Die Schwanengarde - Katharina Salbaum - E-Book
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Die Schwanengarde E-Book

Katharina Salbaum

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Beschreibung

Als Astra in der Hauptstadt ihres Königreiches Thessarin ankommt, ist ihr einziges Ziel die Erfüllung ihres langjährigen Lebenstraums: Die Aufnahme in Die Schwanengarde, die traditionsreiche und rein weibliche Leibgarde der Königin. Während sie mit weiteren Anwärterinnen um einen permanenten Platz in der Garde wetteifert und dabei ihr ganzes Können unter Beweis stellen muss, kommt plötzlich noch eine weitere Herausforderung hinzu, als eines Nachts die Königin ermordet aufgefunden wird. Nun auch noch in Palastintrigen und eine eigenmächtige Ermittlung verstrickt, muss Astra die Balance zwischen ihren neuen Pflichten und dem Wunsch, ein heimtückisches Verbrechen aufzuklären, finden. Und dann ist da auch noch Prinz Callan, der Astra nicht nur weitere Rätsel aufgibt, sondern sie auch noch vor die Frage stellt, was sie wirklich erreichen möchte ...

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Für Oma und Opa

Ihr wart die wundervollsten Großeltern der Welt und die großzügigsten, selbstlosesten Menschen, die man sich vorstellen kann. Ich wünschte, ihr wärt noch hier und könntet sehen, was ich in den letzten Monaten alles geschafft habe. Aber ich bin dankbar für die vielen Jahre voller Liebe und Unterstützung, die ich mit euch haben durfte.

Ihr fehlt mir.

Per aspera ad astra.

„Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen.“

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Die Garde der Königin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Teil 2: Dünnes Eis im Schwanenteich

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil 3: Fallende Masken

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Die Geschichte geht weiter ...

Anhang

Charakterporträts

Personenverzeichnis

Teil 1: Die Garde der Königin

Kapitel 1

Die Morgenluft war frisch und kühl, und sie brannte in Astras Lungen, als sie durch die größtenteils verlassenen Straßen rannte. Am Horizont begannen seit wenigen Minuten die ersten Sonnenstrahlen über die Berge zu blitzen und der wolkenlose Himmel wechselte seine Farbe langsam von einem gräulichen Rosa zum Blau eines klaren und sonnigen Tages.

Abgesehen von Astra waren in diesem Viertel von Nisao zu so früher Stunde kaum Menschen unterwegs. Doch die wenigen, die um diese Uhrzeit schon auf den Beinen waren, kannten sie alle und nickten Astra freundlich zu, als sie vorbeilief. Von den meisten wusste Astra nicht mal den Namen, aber trotzdem waren sie alle alte Bekannte. Sie teilten dieselbe Routine und begegneten sich beinahe jeden Tag auf diese Weise. Selbst wenn man dabei kein Wort wechselte, verband das irgendwie.

Ein paar Minuten, nachdem Astra die Frau mit dem dunkelblauen Hut passiert hatte, die jeden Morgen mit einem Korb zum Einkaufen ging, erreichte sie ihre Straße und ihr Haus kam in Sicht. Mit dem Ziel direkt vor Augen beschleunigte sie ihre Schritte und schaltete von ihrem Dauerlauf-Tempo in einen kurzen Sprint, der all ihre verbleibende Energie verbrannte. Erst an den Treppenstufen vor dem Haus bremste sie widerwillig all ihren Schwung wieder ab, sodass sie die klobige Stoppuhr zu fassen bekam, die im Schatten des Hauseingangs lehnte.

Optimal war dieses Vorgehen nicht, weil sie dadurch ein paar wertvolle Sekunden verlor und ihre Zeit verfälschte. Aber Astra sah ein, dass sie nicht jeden Morgen ihren Bruder um seinen wohlverdienten Schlaf bringen konnte, nur damit er ihre Zeit nahm. Einmal war er sogar beim Warten auf den Treppen wieder eingeschlafen und hatte erst auf den Stoppknopf gedrückt, als Astra ihn wachrüttelte.

Nachdem sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war und ihre Zeit überprüft hatte, ließ Astra sich auf die oberste Treppenstufe sinken und schaute die Straße hinunter in Richtung Sonnenaufgang. Morgen um diese Uhrzeit würde sie an einem ganz anderen Ort sein. In ihren Handflächen spürte sie ein nervöses Kribbeln und rieb reflexartig darüber. Aufregung, Vorfreude und Unsicherheit flammten in ihr auf. Morgen bekam sie endlich die Chance, sich ihren Lebenstraum zu erfüllen, und dieser Gedanke weckte in ihr gleichzeitig Freude und Furcht.

Ein paar Minuten blieb Astra noch sitzen und sah zu, wie sich das Licht veränderte, dann raffte sie sich auf und ging nach drinnen.

Im Haus war es dämmrig und still, die Vorhänge vor den Fenstern sperrten einen Großteil des Lichts aus. Die Türen zu den Zimmern von Astras Eltern und Bruder waren wie meistens um diese Zeit noch geschlossen. Leise, aber ohne unnötige Vorsicht ging Astra die Vorhänge in der Stube und der Küche öffnen und setzte dann Wasser auf, um Tee zu machen.

Sie mochte diese morgendliche Ruhe, dieses Alleinsein, wenn sie als Einzige bereits auf den Beinen war. Nach dem Laufen gab es ihr Gelegenheit, wieder Kraft zu sammeln, ungestört nachzudenken und den Blick darauf zu richten, was der Tag bringen würde. Normalerweise beinhaltete das einige Stunden Arbeit im Laden bei Meister Joran, weiteres Training und später hatte sie entweder einen Abend für sich oder unternahm etwas mit ihren Freunden. Heute jedoch stand nichts davon an. Während sie Tee kochte und das Frühstück vorbereitete, ging Astra stattdessen in Gedanken zum unzähligsten Mal den Inhalt ihres Koffers durch, damit sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Anschließend wiederholte sie stumm ihren Reiseplan mit all den Details, auf die sie unterwegs achten musste.

Irgendwann, während sie gerade mit dem Geschirr hantierte, öffnete sich mit einem leisen Quietschen am Ende des Gangs eine Tür und Astra hörte die vertrauten Schritte ihres Bruders. Nur ein paar Momente später schlurfte Altair in die Küche, wobei er so herzhaft gähnte, dass er sich beinahe den Kiefer ausrenkte.

„Morgen, Schwesterherz. Wie war deine Zeit?“

„Im üblichen Rahmen“, erwiderte Astra und lächelte ihn dankbar an, als Altair ihr ungefragt zur Hand ging. „Unter diesen Umständen vermutlich ganz gut.“

Ihr zwei Jahre älterer Bruder war nur wenig größer als Astra – eine Tatsache, die schon seit Jahren für konstantes Gegrummel seinerseits sorgte. Altairs Meinung nach war sie nämlich nur aus purer Frechheit so viel gewachsen, damit er nicht länger die Schokolade auf dem Schrank vor ihr verstecken konnte. Während seine Schwester die goldblonden Haare ihrer Mutter geerbt hatte, schlug Altair nach der rothaarigen, väterlichen Seite der Familie. Äußerlich waren er und Astra auch sonst recht verschieden: Altair wirkte beinahe schlaksig, während man Astra ihr Training ansah; er hatte Sommersprossen und sie nicht. Nur ihre Augen besaßen denselben dunklen Braunton und die gleiche Form – das einzige identische Merkmal, das beide Geschwister teilten. Gelegentlich kam es vor, dass Fremde Astra fälschlicherweise für die Ältere hielten, was Altair stets als außerordentliche Kränkung empfand. Noch mehr als den Mangel an Schokoladenverstecke.

Nun stellte Astras Bruder das Geschirr auf dem Tisch ab und warf ihr dabei einen kurzen Seitenblick zu. „Nicht genug geschlafen? Oder zu aufgeregt?“

„Ich habe etwas wirr geträumt und bin viel zu früh aufgewacht“, gab Astra zu. „Aber die Aufregung hält sich noch in akzeptablen Grenzen.“

„Und da bleibt sie hoffentlich auch. Ich verlass mich darauf, dass du die Prüfung nicht in den Sand setzt und in ein paar Tagen schon wieder hier auf der Matte stehst.“ Altair gähnte ein weiteres Mal. „Morgen kommen ein paar Kumpels vorbei, die mir dabei helfen, dein Zimmer auszuräumen.“

„Wie bitte?“

„Mhm. Dein Zeug ist ja nur im Weg, wenn wir die Wand zu meinem Zimmer durchbrechen und die verbleibenden Wände neu streichen. Vielleicht behalte ich aber deinen Teppich, das muss ich mir noch überlegen.“ Er grinste sie breit an und verzog einen Moment später das Gesicht, als Astra ihm einmal gegen den Oberarm boxte. „Au, jetzt habe ich einen blauen Fleck!“

„Das hast du kaum gespürt.“

„Du trainierst seit einer halben Ewigkeit, wie man zuschlägt! Natürlich habe ich das gespürt!“

„Dann geschieht es dir recht“, gab Astra zurück und musste selbst grinsen. „Wer austeilt, muss auch einstecken können. Und mein Zimmer bekommst du sicher nicht.“ Ihr Grinsen verblasste wieder. „Denn selbst wenn ich die erste Prüfung bestehe, könnte ich es immer noch brauchen.“

„Du wirst die Prüfung bestehen und am Ende der Probezeit nehmen sie dich mit Sicherheit“, brummte Alitair und warf ihr einen übertrieben vorwurfsvollen Blick zu, während er über seinen Arm rieb. „Du könntest im Alleingang einen Attentäter ausknocken und der Königin das Leben retten.“

„Wenn der Attentäter mein wehleidiger Bruder ist, der lediglich ohne angemessene Verbeugung an ihr vorbei zum Buffet eilen will, dann unter Garantie. Aber leider bist du nicht das Maß aller Dinge, Brüderchen“, meinte Astra mit einem Schmunzeln und wandte sich ab, um Teller und Tassen auf den Tisch zu stellen.

