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Zwei Jahre sind vergangen, seit Astra Aquilo in die Schwanengarde aufgenommen wurde und das Herz des neuen Königs Callan erobert hat. Als seine Geliebte und zugleich Leibwächterin wandelt sie auf einem schmalen Grat, auf dem es immer schwerer wird, die Balance zu halten. Als das Nachbarkönigreich Netyrae an den Rand eines Bürgerkriegs gerät, begleiten Astra und die Garde Callan auf eine gefährliche Reise. Fern von zu Hause werden Astras Beziehung und ihre eigene Belastbarkeit auf die Probe gestellt, denn im Schatten des fremden Palasts lauern Verrat und ein unsichtbarer Gegner, der Callans Leben bedroht. Zwischen Intrigen, wachsender Gefahr und innerem Zwiespalt ist Astra gezwungen, über sich hinauszuwachsen. Glücklicherweise sind Herausforderungen schon immer ihre Spezialität gewesen ...
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Seitenzahl: 945
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Hope is the thing with feathers
That perches in the soul
And sings the tunes without the words
And never stops at all
I‘ve heard it in the chillest land
And on the strangest sea;
Yet, never, in extremity,
It asked a crumb of me
~ Emily Dickinson
Teil 1: Zwischen zwei Welten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Teil 2: Drahtseilakt
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Teil 3: Auflehnung
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Masken.
In einem Palast trug jede Person eine Maske. Manche besaßen viele verschiedene, die sie je nach Situation und Gesellschaft auswechselten und so immer andere Gesichter zeigten. Andere hingegen waren so anpassungsfähig und subtil, dass sie nur eine einzige Maske für alle Anlässe benötigten.
Und manch eine Person verbarg sich so geschickt hinter einem falschen Gesicht, dass ihre dunklen Absichten erst ans Tageslicht kamen, wenn es bereits zu spät war.
Abwägend musterte Astra Aquilo ihr Gegenüber. Ihr Blick glitt über unbewegte Gesichtszüge und Augen, die nicht einen Hauch von Emotion verrieten. Die Fassade war makellos. Astra konnte nur erahnen, welche hinterhältigen Gedanken die Person kaschieren sollte.
Dennoch musste sie eine Entscheidung treffen. Wollte sie das Risiko eingehen? War ein direkter Angriff eine kluge Idee, oder sollte sie besser auf Nummer Sicher spielen?
Etwa zwei Jahre waren vergangen, seit Astra als Anwärterin der Schwanengarde das erste Mal mit Palastintrigen in Berührung gekommen war. Helianes Verrat hatte sie damals eine prägende Lektion gelehrt. Und Astra hatte sich geschworen, nie wieder zu unterschätzen, wie sehr man sich in einer Person täuschen konnte.
Doch in diesem Fall war sie lange genug um ihren Gegner herumgetanzt. Jetzt wollte sie ihn bluten sehen.
„Königin und Schildmaid“, sagte Astra und legte zwei ihrer Karten offen vor sich ab. „Eine schier unschlagbare Kombination, möchte ich meinen.“
„Nicht schlecht“, kommentierte Sóley Dorea von der Seite. „Jetzt bin ich aber mal gespannt.“
Astra erlaubte sich ein feines Lächeln und richtete ihren Blick auf den jungen Mann, der ihr gegenübersaß. „Und? Gibst du auf?“
In diesem Moment begann die sorgfältig kultivierte Maske ihres Gegners aufzubrechen. Ein amüsiertes Schmunzeln zuckte über seine Lippen – und Astras Siegessicherheit löste sich in Rauch auf, noch bevor er seine Karten zeigte.
„Himmel und Erde“, erwiderte Lord Egan Vayera, während er das entsprechende Kartenpaar seelenruhig über Astras Karten ablegte. „Ich fürchte, die Naturgewalten beugen sich nicht mal zwei so bemerkenswerten Damen.“
Sóley warf einen Blick auf Egans Karten und brach in schallendes Gelächter aus. „Da hat er dich aber ganz schön an der Nase herumgeführt.“
„Hmpf“, machte Astra und warf ihrer besten Freundin einen beleidigten Blick zu. „Solltest du nicht auf meiner Seite stehen?“
„Ich stehe auf niemandes Seite“, entgegnete Sóley süffisant. „Ich bin hier schließlich nur die unbeteiligte Zuschauerin mit Spielverbot. Auf dein Betreiben hin, möchte ich erwähnen.“
„Ja, weil du ständig mogelst!“
Sóley machte ein unschuldiges Gesicht. „Dafür kann ich allerdings behaupten, Egan schon mal geschlagen zu haben. Du bist selbst schuld, wenn du darauf bestehst, ehrlich zu spielen.“
Astra gab ein empörtes Geräusch von sich, aber als Sóley nur fröhlich grinste, musste sie doch lachen. „Nie wieder spiele ich gegen einen von euch beiden Karten.“
„Wir werden sehen, wie lange du deinen Ehrgeiz im Zaum halten kannst“, meinte Egan und schob mit einer wischenden Bewegung alle Karten zu einem Haufen zusammen. Seine blauen Augen funkelten vergnügt, während er sie zu einem ordentlichen Stapel auftürmte. „Wie ich dich kenne, kannst du diese Niederlage nicht ewig auf dir sitzen lassen.“
„Vorsicht“, warnte Astra. „Sonst komme ich doch noch auf Sóleys Angebot zurück und lasse mir zeigen, wie man gewinnbringend schummelt.“
„Keine Ahnung, wovon sie da redet“, behauptete Sóley, als Egan ihr den Blick zuwandte. „Sehe ich aus wie die Sorte Mensch, die ihre rechtschaffene, ehrliche Freundin derart verderben würde?“
Die Antwort auf diese Frage hing nur allzu deutlich in der Luft, doch bevor Egan einen Fehler begehen konnte, öffnete sich die edel gearbeitete Tür zu Astras Linken. Instinktiv sprang sie auf die Füße und entfernte sich einige Schritte vom Tisch. Sóley reagierte im selben Moment und löste sich von der Wand, an der sie gelehnt hatte. In identischer Habachtstellung, eine Hand auf den Griffen ihrer Schwerter ruhend, blieben sie vor der Tür stehen.
Callan Duhera, König von Thessarin und Eigentürmer des Arbeitszimmers, das sich jenseits des Zugangs befand, trat in das Wohnzimmer. Er war hochgewachsen und dunkelhaarig, mit grünen Augen, die im Kontrast zu seiner olivfarbenen Haut standen. Obwohl er gerade mal 22 Jahre alt war, wirkte er älter und ernsthafter, als seine Lebensjahre vermuten ließen. So war er bereits gewesen, als Astra ihn kennengelernt hatte – noch bevor er seine Mutter und Schwester verloren hatte und ihm die Last eines ganzen Landes auf die Schultern gelegt worden war.
Doch Astra wusste auch, was sich alles hinter seiner seriösen Miene verbarg und so war sie nicht überrascht, als sich Callans Stirnfalten glätteten und ein amüsierter Ausdruck über sein Gesicht zuckte. „So, so. Meine Wachen und mein bester Freund sitzen hier gemütlich beisammen und spielen Karten, während ich mich mit einem Botschafter herumschlagen muss. Das finde ich weder besonders rücksichtsvoll noch pflichtbewusst.“
„Astra und ich gehören zu den besten Jungschwänen der Garde“, sagte Sóley indigniert. „Wir können Seine Majestät auch dann bewachen, wenn wir nicht wie Statuen neben seiner Tür stehen und die Gemälde böse anstarren.“ Sie begann zu grinsen. „Außerdem war uns langweilig und es war Egans Idee. Wenn du jemanden auspeitschen lassen willst, wende dich an ihn.“
„He!“, empörte sich Egan. „Ich bin Erbe eines Herzogtums. Ich bin unantastbar.“
„Echt? Dann würde dieses Kissen hier einfach an dir abprallen, wenn ich es nach dir werfe?“
Astra presste die Lippen zusammen, um nicht zu lachen. „Kartenspielen war leider die einzige Möglichkeit, um die beiden etwas ruhigzustellen“, sagte sie an Callan gewandt, halb belustigt, halb ernsthaft. „Anderenfalls hätte ich derartigem Mangel an Disziplin nie zugestimmt.“
Callan warf ihr ein wissendes Schmunzeln zu. „Keine Rechtfertigung notwendig. Im Grunde wart ihr hier sowieso überflüssig.“
Damit hatte er recht. Das königliche Arbeitszimmer, in dem Callan bis eben mit einem ausländischen Botschafter gesprochen hatte, besaß zwei Eingänge: Der erste war die mit Schnitzereien verzierte Tür, durch die er eben gekommen war, und die direkt an seine Privatgemächer anschloss. Der zweite und gleichzeitig offizielle Zugang öffnete sich zu einem der Palastkorridore und wurde von Audienzsuchenden und Callans Sekretären benutzt. Vor dieser Tür standen zwei Mitglieder der Schwanengarde und regulierten den Zugang.
Abgesehen vom Arbeitszimmer führte nur ein weiterer Weg in die Gemächer des Königs, nämlich der durch eine Tür am anderen Ende des Wohnzimmers. Auch dort lag ein Gang, auf dem ebenfalls zwei Schwäne Stellung bezogen hatten.
Somit hätte auf Astras und Sóleys Stationierung innerhalb der Gemächer tatsächlich verzichtet werden können. Allerdings hatte der Erste Schwan Irulane Tuvia auf eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung bestanden, denn „wenn ausländische Würdenträger im Haus sind, ist Vorsicht besser als Nachsicht.“
Es war kein Zufall, dass Irulane für diese Aufgabe Astra und ihre beste Freundin ausgewählt hatte. Sie wusste genau, dass Callan dann nämlich keine Einwände erheben würde. Denn der junge König grummelte häufiger über die Anzahl an Beschützerinnen, die ihm zugeteilt wurden, aber Astra und Sóley akzeptierte er immer ohne Widerspruch an seiner Seite.
