sieht man nicht. Sie ereignen sich im Verborgenen. Das gilt für die einsamen Gedanken eines großen Denkers – meist bleiben sie einsam –, es gilt für die Entstehung eines neuen Menschen im Mutterschoß, es gilt überhaupt für alles Wachstum, das unendlich langsamer abläuft als das oftmals krachende Ereignis einer Zerstörung, wiewohl auch diese meist im Unsichtbaren vorbereitet wird: Als Haarriss im Inneren eines Rades, als Faulen im Inneren eines Baumes, als Absetzungsprozess in Freundschaft, Ehe und Gesellschaft. Weihnachtsgeschichten berichten meist von einer Ankunft des heiligen Wortes oder Kindes in der Stille, die dann zum Ereignis wird. Jede Geburt ist ein Ereignis, in dem eine längere Zeit der Hoffnung zum Ende kommt und ist doch zugleich selbst nicht mehr als Hoffnung: Das Kind ist schon da, aber es muss noch groß werden. Wer da geboren wurde, sieht man richtig erst im Nachhinein. Immer aber geht es bei Weihnachten um eine Umwendung der Verhältnisse. So punktuell das Fest auch bleibt, es enthält die Botschaft: Alles wird gut.

Ich habe im Folgenden einige besonders geglückte Weihnachtsgeschichten zusammengestellt und interpretiert. Dabei ging es mir nicht um eine literarische Untersuchung oder Kritik. Vielmehr kam es mir jeweils darauf an zu zeigen, wie viel Daseinsernst in einer unscheinbaren Weihnachtsgeschichte verborgen sein kann und wie weit sie über alle Gefühlsduselei hinausragt. Vor allem aber ging es mir um die Antworten, die diese Erzählungen auf drängende Fragen des Lebens und der Zeit bieten. Gute Literatur misst sich wie Erz am Feingehalt. Ich habe mich bemüht, den Feingehalt dieser Geschichten herauszuholen.

Ich hoffe, mit Hilfe dieser Geschichten den guten alten Brauch zu unterstützen, in der Familie, im Freundeskreis oder in der Pfarrei Weihnachtsgeschichten vorzulesen. Wenn man eine Geschichte vorträgt, tut man gut daran, sich darüber zu unterhalten. Anregungen für dieses Gespräch zu bieten, darin sehe ich einen Sinn dieses Buches.

Ich selbst lese seit Jahren Advents- und Weihnachtsgeschichten in der Familie und in der Schule. Dort sind sie willkommene Abwechslungen. Zugleich dienen sie der Vorbereitung auf das Fest: So erschließt sich sein Sinn oft fast von selbst. Ich würde mich freuen, wenn der ein oder andere diese Anregungen aufgreifen und die Weihnachtsfeiern mit ernsthaften Geschichten bestreiten würde. Und besonders würde ich mich freuen, wenn dabei mehr herauskäme als eine gefühlsmäßige Einstimmung auf Weihnachten: Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Fest der Fleischwerdung des Herrn.

Tegernsee, im September 2020

Felix Hornstein

Felix Timmermans:

Sankt Nikolaus in Not

Es fielen noch ein paar mollige Flocken aus der wegziehenden Schneewolke, und da stand auf einmal auch schon der runde Mond leuchtend über dem weißen Turm.

Die beschneite Stadt wurde eine silberne Stadt.

Es war ein Abend von flaumweicher Stille und lilienreiner Friedsamkeit. Und wären die flimmernden Sterne herniedergesunken, um als Heilige in goldenen Messgewändern durch die Straßen zu wandeln – niemand hätte sich gewundert. Es war ein Abend, wie geschaffen für Wunder und Mirakel. Aber keiner sah die begnadete Schönheit des alten Städtchens unter dem mondbeschienenen Schnee.

Die Menschen schliefen.

Nur der Dichter Remoldus Keersmaeckers, der in allem das Schöne sah und darum lange Haare trug, saß noch bei Kerzenschein und Pfeifenrauch und reimte ein Gedicht auf die Götter des Olymps und die Herrlichkeit des griechischen Himmels, die er so innig auf Holzschnitten bewundert hatte.

Der Nachtwächter Dries Andijvel, der auf dem Turm die Wache hielt, huschte alle Viertelstunden hinaus, blies eilig drei Töne in die vier Windrichtungen, kroch dann zurück in die warme, holzgetäfelte Kammer zum bullernden Kanonenöfchen und las weiter in seinem Liederbüchlein: »Der flämische Barde, hundert Lieder für fünf Groschen.« War eins dabei, von dem er die Weise kannte, dann kratzte er die auf einer alten Geige und sang das Lied durch seinen weißen Bart, dass es bis hoch ins rabenschwarze Gerüst des Turmes schallte. Ein kühles Gläschen Bier schmierte ihm jedes Mal zur Belohnung die Kehle.

Trinchen Mutser aus dem »Verzuckerten Nasenflügel« saß in der Küche und sah traurig durch das Kreuzfensterchen in ihren Laden.