„Es gab mal eine Zeit, da war ich das für dich“, seufzte Altair.

„Ja, da war ich fünf.“

„Richtig, damals warst du noch niedlich und beeindruckbar. Und wenn du doch mal frech wurdest, konnte ich dich einfach hochheben und …“

Astra gab einen erschrockenen Laut von sich, als ihr Bruder sie plötzlich von hinten packte, in die Luft hob und im Kreis zu drehen begann. Ihr erster Instinkt war die vielfach geübte Befreiungstechnik, die sie mit Theo trainiert hatte, aber dummerweise hielt sie immer noch die leeren Teetassen in den Händen. Und ein Haufen Scherben war zumindest unter diesen Umständen kein annehmbarer Preis für ihre Freiheit.

Glücklicherweise erschien in diesem Moment ihre Mutter Vanna im Türrahmen der Küche. Sie war bereits angezogen, aber ihre Haare waren ungekämmt, also hatte sie scheinbar der Lärm aus der Küche angelockt. Mit der leidgeprüften Miene einer Frau, die nicht zum ersten Mal in Geschwisterkabbeleien platzte, verschränkte sie die Arme und wartete geduldig ab, dass ihre Präsenz Wirkung zeigte.

„Er hat angefangen“, behauptete Astra, sobald ihr Bruder sie wieder auf die Füße gesetzt hatte.

„Sie ist gewalttätig“, konterte Altair augenblicklich.

Vanna Aquilo seufzte und rieb sich die Stirn. „Wer auch immer behauptet hat, dass sie mit zunehmendem Alter einfacher werden, hatte offensichtlich selbst keine Kinder“, murmelte sie. „Altair, hör auf, deine Schwester zu ärgern. Astreya, Fäuste werden nur beim Training verwendet, nirgendwo sonst.“ Sie wartete einen Moment, während Astra und Altair wenig überzeugende schuldbewusste Mienen machten. „Ich komm dann einfach nochmal rein und wir versuchen es von vorne, in Ordnung?“

Während ihre Mutter aus der Küche ging, stellte Astra die Tassen auf dem Tisch ab und zog die Augenbrauen in die Höhe, als sie ihren Bruder ansah. „Gewalttätig?“

Altair zuckte die Schultern und grinste wieder. „Wenn ich gemeingefährlich gesagt hätte, würdest du das am Ende noch als Kompliment nehmen.“

Zu einer Antwort kam Astra nicht mehr, denn nun kehrte ihre Mutter wieder zurück und schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln. „Guten Morgen, liebe Familie. Wie ich sehe, habt ihr das Frühstück schon vorbereitet, wie aufmerksam von euch. Und, oh Wunder, ihr beide verhaltet euch sogar eurem tatsächlichen Alter entsprechend. Wie schön es doch ist, wenn keine Erziehungsmaßnahmen mehr nötig sind.“

Altair prustete los und auch Astra konnte sich ein kurzes Auflachen nicht verkneifen. „Morgen, Mama“, sagte sie dann. „Tee?“

„Ja, bitte.“ Ihre Mutter setzte sich auf ihren üblichen Stuhl und zog dann eine der Tassen heran, in die Astra Tee einschenkte. „Wie war dein Lauf?“

Anders als zuvor bei Altair lenkte die Frage das Gespräch diesmal nicht auf den Grund Astras baldiger Abreise, sondern war nur der Beginn einer ganz normalen Morgenkonversation. Astra ahnte, dass ihre Mutter den Elefanten im Raum bewusst nicht zur Sprache kommen ließ, um stattdessen eine beruhigende Atmosphäre zu schaffen. Dafür war sie dankbar, denn es funktionierte, zumindest eine Weile lang.

Schließlich aber war das Frühstück gegessen, Altair räumte das Geschirr vom Tisch und Astra stellte mit einem Anflug von Schrecken fest, dass sie in einer halben Stunde los musste. Jahrelang hatte sie ungeduldig auf diesen Moment gewartet und jetzt verging ihr die Zeit plötzlich viel zu schnell.

Ihre Mutter fing ihren Blick auf und legte den Kopf schief. „Wann geht dein Zug nochmal?“

„Um halb 9.“

„Dann würde ich sagen, du kontrollierst jetzt nochmal dein Gepäck und dann gehen wir in aller Ruhe zum Bahnhof.“

Astra hielt inne. „Du kommst mit? Musst du nicht zur Arbeit?“

„Ich habe es so arrangiert, dass ich heute später anfangen kann und dafür etwas länger bleibe. Was?“, fragte ihre Mutter mit einem Schmunzeln, als Astra überrascht schaute. „Meine einzige Tochter macht sich auf den Weg, ihren Lebenstraum zu erfüllen und ich habe keine Ahnung, wann ich sie das nächste Mal sehen werde. Da werde ich mich sicher nicht davon abhalten lassen, dich wenigstens noch bis zum Bahnhof zu bringen.“

„Mir hat sie gesagt, sie will nur sicherstellen, dass du auch in den richtigen Zug steigst“, warf Altair ein. „Wäre schließlich eine schöne Bescherung, wenn du vor lauter Nervosität am falschen Gleis einsteigst und dann irgendwo an der Südküste rauskommst, meilenweit von der Hauptstadt und dem Palast entfernt.“

Ihre Mutter seufzte, doch Astra musste grinsen. Altair hatte eine große Klappe, aber Witze waren seine Art, sie von ihrer Aufregung abzulenken. Manchmal hatte sie dafür absolut keinen Nerv, aber heute war sie froh darüber.

Astras letzte halbe Stunde zu Hause verstrich schnell. Es fühlte sich an, als hätte sie kaum Zeit, ihre beiden Koffer zu überprüfen und sie in den Flur zu bringen, da kam ihre Mutter schon mit gekämmten Haaren aus ihrem Zimmer zurück und Altair, der vom Bahnhof direkt zu seiner Arbeit ging, wartete mit seinem Apothekerkittel über dem Arm neben Astras Gepäck.

Ihr Bruder und ihre Mutter bestanden darauf, den größeren Koffer gemeinsam zu tragen. Während sie ihn die Stufen hinunter auf die Straße bugsierten, griff Astra nach dem Tragehenkel des kleineren Koffers und warf einen letzten Blick zurück. Wenn alles gut ging, würde sie tatsächlich für unbestimmte Zeit nicht mehr nach Hause zurückkehren. Das versetzte ihr einen nicht unerheblichen Stich im Herzen, und ein paradoxer Anflug von Heimweg erfasste sie. Doch der Gedanke, dass sie in einigen Tagen auch schon wieder daheim sein könnte, war auch keine richtige Aufmunterung.

Mit einem tiefen Atemzug trat Astra hinaus auf die Treppenstufen und schloss nachdrücklich die Haustür hinter sich. Die Garde war ihr Lebenstraum. Da konnte sie sich jetzt nicht von ein bisschen Heimweh und Nervosität zu einem Rückzieher bewegen lassen.

Es war gut, dass sie so rechtzeitig aufgebrochen waren. Auf dem Weg zum Bahnhof begegneten ihnen nämlich eine nicht zu verachtende Anzahl an Nachbarn, Kollegen und Freunden ihrer Eltern und ihres Bruders, die alle mitbekommen hatten, dass Astra heute abreisen würde. Sie schüttelte unterwegs mehr als ein Dutzend verschiedener Hände, die ihr alle Glück und Erfolg wünschen wollten. Von ihren eigenen Freunden hatte Astra sich glücklicherweise schon am Vortag verabschiedet, andernfalls wäre sie nie rechtzeitig zu ihrem Zug gekommen. Trotzdem war sie nicht überrascht, als schließlich der Haupteingang des Bahnhofsgebäudes in Sicht kam und sie auf dessen Stufen Theo entdeckte.

Ihr bester Freund und Trainingspartner schien schon eine Weile dort herumzulungern, denn als er sie bemerkte, sprang er sofort auf und kam ihnen zügig entgegen. „Ich habe schon auf der Informationstafel nachgeschaut, auf welchem Gleis dein Zug abfährt“, sagte er statt einer Begrüßung und gab Astra dann nicht mal die Gelegenheit zum Protest, als er ihr den kleineren Koffer abnahm. „In ein paar Minuten sollte er auch ankommen, dann kannst du bequem einen Platz finden, bevor es losgeht.“

Nachdem sie nun nichts mehr in den Händen hatte und sich mit drei Kofferträgern im Gefolge etwas dämlich vorkam, verschränkte Astra die Arme vor der Brust. So sehr sie alle drei und ihre guten Intentionen auch schätzte, war sie langsam wirklich froh, dass sie nicht mitfuhren und ihr die Koffer nicht bis ans Palasttor bringen konnten. Eine potentielle Anwärterin, die ihr Gepäck nicht selbst tragen konnte, machte sicher keinen guten Eindruck.