„Wie lief das Gespräch?“, erkundigte sich Astra. Callans Stirnrunzeln war zwar blitzschnell verschwunden, aber es hatte ihr bereits genug mitgeteilt. „Gibt es Neuigkeiten wegen des letzten Überfalls?“
Callan schüttelte den Kopf. „Scheinbar konnten die Verantwortlichen nach wie vor nicht ausfindig gemacht werden.“
Nun war es an Astra, kritisch die Stirn zu runzeln. Diese Entwicklung, oder vielmehr das Ausbleiben einer solchen, fand sie langsam aber sicher besorgniserregend.
„Ich höre wohl nicht recht“, sagte Egan. Von seiner vorherigen spielerischen Arroganz fehlte jede Spur und er stand mit finsterer Miene von seinem Stuhl auf. „Dieser Zwischenfall war bereits der vierte Überfall auf eine Handelskolonne aus Thessarin. Hat Netyrae etwa extra einen Botschafter geschickt, um dir mitzuteilen, dass diese Räuberbande immer noch ungehindert ihr Unwesen treibt?“
„Nicht ungehindert“, erwiderte Callan ruhig und begann, seine dunkelgrüne Jacke aufzuknöpfen. „Der Botschafter hat mir versichert, dass sie verschiedene Maßnahmen ergreifen, um den Überfällen ein Ende zu setzen. Hauptsächlich wurde er aber geschickt, um mich in ein bisher gut gehütetes Geheimnis einzuweihen.“
„Das da wäre?“
Callan hob eine Augenbraue, ließ Egans forschen Tonfall allerdings unkommentiert. „Kein Wort hiervon verlässt diesen Raum“, sagte er und wartete, bis Astra, Sóley und Egan ihre Zustimmung gegeben hatten. „Offenbar handelt es sich nicht um eine gewiefte Räuberbande, sondern um eine Rebellengruppe, die sich Der Schatten nennt. Diese Gruppierung hat es sich wohl zum Ziel gesetzt, König Heros das Leben schwer zu machen. Ihr jüngster Ansatz ist allem Anschein nach die Sabotage der Handelsbeziehungen zwischen Netyrae und Thessarin.“
Unwillkürlich vertieften sich die Falten auf Astras Stirn. Der Handel zwischen Thessarin und dem Nachbarland Neytrae hatte schon lange Bestand, war aber in der jüngeren Geschichte immer wieder gefährlich prekär geworden. Zwischen Callans Großvater und dem damaligen Netyraer König hatten kaum verborgene Animositäten geherrscht, die nur deshalb nicht ausgeartet waren, weil beide die Interessen ihrer Länder über persönlichen Groll gestellt hatten.
Callans Mutter, Königin Lysann, hatte sich während ihrer Regentschaft darum bemüht, die Beziehung nach Neytrae wieder zu verbessern. Eine Aufgabe, die Callan von ihr übernommen hatte und immer noch einiges an Arbeit erforderte.
„Und?“, hakte Egan ein weiteres Mal nach.
„Nichts und. Mir wurde mitgeteilt, dass diese Rebellengruppe bereits seit einigen Jahren ein Problem darstellt. Bisher konnte ihnen aus verschiedenen innerpolitischen Gründen kein Einhalt geboten werden. Der Botschafter hat mir mitgeteilt, dass König Heros sich der Sache annimmt und Sicherheitskonzepte für unsere Händler ausarbeitet, bis er der Lage Herr werden kann.“
„Das ist alles?“ Egan schaute Callan ungläubig an. „Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“
„Würde es dir besser gefallen, wenn ich mich aufregen würde?“ Callan schlüpfte aus seiner Jacke. Nachdem er sie über die Lehne eines nahestehenden Sessels gelegt hatte, wandte er sich seinem besten Freund zu. „Mir gefällt diese Angelegenheit auch nicht. Aber im Augenblick sehe ich keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Das Problem liegt außerhalb meiner Landesgrenzen und ich werde mich hüten, mich ungebeten in politische Angelegenheiten anderer Königreiche einzumischen.“
Er begann die Ärmel seines weißen Hemds hochzukrempeln und Astra bemerkte, dass er dies mit wesentlich mehr Nachdruck als nötig tat. Das Gespräch mit dem Botschafter hatte ihm Sorgen bereitet, aber Egans unnachgiebiges Nachfragen strapazierte langsam seine Nerven.
Sie wechselte einen kurzen Blick mit Sóley. Worte oder Gesten waren nicht nötig, um festzustellen, dass ihre Freundin dieselbe Beobachtung gemacht hatte.
„Momentan gibt es nur zwei Optionen“, fuhr Callan fort, sein Tonfall nun einen Hauch gereizter als zuvor. „Ich kann die Händler nicht mehr über die Grenze lassen und den Handel vorübergehend einstellen, oder ich stelle Geleitschutz zur Verfügung. Ersteres ist nicht tragbar, also werde ich das andere tun und ansonsten abwarten, bis Netyrae die Situation unter Kontrolle bringt.“
„Eine kluge Entscheidung“, warf Astra ein, bevor Egan zu einer Antwort ansetzen konnte. Sie trat einige Schritte näher und legte ihre Hand auf Callans Arm. „Und da du sie bereits getroffen hast, müssen wir auch nicht weiter diskutieren. Wie wäre es mit etwas zu essen und einer Kanne Tee?“
„Großartiger Vorschlag.“ Sóley wartete Callans Reaktion – oder Erlaubnis – gar nicht erst ab und ging schnurstracks zu der Bedienstetenklingel, die hinter einem Vorhang verbogen an der Wand angebracht war. Dort zog sie dreimal energisch an dem dünnen Seil, das irgendwo außerhalb der Gemächer nun eine Glocke läutete. „Egan hier hat jedenfalls dringend einen Bissen nötig, finde ich. Warum sonst ist er jetzt so griesgrämig, obwohl er beim Kartenspielen triumphiert hat?“
Unter Sóleys strengem Blick machte Egan ein schuldbewusstes Gesicht und rieb sich über den Nacken. „Wahrscheinlich hast du recht. Entschuldige, Callan.“
Callan machte eine abwinkende Geste, doch seit Astras und Sóleys Eingreifen war merklich Anspannung aus seinen Schultern gewichen. „Er hat also wieder mal wieder angeben müssen, hm?“, erkundigte er sich dann mit einem kleinen Schmunzeln bei Astra. „Wie dicht am Sieg warst du diesmal?“
„Dicht genug“, brummte Astra. „Wenn Sóley ihn zuvor nicht so gnadenlos über den Tisch gezogen hätte, würde ich glatt vermuten, dass er auch mogelt.“
„Unlautere Mittel habe ich nicht nötig“, erwiderte Egan und grinste frech. „Alles eine Frage der Strategie und des Könnens.“
„Solche Talente haben dir nicht geholfen, als ich dich abgezogen habe. Dreimal hintereinander.“ Sóley guckte, als könnte sie kein Wässerchen trüben. „Scheint, als wären Strategie und Können keinen Pfifferling wert, wenn deine Gegnerin cleverer ist als du.“
„Ich brauche neue Freunde“, bemerkte Astra trocken. „Die da betrügt, ohne einen Hehl daraus zu machen, und er hat ein Ego, das kaum mit ihm in einen Raum passt.“
Callan lachte auf und legte dann einen Arm um Astras Schultern. „Wie gut, dass du noch mich hast.“
„Ja, aber du bist zum Kartenspielen auch nicht zu gebrauchen“, seufzte Astra. „Du meinst immer, den Kavalier geben zu müssen und lässt mich gewinnen.“
„Nichts dergleichen tue ich!“, gab Callan zurück, aber seine empörte Miene kaufte Astra ihm nicht ab.
„Lass gut sein“, feixte Sóley. „Von allen hier anwesenden Personen bist du der Einzige, der keinen Funken Ehrgeiz an den Tag legt, wenn es ums Gewinnen geht. Davon abgesehen würde sogar ein Blinder mit Krückstock sehen, dass du vernarrt genug bist, um Astra gewinnen zu lassen.“
Callan hob eine Augenbraue, doch in seinen Augen blitzte der Schalk. „Ich erinnere mich vage, dass ich noch jemanden auspeitschen lassen wollte. War das eine Freiwilligenmeldung?“
„Ach, wie doof, mir fällt eben ein, dass Astra und ich dringend Irulane Bericht erstatten müssen“, konterte Sóley aalglatt und machte ein paar Schritte rückwärts. „Ich kann mich also dummerweise für überhaupt nichts melden, freiwillig oder nicht. Astra – Abmarsch.“
Astra schluckte ihr Lachen herunter und räusperte sich. „Ja, die Pflicht ruft. Einen angenehmen Nachmittag noch, Majestät. Lord Vayera.“ Sie deutete ein neckisches Nicken in Egans Richtung an und machte sich dann daran, Sóley zu folgen.
Ihre Freundin war bereits durch die Tür und auf den Korridor getreten, da spürte Astra eine Hand an ihrem Arm, die sie zurückhielt. Der lockere Griff war ihr vertraut, weshalb ihre antrainierten Reflexe nicht anschlugen und ihn abschüttelten. Stattdessen gab Astra nach und ließ zu, dass Callan sie einige Schritte zurück und an sich zog.
„Sehe ich dich heute Abend?“, fragte er, leise genug, dass nur sie die Worte hören konnte.
„Wenn Hadeya mich beim Training nicht zu sehr durch die Mangel dreht, könnte ich nach dem Abendessen ein Weilchen vorbeikommen“, erwiderte Astra und ließ ihren Blick über sein Gesicht schweifen. Das amüsierte Funkeln war aus seinen grünen Augen gewichen und stattdessen sah sie darin Zuneigung, die nur für sie bestimmt war.