Ihr Herz war in einen Dornbusch gefallen. Trinchen Mutsers Herz war ganz durchstochen und durchbohrt, nicht weil all ihr Zuckerzeug heut am Sankt-Nikolaus-Abend ausverkauft war – ach nein! Weil das große Schokoladenschiff stehen geblieben war. Einen halben Meter war es hoch und so lang wie von hier bis dort! Wie wunderschön stand es da hinter den flaschengrünen Scheiben ihres Lädchens, lustig mit Silberpapier beklebt, verziert mit rosa Zuckerrosetten, mit Leiterchen aus weißem Zucker und mit Rauch in den Schornsteinen. Der Rauch war weiße Watte.

Das ganze Stück kostete so viel, wie all die kleinen Leckereien, die Pfefferkuchenhähne mit einem Federchen am Hintern, die Knusperchen, die Zuckerbohnen und die Schokoladenplätzchen zusammen. Und wenn das Stück, das Schiff aus Schokolade, das sich in rosa Zuckerbuchstaben als die »Kongo« auswies, nicht verkauft wurde, dann lag ihr ganzer Verdienst im Wasser, und sie verlor noch Geld obendrein.

Warum hat sie das auch kaufen müssen? Wo hat sie nur ihre Gedanken gehabt! So ein kostbares Stück für ihren bescheidenen kleinen Laden.

Wohl waren alle gekommen, um es sich anzusehen, Mütter und Kinder, sie hatte dadurch verkauft wie noch nie. Aber kein Mensch fragte nach dem Preis, und so blieb es stehen und rauchte immer noch seine weiße Watte, stumm wie ein toter Fisch. Als Frau Doktor Vaes gekommen war, um Varenbergsche Hustenbonbons zu kaufen, da hatte Trinchen gesagt: »Sehen Sie nur mal, Frau Doktor Vaes, was für ein schönes Schiff! Wenn ich Sie wäre, dann würde ich Ihren Kindern nichts anderes zum Sankt Nikolaus schenken als dieses Schiff. Sie werden selig sein, wie im Himmel.«

»Ach«, sagte Frau Vaes abwehrend, »Sankt Nikolaus ist ein armer Mann. Die Kinder werden schon viel zu sehr verwöhnt, und außerdem gehen die Geschäfte von dem Herrn Doktor viel zu schlecht. Wissen Sie wohl, Trinchen, dass es in diesem Winter fast keine Kranken gibt? Wenn das nicht besser wird, weiß ich gar nicht, was wir anfangen sollen.« Und sie kaufte zwei Pfefferkuchenhähne auf einem Stäbchen und ließ sich tagelang nicht mehr sehen.

Und heute war Nikolausabend; aller Kleinkram war verkauft, nur die »Kongo« stand noch da in ihrer braunen Kongofarbe und rauchte einsam und verlassen ihre weiße Watte. Zwanzig Franken Verlust! Der ganze Horizont war schwarz wie die »Kongo« selbst. Vielleicht könnte man sie stückweise verkaufen oder verlosen? Ach nein, das brachte noch nicht fünf Franken ein, und sie konnte das Ding doch nicht auf die Kommode stellen neben die anderen Nippsachen.

Ihr Herz war in einen Dornbusch gefallen. Sie zündete eine Kerze an für den heiligen Antonius und eine für Sankt Nikolaus und betete einen Rosenkranz, auf dass der Himmel sich des Schiffes annehmen möge und Gnade tauen. Sie wartete und wartete. Die Stille wanderte auf und ab.

Um zehn Uhr machte sie die Fensterläden zu und konnte in ihrem Bett vor Kummer nicht schlafen.

Und es gab noch ein viertes Wesen in dem verschneiten Städtchen, das nicht schlief. Das war ein kleines Kind, Cäcilie; es hatte ein seidig blondes Lockenköpfchen und war so arm, dass es sich nie mit Seife waschen konnte, und ein Hemdchen trug es, das nur noch einen Ärmel hatte und am Saum ausgefranst war wie Eiszapfen an der Dachrinne.

Die kleine Cäcilie saß, während ihre Eltern oben schliefen, unter dem Kamin und wartete, bis Sankt Nikolaus das Schokoladenschiff von Trinchen Mutser durch den Schornstein herunterwerfen würde. Sie wusste, es würde ihr gebracht werden; sie hatte es jede Nacht geträumt, und nun saß sie da und wartete voller Zuversicht und Geduld darauf; und weil sie fürchtete, das Schiff könne beim Fallen kaputtgehen, hatte sie sich ihr Kopfkissen auf den Arm gelegt, damit es weich wie eine Feder darauf niedersinken könnte.

Und während nun die vier wachenden Menschen im Städtchen: der Dichter, der Turmwächter, Trinchen Mutser und Cäcilie, ein jedes mit seiner Freude, seinem Kummer oder seiner Sehnsucht beschäftigt, nichts sahen von der Nacht, die war wie ein Palast, öffnete sich der Mond wie ein runder Ofen mit silberner runder Tür, und es stürzte aus der Mondhöhle eine solche strahlende Klarheit hernieder, dass sie sich auch mit goldener Feder nicht beschreiben ließe.