Tatsächlich hielt Astras Zug gerade an Gleis 2, als sie die Bahnhofshalle betraten. Das laute und quietschende Bremsgeräusch, gefolgt vom erleichterten Schnaufen der Lokomotive hallte von den hohen Wänden und Decken wider. Ein schrilles Pfeifen, das den Halt der Lok verkündete, mischte sich unter die Geräuschkulisse des Bahnhofs: Stimmengewirr flirrte durch die riesige Halle, das Poltern von Gepäck rumpelte an allen Bahnsteigen und übertönte fast das Schreien der Bahnvorsteher, die die nächsten Abfahrten ankündigten. Es roch nach Dampf und Rauch, nach gebratenem Essen, Schmieröl und dieser ganz besonderen Note, die Astra nicht genau definieren konnte, die aber irgendwie Tatendrang und Reiselust verströmte.

„Ich warte hier draußen, solange ihr einen Sitzplatz sucht“, meinte Astras Mutter, während sie mit einem amüsierten Schmunzeln zuschaute, wie Altair und Theo den großen Koffer in den Zug hievten. Männlicher Stolz und eine Priese Selbstüberschätzung zwangen die beiden wohl dazu, das Hilfsangebot eines Gepäckträgers energisch abzulehnen. „Wenn du einen Fensterplatz auf der linken Seite nimmst, dürftest du etwa auf halber Strecke den besten Blick auf die Amethyst-Seen haben, hat dein Vater gesagt. Bei dem Wetter ist das sicher eine schöne Aussicht.“

„Gute Idee, das mache ich.“ Im nächsten Moment musste Astra sich ein Auflachen verkneifen, als Altair der Koffergriff aus der Hand glitt und er einen lauten Fluch ausstieß, weil der Koffer auf seinem Fuß gelandet war. Stattdessen nahm sie das kleinere Gepäckstück und wartete geduldig, ohne eine Miene zu verziehen, bis sie ebenfalls einsteigen konnte.

Der Wagon war noch beinahe leer, die beiden gepolsterten Sitzreihen links und rechts vom Gang nur spärlich belegt, und so hatte sie die freie Auswahl. Nachdem der große Koffer sicher (und ohne weitere verletzte Zehen) verstaut war und der kleine Astras Platz am Fenster markierte, stiegen sie und ihr Bruder wieder hinaus auf den Bahnsteig. Theo hatte sich bereiterklärt, währenddessen drinnen das Gepäck zu bewachen.

Altair warf einen Blick auf die riesige Bahnhofsuhr, die über dem Eingang hing, und wandte sich dann Astra zu. „Ich kann dir leider nicht mehr hinterher winken, denn wenn ich noch länger bleibe, muss ich zur Arbeit rennen, um nicht zu spät zu kommen.“

„Und das wollen wir natürlich vermeiden, weil ein rotgesichtiger und keuchender Apothekerlehrling die Kunden verschrecken würde“, neckte Astra ihn.

„Die Frechheiten werden dir schon noch vergehen, wenn du jeden Tag beim Training durch die Mangel gedreht wirst“, konterte Altair und schloss Astra dann in die Arme. „Mach‘s gut, Schwesterchen. Viel Erfolg bei der Prüfung. Und schreib mir, ob die Prinzessin wirklich so schön ist wie auf ihren Porträts.“

„Sollte ich sie sehen, schicke ich sofort einen Eilbrief mit meinem Urteil los.“ Astra vergrub einen Moment lang ihr Gesicht an der Schulter ihres Bruders, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten und ließ ihn dann los. „Bis bald, Altair.“

Auch von ihrer Mutter verabschiedete sie sich jetzt schon. E würde noch beinahe eine halbe Stunde dauern, bis der Zug abfuhr und Astra wollte nicht, dass ihre Mutter so lang am Bahnhof herumstand, wenn sie die Zeit auch besser nutzen konnte.

„Ja, es ist in Ordnung, wenn du jetzt schon gehst“, wiederholte sie zum dritten Mal. „Theo leistet mir Gesellschaft, bis der Zug fährt. Anders als bei dir verschiebt sich seine Arbeitszeit heute auch nicht meinetwegen bis in den Abend. Ich komme klar.“

„Gut, wenn du dir sicher bist.“ Ihre Mutter zog sie in eine Umarmung und drückte sie so fest, dass man meinen könnte, sie wäre diejenige, die mehrfach in der Woche trainierte. „Pass gut auf dich auf, mein Schatz. Ich weiß, du wirst es in die Garde schaffen, also mach dir nicht zu viele Gedanken und gib dein Bestes, wie immer. Dein Vater hat mir aufgetragen, dir von ihm auszurichten, wie stolz er auf dich ist und dass er morgen an dich denken wird.“

„Danke, Mama“, murmelte Astra ein wenig erstickt. Diesmal war es nochmal schwerer, die Tränen wegzublinzeln. Sie wünschte, ihr Vater wäre jetzt auch hier und sie hätte sich nicht schon letzte Woche von ihm verabschieden müssen, als er selbst aufgebrochen war. „Ich schreibe gleich morgen nach der Prüfung, wie es gelaufen ist.“

Vanna nickte und ließ Astra los, um sich selbst über die Augen zu wischen. „Gut. Ich erwarte genaue Beschreibungen von allem und jede Woche einen Brief, damit ich weiß, dass es dir gut geht.“

„Ich werde dran denken“, versprach Astra und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.

Als sie wieder in den Zug stieg, war ihr das Herz noch schwerer als zuvor an der Haustür. Dass sie ihre Familie und ihre Freunde in Zukunft sehr viel seltener sehen würde, schmerzte noch mehr als die Tatsache, dass sie heute ihr Zuhause und ihr bisheriges Leben zurücklassen musste.

Sie atmete tief durch und kehrte dann zu ihrem Platz zurück, wo Theo es sich in einem der beiden dunkelroten Sitze gemütlich gemacht hatte und gedankenverloren an die Decke guckte.

„Lass mich raten“, sagte er, als Astra ihren Koffer zur Seite stellte und sich an den Fensterplatz setzte. „Altair ist in Tränen ausgebrochen.“

Astra gab sich innerlich erneut einen Ruck, um das erneut aufkommende Heimweh beiseitezuschieben. „Oh nein, er war sehr tapfer. Keine zitternde Unterlippe, keine tiefschürfenden Abschiedsworte. Ich glaube, er wird möglicherweise doch ohne mich klarkommen.“

Theo lachte. „Gut. Wenn Altair sich damit abfinden kann, dass du nicht mehr der Mittelpunkt seines Universums bist, kann ich mich vielleicht auch daran gewöhnen.“

Astra schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Ihr beiden Quatschköpfe werdet mir wirklich fehlen.“

„Tja, es ist wirklich schade, dass du mich nicht mitnehmen kannst. Wobei ich durchaus gewillt wäre, es mit einer Perücke zu versuchen und mich als deine Schwester verkleidet von dir einschmuggeln zu lassen. Höchstwahrscheinlich wäre ich sogar die beste Anwärterin der Geschichtsschreibung.“

„Ganz bestimmt“, meine Astra und verdrehte die Augen.

„Übrigens, bevor ich es vergesse. Gia hat das hier für dich gemacht und wollte, dass ich es dir gebe.“ Aus seiner Hosentasche zog Theo ein geflochtenes Armband hervor, an dem ein Anhänger in Form eines geschnitzten Schwans hing. „Als Glücksbringer.“

Astra nahm den Anhänger zwischen die Fingerspitzen und fuhr über das polierte Holz. „Das ist sehr lieb von deiner kleinen Schwester. Sag ihr Danke von mir und dass ich ihr einen Brief aus dem Palast schicke, wenn der Glücksbringer funktioniert hat.“

Theo band Astra das Armband um das linke Handgelenk und drückte es dann kurz. „Glück wirst du für die Prüfung nicht nötig haben, aber vielleicht ist es ja für was anderes gut.“

Für den Rest der verbleibenden Zeit redeten sie über andere Dinge, bis schließlich ein Bahnvorsteher die Ansage machte, dass der Zug nach Tadira in fünf Minuten abfahren würde. Astra sagte auch Theo Lebwohl und sah zu, wie er ausstieg und dann draußen auf dem Gleis wartete. Nicht lange darauf wurden die Türen zum Wagon geschlossen, ein weiterer lauter Pfiff ertönte und dann setzte sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung.