„Und wenn du stattdessen etwas früher kommst und mit mir zu Abend isst?“
Astras Lächeln verblasste ein wenig. „Ich weiß nicht, ob ich nach zwei Stunden Kampftraining noch ausreichend gesellschaftsfähig sein kann. Der Botschafter wird nicht beeindruckt von mir sein, wenn ich müde, hungrig und notdürftig zurechtgemacht beim Essen auftauche.“
„Ich hatte auch nicht vor, ihn einzuladen. Ich hatte an einen ruhigen Abend zu zweit gedacht. Das Essen lasse ich hierher bringen und du musst dir keine Gedanken wegen irgendwas machen“, gab Callan zurück. Seine Mundwinkel zuckten nach oben. „Ich habe nichts dagegen, wenn du müde, hungrig und in Uniform bei mir auftauchst.“
„Und was ist mit dem Botschafter? Wird er nicht erwarten, dass er gemeinsam mit dir zu Abend isst?“
Callan deutete ein Augenrollen an. „Der Botschafter hatte in den letzten Tagen oft genug das Privileg meiner Zeit, auch beim Abendessen. Zur Abwechslung würde ich gern mal ein paar Stunden mit jemandem verbringen, den ich tatsächlich leiden kann“
Unwillkürlich musste Astra lachen. „Das klingt wirklich furchtbar romantisch, Callan.“
„Das wollte ich mir lieber für später aufheben“, gab er zurück und lehnte seine Stirn gegen ihre. „Also, haben wir einen Plan?“
Astra spürte, wie sie weich zu werden begann. Callan hatte ein besonderes Talent dafür, die richtigen Dinge auf genau die richtige Weise zu sagen. Auch nach zwei Jahren war es nicht einfacher geworden, sich dem zu entziehen. Doch sie konnte auch nicht jedes Mal nachgeben, wenn er irgendwelche Ideen hatte.
„Ich würde gerne Ja sagen“, erwiderte sie also und zog sich zurück, um seinem Blick begegnen zu können. „Aber ich kann nicht guten Gewissens der Grund sein, warum du einen wichtigen Staatsbesucher versetzt.“
Callan seufzte. „Weshalb wusste ich nur, dass du das sagen würdest? Schön, dann eben nach dem Abendessen?“
„Wenn du das überstanden hast, werde ich hier schon auf dich warten“, gab Astra mit einem Lächeln zurück.
„Wenigstens etwas, auf das ich mich freuen kann.“ Callan machte ein so leidgeprüftes Gesicht, dass sie erneut lachen musste.
Astra war sehr wohl bewusst, dass Egan ebenfalls immer noch im Raum war. Momentan guckte er nicht besonders überzeugend zur Decke, ganz so, als würde er überhaupt nicht bemerken, was einige Meter von ihm entfernt passierte. Doch für den Augenblick blendete sie seine Anwesenheit aus, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Callan.
Dagegen konnte sie vermutlich kein Training der Welt unempfindlich machen, und so fiel es ihr alles andere als leicht, sich schon nach ein paar Momenten wieder von ihm zu lösen.
Das hieß, es wäre ihr alle andere als leichtgefallen, hätte Sóley nicht exakt diesen Moment gewählt, um wieder ins Zimmer zu kommen und vorwurfsvoll nach ihr zu rufen. Oder wenn nicht direkt hinter Sóley eine Magd die Gemächer betreten hätte, die vor Überraschung beinahe ihr Tablett fallen und dabei das Geschirr lauthals klirren ließ.
Callan zog sich mit einem Seufzen zurück. „Hier ist man aber auch nie ungestört.“
„Ein Grund mehr, sich auf heute Abend zu freuen“, gab Astra zurück und trat aus seiner Umarmung. „Bis später.“
Als Astra und Sóley das doppelflügelige Portal mit den geschnitzten Schwänen durchschritten, überquerten sie gleichzeitig auch eine mehr oder weniger offizielle Grenze. Der Teil des Westflügels, den sie nun betraten, wurde Schwanentrakt genannt. Er bildete die Unterkunft für alle Mitglieder der Garde, die im Palast stationiert waren.
Vor zwei Jahren war der Trakt Astras neues Zuhause geworden und für sie war er immer noch einer der schönsten Bereiche des gesamten Palasts. Sie liebte die hellblaue Tapete, die alle Korridore hell und luftig wirken ließ, als wären die Wände aus einem Stückchen Himmel gefertigt. Und überall waren Wandteppiche, Skulpturen und Gemälde zu finden, die überwiegend Schwäne darstellten. Viele dieser Kunstwerke waren von begabten Gardemitgliedern im Verlauf ihrer Dienstjahre geschaffen worden. Damit waren sie so viel mehr als Dekoration – jedes Werk war ein Stückchen Gardegeschichte.
Jenseits des Portals schlugen Astra und ihre Freundin den kürzesten Weg zum nächsten Treppenhaus ein und stiegen ins Erdgeschoss hinab, wo sich das Büro des Ersten Schwans Irulane Tuvia befand. Unterwegs kamen ihnen zwei Mädchen im Alter von 18 oder 19 Jahren entgegen, die schüchtern grüßten und dann in Richtung der Unterrichtsräume davoneilten.
Sóley schnalzte mit der Zunge. „Haben wir damals auch so jung und harmlos ausgesehen?“, wollte sie wissen. „Die meisten unserer Neuzugänge kommen mir vor, als wären sie aus der Schule ausgebüxt und ohne Erlaubnis ihrer Eltern unterwegs.“
„Keine Sorge“, schmunzelte Astra. „Du hast vermutlich in deinem ganzen Leben noch nie harmlos gewirkt. Deshalb waren die Anwärterinnen bei dir auch immer so brav. Die haben dir deine ganzen ausgefallenen Fischerdorf-Anekdoten alle abgekauft und hatten Angst, du könntest deine kreativen Bestrafungsmethoden auch bei ihnen anwenden.“
Die Neuzugänge, von denen Sóley sprach, waren die frischgebackenen Küken, die vor wenigen Wochen in die Garde aufgenommen worden waren. Denn zum ersten Mal seit Astras und Sóleys Verpflichtung hatten diesen Sommer wieder Anwärterinnen ihre Probezeit abgeleistet. Und es war eine interessante Erfahrung gewesen, diese Phase diesmal von der anderen Seite aus zu erleben – in der Rolle der unterrichtenden und bewertenden Jungschwäne.
Wenig später standen Astra und Sóley vor dem Büro von Kommandantin Tuvia. Sóley klopfte auf ihre übliche energische Art an die Tür, worauf ein gedämpftes „Herein“ ertönte.
Astra konnte sich noch gut daran erinnern, wie das Büro des Ersten Schwans unter Irulanes Vorgängerin Hala Abreo ausgesehen hatte: nachlässig eingerichtet mit Möbelstücken, die kaum zueinander passten und die Hala von verschiedenen Vorbesitzerinnen übernommen hatte. Die frühere Gardekommandantin hatte kaum einen Gedanken an Ästhetik verschwendet und stattdessen den Fokus auf Funktionalität und Effizienz gerichtet. Und das nicht nur, was ihr Arbeitszimmer anging. Astra und Sóley hatten Halas Austritt aus der Garde etwa ein halbes Jahr nach Callans Krönung sehr bedauert.
Ihre Nachfolgerin unterschied sich in Persönlichkeit und Arbeitsweise manchmal sehr von Hala, doch Irulane Tuvia hatte sich dennoch als würdige Nachfolgerin erwiesen. Ihre Büroeinrichtung war strikt einheitlich und strukturiert. Helles Holz dominierte den Raum ebenso wie der große Aktenschrank hinter dem Schreibtisch, in dem Irulane ihre Unterlagen alphabetisch sortiert aufbewahrte.
„Ah, Astra, Sóley.“ Irulane stand vor dem geöffneten Fenster und blickte bei Astras und Sóleys Eintreten über ihre Schulter. Sie schloss das Fenster und wandte sich um. „Ich nehme an, es gibt keine Schwierigkeiten zu berichten?“
„Nicht die geringsten, Kommandantin“, erwiderte Sóley.
Astra blieb neben ihrer Freundin vor Irulanes Schreibtisch stehen und verfiel ebenfalls in eine angemessene Haltung. Die Garde war nicht das Militär, daher war Strammstehen nicht üblich. Doch zumindest eine aufrechte Körperhaltung und locker hinter dem Rücken verschränkte Hände wurden bei förmlichen Gesprächen mit Vorgesetzten erwartet.
„Soweit wir wissen, ist das Gespräch mit dem Botschafter ruhig verlaufen“, ergänzte sie Sóleys Bericht. „Auch die Wachposten vor den Gemächern und dem Arbeitszimmer haben keine besonderen Vorkommnisse gemeldet.“
Irulane nickte und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. „Das war zu erwarten. Trotzdem hat es sicher nicht geschadet, dass ihr in der Nähe wart.“ Sie deutete auf die beiden Stühle vor dem Schreibtisch. „Setzt euch. Ich vermute, ihr habt mit Seiner Majestät gesprochen, bevor ihr gegangen seid? Gibt es Neuigkeiten, von denen ich wissen sollte?“
Diese Frage kam nicht unerwartet.