Einen Augenblick lang fiel das echte Licht aus dem wirklichen Himmel auf die Erde. Das geschah, um Sankt Nikolaus auf seinem weißen, schwerbeladenen Eselchen und den schwarzen Knecht Ruprecht durchzulassen.

Aber wie kamen sie nun auf die Erde? Ganz einfach. Das Eselchen stellte sich auf einen Mondstrahl, stemmte die Beine steif und glitschte nur so hinunter, wie auf einer schrägen Eisbahn. Und der schlaue Knecht Ruprecht fasste den Schwanz vom Eselchen und ließ sich ganz behaglich mitziehen, auf den Fersen hockend. So kamen sie ins Städtchen, mitten auf den beschneiten Großen Markt.

In Körben, die zu beiden Seiten des Eselchens hingen, dufteten die bunten Leckereien, die Knecht Ruprecht unter der Aufsicht von Sankt Nikolaus in der Konditorei des Himmels gebacken hatte. Und als man sah, dass es nicht reichte und der Zucker zu Ende ging, da hatte Knecht Ruprecht sich in Zivil geworfen, um unerkannt in den Läden, auch bei Trinchen Mutser, Süßigkeiten zu kaufen, von dem Geld aus den Sankt-Nikolaus-Opferstöcken, die er alle Jahre einmal in den Kirchen ausleeren durfte. Mit all den Leckereien war er an einem Mondstrahl in den schönen Himmel hinaufgeklettert, und nun musste das alles verteilt werden an die kleinen Freunde von Sankt Nikolaus.

Sankt Nikolaus ritt durch die Straßen, und bei jedem Haus, in dem ein Kind wohnte, gab er je nach der Artigkeit des Kindes dem Knecht Ruprecht Leckereien, welche dieser, mit Katzengeschmeidigkeit an Regenkandeln und Dachrinnen entlangkletternd und über die Ziegel krabbelnd, zum Schornstein brachte; da ließ er sie dann vorsichtig hinunterfallen durch das kalte zugige Kaminloch, gerade auf einen Teller oder in einen Holzschuh hinein, ohne die zerbrechlichen Köstlichkeiten auch nur etwas zu bestoßen oder zu schrammen.

Knecht Ruprecht verstand sich auf seine Sache, und Sankt Nikolaus liebte ihn wie seinen Augapfel.

So bearbeiteten sie das ganze Städtchen, warfen herab, wo zu werfen war, sogar hier und da eine Rute für rechte Taugenichtse.

»Da wären wir bis zum nächsten Jahr wieder mal fertig«, sagte der Knecht Ruprecht, als er die leeren Körbe sah. Er steckte sich sein Pfeifchen an und stieß einen erleichterten Seufzer aus, weil die Arbeit nun getan war.

»Was?«, fragte Sankt Nikolaus beunruhigt. »Ist nichts mehr drin? Und die kleine Cäcilie? Die brave kleine Cäcilie? Schscht!«

Sankt Nikolaus sah auf einmal, dass sie vor Cäciliens Haus standen, und legte mahnend den Finger auf den Mund. Doch das Kind hatte die warme, brummende Stimme gehört wie Hummelgesumm, machte große Augen unter dem goldenen Lockenkopf, glitt ans Fenster, schob das Gardinchen weg und sah Sankt Nikolaus, den wirklichen Sankt Nikolaus.

Das Kind stand mit offenem Munde staunend da. Und während es sich gar nicht fassen konnte über den goldenen Bischofsmantel, der funkelte von bunten Edelsteinen wie ein Garten, über die Pracht der Mitra, worauf ein diamantenes Kreuz Licht in die Nacht hineinschnitt wie mit Messern, über den Reichtum der Ornamente am Krummstab, wo ein silberner Pelikan das Rubinenblut pickte für seine Jungen, während es die feine Spitze besah, die über den purpurnen Mantel schleierte, während es Gefallen fand an dem guten weißen Eselchen, und während es lachen musste über die Grimassen von dem drolligen schwarzen Knecht, der die weißen Augen herumrollte, als ob sie lose wie Taubeneier in seinem Kopf lägen, während alledem hörte es die zwei Männer also miteinander reden:

»Ist gar nichts mehr drin in den Körben, lieber Ruprecht?«

»Nein, heiliger Herr, so wenig wie in meinem Geldsäckel.«

»Sieh noch einmal gut nach, Ruprecht!«

»Ja, heiliger Herr, und wenn ich die Körbe auch ausquetsche, so kommt doch nicht so viel heraus wie eine Stecknadel.« Sankt Nikolaus strich kummervoll über seinen schneeweißen Lockenbart und zwinkerte mit seinen honiggelben Augen.