Theo warf ihr ein fröhliches Grinsen zu und hob beide Hände zum Winken. Schon wenige Momente darauf war er aus Astras Blickfeld verschwunden. Die Lokomotive beschleunigte weiter, während sie aus dem Bahnhof fuhr, und dann lag auch das riesige Gebäude hinter Astra. Stattdessen zogen vor dem Fenster nun Häuserfassaden vorbei und sie konnte in der Ferne das silbern schimmernde Dach von Nisaos Rathaus erkennen. Doch auch die Stadtkulisse dünnte schon bald wieder aus und dann sah Astra zu beiden Seiten des Zugs nur noch das flache Land der Avis-Ebene.

Sie merkte erst jetzt, dass sie begonnen hatte, ein wenig unruhig an ihrem neuen Armband zu spielen. Der hölzerne Schwanenanhänger lag zwischen ihren Fingern und sie fuhr zum wiederholten Mal seine Form mit dem Daumen nach. Theos Zuversicht wusste Astra zu schätzen, aber sie hatte dennoch so eine Ahnung, dass sie ein wenig Glück in nächster Zeit durchaus brauchen konnte.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen, als sich die Sonne hinter einigen trüben Wolken versteckte und die Luft nach dem Schauer der vergangenen Nacht roch, stand Astra vor einem verschlossenen Tor. Sie versuchte, die misstrauischen Blicke der beiden Palastwachen zu ignorieren, denen sie nun schon fast zehn Minuten ausgesetzt war. Aber sie war definitiv am richtigen Eingang und das auch mehr als pünktlich, also galten die strengen Mienen der Wachen vermutlich nicht ihr persönlich. Wahrscheinlich gehörte dieser Gesichtsausdruck einfach standardmäßig zu einem diensthabenden Wachposten, so wie die Uniform und die stramme Haltung.

Innerlich war Astra so nervös und aufgeregt wie wohl noch nie zuvor in ihrem Leben. Doch sie gab sich die größte Mühe, dieses Gefühl nicht nach außen dringen zu lassen. Zumindest hatte sie das leichte Zittern ihrer Hände so weit im Griff, dass es nur jemandem aufgefallen wäre, der konzentriert auf den Brief schaute, an dem sie sich festhielt.

Es war das Schreiben von Venelia Immer, das die letzten Monate über auf dem Beistelltisch neben Astras Bett gelegen hatte. Darin enthalten war nicht nur die Benachrichtigung, dass Astras schriftliche Bewerbung akzeptiert worden war, sondern auch Anweisungen und genauere Informationen für den Prüfungstag. Fürs Erste sollte Astra sich zur vorgegebenen Zeit hier mit eben diesem Brief melden und durfte dann ein persönliches Gespräch mit der Ausbilderin der Schwanengarde führen, ehe sie zu ihrer mehrteiligen Prüfung weitergeschickt wurde.

Im Groben wusste Astra also, was heute auf sie zukommen würde, und sie war auch einigermaßen sicher, dass nichts davon sie vor große Probleme stellen sollte. Aber wie sie sich dann tatsächlich schlagen würde, blieb abzuwarten.

Schließlich öffnete sich das Tor von innen und ein Dienstbote in Uniform ließ Astra eintreten. Sie warf den beiden Wachmännern ein kurzes Lächeln zu, um ihre Unsicherheit zu überspielen, und trat dann über die Schwelle. Unter ihren Füßen knirschte augenblicklich helles Kies und als das Tor hinter ihr zufiel, begann Astra sich mit großen Augen umzuschauen.

Die Welt hinter der Mauer war atemberaubend schön.

Direkt zu Astras Linken begann der Palastgarten, ein großer, luftiger Bereich, der vor Farben nur so strotzte. Ein mit hellgrauen Steinen gepflasterter Weg führte schlangengleich vorbei an gepflegten Rasenflächen, unzähligen Blumen aller Farben und Sorten, blühenden Kirschbäumen und in Tierformen getrimmten Büschen. Es roch nach frisch geschnittenem Gras und Rosen und zwischen den Bäumen flogen Vögel herum, begleitet vom Zwitschern und Zirpen weiterer Artgenossen. Auf Astras anderer Seite lag ebenfalls ein Weg, der von Rosensträuchern flankiert wurde und in Richtung des großen Vorplatzes führte, der am Haupteingang des Palasts im Osten lag.

Der Dienstbote räusperte sich höflich. „Ich würde Sie bitten, mir zu folgen, junge Dame“, sagte er und ging dann voraus in der festen Überzeugung, dass sie seiner Anweisung nachkommen würde.

Mit einem letzten bewundernden Blick in Richtung Garten setzte Astra sich ebenfalls in Bewegung. Der Dienstbote führte sie über den Kiesweg zu einer offenstehenden Eingangstür – Astras Pforte in das Palastgebäude.

Auch hier gab es an jeder Ecke interessante und kostbare Dinge zu sehen. Astra musste ständig aufpassen, dass sie nicht versehentlich stehen blieb und die Gemälde anstarrte. Die Wände waren verkleidet mit edler Tapete, kunstvoll gearbeitete Wandteppiche zeigten die Jahreszeiten oder bekannte Sehenswürdigkeiten des Landes, und die Kronleuchter an den Decken schimmerten wie poliertes Gold. Auch Landschaftsgemälde und das ein oder andere Porträt zierten die Flure, abwechselnd mit kleinen Tischchen, auf denen Schalen oder Statuetten ausgestellt waren.

Astra folgte dem Dienstboten um einige Ecken und durch eine doppelflügelige Tür. Dahinter befand sich ein Bereich, der sich irgendwie anders anfühlte als die bisherigen Flure. Die Dekoration zumindest folgte einheitlich einem gewissen Thema: Die Wandbehänge zeigten ausnahmslos Frauen in Rüstung oder Uniform bei verschiedenen Tätigkeiten wie Bogenschießen oder Nahkampf. Und immer wieder kam Astra an hellblauen Bannern oder Flaggen vorbei, auf denen ein weißer Schwan mit ausgebreiteten Flügeln zu sehen war – das Wappen der Schwanengarde.

Schließlich wurde der Dienstbote langsamer und blieb vor einer der Türen auf der rechten Seite des Gangs stehen.

„Nehmen Sie bitte hier Platz“, sagte er und deutete auf einige Stühle, die an der Wand gegenüber aufgereiht waren. Zwei junge Frauen, etwa in Astras Alter, saßen bereits dort und schienen auf etwas zu warten. „Das Büro der Nesthüterin ist diese Tür hier. Sie werden dann von ihr aufgerufen und hereingebeten.“ Und mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war.

Astra befeuchtete ihre Lippe und schaute zu dem Wandteppich, neben dem sie stehen geblieben war. Er zeigte die gewebten Abbilder zweier Frauen, die sich im Schwertkampf übten, und darunter stand der Leitspruch der Garde: Die mächtigste Waffe ist stets jene, die niemand erwartet.

Nach einem Augenblick ging sie weiter und steuerte die Stuhlreihe an. Die beiden anderen Mädchen hatten sie schon beobachtet, seit der Dienstbote sie hergebracht hatte. Die Dunkelhaarige hatte eine steinerne Miene aufgesetzt, aber die Blonde warf Astra ein schüchternes Lächeln zu. „Hallo. Ich heiße Idalia und das ist Océane.“

Océane nickte kurz und ließ sich ansonsten nichts anmerken.

„Ich bin Astra.“ Sie nickte zur Bürotür. „Ist da schon jemand drin?“

Idalia schüttelte den Kopf. „Ich war als Erste hier und bisher hat sich diese Tür nicht geöffnet. Geduld ist scheinbar der erste Teil der Prüfung, bevor sie offiziell überhaupt begonnen hat. Woher kommst du?“

„Ich bin gestern aus Nisao angekommen.“

„Oh, das ist ein ganz schönes Stück entfernt, nicht wahr?“, fragte Idalia. „Ich komme aus einem Dorf hier aus der Gegend, aber das ist erst mein drittes Mal, dass ich in Tadira bin. Hast du den Garten gesehen?“

Die nächsten Minuten unterhielt Astra sich weiter mit Idalia, die ihre Nervosität offenbar am besten bewältigen konnte, indem sie redete. Etwas mehr Ruhe, um sich sammeln und geistig vorbereiten zu können, wäre Astra zwar lieber gewesen, aber da sie nicht unhöflich sein wollte, hielt sie die Konversation aufrecht. Außerdem war Ablenkung vermutlich sowieso das Beste. Nach einer Weile kam noch ein weiteres Mädchen dazu, das sich als Danu vorstellte. Und dann schließlich öffnete sich ohne Vorwarnung die Bürotür und im Türrahmen erschien eine Frau mit gebräunter Haut und einem dunklen Zopf, die Astras Namen aufrief.

Etwas geschockt darüber, dass sie als Erste dran war, stand Astra ein wenig steif auf. Sie erinnerte sich gerade noch daran, Idalias geflüstertes „Viel Glück“ mit einem kleinen Lächeln zu beantworten, dann hatten ihre Füße sie bereits zur Tür getragen und sie betrat das Büro.

Im Inneren roch es nach einer ihr unbekannten Teesorte und Pergament, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Die Möbel – ein großer Schreibtisch, einige Regale voller in Leder gebundener Bücher und mit geblümtem Stoff überspannte Stühle – waren aus hellem Holz und wirkten so einladend, dass selbst das große Schwert, das an der Wand hinter dem Schreibtisch hing, wie ganz gewöhnliche Dekoration wirkte und nicht wie eine tödliche Waffe.