Die meisten Gardemitglieder waren bürgerliche Frauen wie Astra und Sóley, doch Irulane gehörte zu den wenigen Ausnahmen, die aus Adelsfamilien stammten. Das bedeutete, dass sich ihre perfektionistische Ader mit einem inhärenten Interesse für Palastintrigen und politische Entwicklungen kombinierte. Das Resultat war, dass Irulane alles in Erfahrung zu bringen versuchte, das irgendwie relevant sein könnte. Sie würde es nie wagen, Callan direkt auszuspionieren. Doch wenn sie über ihre Schwäne frühzeitig an Informationen gelangen konnte, dann nutzte sie diese Option auch aus. Denn abgesehen von einer Perfektionistin war Irulane auch eine akribische Planerin. Und als solche war sie gern gründlich vorbereitet.
Manchmal brachte das Astra in eine echte Zwickmühle. Als Gardemitglied war sie verpflichtet, ihrer Kommandantin zu antworten, und als Callans Freundin wollte sie seine Privatsphäre schützen. Außerdem ließ er sie des Öfteren wie heute an seinen Sorgen und Geheimnissen teilhaben und vertraute auf Astras Verschwiegenheit.
Meist gelang es ihr, irgendeinen Mittelweg zu finden oder abzuwägen. Und in anderen Fällen gab es immer noch Sóley, die sich geschickt aus jeder Misere herausreden konnte.
„Der König kam uns ein wenig verärgert vor, aber die Details des Gesprächs mit dem Botschafter waren vertraulich“, erklärte sie nun, ohne eine Miene zu verziehen. „Wahrscheinlich können wir davon ausgehen, dass die Situation weiterhin angespannt bleiben wird.“
Astra schmunzelte stumm in sich hinein. Sóley hatte mit keinem Wort gelogen. Sie erwähnte lediglich nicht, dass Callan die vertraulichen Details dennoch in ihrem Beisein verraten hatte.
„Ich verstehe.“ Irulane runzelte nachdenklich die Stirn. „Noch etwas?“
„Der König wird später wie geplant gemeinsam mit dem Botschafter zu Abend essen“, antwortete Astra. „Es sind also keine kurzfristigen Änderungen in seinem Tagesablauf zu erwarten.“
Nachdem Irulane sie entlassen hatte, blieb Astra und Sóley noch eine knappe Stunde „Freizeit“. Diese verbrachten sie im kleinen Salon, bewaffnet mit Fächern und dem Lehrbuch Etikette für das junge Frauenzimmer, um das Verhalten im Ballsaal zu üben. Diese Einheiten zählten nicht gerade zu Astras Lieblingsbeschäftigungen, gehörten aber ebenfalls unerlässlich zum Trainingsplan. Denn es kam nicht selten vor, dass die Schwanengarde zusätzlich zu uniformierten Wachen auch zivil gekleidete aussandte. Diese hatten in der Regel die Aufgabe, sich in Festgesellschaften oder andere Gruppen einzuschleusen und verdeckt ein Auge auf den König zu haben. So blieben sie vor potenziellen Attentätern verborgen und hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Damit diese Taktik funktionierte, mussten die Schwäne sich allerdings nahtlos in die Gesellschaft integrieren – weshalb jedes Gardemitglied Hofetikette, Tanz und Konversation genauso lernen musste wie Selbstverteidigung und körperliche Fitness.
Den Rest des Nachmittags verbrachten Astra und Sóley mit Schwertkampftraining bei ihrer Ausbilderin Hadeya. Diese war gnadenlos wie immer und jagte Astra und die übrigen Jungschwäne durch eine anstrengende Trainingseinheit, die ihren Abschluss in einer Runde Schwerterpolieren fand. Denn wie Hadeya gern zu sagen pflegte: Wer seine Waffe nicht ehrt, ist ihrer nicht wert.
Mit schmerzenden Muskeln, ein paar neuen blauen Flecken und Polierfett an den Händen war Astra wirklich froh, dass sie nicht von Callan zum Abendessen erwartet wurde. Weder für ein förmliches Umfeld noch für ihn allein fühlte sie sich auch nur ansatzweise präsentabel genug. Der Speisesaal im Schwanentrakt hingegen war kein Problem. Dort gab es immer jemanden, der noch müder und schlimmer durch die Mangel gedreht aussah. Insbesondere jetzt, wo es neue Küken gab.
***
Draußen war es längst dunkel, als Astra das Zimmer verließ, das sie sich mit Sóley teilte. Vor den meisten Fenstern waren bereits die Vorhänge zugezogen und das flackernde Licht von Kerzenleuchtern erhellte die Flure.
Schon seit einer Weile war zu spüren, dass sich der Sommer verflüchtigthatte und stattdessen der Herbst im Königreich regierte. Immer häufiger brannten Feuer in den Kaminen oder Öfen der Wohnräume und überall mussten sorgfältig die Türen geschlossen werden. (Und wehe, jemand war unachtsam und vergaß diese Maßnahme. Die oberste Haushälterin höchstpersönlich patrouillierte die Korridore und machte jeden zur Schnecke, der es wagte, der Zugluft Einlass zu gewähren.)
Nach dem Abendessen hatte Astra sich in einem der Waschräume gründlich von allen Spuren des Trainings gereinigt, eine frische Uniform angezogen – Callan hatte schließlich gesagt, dass er nichts gegen die Uniform hatte – und dann eine ganze Weile nur auf dem Bett gelegen. Wäre es nicht Callan, mit dem sie verabredet war, wäre sie gleich schlafen gegangen. Sie war so erledigt, dass sie jeden anderen ohne den Hauch eines Zögerns versetzt hätte.
Als sie schließlich das zweite Mal an diesem Tag vor den Gemächern des Königs stand, bemerkte Astra direkt die Abwesenheit von Wachen. Offenbar war Callan also noch nicht vom Abendessen zurückgekehrt. Dennoch klopfte sie kurz gegen die mit Goldbeschlägen ausgestattete Tür und nach einigen Momenten wurde ihr von Callans Kammerdiener Vyn geöffnet.
„Ah, Jungschwan Aquilo“, sagte der junge Mann zur Begrüßung und trat höflich zur Seite, um sie einzulassen. „Seine Majestät hat mich informiert, dass Sie vorbeikommen würden. Ich habe auf seine Anweisung ein Kaminfeuer entzündet und den Nachtisch angerichtet. Wenn Sie es wünschen, kann ich auch Tee heraufbringen lassen.“
Astra spähte ins Wohnzimmer. Es brannte tatsächlich ein kräftiges Feuer im Kamin, dessen Wärme sie auch auf die Entfernung bereits fühlen konnte. Abgesehen davon war es in allen Räumlichkeiten dunkel.
„Vielen Dank, aber Tee ist nicht nötig“, sagte sie zu Vyn.
„Dann werde ich mich jetzt zurückziehen, wenn Sie gestatten. Außer Sie haben einen anderen Wunsch?“
Astra schüttelte den Kopf. „Danke für Ihre Mühe. Gute Nacht, Vyn.“
„Angenehme Nacht, Jungschwan Aquilo.“
Vyn zog die Tür hinter sich ins Schloss und ließ Astra mit dem knisternden Feuer allein.
Langsam, um nicht versehentlich gegen irgendwelche Möbelstücke zu stoßen, wagte sie sich weiter in das dunkle Wohnzimmer, bis sie bei dem ausladenden Sofa direkt vor dem Kamin angekommen war. Eine kuschelige Decke lag ordentlich gefaltet auf dem Polster und auf dem Couchtisch stand der Nachtisch, den Callan geordert hatte: eine Schale mit Obststückchen und eine Schüssel Schokoladensoße.
Astra widerstand der Versuchung und machte es sich stattdessen mit der Decke auf dem Sofa bequem, sodass die Wärme des Kamins ihre verspannten Schultern erreichte. Außerhalb des Palasts hatte es zu regnen begonnen. Astra konnte über das Knacken der Holzscheite auch das Geräusch von Regentropfen hören, die gegen die Fensterscheiben trommelten.
Das regelmäßige Prasseln am Fenster und das Halbdunkel des Zimmers sorgten schnell dafür, dass ihre Erschöpfung wieder zu ihr aufholte und sie schläfrig wurde. Doch als sich schließlich die Tür ohne ein vorwarnendes Klopfen öffnete, hatte Astra den Kampf gegen die Müdigkeit noch nicht verloren.
Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, gab Callan ein angespanntes Geräusch von sich und begann, die Knöpfe seiner Jacke zu öffnen. Als sein Blick Astra auf dem Sofa fand, glaubte sie, ein erleichtertes Seufzen zu hören.
„Wartest du schon lange?“, wollte er wissen, als er langsam näher kam und in den Lichtschein des Kaminfeuers trat.
„Nein, nicht besonders“, gab Astra zurück, auch wenn sie eigentlich keine Ahnung hatte, wie lange sie schon hier war. Ihr Zeitgefühl hatte sich schon vor einer Weile verflüchtigt und zwischen ein paar Minuten und einer halben Stunde schien alles möglich. „Wie war dein Abendessen?“
„Ereignislos, aber trotzdem anstrengend.“ Um seine Worte zu untermauern, warf Callan seine Jacke achtlos auf einen Stuhl und ließ sich dann der Länge nach auf die Couch fallen. Er blieb auf dem Rücken liegen und bettete seinen Kopf so in Astras Schoß, dass er zu ihr aufsehen konnte. „Du siehst ähnlich müde aus, wie ich mich fühle“, stellte er leise fest.
„Hadeya hält nicht viel von halben Sachen. Sie denkt, dass wir nicht richtig ausgelastet sind, wenn wir am Ende des Trainings noch aufrecht gehen können.“
„Nächstes Mal tauschen wir“, murmelte Callan. „Ich nehme Hadeyas Trainingsmethoden gern auf mich, wenn du mir dafür Botschafter und ähnlichesPack vom Leib hältst.“
„So schlimm?“, fragte Astra und strich mit den Fingerspitzen einige dunkle Haarsträhnen aus Callans Stirn. Auch wenn er erschöpft war, standen ihm die dämmrigen Lichtverhältnisse und der unruhige Feuerschein gut. Seine Haut leuchtete in einem warmen Olivton und das Grün seiner Augen schien zu glühen.