»Ach«, sagte der schwarze Knecht, »da ist nun doch nichts mehr zu machen, heiliger Herr. Schreib der kleinen Cäcilie, dass sie im kommenden Jahr doppelt und dreimal so viel kriegen soll.«

»Niemals! Ruprecht! Ich, der ich im Himmel wohnen darf, weil ich drei Kinder, die schon zerschnitten und eingepökelt waren, wieder zum Leben gebracht und ihrer Mutter zurückgegeben habe, ich sollte nun diese kleine Cäcilie, das bravste Kind der ganzen Welt, leer ausgehen lassen und ihm eine schlechte Meinung von mir beibringen? Nie, Ruprecht! Nie!«

Knecht Ruprecht rauchte heftig, das brachte auf gute Gedanken, und sagte plötzlich: »Aber heiliger Herr, nun hört mal zu! Wir haben keine Zeit mehr, um noch einmal zum Himmel zurückzukehren, Ihr wisst, für Sankt Peter ist der Himmel kein Taubenschlag. Und außerdem, der Backofen ist kalt und der Zucker zu Ende. Und hier in der Stadt schläft alles, und es ist Euch sowohl wie mir verboten, Menschen zu wecken, und zudem sind auch alle Läden ausverkauft.«

Sankt Nikolaus strich nachdenklich über seine von vier Falten durchzogene Stirn, neben der schon Löckchen glänzten, denn sein Bart begann dicht unter dem Rande seines schönen Hutes.

Ich brauche euch nicht zu erzählen, wie Cäcilie langsam immer bekümmerter wurde von all den Worten. Das reiche Schiff sollte nicht bei ihr stranden! Und auf einmal schoss es leuchtend durch ihr Köpfchen. Sie machte die Tür auf und stand in ihrem zerschlissenen Hemdchen auf der Schwelle. Sankt Nikolaus und Knecht Ruprecht fuhren zusammen wie die Kaninchen. Doch Cäcilie schlug ehrerbietig ein Kreuz, stapfte mit ihren bloßen Füßchen in den Schnee und ging zu dem heiligen Kinderfreund. »Guten Tag, lieber Sankt Nikolaus«, stammelte das Kind. »Alles ist noch nicht ausverkauft ... bei Trinchen Mutser steht noch ein großes Schokoladenschiff vom Kongo ... wie sie die Läden vorgehängt hat, stand es noch da. Ich hab’ es gesehen!«

Von seinem Schreck sich erholend, rief Sankt Nikolaus erfreut: »Siehst du wohl, es ist noch nicht alles ausverkauft! Auf zu Trinchen Mutser! Zu Trinchen ... aber ach!« … und seine Stimme zitterte verzweifelt, »wir dürfen niemand wecken.«

»Ich auch nicht, Sankt Nikolaus?«, fragte das Kind.

»Bravo!«, rief der Heilige. »Wir sind gerettet, kommt!«

Und sie gingen mitten auf der Straße, die kleine Cäcilie mit ihren bloßen Füßen voran, gerade nach der Eierwaffelstraße, wo Trinchen Mutser wohnte. In der Süßrahmbutterstraße wurde ihr Blick auf ein erleuchtetes Fenster gelenkt. Auf dem heruntergelassenen Vorhang sahen sie den Schatten von einem dürren, langhaarigen Menschen, der mit einem Büchlein und einer Pfeife in der Hand große Gebärden machte, und sein Mund ging dabei auf und zu. »Ein Dichter«, sagte Sankt Nikolaus und lächelte.

Sie kamen vor Trinchen Mutsers Haus. Im Mondlicht konnten sie gut das Aushängeschild erkennen. »Zum verzuckerten Nasenflügel«.

»Weck sie rasch auf«, sagte Sankt Nikolaus. Und das Kindchen lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und klopfte mit der Ferse gegen das Holz. Aber das klang leise wie ein Samthämmerchen. »Stärker«, sagte der schwarze Knecht. »Wenn ich noch stärker klopfe, wird’s noch weniger gehen, denn mein Fuß tut mir weh«, sagte das Kind. »Mit den Fäusten«, sagte Knecht Ruprecht. Doch die Fäustchen waren noch leiser als die Fersen.

»Wart, ich werd’ meinen Schuh ausziehen, dann kannst du damit klopfen«, sagte Knecht Ruprecht.

»Nein«, gebot Sankt Nikolaus, »kein Drehn und Deuteln! Gott ist heller um uns als dieser Mondschein und duldet keine Advokatenkniffe.« Und doch hätte der gute Mann sich gern einen Finger abgebissen, um Cäcilie zufriedenstellen zu können.

»Ach! Aber den Kerl mit den Affenhaaren auf dem Vorhang«, rief Knecht Ruprecht erfreut, »den darf ich rufen, der schläft nicht!«

»Der Dichter! Der Dichter!«, lachte Sankt Nikolaus. Und nun gingen sie alle drei schnell zu dem Dichter Remoldus Keersmaeckers.

Und kurzerhand machte Knecht Ruprecht kleine Schneebälle, die er ans Fenster warf. Der Schatten stand still, das Fenster ging auf, und das lange Gestell des Dichters, der Verse von den Göttern und Göttinnen des Olymps hersagte, wurde im Mondschein sichtbar und fragte von oben: »Welche Muse kommt, um mir Heldengesänge zu diktieren?«

»Du sollst Trinchen Mutser für uns wecken«, rief Sankt Nikolaus, und er erzählte seine Not.

»Ja, bist du denn der wirkliche Sankt Nikolaus?«, fragte Remoldus.