Unwillkürlich musste Astra schmunzeln. Das Büro hatte Charakter.

„So ist es recht, bloß keine Scheu“, sagte die Frau, die Astra hereingerufen hatte. Ihr geflochtener Zopf fiel ihr beinahe bis zur Hüfte und sie hatte dunkelbraune Augen, die Astra freundlich, aber auch sehr genau musterten. Sie schien mittleren Alters zu sein und obwohl sie in etwa Astras Größe hatte, hielt sie sich auf eine Art, die sie deutlich größer wirken ließ. „Ich bin Venelia Immer, Nesthüterin der Schwanengarde. Freut mich, dich kennenzulernen, Astreya.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Nesthüterin.“

Venelia legte kurz den Kopf schief und bedeutete Astra dann, auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen, ehe sie sich hinter den Tisch setzte und zwei Blätter Pergament heranzog. „Also, hier haben wir Astreya Aquilo aus Nisao, 19 Jahre alt, im Augenblick Gehilfin im Laden eines gewissen Meisters Joran. Interessante Arbeit?“

Obwohl sie ungezwungen sprach und einen Plauderton angeschlagen hatte, ahnte Astra, dass sie dieses Gespräch trotzdem nicht als einen gemütlichen Kaffeeklatsch behandeln durfte. „Vor allem beständig“, antwortete sie. „Ich helfe im Laden, erledige alle kleineren Arbeiten, die gemacht werden müssen und sortiere ansonsten im Lager. Meister Joran ist nicht mehr der Jüngste und braucht jemanden, der die schweren Kisten vom Regal holen kann.“

„Also eher eine Übergangsbeschäftigung?“, wollte Venelia wissen und schaute von ihrem Pergament auf.

Astra nickte. „Ich habe die Stelle nach meinem Schulabschluss angenommen. Ich wollte auf diese Weise etwas Geld verdienen und mich sinnvoll beschäftigen, ohne mich für eine Ausbildung zu verpflichten, bis ich mich bei der Garde bewerben konnte.“

„Was ja bereits seit Kindertagen dein Wunsch war.“ Ein kleines Grinsen zuckte über Venelias Lippen und sie hob ein paar Blätter Pergament, auf denen Astra ihre eigene Handschrift erkannte. „Ich lese oft, dass die Schwanengarde ein Lebenstraum ist. Aber es ist schon etwas länger her, dass jemand zusätzliche Seiten dazulegen musste, um vollständig ausführen zu können, warum wir ihr eine Chance geben sollten.“

Astra warf ein etwas verlegenes Lächeln zurück – sie hatte schon den Verdacht gehabt, dass es vielleicht zu viel gewesen war. „Ich wollte die Gelegenheit wirklich nutzen.“

„Hast du deinen Punkten noch etwas hinzuzufügen? Falls nein, kann ich mir die Frage, weshalb du in die Schwanengarde aufgenommen werden willst, nämlich sparen.“

Nach kurzem Überlegen schüttelte Astra den Kopf. Sie hatte alles geschrieben, was ihr wichtig erschien, und wenn es Venelia genügte, dann reichte es offenbar aus.

„Gut, dann kommen wir zu deinen Fähigkeiten. Du hast angegeben, dass …“

Astra war nicht sicher, wie lange sie genau in Venelias Büro war, aber es musste mindestens eine halbe Stunde sein. Diese verbrachte sie vor allem damit, allerlei Fragen zu beantworten. Einige von ihnen waren auch etwas unerwartet – oder schlichtweg ungewöhnlich – und Astra fiel auf, dass Venelia hier besonders aufmerksam auf ihre Reaktion und Antwort achtete. Fragen wie: Mit welcher historischen Persönlichkeit würdest du dich gerne eine Stunde lang unterhalten, wenn du könntest? Was würdest du als den größten Fehler deines bisherigen Lebens bezeichnen und warum? Was würdest du rückwirkend ändern, wenn du könntest? Wenn du eine magische Fähigkeit haben könntest, welche wäre es?

Bei einigen dieser Fragen musste Astra beinahe eine volle Minute überlegen, ehe sie eine ehrliche und gleichzeitig sinnvolle Antwort fand. Was genau die Nesthüterin aus ihren Erwiderungen entnahm, konnte sie nur vermuten. Aber es war eine Art Test, und Astra hatte vor, ihn zu bestehen. Deshalb nahm sie sich die Zeit zum Nachdenken, wo sie nötig war, und vertraute ansonsten auf ihr Bauchgefühl.

Schließlich machte Venelia einen letzten Vermerk auf ihrem Pergament und legte es dann beiseite. „In Ordnung, das war es dann von meiner Seite. Hast du noch irgendwelche Fragen?“

„Ja. Ich wüsste gerne, wie es jetzt weitergeht. Und …“ Kurz zögerte Astra, aber entschied dann, dass es besser war, das jetzt zu klären. „Für den Fall, dass ich es nicht schaffen sollte – wäre das eine endgültige Ablehnung oder kann ich es nochmal versuchen?“

„Lass mich die zweite Frage zuerst beantworten. Wenn du in den kommenden Tagen nicht als eine der fünfzig Anwärterinnen ausgewählt wirst, kannst du es noch zwei weitere Male versuchen. Solltest du beim dritten Versuch nicht für die Probezeit akzeptiert werden, müssen wir eine vierte Bewerbung ablehnen“, antwortete Venelia und faltete die Hände auf dem Tisch. „Wie du weißt, werden wir aus den Anwärterinnen nach einigen Wochen Training wieder eine Auswahl treffen und die fünfzehn Besten erhalten einen permanenten Platz in der Garde. Diejenigen, die nicht aufgenommen werden, erhalten ein Belobigungsschreiben von der Gardeanführerin. Damit könntest du dich noch ein zweites Mal bewerben und wirst in dem Fall gleich als Anwärterin akzeptiert. Dir blieben also die Prüfungen, die du heute ablegen musst, beim zweiten Mal erspart. Diese zweite Chance als Anwärterin ist aber auch die einzige, die wir erlauben. Solltest du nach der Probezeit er-neut nicht ausgewählt werden, ist kein weiterer Versuch möglich.“

Astra nickte und verkniff sich ein erleichtertes Aufatmen. Je nachdem, ob sie heute scheiterte oder erst als Anwärterin, hatte sie also noch zwei beziehungsweise eine weitere Chance. Sie hoffte, dass es ihr beim ersten Mal gelang, aber es war gut zu wissen, dass sie es notfalls erneut versuchen konnte.

Venelia sah, dass die Frage ausreichend beantwortet war und stand von ihrem Stuhl auf. „Was das weitere Vorgehen angeht: Auf dem Gang wartet mittlerweile ein Gardemitglied auf dich. Sie wird dich zu deinen Prüfungen führen. Wenn du die letzte abgelegt hast, hast du deinen Teil getan. In einigen Tagen, wenn alle Bewerberinnen ihre Chance hatten, rufen wir alle zusammen und verkünden die Namen der neuen Anwärterinnen.“

Die Nesthüterin öffnete die Bürotür und ließ Astra nach draußen treten, ehe sie Océane aufrief. Die arme Idalia, die schon am längsten wartete, warf Astra ein hoffnungsvolles Lächeln zu. Doch sie bekam keine Gelegenheit, nach dem Gespräch mit Venelia zu fragen, da trat auch schon eine neue Frau an Astra heran.

„Hallo, Bewerberin. Mein Name ist Katalyn und ich habe heute die erfreuliche Aufgabe, zwischen Venelias Büro und den Prüfungsräumen hin und her zu pendeln, damit sich niemand verirrt oder irgendwelche wertvollen Obstschalen mitgehen lässt.“

Bei der jungen Frau mit den welligen braunen Haaren und den Sommersprossen auf den Wangen handelte es sich offensichtlich um das angekündigte Mitglied der Schwanengarde. Sie war in dieselbe Uniform gekleidet wie Venelia, wobei Katalyn allerdings zusätzlich noch einen ledernen Brustharnisch trug. Am rechten Oberarm ihres grünen Hemds prangte eine aufgenähte, goldene Sonne, am linken ein hellblaues Abzeichen mit dem weißen Garde-Schwan. Während Letzteres Katalyn als Mitglied der Schwanengarde auszeichnete, verkündete die goldene Sonne – das Wappen von Thessarin – zusätzlich ihren Dienst im Palast und an der königlichen Familie. An ihrem Kragen entdeckte Astra außerdem das metallische Abzeichen eines schwarzen Schwans.

Dennoch, obwohl sie einer Person gegenüberstand, die genau das repräsentierte, was Astra sich für sich selbst so sehnlichst wünschte, zuckten ihre Mundwinkel bei diesen Worten unwillkürlich nach oben.