„Nein“, gab er nach einem Moment zu. „Aber eine Abwechslung wäre trotzdem mehr als willkommen. In den letzten Wochen hatte ich genug Würdenträger im Palast, mit denen ich es mir nicht verscherzen darf.“
Astra lächelte mitfühlend und begann, mit sanften Kreisbewegungen seine Schläfen zu massieren. Callan machte ihr gegenüber nie einen Hehl daraus, dass die Verantwortung und Pflichten eines Monarchen nicht das waren, was er sich für sein Leben vorgestellt hatte. Eigentlich hätte diese Bürde auch nie auf seinen Schultern ruhen sollen, aber dann hatte Heliane seine ganze Welt auf den Kopf gestellt.
Manchmal fragte Astra sich, wie alles ohne den Mord gekommen wäre. Königin Lysann würde immer noch auf Thessarins Thron sitzen, Heliane wäre weiterhin Kronprinzessin und Callan hätte als Zweitgeborener mehr Freiheiten und weniger Sorgen. Vor allem aber hätte er immer noch seine Mutter und Schwester um sich. Mit Helianes Verrat hatte Callan die beiden Menschen verloren, die ihm am nächsten gestanden hatten. Und das war schlimmer als die Last der Krone, die daraufhin ihm zugefallen war.
Doch andererseits hatten die bitteren Umstände zu verantworten, dass Astra und Callan sich überhaupt kennengelernt hatten. Die Wege von Anwärterinnen der Garde und Prinzen kreuzten sich normalerweise nicht, doch die Mordermittlungen hatten für ungewöhnlich viele Berührungspunkte gesorgt. Ohne das hätten sie vielleicht nie zueinander gefunden. Wie es im Leben oft war, gab es kein Licht ohne Schattenseiten und umgekehrt.
„Vielleicht würden dir zwei Wochen Urlaub guttun, wenn wir den Botschafter wieder los sind“, schlug Astra leise vor, ohne ihre Fingerbewegungen zu unterbrechen. „Das Sommerschloss an der Südküste ist im Herbst sicher auch sehr schön. Sóley wäre jedenfalls begeistert, dann könnte sie wieder ihr Heimatdorf besuchen und etwas Unruhe stiften.“
Callan grinste. „Ich würde meine Erholungsorte lieber nicht nach dem Kriterium, ob Sóley in der Nähe Unruhe stiften kann, auswählen.“
„Das solltest du aber“, gab Astra zurück. „Denn wenn du Sóley kein konkretes Ziel gibst, das sie aufmischen kann, könnte das mit der Erholung für dich schwierig werden.“
„Guter Einwand“, brummte Callan. „Das Sommerschloss, hm?“
Astra schmunzelte. „Der Landsitz bei den Amethyst-Seen ginge auch. Das ist mit dem Zug nur einen halben Tag von Nisao entfernt. Da könnte Sóley meinen Bruder und Theo treffen und die beiden auf Trab halten.“
„Oder wir fahren nach Nisao und besuchen deine Eltern“, gab Callan zurück.
Der Ausdruck in seinen Augen war sanft geworden und er drehte eine von Astras blonden Haarsträhnen um seinen Zeigefinger. „Ich würde gerne sehen, wo du aufgewachsen bist.“
Ein Lächeln zuckte über Astras Lippen. „Viel zu sehen gibt es da nicht. Aber wenn es das ist, was du möchtest, können wir das bestimmt irgendwie einrichten.“
Callan erwiderte ihr Lächeln und drückte sich dann in eine sitzende Position hoch. „Da wir schon mal von Familie sprechen … Meine hat sich für nächste Woche angekündigt.“
Astra zog misstrauisch die Augenbrauen hoch. „Warum klingt das nur so, als wolltest du mich auf eine Invasion vorbereiten? Von welchem Teil der Familie sprechen wir?“
„Von allen. So ziemlich.“
„Alle“, wiederholte Astra langsam. „Alle alle?“
„Alle mütterlicherseits“, präzisierte Callan und scheiterte daran, ein Schmunzeln zu verbergen. „Mit Invasion liegst du also nicht so weit daneben.“
„Wenn Thaklira dabei ist, können wir es glatt feindliche Übernahme nennen“, gab Astra trocken zurück. Dann runzelte sie die Stirn. „Und warum kommen gleich alle auf …“ Noch im Sprechen fiel es Astra wie Schuppen von den Augen. „Nächste Woche wäre der Geburtstag deiner Mutter gewesen.“
Callan nickte stumm.
„Ich verstehe.“ Astra griff nach seiner Hand. „In dem Fall werde ich wohl oder übel die ganze Zeit an deiner Seite sein müssen. Du brauchst schließlich eine tapfere Heldin, die dich vor den einfallenden Horden beschützt. Ganz besonders, da auch ein missgelauntes Ungetüm dabei sein wird.“
Diese Bemerkung entlockte Callan ein kleines, aber aufrichtiges Lachen. Dann legte er einen Arm um Astras Taille und zog sie näher an sich, bis ihr Kopf an seiner Schulter ruhte. „Was bin ich froh, dass ich dich habe“, murmelte er und drückte einen Kuss an ihre Schläfe. „Ich weiß nicht, was ich ohne meine tapfere Heldin tun würde. Du rettest mich jeden einzelnen Tag.“
Astra spürte, wie ihr Herz zu flattern begann und eine Welle der Zuneigung über sie hinwegrollte. Sie war mit Worten lange nicht so gut wie Callan, deshalb legte sie nur den Kopf in den Nacken und fand seine Lippen, um ihm ihre Antwort auf diese Art mitzuteilen. Der Kuss war langsam und zärtlich, voller stummer Bekenntnisse. Mit jeder Sekunde verlor Astra sich ein wenig mehr darin. Und es fühlte sich an, als wäre sie nach diesem anstrengenden Tag endlich nach Hause gekommen.
Als Astra am nächsten Morgen pünktlich um halb acht auf die Sonnenterrasse trat, stieg ihr sogleich der Geruch des nächtlichen Schauers in die Nase. Es hatte vergangene Nacht stundenlang geregnet und der herbstliche Duft des Palastgartens besaß deshalb eine Note von nassen Blättern und aufgeweichter Erde. Auch die cremefarbenen Steinfliesen der Terrasse waren noch nicht gänzlich getrocknet und auf den meisten Gartenmöbeln schimmerte Feuchtigkeit. Der überdachte Teil der Terrasse war vom Regen größtenteils verschont geblieben und so war der Frühstückstisch dort angerichtet worden.
Océane war wie gewöhnlich noch pünktlicher als Astra und hatte längst auf einem der Stühle Platz genommen. Von dort aus beobachtete sie gedankenverloren zwei Gärtner, die heruntergefallenes Laub von den Wegen klaubten. Als sie den Klang von Astras Stiefeln hörte, wandte sie ihrer Freundin den Blick zu und begrüßte sie mit einem erfreuten Lächeln. „Guten Morgen.“
Astra erwiderte den Gruß und nahm Océane gegenüber auf einem Stuhl Platz. „Wie war das Abendessen gestern?“, erkundigte sie sich dann. „Callan war recht wortkarg darüber.“
Océane zog eine Schale mit geschnittenen Fruchtstücken heran und piekte eine Birne mit einem Gäbelchen auf. „Viel zu erzählen gibt es auch nicht. Politische Themen wurden bewusst von allen Parteien vermieden und da andere Gesprächsthemen mittlerweile ausgeschöpft sind, hat sich die Konversation auf Höflichkeiten und Floskeln beschränkt.“
Ein kleines Schmunzeln zuckte über Océanes Lippen. „Wie Sóley sagen würde: nichts als leere Worte.“
Astra grinste zurück. „Wir wissen beide, dass Sóley einen anderen Ausdruck dafür hat. Nämlich langweiliges Geschwätz.“
Océanes Schmunzeln vertiefte sich etwas, dann wandte sie sich wieder ihrem Frühstück zu. Astra hingegen nahm einen wohltuenden ersten Schluck Kaffee und beobachtete ihre Freundin über den Rand der Tasse hinweg.
Lady Océane Nilmerin war eine sehr hübsche junge Frau mit glatten, schwarzen Haaren und blauen Augen. Sie war nur wenige Monate älter als Astra, doch genau wie Callan besaß sie eine seriöse Ausstrahlung, die sie älter wirken ließ. Ihre Manieren waren jederzeit tadellos und sie bewegte sich stets mit der Eleganz einer Tänzerin. Auch jetzt, als sie nur in Gesellschaft einer engen Freundin war, saß sie kerzengerade auf ihrem Stuhl. Und Astra kannte niemanden sonst, dem es gelang, Honig auf ein Brot zu träufeln und dabei so vornehm auszusehen.
Dennoch war Astra noch immer davon überzeugt, dass Océane ein fabelhaftes Gardemitglied geworden wäre, wenn sie das gewollt hätte. Denn das Bild der perfekten Adeligen täuschte darüber hinweg, dass Océane einen eisernen Willen besaß und sich jeder Herausforderung stellte. Und mit dem Bogen machte ihr niemand etwas vor. Zweimal die Woche nahm Océane am Schießtraining der Jungschwäne teil, weil sie ihre Fähigkeiten nicht einrosten lassen wollte. Sie war die einzige Außenstehende, der die Teilnahme am Gardetraining gestattet war.
Tief im Inneren war Océane eine Kämpferin, auch wenn sie sich selbst nicht als solche betrachtete. Der Einfluss ihres Vaters und die Erwartungen ihrer Familie hatten bleibende Spuren hinterlassen. Dennoch war Océane als Hofdame im Palast aufgeblüht und ergriff jede Entfaltungsmöglichkeit, die Callan ihr anbot. Mittlerweile zählte sie zu den engsten Vertrauten des Königs, weshalb sie auch stark in die Betreuung des Botschafters aus Netyrae eingebunden war.