»Der bin ich!« Und darauf kam der Dichter erfreut herunter, jätete allen Dialekt aus seiner Sprache, machte Verbeugungen und redete von Dante, Beatrice, Vondel, Milton und anderen Dichtergestalten, die er im Himmel glaubte. Dann stand er ihnen zu Diensten. Sie kamen zu Trinchen Mutser, und der Dichter stampfte und rammelte mit so viel Temperament an der Tür, dass das Frauenzimmer holterdiepolter aus dem Bett stürmte und erschrocken das Fenster öffnete.

»Geht die Welt unter?«

»Wir kommen wegen dem großen Schokoladenschiff«, sagte Sankt Nikolaus, weiter konnte er ihr nichts erklären, denn sie war schon weg und kam wieder in ihrer lächerlichen Nachtkleidung, mit einem bloßen Fuß und einem Strumpf in der Hand, und machte die Türe auf.

Sie steckte die Lampe an und ging sofort hinter den Ladentisch, um zu bedienen. Sie dachte, es müsse der Bischof von Mecheln sein.

»Herr Bischof«, sagte sie stotternd, »hier ist das Schiff aus bester Schokolade, und es kostet fünfundzwanzig Franken.« Der Preis war nur zwanzig Franken, aber ein Bischof kann ja gern fünf Franken mehr bezahlen.

Aber nun platzte die Bombe! Geld! Sankt Nikolaus hatte kein Geld, das hat man im Himmel nun einmal nicht nötig. Knecht Ruprecht hatte auch kein Geld, das Kind hatte nur ein zerschlissenes Hemdchen an, und der Dichter kaute an seinem langen Haupt- und Barthaar vor Hunger – er war vier Wochen Miete schuldig.

Niedergeschlagen sahen sie einander an.

»Es ist Gott zuliebe«, sagte Sankt Nikolaus. Gerne hätte er seine Mitra gegeben, aber alles das war ihm vom Himmel geliehen, und es wäre Heiligenschändung gewesen, es wegzugeben.

Trinchen Mutser rührte sich nicht und betrachtete sie finster.

»Tu es dem Himmel zuliebe«, sagte Knecht Ruprecht. »Nächstes Jahr will ich auch deinen ganzen Laden aufkaufen.«

»Tu es aus lauter Poesie«, sagte der Dichter theatralisch.

Aber Trinchen rührte sich nicht, sie fing an zu glauben, weil sie kein Geld hatten, dass es verkleidete Diebe seien.

»Schert euch ’raus! Hilfe! Hilfe!«, schrie sie auf einmal. »Schert euch ’raus! Heiliger Antonius und Sankt Nikolaus, steht mir bei!«

»Aber ich bin doch selbst Sankt Nikolaus«, sagte der Heilige.

»So siehst du aus! Du hast nicht mal einen roten Heller aufzuweisen!«

»Ach, das Geld, das alle Bruderliebe vergiftet!«, seufzte Sankt Nikolaus.

»Das Geld, das die edle Poesie verpfuscht!«, seufzte der Dichter Keersmaeckers.

»Und die armen Leute arm macht«, schoss es der kleinen Cäcilie durch den Kopf.

»Und ein Schornsteinfegerherz doch nicht weiß klopfen kann«, lachte Knecht Ruprecht. Und sie gingen hinaus. In der Mondnacht, die still war von Frostesklarheit und Schnee, tönte das »Schlafet ruhig« hart und hell vom Turm.

»Noch einer, der nicht schläft«, rief Sankt Nikolaus erfreut, und sogleich steckte Knecht Ruprecht auch schon den Fuß zwischen die Tür, die Trinchen wütend zuschlagen wollte.

»Haltet ihr mir die Frau wach«, sagte der schwarze Knecht, »ich komme sofort zurück!«

Und damit stieß er die Tür wieder auf, und zwar so heftig, dass Trinchen sich plötzlich in einem Korb voll Zwiebeln wiederfand.

Und während die andern aufs Neue hineingingen, sprang Knecht Ruprecht auf das Eselchen, sauste wie ein Sensenstrich durch die Straßen, hielt vor dem Turm, kletterte an Zinnen, Vorsprüngen und Zieraten, Schiefern und Heiligenbildern den Turm hinauf bis zu Dries Andijvel, der gerade »Es wollt’ ein Jäger früh aufstehn« auf seiner Geige kratzte.

Der Mann ließ Geige und Lied fallen, aber Knecht Ruprecht erzählte ihm alles.

»Erst sehen und dann glauben!«, sagte Dries. Knecht Ruprecht kriegte ihn am Ende doch noch mit hinunter, und zu zweit rasten sie auf dem Eselchen durch die Straßen nach dem »Verzuckerten Nasenflügel«.

Sankt Nikolaus fiel vor dem Nachtwächter auf die Knie und flehte ihn an, doch die fünfundzwanzig Franken zu bezahlen, dann solle ihm auch alles Glück der Welt werden.