„Oh gut, jemand mit Humor. Ich hatte gestern schon Bewerberinnendienst und da waren die meisten nicht zu Späßen aufgelegt“, grinste Katalyn zurück und bedeutete Astra dann mit einer Geste, dass sie ihr folgen sollte. „Wie heißt du?“

Astra nannte ihren Namen und Katalyns Grinsen verbreiterte sich. „Du bist nicht zufällig benannt nach Königin Astraia? Die Königin, die ihre Schwester zu ihrer persönlichen Beschützerin gemacht und damit den Grundstein für die Schwanengarde gelegt hat, oder?“

„Zufälligerweise ja“, gab Astra zu. „Auch wenn meine Eltern den Namen eher gewählt haben, weil er ihnen gefallen hat und nicht wegen der Verbindung zur Schwanengarde.“

„Trotzdem wäre der Name äußerst passend, wenn du eine von uns wirst“, meinte Katalyn und bog dann um eine Ecke. Obwohl sie nicht wirkte, als stünde sie unter Zeitdruck, war ihr Gang sehr zielstrebig und überdurchschnittlich zügig. Astra musste ihre Schritte beschleunigen, um an ihrer Seite bleiben zu können. „Soll ich dir erklären, was jetzt als nächstes passiert oder hat die Nesthüterin dir das schon gesagt?“

„Sie hat nur gesagt, dass du mich zu den Prüfungen führst. Wie genau das abläuft, hat sie mir nicht erklärt.“

„Das ist gar nicht so kompliziert. Zuerst gibt es zwei schriftliche Teile, die wirst du unter Aufsicht in einem Raum ein paar Flure weiter ablegen. Normalerweise ist das eine Lagerkammer, also wundere dich nicht, wenn es da ein bisschen nach Käse und ausgelaufenem Wein riecht. Zuerst gibt es eine Art Persönlichkeitstest, bei dem du ein paar Fragen zu deinem Charakter und Simulationsfragen beantworten musst. Der zweite Test ist ähnlich wie in der Schule, dabei geht es um dein Wissen zu Geschichte, Geografie und Politik. Keine Angst, da ist kein besonderes Fachwissen gefragt, sondern vor allem grundlegende Dinge.“

Katalyn bog ein weiteres Mal scharf um eine Ecke und eine Magd, die gerade einen Kerzenständer abstaubte, musste einen kleinen Satz zur Seite machen. Ungerührt fuhr sie fort: „Danach geht es gemeinsam mit anderen Bewerberinnen raus auf den Trainingsplatz und die praktischen Aufgaben sind an der Reihe: Sprint, Ausdauerlauf, Speerwerfen, Nahkampf. Kannst du reiten?“

Astra schüttelte den Kopf.

„Dann kannst du ein bisschen früher gehen als ein paar andere. Diejenigen, die bei der Bewerbung angegeben haben, dass sie es können, müssen das nämlich auch noch unter Beweis stellen.“

„Habe ich einen Nachteil, wenn ich nicht reiten kann?“, wollte Astra wissen.

Katalyn schüttelte den Kopf. „Wenn du in die Garde aufgenommen werden solltest, kannst du das immer noch lernen. Es gibt auch keine Bonuspunkte für diejenigen, die es können, weil das sowieso die Ausnahmen sind. Meist sind es die Bewerberinnen aus adeligen Familien, die schon Reiterfahrung haben und da wollen wir einfach nur sicherstellen, dass sie es wirklich können.“ Katalyn schmunzelte. „Und es nicht nur glauben, weil der Reitlehrer keine Kritik äußern durfte, ohne gefeuert zu werden.“

„Sind denn viele Bewerberinnen oder Gardemitglieder aus Adelsfamilien?“, erkundigte Astra sich.

„Ein paar durchaus. Manche erfüllen sich damit den Traum, direkt der Königin dienen zu dürfen, andere tun es für das Prestige und steigen dann nach einigen Jahren wieder aus. Diejenigen haben uns anderen gegenüber natürlich ein paar Vorteile, was Etikette, Hofgeplänkel und Tanzen angeht. Aber dafür tun sie sich häufiger schwer, Befehle anzunehmen und die wenig ruhmreichen Aufgaben wie Wachestehen zu übernehmen. Viele adelige Anwärterinnen fliegen aus diesem Grund raus, aber diejenigen, die in die Garde aufgenommen wurden, gehören zu unseren besten Schwänen.“

Katalyn blieb abrupt vor einer Tür stehen, die sich für Astra in keinster Weise von den anderen Türen unterschied, die sie unterwegs passiert hatten. „Aber im Augenblick ist das für dich sowieso nicht wichtig. Heute solltest du dich einfach nur auf die Prüfungen konzentrieren.“

Astra, die sich plötzlich wieder daran erinnerte, weshalb sie hier war, schluckte. Dass heute noch einige Hürden vor ihr lagen, hatte sie während der letzten Minuten irgendwie verdrängt.

Katalyn, die ihre Gedanken zu lesen schien, warf ihr ein ermutigendes Lächeln zu. „Keine Panik, das ist alles halb so schlimm. Ich muss wieder zurück und auf die nächste Bewerberin warten, aber ich wünsche dir viel Glück.“

Während Katalyns zügige Schritte den Flur hinunter verschwanden, atmete Astra einmal tief durch und öffnete dann die Tür zum Prüfungsraum. Ein weiteres Gardemitglied wartete in der Kammer an einem Tisch, überreichte Astra ein paar Bögen Pergament und Schreibutensilien und informierte sie darüber, wie viel Zeit sie jeweils für die beiden Teile hatte.

Die Charakter- und Simulationsfragen erforderten zwar keine besondere Leistung, aber da die Garde sie auch danach beurteilen würde, nahm Astra sich wie beim Gespräch mit Venelia ausreichend Zeit dafür. Sie dachte über jede Frage nach und versuchte so ehrlich wie möglich zu antworten, wie sie sich selbst sah und wie sie in den unterschiedlichen Situationen handeln würde. Manche Fragen hatte sie erwartet – ob sie sich eher als Einzelgängerin oder Teamkämpferin sah, ob sie lieber die Verantwortung übernahm oder Anweisungen ausführte, wie sie sich in einer Streitsituation verhielt oder was sie tun würde, wenn sie einen Befehl von einer Vorgesetzten erhielt, der sie vor einen Konflikt stellte. Aber es waren abermals einige sehr seltsame Fragen dabei, bei denen Astra sich wirklich wunderte, was die Garde aus ihren Antworten schließen würde. Unter anderem wurde gefragt, auf welche Art Astra ein Kätzchen aus einem Baum retten würde – wobei es auch die Auswahlmöglichkeit gab, die Katze einfach dort zu lassen, da es hinterhältige Tiere seien – oder was sie tun würde, wenn ein betrunkener Adeliger bei einem Fest schmutzige Witze über die Königin erzählte.

Nachdem sie diesen Part abgeschlossen hatte, machte sie sich an den Wissenstest, der tatsächlich nicht übermäßig schwierig war. Einen Großteil der Fragen konnte Astra beantworten und im Stillen war sie dankbar, dass sie in der Schule aufgepasst hatte, obwohl ihr nicht bewusst gewesen war, dass diese Themen für die Aufnahme in die Garde wichtig waren.

Danach gab es eine Pause, in der sie sich an einem Buffet in einem kleinen Speisesaal stärken durfte und in der nach und nach auch ein paar weitere Bewerberinnen eintrudelten, die ebenfalls das Gespräch mit Venelia und die schriftliche Prüfung hinter sich gebracht hatten. Unter ihnen waren auch Idalia, Danu und Océane, die sich zu Astra setzten, um ihre Erlebnisse auszutauschen. Océane war diesmal etwas gesprächiger, aber dennoch unterdurchschnittlich mitteilungsfreudig.

Als schließlich zehn Bewerberinnen versammelt waren, kam ein weiteres Gardemitglied, das sie alle ins Freie führte. Sie durchquerten einen Teil des Palastgartens und gingen dabei an einem großen See vorbei, auf dessen Wasseroberfläche Seerosenblätter und zwei prächtige Schwäne schwammen. Nach mehreren Minuten gelangten sie zu einem Bereich, den ihre Aufsicht als das Trainingsgelände der Garde bezeichnete.

Hier gab es einen großen, rechteckigen Sandplatz, der für allerlei verschiedene Zwecke verwendet werden konnte und eine Scheune, in der Trainingsgeräte und -waffen aufbewahrt wurden. Der Bereich war von beinahe allen Seiten mit Bäumen und Büschen umgeben, sodass das Trainingsgelände etwas abgegrenzt war, dabei aber nicht allzu separiert vom Rest des Gartens wirkte.

Der praktische Teil der Prüfung war wesentlich anstrengender als der schriftliche, doch dafür hatte Astra bereits seit Monaten trainiert. Im Sprint war sie unter den besten drei, der Ausdauerlauf war kein Problem und im Speerwerfen, was sie mangels Speer zuvor noch nie versucht hatte, stellte sie sich mittelprächtig an. Es gelang ihr zwar bis zum Schluss nicht, ihren Speer weiter als bis zur ersten Markierung zu werfen, aber wenigstens verbesserte sich ihre Wurftechnik vom ersten Versuch an etwas.

Als der Nahkampf an der Reihe war, teilten die zusehenden Gardemitglieder die Bewerberinnen in Zweierteams auf und ließen sie gegeneinander antreten, unter der Auflage, keine ernsthaften Verletzungen zuzufügen. Immer wieder wechselten einige der Gardemitglieder für eine Bewerberin ein, damit die andere für ein paar Minuten ihr Können gegen eine neue Gegnerin einsetzen musste.