Da dieser aber im Verlauf des Tages abreiste, wollte Océane heute wieder einer anderen Aufgabe nachkommen, mit der Callan sie betraut hatte: Astra zusätzliche Unterrichtsstunden zu geben, damit diese sich an der Seite eines Königs sehen lassen konnte.
Nach dem Frühstück zogen sich die beiden Freundinnen deshalb auch in einen kleinen Salon nahe der Sonnenterrasse zurück, den Océane als ihren persönlichen Unterrichtsraum requiriert hatte. Für gewöhnlich waren sie dort zu beinahe jeder Tageszeit ungestört, doch heute wartete bereits jemand im Salon auf sie. Der Mann kam Astra nur vage bekannt vor, doch da er direkt neben dem Klavier in der Ecke stand, gab es keinen Zweifel über seine Tätigkeit.
Astra verkniff sich ein Seufzen. Tanzen gehörte weder zu ihren Stärken noch ihren Lieblingsbeschäftigungen, doch sowohl als Gardemitglied als auch als Callans Freundin führte daran kein Weg vorbei. Deshalb ging sie auch zu einem der Schränke und holte das Paar Tanzschuhe heraus, das dort gemeinsam mit Fächern und weiteren Utensilien deponiert war. Allerdings hatte Océane heute offenbar große Pläne, denn sie folgte Astra und öffnete die Tür des anliegenden Schranks. Wenige Momente später zog sie einen Reifrock daraus hervor, Modell Krinoline.
Astras Augenbrauen wanderten in Richtung ihres Haaransatzes. „Da bekommt der Begriff ‚Morgengrauen‘ gleich eine völlig andere Bedeutung“, murmelte sie.
„Oh je, mir schwant Übles“, bemerkte eine neue Stimme und als Astra sich überrascht umdrehte, marschierte gerade Egan zur Tür herein. „Diese spezielle Modeerscheinung hat mich schon immer an einen zweckentfremdeten Vogelkäfig erinnert.“
„Was tust du hier?“, fragte Astra, obwohl sie bereits eine düstere Vorahnung hatte.
„Ich wurde zwangsrekrutiert.“ Egan nickte in Océanes Richtung. „Sie besitzt ein Talent dafür, Leute für ihre Zwecke einzuspannen, ohne dass sie merken, in welche Falle sie tappen.“
„Leider kann ich dieses zweifelhafte Kompliment nicht annehmen“, erwiderte Océane mit einem Lächeln. „Ich fürchte vielmehr, dass dies der mangelnden Aufmerksamkeit Eurer Gesprächspartnerin gegenüber zu verschulden ist, Lord Vayera.“
Egan seufzte. „Da habe ich einmal aus dem Fenster geschaut und mich eine halbe Minute von einem tollpatschigen Gärtner ablenken lassen und büße das jetzt doppelt und dreifach. Wenigstens bleiben mir die Absatzschuhe und der Vogelkäfig-Rock erspart.“ Als Astra ihm daraufhin strafend gegen den Arm boxte, verzog er gequält das Gesicht. „Aber auch wirklich nur das.“
Während Astra ihre Stiefel gegen die Tanzschuhe tauschte und dann mit Océanes Hilfe den Reifrock über der Uniform anlegte, begann der Pianist, eine kleine Melodie zum Aufwärmen zu spielen. Bereits nach wenigen Sekunden begann Océane mitzusummen und Astra grinste still in sich hinein.
„Wir beginnen mit dem Goldenen Walzer“, bestimmte Océane wenige Minuten später, während Astra zum Eingewöhnen einige Schritte umherging und prüfend ein paar Drehungen vollführte. „Egan, es wäre hilfreich, wenn du Astra beim Tanzen in ein Gespräch verwickeln könntest. Sie neigt immer noch dazu, auf ihre Füße zu sehen.“
Astra quittierte den vorwurfsvollen Tonfall mit einer beleidigten Miene, sagte aber nichts, weil es die Wahrheit war.
Stattdessen blieb sie vor Egan stehen und verfiel in einen eleganten Knicks, so gut es mit dem störenden Gestell eben möglich war. Egan antwortete mit einer neckischen Verbeugung und reichte Astra dann eine Hand, während er die andere an ihre Taille legte. Er war nicht ganz so groß wie Callan und etwa auf Augenhöhe mit Astra, weshalb diese genau sah, wie ein schelmischer Ausdruck über sein Gesicht huschte.
„Wag es ja nicht, mich absichtlich aus dem Rhythmus zu bringen“, drohte sie leise.
Egan blinzelte unschuldig. „Käme mir nie in den Sinn.“
„Das glaube ich dir aufs Wort.“
Der Pianist spielte den Auftakt des Walzers und Astra und Egan begannen, sich synchron zur Musik zu bewegen. Trotz seines Gegrummels war Egan ein ausgezeichneter Tänzer, was höchstwahrscheinlich auch der Grund war, weshalb Océane ihn zur Mithilfe verpflichtet hatte. Und glücklicherweise erlaubte er sich auch keine Späße, denn Astra hatte auch so schon genug damit zu tun, nicht aus dem Takt zu geraten.
Océane folgte dem Tanzpaar durch den Salon und warf immer wieder Kommentare in den Raum: „Den Rücken gerader, Astra.“
„Nicht so verkrampft!“
„Etwas mehr Tempo bei der nächsten Drehung, dann läuft die Bewegung auch flüssiger.“
Dem Goldenen Walzer folgten weitere Tänze, die Astra mehr oder weniger gut beherrschte. Sie war keine völlige Katastrophe, denn immerhin gehörte Tanz auch zur Ausbildung in der Schwanengarde dazu. Aber es war keine Fähigkeit, die ihr natürlich zufiel, und das ließ sich nur mit viel Übung wettmachen.
„Astra, hat Callan mit dir noch mal über die Überfälle gesprochen?“, fragte Egan irgendwann, als sie gerade eine Reihe besonders komplizierter Tanzschritte absolvierten.
„Hm?“ Astra hob den Kopf und bemerkte erst jetzt, dass sie wieder mal zu Boden gesehen hatte. Im selben Moment rief Océane: „Augen auf den Tanzpartner!“
„Ich schau ihn ja schon an“, gab Astra zurück und erinnerte sich dann an Egans Frage. „Nein, er hat nichts mehr deswegen gesagt.“
„Lockerer in den Schultern“, tönte Océane irgendwo hinter ihr. „Du verspannst dich schon wieder.“
Astra versuchte, ihre Schultern zu entspannen, auch wenn sie nicht so richtig wusste, wie sie das bewerkstelligen sollte. Dann erst registrierte sie Egans Worte und richtete ihren Blick forschend auf ihn. „Das Thema hat dich gestern schon beschäftigt. Warum?“
„Persönliches Interesse“, erwiderte Egan und hob Astras Hand über ihren Kopf, damit sie eine Drehung vollführen konnte. „Unter der ersten Kolonne, die überfallen wurde, waren auch Händler aus dem Herzogtum meiner Eltern. Mein Vater und ich haben die Rückkehrer in Empfang genommen und das Ausmaß des Angriffs gesehen. Ein Drittel der Wagen hat es nicht mehr nach Hause geschafft und es gab viele Verwundete.“
Astra drehte sich erst aus, dann wieder ein und platzierte ihre freie Hand erneut auf Egans Schulter. „Das war zu Beginn des Sommers, nicht?“
Egan nickte. „Bereits da hätte man schon etwas unternehmen können, um weitere Überfälle zu vermeiden. Aber die Netyraer haben die Angelegenheit heruntergespielt und deshalb war die nächste Kolonne genauso schutzlos wie die erste. Hätten sie Callan gleich reinen Tisch gemacht, hätte er wenigstens thessarinischen Begleitschutz veranlassen können.“
„Ich verstehe.“
Einige Augenblicke herrschte grimmiges Schweigen, dann versuchte Egan es mit einem Lächeln und einem Themenwechsel. „Was denkst du, wie lange uns deine Tanzlehrerin noch durch den Raum scheuchen wird? Ist sie jemals zufrieden mit dir?“
„So zufrieden, wie eine Perfektionistin mit einem Trampel wie mir eben sein kann“, gab Astra zurück und beobachtete Océane aus den Augenwinkeln. „Sie hat sicher noch etwas anderes vor und ich muss in einer Stunde den Dienst antreten. Möglicherweise bist du nach diesem Tanz entlassen.“
„Hm, vielleicht bleibe ich trotzdem noch und schaue zu.“ Egan grinste unheilvoll. „Möglicherweise lerne ich noch etwas Neues.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Aber beklag dich später nicht wieder, wenn sie dir deine Unverschämtheit nicht durchgehen lässt.“
Tatsächlich standen die Chancen gar nicht so schlecht, dass auch Egan noch etwas von Océane lernen konnte. Denn abgesehen von Tanzstunden gab Océane Astra auch umfangreichen Unterricht in Etikette, Hofprotokoll, Politik und Diplomatie.
Viele dieser Bereiche waren auch Teil des Gardetrainings, allerdings mit anderen Schwerpunkten und Zielen. Die Fähigkeit, sich nahtlos in die Hofgesellschaft einfügen zu können, war für die Garde ein wichtiges Werkzeug. Zu jedem größeren Anlass mischten sich verkleidete Schwäne unter die Gäste und wurden zu unsichtbaren Beobachterinnen, die notfalls eingreifen und die offiziellen Wachen unterstützen konnten. Alles, was die Garde lehrte, diente nur einem Zweck: den größtmöglichen Schutz für die königliche Familie zu gewährleisten.