Der Mann war gerührt und sagte zu dem ungläubigen, hartherzigen Trinchen: »Ich weiß nicht, ob er lügt, aber so sieht Sankt Nikolaus doch aus in den Bilderbüchern von unsern Kindern und im Kirchenfenster über dem Taufstein. Und wenn er’s nun wirklich ist! Gib ihm doch das Schiff! Morgen werde ich dir’s bezahlen!«

Trinchen hatte großes Vertrauen zu dem Nachtwächter, der aus ihrer Nachbarschaft war. Und Sankt Nikolaus bekam das Schiff.

»Jetzt geh nur schnell nach Hause und leg dich schlafen«, sagte Sankt Nikolaus zu Cäcilie. »Wir bringen gleich das Schiff.«

Das Kind ging nach Hause, aber es schlief nicht, es saß am Kamin mit dem Kissen auf den Ärmchen und wartete auf das Niedersinken des Schiffes.

Der Mond sah gerade in das armselig-traurige Kämmerchen.

Ach, was sah Cäcilie da auf einmal!

Dort auf einem glitzernden Mondstrahl kletterte das Eselchen in die Höhe mit Sankt Nikolaus auf seinem Rücken, und Knecht Ruprecht hielt sich am Schwanz fest und ließ sich mitschleifen. Der Mond öffnete sich; ein sanftes, großes Licht fiel in funkelnden Regenbogenfarben über die beschneite Welt. Sankt Nikolaus grüßte die Erde, trat hinein, und wieder war da das gewöhnliche grüne Mondenlicht. Cäcilie wollte weinen. Knecht Ruprecht oder der gute Heilige hatten das Schiff nicht gebracht, es lag nicht auf dem Kissen.

Aber siehe! Was für ein Glück, das Schiff, die »Kongo«, stand ja da, in der kalten Asche, ohne Delle, ohne Bruch, strahlend von Silber, und rauchte für mindestens zwei Groschen weiße Watte aus beiden Schornsteinen! Wie war das möglich. Wie konnte das so in aller Stille geschehen? …

Ja, das weiß nun niemand, das ist die Findigkeit und die große Geschicklichkeit vom Knecht Ruprecht, und die gibt er niemandem preis.

Interpretation

1. Das Idyll

Alle Literatur ist Existenzaussage. Die Qualität bestimmt sich nach der Dichte und Tiefe, in der sie die Welt zum Durchscheinen bringt. Im Gegensatz zur philosophischen Abstraktion fasst sie das Allgemeine in concreto.

Warum dann aber nicht gleich Philosophie, Auf-den-Begriff-Bringen der Fülle, Unterscheiden von wahr und falsch, Licht-ins-Dunkel-Bringen? – Literatur setzt da ein, wo es darum geht, die Fülle der Erscheinung zu bewahren und Verständnis zu bringen, wo sich die Dinge in ihrer Verwicklung nicht mehr glatt ordnen lassen.

Das heißt aber: Auch Literatur ist geordnet und logisch. Ist sie es nicht, ist es schlechte Literatur. Es ist wie bei einem Schachspiel. Jeder Spieler verfügt über eine festgelegte Zahl von Figuren. Bauern ziehen wie Bauern, Springer springen wie Springer. Das ist alles. Aber der schlechte Spieler wird sich nach wenigen Zügen hoffnungslos in eine aussichtslose Situation gebracht haben. Manche Tricks, die der mittelmäßige Spieler einsetzt, gelingen, weil der Gegner noch schlechter ist. Gegen einen guten Spieler führen sie in den Abgrund. Ebenso wird schlechte Literatur in ihren Gegenständen vor dem guten Leser nicht bestehen.

Soll man Felix Timmermans als einen »mittleren Autor« bezeichnen, anzusiedeln zwischen dem Genus der hohen Literatur und trivialer Unterhaltung? Timmermans, würde ich lieber sagen, ist ein Meister der Kunst, Schwieriges auf einfache Weise zu sagen: Seine Geschichten sind leichtfüßig und sie wirken einfältig, mitunter fast verstörend kindlich. Aber das gilt nur für die Unverständigen, die nicht sehen, dass sich hinter dieser Fassade hohe Literatur nur tarnt. »Dulce est desipere in loco«2.

Timmermans bringt es zu einer geradezu unheimlichen Meisterschaft der schlicht-humorvollen Form. Seine Texte sind voller Obertöne und so einfach wie stimmig. Wie viel häuft er nicht hinein, was gibt ihnen die zwinkernde Vielbödigkeit, in der sie gelesen werden wollen? Als Sprungbretter nach oben, als Fenster in den »wirklichen Himmel«?

Ein solches Meisterwerk der Kunst des ridentem dicere verum3 ist Timmermans köstliche Geschichte »St. Nikolaus in Not«.

Eine köstliche Geschichte? Ja, köstlich ist sie auch. Aber sie ist doch viel mehr.

Dazu sollte man sich Folgendes klarmachen: »St. Nikolaus in Not« stammt aus dem Jahr 1924. Die Geschichte ist also keine sechs Jahre nach dem Großen Krieg geschrieben worden, dessen Front auch durch Belgien hindurchlief. In weiten Teilen des Landes konnte man jahrelang jeden Tag das Wummern der Kanonen hören, wie ein fernes Gewitter. Der Krieg war nahe.