Astra wurde Idalia als Partnerin zugeteilt und sie musste schnell feststellen, dass Idalia nicht nur gern redete, sondern auch verdammt schnell war und einen fiesen linken Haken hatte. Allerdings war Astra größer und weniger zierlich und sie ließ sich auch trotz einiger Treffer nicht leicht umwerfen. Irgendwann bat eine der Frauen in Uniform, die sich als Chana vorstellte, dass Idalia eine kurze Pause machte, damit sie stattdessen mit Astra üben konnte.

„Du stellst dich nicht ganz ungeschickt an, du müsstest nur noch schneller werden und zügiger austeilen“, meinte sie. „Man merkt dir an, dass du deine Schläge vorher planst, dass du gründlich anvisierst und dann erst angreifst. Das macht dich berechenbar.“

Wie um ihre Worte zu untermauern, blockte sie einen von Astras Schlägen scheinbar mühelos ab und verpasste ihr nur einen Augenblick später einen kräftigen Stoß gegen die Rippen, der Astra einen Schritt zurück machen ließ.

„Einen sicheren Stand und ein gutes Gleichgewicht hast du auch, aber das schöpfst du nicht ganz aus, wenn du damit nicht etwas flexibler wirst.“

Astra schnappte nach Luft und duckte sich unter dem nächsten Haken weg. „Also schneller zuschlagen und mehr bewegen?“

„Exakt“, stimmte Chana zu und dann brachte sie Astra ohne große Mühe zu Fall.

Am Ende der Prüfungseinheit waren nicht nur Astras Stiefel voller Sand, auch in ihren Haaren und an ihrer verschwitzten Haut hingen zahllose kleine Körner, die sie nicht wieder loswerden konnte. Nicht ganz so zahlreich, aber dafür nicht minder unangenehm waren die blauen Flecken an diversen Körperstellen, die sie sich zugezogen hatte.

Der Großteil der Bewerberinnen war damit entlassen und wurde angehalten, am Ende der Woche zu einer bestimmten Uhrzeit zum Palast zurückzukehren. Zwei – eine davon Océane – mussten noch etwas länger bleiben, um ihre Reitkünste vorzuführen, wofür Astra sie unter diesen Umständen alles andere als beneidete.

Sie verabschiedete sich von Idalia und kehrte dann in das Gasthaus zurück, in dem sie sich am vorherigen Tag eingemietet hatte. Leider war es näher am Bahnhof als am Palast, weil Astra gestern mit dem großen Koffer keinen so weiten Weg zurücklegen wollen hatte. Daher kam zu den Anstrengungen der Prüfungen nun auch noch ein halbstündiger Marsch in verschwitzter Kleidung und mit einer scheuernden Sandschicht hinzu.

Aber trotz allem, trotz ihrer Erschöpfung, war Astra einigermaßen zufrieden, als sie endlich in ihrem Zimmer ankam. Sie hatte ihren Teil hinter sich gebracht und alles Weitere lag fürs Erste nicht mehr in ihren Händen. Und wenn sie sich etwas ausgeruht hatte, dann konnte sie den versprochenen Brief nach Hause schicken und erzählen, dass sie absolut alles gegeben hatte, was sie konnte.

Kapitel 3

Mit einem zufriedenen Seufzen ließ Astra sich auf den breiten Stufen am Fuß des Springbrunnens nieder und streckte ihre Beine aus. Hinter ihr plätscherte fröhlich das Wasser aus den Fischskulpturen und um sie herum herrschte das rege Treiben von Menschen, die sich auf dem Marktplatz bewegten. Marktschreier verkündeten ihre Angebote, hier und da wurde heftig gehandelt und unter all das Stimmengewirr mischte sich das Lachen, Weinen und Schreien von Kindern.

Es war ein ganz schöner Trubel und doch fühlte Astra sich entspannt und gelassen, als ob sie eine kleine Ruheoase mit sich trug. Wenn in Nisao Markt war, dann war sie meistens mit ihrer Mutter oder ihrem Bruder unterwegs, manchmal auch mit Theo, um Einkäufe zu erledigen und Besorgungen zu machen. Es gab Einkaufslisten und volle Körbe, die getragen werden mussten, und immer jemanden, der sie begleitete. Heute dagegen war sie vollkommen allein unterwegs und das fühlte sich unerwartet befreiend an. Sie konnte gehen, wann und wohin sie wollte, sie folgte keinem Plan, keiner Liste und konnte sich all die Zeit nehmen, die sie wollte.

Vorsichtig entfernte sie das raschelnde Papier von dem Essensspieß, den sie eben gekauft hatte, und probierte von den aufgereihten Apfelringen. Sie waren gebraten und mit Honig bestrichen und schmeckten absolut wundervoll. Sollte sie noch länger in Tadira bleiben, musste sie unbedingt daran denken, den Händler nochmal aufzusuchen und ein Glas von seinem Honig an ihre Mutter zu schicken.

Während sie langsam ihre Apfelringe aß, beobachtete Astra das Geschehen auf dem Marktplatz. Sie war bereits seit den frühen Morgenstunden hier, weil ihr die Wirtin ihrer Gaststube geraten hatte, besser schon vor dem großen Andrang zu kommen und sich einen Überblick zu verschaffen. So war sie den ganzen Vormittag kreuz und quer über den Marktplatz gelaufen und hatte überall Halt gemacht, wo es etwas Interessantes zu sehen, hören oder riechen gab.

Sie hatte Stände voller edler Stoffe und fein gearbeiteter Schals gesehen, war an Parfüm- und Seifenläden stehen geblieben, hatte die vielfältigen Sammlungen von Figuren aus allerlei Materialien bewundert. Es gab Läden, die Geschirr und Silberbesteck anboten, Teegeschäfte, unzählige Essensstände voller Leckereien oder Stände, an denen Wein angeboten wurden. Ein Händler verkaufte alle möglichen Sorten von Käse und bot dabei auch Käseräder an, die zu schwer zum Tragen waren und deswegen gerollt werden mussten. Schmuck gab es auch an jeder Ecke, von billigen Kettchen und Armbändern bis zu mehrreihigen Perlenketten und aufwändig gearbeiteten Ringen. Sogar die ein oder andere Tiara war dabei, falls sich eine künftige Braut bei ihrer Hochzeit einmal wie eine Prinzessin fühlen wollte.

Obwohl sie nun schon einige Tage in der Hauptstadt war und die Zeit seit ihrer Prüfung ausgenutzt hatte, um sich die Stadt anzusehen, kam es Astra so vor, als hätte sie in all den Tagen nicht so viel gesehen wie an diesem Vormittag. Trotzdem konnte ihr niemand nachsagen, dass sie ihren Aufenthalt nicht ausgenutzt hatte. All die berühmten Sehenswürdigkeiten hatte sie besucht, eine Stadtführung gemacht und war manchmal auch einfach nur herumgewandert, bis sie etwas Interessantes sah.

All das war allerdings nicht nur der Neugier auf die Hauptstadt des Königreichs geschuldet, Astra hatte die Ablenkung gebraucht. Mehrere Tage lang nicht zu wissen, ob sie die Prüfung bestanden hatte, ob sie als Anwärterin akzeptiert war oder nicht, war zunehmend nervenaufreibend geworden. Ganz ließ sich der Gedanke zwar nicht verjagen, aber sie konnte ihn meistens verdrängen, wenn sie anderweitig beschäftigt war.

Sie blieb noch eine Weile am Springbrunnen sitzen und genoss die Sonnenstrahlen, bis die große Turmuhr am Rand des Marktplatzes Mittag schlug. Dann sammelte Astra ihre Umhängetasche aus Leinen auf und machte sich langsam auf den Rückweg zu ihrem Gasthaus. In einer Stunde musste sie im Palast sein – bei diesem Gedanken schlug ihr Magen einen kleinen Salto – und dann würde sie endlich herausfinden, ob sie ihrem Traum ein Stück näher gekommen war.

Auf ihrem Weg kam sie durch eine Ecke des Marktes, in der sie sich etwas weniger ausführlich umgesehen hatte. Als sie dort einem kleinen Handkarren voller Schaffelle auswich, fiel ihr Blick auf einen Stand, an dem Bilder und Porträts angeboten wurden. Neugierig geworden wartete sie, bis sich der Weg etwas geklärt hatte, und ging dann zu dem Stand hinüber.

Der bebrillte Verkäufer, der etwas gelangweilt an seiner leeren Pfeife herumgekaut hatte, sprang von seinem Stuhl auf, als Astra stehen blieb. „Kann ich helfen, junge Dame?“

„Danke, ich will mich erst etwas umschauen“, erwiderte sie mit einem unverbindlichen Lächeln und richtete ihren Blick dann auf die Auslage.