Océanes Unterricht hingegen ging weit über die Grundlagen hinaus und verfolgte das Ziel, Astra alles beizubringen, was für das Leben im Palast unerlässlich war. Ihr Lehrplan war gründlich und orientierte sich an dem Training, das thessarinische Prinzessinnen und Prinzen beim Aufwachsen erhielten.
In der Regel sprach niemand offen über den Grund für Astras zusätzlichen Unterricht, auch wenn er mehr als auf der Hand lag. Eine Beziehung mit dem König brachte zwangsläufig gewisse … Dinge mit sich. Dinge wie Erwartungen und Möglichkeiten. Callan zumindest hoffte, dass Astra sich eines Tages für ein Leben an seiner Seite entscheiden würde, und wollte sicherstellen, dass sie dafür vorbereitet war. Und Océane hielt eine solche Entscheidung für wahrscheinlich genug, um ihre Aufgabe sehr ernst zu nehmen.
Astra selbst versuchte, nicht allzu genau darüber nachzudenken, auch wenn das Thema immer in ihrem Hinterkopf saß. Zwei Jahre waren verstrichen, seit sie mit Callan auf dem Balkon gestanden und ihm das Versprechen gegeben hatte, offen für die Zukunft zu sein. Dieses Versprechen war auch der Grund, weshalb sie sich so viel Mühe gab, alles zu lernen. Es war hart, eine Ausbildung und den Dienst in der Garde zu absolvieren und sich gleichzeitig Unterricht zu unterziehen, der einer Kronprinzessin würdig war. Aber Astra tat es für Callan und auch für sich. Damit ihr tatsächlich alle Optionen offenstanden und sie, wenn sie dazu bereit war, das wählen konnte, was ihr Herz ihr sagte.
Doch auch nach so viel Zeit – die sich im Übrigen gar nicht so lang anfühlte! – hatte Astra nicht das Gefühl, einer Entscheidung nähergekommen zu sein. Sie liebte die Garde und sie liebte Callan. Es schien unmöglich, dass sie je eines von beidem wählen und dabei dem anderen entsagen könnte.
Und das Schlimme war, dass eine solche Wahl mit jedem weiteren Tag ein wenig unmöglicher zu werden schien.
Tatsächlich beendete Océane den Tanzunterricht kurz darauf und begann, Astra stattdessen über Details zum Hofprotokoll auszufragen. Egan beschloss wohlweislich, dass er seinen Vormittag mit angenehmeren Dingen verbringen konnte, und suchte das Weite.
Gegen zehn Uhr war auch Astra entlassen und machte sich auf den Weg zum Trainingsgelände, wo sie gemeinsam mit zwei anderen Jungschwänen selbst in die Rolle der Ausbilderin schlüpfte und den neuen Küken eine Trainingsstunde im Nahkampf gab. Gut eineinhalb Stunden später traf Astra im Speisesaal das erste Mal an diesem Tag Sóley, die ihren Vormittag zu Pferd mit Reittraining verbracht hatte. Wie immer hatte sie viel zu berichten und noch mehr zu beklagen – am allermeisten das störrische Pferd.
„Ersthaft, welcher Idiot ist auf die Idee gekommen, diese Viecher zu domestizieren?“, fragte sie mit vollem Mund. „Die haben einen riesigen Schädel und nichts darin. Da könnten wir ja auch auf Kühen reiten. Die haben zumindest praktische Haltegriffe am Kopf.“
Astra tätschelte Sóley mitfühlend die Schulter, doch im Stillen bedauerte sie das arme Pferd, das sich mit einer so ungeduldigen Reiterin herumschlagen musste.
Nach dem Essen trennten sich ihre Wege wieder. Sóley war zum Lernen verabredet, Astra hatte Wachdienst. Nachdem sie ihren Lederharnisch aus ihrem Zimmer und das Schwert aus der Waffenkammer geholt hatte, erreichte Astra pünktlich den Treffpunkt am doppelflügligen Portal. Von ihrer eingeteilten Wachpartnerin war noch keine Spur, jedoch kam diese eine Minute später schwer atmend um eine Ecke geschossen. Erstaunlicherweise gelang es Liat, im Laufschritt ihre widerspenstigen Locken zusammenzubinden, ohne dabei ihren Speer fallen zu lassen.
„Entschuldige, entschuldige, die Uhr in meinem Zimmer geht ein paar Minuten nach, das hatte ich vergessen.“ Schnaufend kam Liat neben Astra zum Halten. „Wartest du schon lange?“
Astra verneinte. „Außerdem müssen wir Lien und Rivka erst in fünf Minuten ablösen, also haben wir noch genug Zeit.“
„Puh“, machte Liat und zupfte eine wirre Strähne aus ihrer Stirn. Dann streckte sie die Hand nach dem Türgriff aus und zog einen der beiden Flügel auf. „Nach dir. Übrigens …“, begann sie dann mit einem verschmitzten Grinsen, als sie jenseits der Tür waren. „Jalani hat Blumen bekommen. Einen sehr hübschen Herbststrauß.“
„Ach“, machte Astra.
„Mhm. Und interessanterweise sind die Blümchen alle so rot wie die Haare von diesem Wachmann, der immer hier im Südflügel Dienst hat.“ Liat grinste verschlagen. „Jetzt kann Jalani definitiv nicht mehr leugnen, dass da jedes Mal verdächtig langer Blickkontakt herrscht, wenn sie an dem Kerl vorbeikommt.“
Astra schmunzelte. Privatsphäre war unter Zimmergenossinnen ein Fremdwort, das wusste sie aus erster Hand. Zumindest dann, wenn man mit so neugierigen Menschen wie Sóley oder Liat zusammenlebte. Aber es hatte auch unleugbare Vorteile. Wenn es Neuigkeiten gab, musste man nie den Aufwand betreiben und sie irgendjemandem erzählen, weil es sich längst in der gesamten Garde herumgesprochen hatte.
Wenige Minuten später erreichten Liat und Astra den Flur, auf dem die Wachablösung stattfinden sollte. Vor dem lebensgroßen Porträt eines Mannes mit zwei Monokeln blieben sie stehen.
Der hier abgebildete König Olff (einer von Callans interessanteren Vorfahren) hatte bereits zu Lebzeiten den Beinamen „der Sonderbare“ erhalten – aus dem einfachen Grund, dass man einen regierenden König nicht ungestraft „den Verrückten“ oder „den Irren“ nennen durfte. Zu seinen Errungenschaften zählten unter anderem die Ernennung seines Lieblingspferds zum Stadthalter von Tadira sowie die Erfindung einer Maschine, die Diamanten in Staub verwandelte. Diese hatte er sogar nicht nur erfunden, sondern auch bauen lassen. Und dann, zum Entsetzen seiner Familie, mit einem einzigartigen Kollier getestet.
Kaum hatten Astra und Liat das Gemälde erreicht, ertönten vom anderen Ende des Gangs auch schon Schritte. Einen Moment später kamen Rivka und Lien, zwei Schwäne, um die Ecke.
„Es gab keine besonderen Vorkommnisse“, teilte Rivka ihnen mit, nachdem Astra die heutige Parole genannt hatte. „Der König ist schon den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer und hat sich eben das Mittagessen dorthin bringen lassen.“
Astra warf einen Blick auf eine nahe Standuhr. Es war Punkt halb zwei, also streng genommen immer noch Mittagszeit. Callan hatte sich zur Abwechslung mal zu einem angemessenen Zeitpunkt daran erinnert, dass er zwischen der Arbeit eine Pause machen und etwas essen musste.
„Viel Erfolg bei der Patrouille“, meinte Lien zum Abschied. „Seid vorsichtig in dem Gang mit dem ausgestopften Hirsch, dort haben eben zwei Mägde den Boden gewischt. Könnte also rutschig sein.“
Liat seufzte wehmütig. „Das wird ja wieder mal ein richtig spannender Wachdienst“, brummte sie an Astra gewandt, als die beiden ihren Rundgang begannen. „Der König sitzt hinter verschlossenen Türen und das Risiko des Tages sind frisch gebohnerte Fußböden. Für meinen Geschmack ist hier in letzter Zeit viel zu wenig los.“
„Oh, keine Sorge“, erwiderte Astra, die sich an das erinnerte, was Callan ihr gestern Abend angekündigt hatte. „Ich habe so das Gefühl, dass sich das spätestens nächste Woche ändern wird. Hattest du schon mal das Vergnügen, für die Bewachung von Prinzessin Thaklira eingeteilt zu sein?“
Ein leises Rascheln durchbrach für einen Augenblick die Stille im Salon. Astra blätterte in ihrem Roman eine Seite weiter und folgte den gedruckten Worten bis zum Ende des Kapitels. Es tat unheimlich gut, endlich wieder eine spannende Geschichte mit lebhaften Figuren und rasanten Wendungen zu lesen. Denn ihre letzte Lektüre, Etikette für das junge Frauenzimmer, war ein ziemlich zäher Schinken gewesen, über den Océane sie außerdem immer noch in den unerwartetsten Momenten abfragte.
Callan, der mit überschlagenen Beinen neben Astra auf dem Sofa saß, war in seine eigene Lektüre vertieft. Als Astra ihm einen Blick zuwarf, musste sie unwillkürlich schmunzeln. Die kleine Konzentrationsfalte über seinen Augenbrauen hatte sich wieder eingeschlichen und seine Augen flogen geradezu über die Zeilen.
Obwohl es erst früher Nachmittag war, brannte im Kamin ein Feuer und gelegentlich kam eine Magd vorbei, um Holzscheite nachzulegen. Auf einem nahen Tisch waren Geschirr und eine Auswahl an Kuchen hergerichtet worden, aber noch fehlten Tee und Kaffee, die erst bei Bedarf aus der Küche gebracht wurden. Ein kurzer Blick auf die Standuhr am anderen Ende des Zimmers teilte Astra mit, dass schon zwanzig Minuten vergangen waren, seit sie ihr Buch aufgeschlagen hatte.