Und Timmermans? Sollte er von dem Ganzen nichts mitbekommen haben? War er ein Eskapist, der sich neoromantisch in vergangene Zeiten zurückträumte? Ein »Heimatdichter«?

Es gibt ja verschiedene Weisen, auf die Not und das Existenzelend zu reagieren: Man kann es beschreiben und wiederholen. Man kann gebrochene Existenzen darstellen. Man kann einen weinerlichen Ton anschlagen und beim Jammern bleiben. Man kann aber auch, wie Timmermans es tat, ein Gegenbild suchen und, was wesentlich schwieriger ist, ohne in Kitsch abzugleiten, eine Idylle verfassen. Und man kann darin Antworten geben, die weiterhelfen. Man kann den Menschen helfen, in dieser Welt wieder Vertrauen zu fassen, kann ihnen helfen zu leben. Menschen, die in einer kaputten Welt leben, haben nichts von der Spiegelung ihres Elends. Sie sehnen sich nach einer heilen Welt, nach einer »Not«, die keine ist – oder doch?

Nehmen wir die kleine Geschichte von der »Not« des heiligen Nikolaus einmal ernst. Erfreuen wir uns am Humor dieser Erzählung, klopfen wir sie aber auch ein wenig ab auf den Ernst des Daseins, der darin ausgesprochen ist.

2. Eine persönliche Bemerkung

Zuvor noch ein Wort zu meiner persönlichen Begegnung mit dieser Geschichte: Zu uns kam der Nikolaus nie, das heißt er brachte uns zwar in jedem Jahr süße Gaben, die er in die zu diesem Zweck vor die Haustür gestellten Stiefel hineinlegte, doch ließ er sich nie »persönlich« sehen. Aber mein Vater las uns jedes Jahr die Geschichte von der Not des heiligen Nikolaus’ vor, bei Kerzenlicht, mit seiner warmen, sanften Stimme. Und so erlebte ich diese Geschichte, wie man sie nur als Kind erleben kann, in jener staunend-fragenden Art und Weise, die alle Bilder kindlich-wörtlich aufnimmt und die dann unmerklich zum Hinterfragen übergeht. Aber geblieben ist der Zauber der Geschichte immer. Auch heute nähere ich mich ihr nicht in einer Weise, die auf die eigene Aufgeklärtheit stolz ist und hinter der sich doch nur hochmütig-eingebildete Blindheit für das Geheimnis versteckt.

Anfangs nahm ich die Geschichte also wörtlich ernst. Natürlich kann ich mir selbst beim Aufwachen aus der Welt des Kindes nicht mehr zusehen. Aber da befand sich der Marktplatz des verschneiten Städtchens irgendwo bei uns und ich sann darüber nach, wie das gehen mochte: Sich auf einen Mondstrahl setzen und darauf herniedergleiten? Ich dachte an die vielen Kinder der Welt. Wie würde der Nikolaus damit fertigwerden, wo er sich doch schon mit der kleinen Cäcilie so lange aufhalten musste? Nun gut, es gab Helfer, vielleicht gab es mehr Nikoläuse. Ich rettete die Ursituation durch das Mittel der Vervielfachung.

Aber das ist eine schlechte Verteidigung eines in die Mühlen der Aufklärung geratenen Weltbildes: »Da stiegen fünfzig Engel hernieder!« – »Kaum glaublich, höchstens zehn!« Doch die Grundkoordinaten erschienen mir noch lange irgendwie wahr.

Und später? – Da erschienen sie mir immer noch als wahr. Entscheidend ist, wie man das Geheimnis lüftet: Man durchschaut es – und dahinter taucht der Betrug auf, das Nichts, die kalte Leere. Oder aber man erkennt hinter dem »falschen« Nikolaus, besser: hinter seinen Theaterrequisiten den »wirklichen St. Nikolaus«, wie es bei Timmermans heißt.

Wo wir nichts mehr sehen, da gibt es immer zwei Möglichkeiten. Erstens: Da ist nichts! Zweitens: Da können wir nichts mehr sehen. Timmermans’ Geschichte ist einfach, aber tief. Und deshalb steigen so viele Obertöne auf, dass man sie erst richtig versteht, wenn man das Bühnenbild nicht wegwirft, sondern sich auf das Stück einlässt, das da gespielt wird.

3. Der heilige Nikolaus

Thema der Erzählung ist der heilige Nikolaus. Dieser Heilige hat nicht nur in der Ostkirche, sondern auch im Westen eine riesige Bedeutung. Im Westen kam seine Verehrung auf, nachdem Kaiserin Theophanu, die Gattin Kaiser Ottos II., die eine purpurgeborene byzantinische Prinzessin war, den Heiligen sozusagen geistlich in Westeuropa eingeführt hatte. Physisch kam er nach, das heißt seine Gebeine folgten, als Kaufleute aus dem süditalienischen Reich der Normannen den Leichnam 1087, wenige Jahre vor der Eroberung der Gegend durch die Seldschuken, aus seiner kleinasiatischen Heimat Myra raubten und ihn nach Bari in Apulien brachten. Dort wird er bis heute verehrt.