Ihr Blick wanderte wieder zu Callan, mit dem sie in der ganzen Zeit kein einziges Wort gewechselt hatte. Es war eins der vielen Dinge, die sie an ihm schätzte: Dass sie mit ihm genauso gut schweigen konnte wie reden – dass sie einander auch in der Stille nah sein konnten, obwohl jeder mit seiner eigenen Beschäftigung befasst war.
Diesmal bemerkte Callan nach einigen Momenten, wie sie ihn ansah, und hob fragend den Kopf. Doch Astra lächelte nur und machte eine abwinkende Geste, ehe sie sich wieder ihrem Roman zuwandte.
Wenige Minuten später klopfte es an der Tür und ein Dienstbote trat in den Salon. „Euer Majestät, die Königlichen Hoheiten sind soeben mit ihren Familien eingetroffen. Sie dürften in Kürze hier erscheinen.“
„Danke. Wir werden sie erwarten.“ Callan legte ein Lesezeichen zwischen die aufgeschlagenen Seiten und schlug sein Buch dann mit einem dumpfen Knall zu. „Informieren Sie bitte die Küche und schicken Sie nach den Bediensteten.“
„Sehr wohl, Majestät.“ Der Dienstbote machte eine Verbeugung und zog dann hinter sich die Tür ins Schloss.
Astra legte ihr Buch ebenfalls auf den kleinen Abstelltisch und stand dann von der Couch auf, wobei sie die Handflächen glättend über ihren Rock gleiten ließ. Ihr violettes Tageskleid war angemessen elegant, verzichtete abgesehen von etwas dezenter Spitze aber glücklicherweise auf übertriebenen Firlefanz.
„Wie sehe ich aus?“ Die Frage kam ihr über die Lippen, ehe sie sich daran hindern konnte. Auch wenn es nicht ihr erstes Treffen mit Callans Familie war, machten sie manche Mitglieder davon immer noch ein wenig nervös.
„Wundervoll wie immer“, erwiderte Callan und hob amüsiert eine Augenbraue. Er hatte höchstwahrscheinlich keinen einzigen Gedanken an seine Garderobe verschwendet, denn er trug wie an den meisten Tagen ein blütenweißes Hemd und darüber eine seiner unzähligen ärmellosen Westen. Die heutige war sturmgrau mit aufgestickten Goldakzenten.
Dass das edle Grau perfekt mit Astras lebhaftem Violett harmonierte, war sicher kein Zufall, sondern das Werk zweier wohlmeinender Intriganten. Callans Kammerdiener Vyn und Océane, die Astra mit ihrer Garderobe beriet, sprachen sich nämlich gern heimlich ab und arrangierten dann subtil die Umsetzung ihrer Vorstellungen.
„Sehr hilfreich“, brummte Astra und zupfte einen Fussel von ihrem Ärmel. „Denn ich weiß ziemlich genau, dass ich nicht permanent wundervoll aussehe.“
„Für mich schon“, gab Callan zurück. Und weil er sie gut kannte, sprach er dann die Sorge an, die Astra eigentlich umtrieb. „Sollen wir ein geheimes Zeichen vereinbaren, wenn ich dich vor meiner Tante retten soll?“
„Wie wäre es mit einem Ohnmachtsanfall?“, konterte Astra und warf ihm einen strafenden Blick zu. Sein Tonfall war zwar ernst gewesen, aber sie hatte das freche Funkeln in seinen Augen durchaus bemerkt. „Darf ich dich daran erinnern, dass ich Mitglied der Schwanengarde bin? Wenn ich es mit einem bewaffneten Angreifer aufnehmen kann, werde ich ja wohl noch mit Thaklira fertig werden.“
Callan setzte zu einer Antwort an, doch was er sagen wollte, würde Astra niemals erfahren. Denn in genau diesem Augenblick klopfte es erneut. Der Dienstbote von vorhin öffnete die Tür, doch bevor er die Gäste anmelden konnte, waren die ersten bereits schnurstracks an ihm vorbeimarschiert. Es waren zwei Jungen im Alter von zwölf und dreizehn Jahren, deren breites Grinsen erstaunlicherweise noch größer wurde, als sie ihren Cousin erblickten.
„Callan!“, riefen sie einstimmig und stürmten in seine Richtung.
Der Dienstbote räusperte sich missbilligend. „Die Königlichen Hoheiten“, kündigte er an, doch weiter kam er nicht, weil nun auch Tante Thaklira mit klackernden Absätzen an ihm vorbeirauschte und sich über langsame Kutschpferde und Schlaglöcher beschwerte.
Astra atmete tief durch und stählte sich innerlich. Die Invasion hatte hiermit offiziell begonnen.
Sie warf Callan einen vielsagenden Blick zu, dann überließ sie ihn seinen beiden Cousins und sah zu, dass sie aus Thakliras unmittelbarem Blickfeld kam. Glücklicherweise traten nach Callans Tante noch genug andere Familienmitglieder in den Salon, die sie zuerst begrüßen und als Schutzschild verwenden konnte.
Callan besaß seit dem Tod seiner Mutter und Helianes Exilierung keine unmittelbare Kernfamilie mehr (sein Vater war bereits vor Jahren bei einem Unfall verstorben), doch das bedeutete nicht, dass er allein war. Königin Lysann hatte drei jüngere Geschwister gehabt: Die Zwillinge Prinz Talin und Prinzessin Thaklira sowie die jüngste Schwester Prinzessin Venetia. Durch seine beiden Tanten und seinen Onkel mütterlicherseits besaß Callan darüber hinaus sieben Cousins und Cousinen im Alter von neun bis siebzehn Jahren.
Soweit Astra nun sehen konnte, waren Talin und Thaklira mit ihren Familien gemeinsam eingetroffen. Venetia mit Ehemann und Sohn war offenbar noch auf dem Weg. Damit fiel Astra die Wahl nicht schwer und steuerte zuerst Callans Onkel und dessen Frau an.
„Astreya, wie schön, dich zu sehen“, bemerkte Prinz Talin mit einem warmen Lächeln, nachdem Astra ihn förmlich begrüßt hatte. „Nachträglich herzlichen Glückwunsch zur Beförderung. Callan hat es schon vor Wochen in seinen Briefen erwähnt, aber ich wollte lieber persönlich gratulieren.“
„Vielen Dank“, erwiderte Astra, die sich ehrlich darüber freute. Callans Onkel gab sich immer Mühe, auf sie einzugehen und sie bei informellen Anlässen trotz des Standesunterschieds auf Augenhöhe zu behandeln. Das wusste sie zu schätzen.
Prinz Talin war nach Lysann der Älteste der Geschwister und als einziger Junge unter lauter Schwestern aufgewachsen. Als Resultat besaß er ein bemerkenswert dickes Fell, beneidenswerte Geduld und eine gelassene Lebenseinstellung. Nachdem er Astra aufmerksam zugehört hatte, als diese ihm von den jüngsten Entwicklungen im Palast erzählte, traute sie sich endlich, das Gespräch auf ein Thema zu lenken, das sie auch nach zwei Jahren nicht losgelassen hatte.
Sie trat einen Schritt näher an Callans Onkel heran und senkte die Stimme: „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Heliane?“
Talin schüttelte den Kopf und Astra verkniff sich ein erleichtertes Seufzen. „Meinen Berichten zufolge verhält sie sich ruhig. Ich habe letztens auch wieder persönlich nach dem Rechten gesehen und konnte mich selbst davon überzeugen.“
Astra verschränkte die Arme und ignorierte den kleinen Schauer, den ihr der Gedanke an Callans Schwester über den Rücken jagte. Heliane befand sich im Exil auf einem abgelegenen Landgut in Talins Einflussgebiet, das allein zur Bewachung der ehemaligen Kronprinzessin umfunktioniert worden war. Sie wurde streng beaufsichtigt und damit sie nicht zu viel Zeit hatte, auf dumme Ideen zu kommen, verbüßte sie ihre Strafe zusätzlich durch harte Arbeit.
„Abgesehen von dem erfolglosen Fluchtversuch direkt am Anfang hat sie keinerlei Anstalten gemacht zu entkommen“, bemerkte Astra. „Manchmal frage ich mich, ob Heliane wirklich aufgegeben hat oder ob das lediglich eine Taktik ist und sie irgendetwas ausbrütet.“
„Diese Sorge hatte Callan auch schon häufiger“, erwiderte Talin mit einem kurzen Blick in Richtung seines Neffen. „Aber ich denke nicht, dass sie Gelegenheit hat, irgendwelche Pläne zu entwerfen, geschweige denn umzusetzen. Die Sicherheitsvorkehrungen werden konsequent eingehalten und die Leute, die für ihre Bewachung verantwortlich sind, habe ich alle handverlesen.“
Astra musste ein zweifelndes Gesicht gemacht haben, denn Talin legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Ich kann dir deine Bedenken sicher nicht ausreden, also versuche ich es gar nicht. Aber ich sage dir dasselbe, was ich auch Callan gesagt habe: Selbst wenn Heliane einen erneuten Fluchtversuch unternehmen und diesmal erfolgreich sein sollte, steht sie vor dem Nichts. Ihr wurden alle Titel und Besitztümer aberkannt, sie verfügt über keinerlei Ressourcen oder Kontakte. Ihre einzige Option wäre es, das Land zu verlassen und unter einer falschen Identität neu anzufangen. Das wäre zwar nicht die Strafe, die sie verdient hat, aber sie kann keinen weiteren Schaden anrichten. Und das ist meiner Meinung nach das, was zählt.“