Nikolaus wurde ein sehr wichtiger Heiliger. Er wurde zum Patron unter anderem der Bäcker, Seefahrer, Mädchen, Gefangenen, Apotheker, Juristen und Schüler.4 Seine Bekanntheit verdankt sich nicht zuletzt dem Brauch, den Kindern am Nikolaustag ihre Geschenke zu übergeben. Wahrscheinlich war es Luther, der in den evangelischen Gegenden diesen Brauch abschaffte und das Christkind »erfand«, um die Heiligenverehrung zurückzudrängen. Da es aber doch irgendwie logischer und einleuchtender blieb, wenn ein Mann mit Sack die Geschenke brachte, mutierte der Heilige in den protestantischen Gegenden vielerorts zum Weihnachtsmann. Der hat sein rotes Outfit und die lächerliche Mütze erst seit 1931, aus einer Werbekampagne von Coca-Cola.5 Das richtige Aussehen des Heiligen wird von Timmermans vorgeführt: Nikolaus war ein Bischof und deshalb trug er auch die Tracht eines Bischofs. Dargestellt wird er immer im vollen gottesdienstlichen Ornat, also nicht in der schlichteren Alltagskleidung: »... während es sich gar nicht fassen konnte, über den goldenen Bischofsmantel, der funkelte von bunten Edelsteinen wie ein Garten, über die Pracht der Mitra, woraus ein diamantenes Kreuz Licht in die Nacht hineinschnitt wie mit Messern, über den Reichtum der Ornamente am Krummstab, wo ein silberner Pelikan das Rubinenblut pickte für seine Jungen, während es die feine Spitze besah, die über den purpurnen Mantel schleierte …«

Freilich unterlag auch die Tracht der Kleriker gewissen Moden – wenngleich die Entwicklung auf diesem Gebiet ganz anderes verlief als in der restlichen Welt. Im Prinzip tragen die Kleriker immer noch die Tracht der spätrömischen Staatsbeamten, die sie wohl schon im 3. Jahrhundert nach Christus übernommen haben. Einige ihrer Insignien bekamen eine oft sehr tiefsinnige symbolische Bedeutung zugewiesen – der Krummstab zum Beispiel bezeichnet den Hirtenstab, der Amikt6 die Überschattung mit dem Schutz Gottes. Auch die Farben haben besondere Bedeutung und wechseln je nach Charakter. Die Farbe Weiß wird, gemeinsam mit Gold, an den freudenreichen Hochfesten getragen, wie zum Beispiel an Weihnachten oder am Ostersonntag. So kennen wir den eigentlichen Nikolaus. Rot hingegen steht für die Märtyrer und für die entsprechenden Feste – besonders auffällig, wenn am 26. Dezember, am Tag des ersten Märtyrers Stephan, das Rot das weihnachtliche Weißgold ablöst und uns darin erinnert, dass die Geburt Christi kein idyllisches Geschehen war. Im Mittelalter trugen die gewöhnlichen Bischöfe dagegen die Farbe Grün.

Wer war nun der ursprüngliche, der wirkliche, besser: der historische St. Nikolaus? Viel wissen wir nicht über ihn. Immerhin doch so viel, dass er Ende des 3. Jahrhunderts nach Christus in Lykien geboren wurde7, dass er Abt des Klosters Sion in der Nähe von Myra wurde, dass er höchstwahrscheinlich am Konzil von Nikaia 325 n. Chr. teilgenommen hat, – die Überlieferung, er habe Arius ins Gesicht geschlagen, erweist ihn als einen vehementen Vertreter der orthodoxen Seite: Wo der wahre Glaube bedroht ist, hört das Verständnis auf!8 – auch dass er die Christenverfolgung noch am eigenen Leib miterlebt hat – er wurde 310 gefangengenommen und gefoltert –, dass er aber im Gegensatz zu den Heiligen der ersten Jahrhunderte für seinen Glauben an Christus nicht gestorben ist.9 So ist dieser Heilige als einer der ersten zwar ein Bekenner, aber kein Märtyrer.

Neben das furchtlose Bekenntnis des Glaubens tritt bei ihm ein zweites Element: Nikolaus, der sein ganzes Erbe unter den Armen verteilte, ist wohl der erste Heilige der tätigen Nächstenliebe. Und so kann man in unserem Zusammenhang die ins Grundsätzliche reichende Frage stellen, was mehr wert ist: Der große Wurf, die einmalige große Tat, das Über-sich-Hinauswachsen des Blutzeugen, der seinen Leib für Christus und das Heil seiner Seele gibt, oder das weniger auffällige, unscheinbare Leben der dauerhaft durchgehaltenen Nächstenliebe? Aus den Legenden, die in reicher Zahl vom heiligen Nikolaus erzählt werden, so unterschiedlich sie auch sein mögen, leuchtet doch durchgehend ein Zug hervor: Alle kann man sie lesen als Widerschein einer lebenslang durchgehaltenen, kontinuierlich ausgestrahlten Güte und Liebe.