Astra war bei Weitem keine Expertin, aber selbst sie konnte auf Anhieb sehen, dass es sich bei den angebotenen Bildern nicht um Originale handelte, sondern dass alles Kopien von mehr oder weniger berühmten Kunstwerken waren. Und selbst wenn sie keins der Motive zuvor schon gesehen hätte, genügte ein Blick auf die Preisschilder, um festzustellen, dass es keine Meisterwerke waren, sondern handliche Bilder für den Haushalt. Allerdings waren es trotzdem sehr schöne Gemälde in verschiedenen Größen, die alle mit passendem Rahmen ausgestattet waren.

Als Astra den Verkäufer fragte, woher die Bilder stammten, erzählte er ihr, dass er sie selbst gemalt hatte und dass er einen kleinen Laden in der Baron-Akario-Straße hatte. „Ich male auch Gemälde und Porträts auf Wunsch und nach Modell“, ergänzte er. „Aber am meisten verdiene ich mit offiziellen Kopien. Leider kann es sich nicht jeder leisten, sich für eine Ahnengalerie malen zu lassen.“

Neben einigen Landschaftsmalereien wie Sandor Calles Amethyst-Seen bei Vollmond bestand der Großteil des Angebots aus Gemälden bekannter Persönlichkeiten. Königin Lysann war am häufigsten vertreten, mal in ihrem berühmten Schwanenkleid, mal im Reitdress neben einem ihrer Lieblingspferde oder auch förmlich mit Krone im Porträt. Es gab auch Familiengemälde und Bilder ihrer beiden Kinder, Kronprinzessin Heliane und Prinz Callan.

Aber auch frühere Könige und Königinnen waren vereinzelt zu finden und zu Astras Überraschung waren auch ein paar Gemälde von Mitgliedern der Schwanengarde dabei, über die sie Geschichten gelesen hatte. Etwa Rhian Duval, die bei dem Attentat auf König Hypatos und seine Frau dem Königspaar das Leben gerettet hatte, oder Faldera Corvus, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere erblindet war und daraufhin so hart an ihren verbleibenden Sinnen gearbeitet hatte, dass sie dennoch jahrelang Teil der Schwanengarde bleiben konnte.

Es war eine nette Auswahl und doch hatte Astra eigentlich nicht vor, etwas zu kaufen. Sie hatte zwar einiges von ihrem Ersparten mitgenommen, plus eine kleine Zugabe von ihren Eltern, doch falls sie längere Zeit in Tadira bleiben würde, musste ihr Geld für einige Wochen ausreichen. Und darauf hoffte Astra mit ganzem Herzen, also wollte sie auch dafür planen. Deshalb war sie mit ihren bisherigen Ausgaben vorsichtig gewesen und hatte mehrfach der Versuchung von Souvenirs widerstanden. Aber dann stach ihr doch ein Porträt der Größe eines kleinen Buchs ins Auge und nach kurzem Überlegen entschied sie, dass es ihr das Geld wert war und es ein schönes Andenken an ihre Zeit hier abgeben würde – unabhängig davon, ob sie es mit nach Hause nahm oder in den Palast brachte.

„Ich hätte gerne das hier“, meinte sie und reichte dem Verkäufer das gerahmte Bild. „Könnten Sie es netterweise einpacken?“

„Ah, Königin Astraia, eine der fähigeren Herrscherinnen ihrer Zeitperiode. Sehr intelligente Frau, keine Frage, zu intelligent für manchen politischen Widersacher. Sie überlebte ganze fünf Anschläge auf ihr Leben, maßgeblich dank ihrer Schwester.“ Während er das Gemälde vorsichtig einwickelte, warf er Astra ein kleines Grinsen zu. „Geschichte ist neben der Malerei mein Steckenpferd. Man kann nicht Stunden damit verbringen, jemanden zu malen, und sich nicht für die Geschichte dieser Person interessieren.“

Astra überreichte dem Verkäufer den ausstehenden Betrag und nahm dann ihr Gemälde entgegen. „Danke. Und einen schönen Tag noch!“

Als sie sich zum Gehen umwandte und dabei das Bild und ihren Geldbeutel in ihrer Tasche verschwinden lassen wollte, kam plötzlich aus dem Nichts ein Mann heran. Scheinbar war er ganz besonders in Eile, denn Astra hatte kaum Gelegenheit, ihn überhaupt zu bemerken, da hatte er sie bereits angerempelt.

Der kräftige Stoß jagte für den Bruchteil einer Sekunde Schmerzen durch ihre Schulter und zwang sie, reflexartig einen Schritt rückwärts zu machen, damit sie das Gleichgewicht nicht verlor. Gleichzeitig ertönte ein leises Klappern, als das eben gekaufte Bild zu Astras Füßen auf dem gepflasterten Boden landete. Sie hörte noch ein genuscheltes „Verzeihung“, aber der Mann blieb nicht stehen, um das heruntergefallene Gemälde aufzuheben oder sich von Angesicht zu Angesicht zu entschuldigen.

Halb verärgert, halb verwundert blickte sie ihm einen Moment lang hinterher und rieb ihre Schulter, dann bückte sie sich nach dem Bild.

„Ist alles in Ordnung, junge Dame?“ Der Gemäldeverkäufer war hinter seinem Stand hervorgekommen. „Der Kerl hat Sie doch nicht verletzt oder besto...“

Ruckartig und mit weit aufgerissenen Augen richtete Astra sich auf. Eben hatte sie ihren Geldbeutel noch in der Hand gehabt, zusammen mit dem Bild – aber nur das Gemälde war auf dem Boden gelandet. Hastig riss sie sich ihre Umhängetasche von der Schulter und wühlte in ihrem Inneren, in der verzweifelten Hoffnung, dass er dort hineingefallen war.

Der Geldbeutel fehlte. Ihre gesamten Ersparnisse waren fort. Der Mann hatte sie bestohlen.

„Halten Sie das bitte.“ Astra drückte dem Verkäufer das Bild und ihre Tasche in die Hände. „Ich bin gleich zurück.“

Dann rannte sie los, ohne eine Antwort abzuwarten, die Straße hinunter, wo sie gerade den braunen Umhang des Diebs um eine Ecke verschwinden sehen konnte. Sie hatte keine weitere Zeit zu verlieren, denn nicht nur hatte der Mann einige wertvolle Sekunden Vorsprung, er war eben auch in eine deutlich belebtere Straße mit vielen Versteckmöglichkeiten eingebogen.

Das Rufen des Verkäufers folgte ihr noch die ersten Meter ihres Sprints, dann konnte Astra kaum mehr etwas anderes hören als das Geräusch ihrer Schuhe auf dem Straßenpflaster und ihren rasenden Herzschlag, der sogar noch schneller eilte als ihre Füße. Die wenigen Leute auf dieser Seitenstraße stoben rechtzeitig aus dem Weg, als sie an ihnen vorbei hetzte. Aber kaum war sie ebenfalls um die Ecke am Ende der Straße geschlittert, musste Astra ihr Tempo ruckartig verlangsamen.

Ein Anfall von Panik ergriff von ihr Besitz, als sie durch einen stehenden Ochsenkarren zum Anhalten gezwungen wurde und ihr Blick hektisch über das Gedränge aus Menschen, Verkaufsständen und Transportmitteln wanderte. Sie hatte den Dieb aus den Augen verloren. Etwa jedes zweite Kleidungsstück in ihrem unmittelbaren Blickfeld war braun und vermutlich war er längst über alle Berge und … Dort war er! Der Mann mit dem braunen Umhang, der nur wenige Meter entfernt unauffällig etwas von einem Obststand mitgehen ließ.

Astras Füße reagierten ganz ohne Kommando. Kaum hatte sie den Dieb entdeckt, war sie bereits wieder am Rennen.

Sie war nicht so dumm, ihren Atem zu verschwenden und den Mann durch Rufen auf sich aufmerksam zu machen, aber irgendwie bemerkte er sie dennoch. Vielleicht hatte er ihre schnellen Bewegungen aus den Augenwinkeln gesehen, vielleicht war es auch das erschrockene Geräusch eines Esels, den Astra überholte – aber der Dieb sah nicht mal richtig in ihre Richtung, da ergriff er schon die Flucht.

„He, pass doch auf!“

„… Frechheit!“

„Achtung, die Hühner!“

Laute Schreie, die mal empört, mal erschrocken und einmal sogar äußerst schrill über das Gemurmel der Menge tönten, folgten dem Dieb und Astra durch die gesamte Straße, als der eine auf seiner Flucht rücksichtslos durch das Gedränge eilte und die andere hartnäckig auf seiner Spur blieb. Der Dieb mochte Vorsprung haben, aber durch sein rüdes Vorgehen zog er auch eine Schneise durch die Leute und den Verkehr, die Astra einen äußerst vorteilhaften Weg verschaffte. Wo auch immer der Mann entlang kam, sprangen Menschen zur Seite und zerrten Schubkarren und Tiere aus dem Weg, sodass Astra freie Bahn hatte und auf diese Weise stetig aufholte.

Das schien auch der Dieb festzustellen, denn als ihm ein Blick über die Schulter zeigte, wie dicht Astra ihm auf den Fersen war, begann er zusätzlich zu empörten Rufen auch noch eine Spur der Verwüstung hinter sich herzuziehen. Im Vorbeirennen stieß er Stapel mit Kisten um, die laut polternd zu Boden gingen. Über die leeren sprang Astra ohne Weiteres hinweg, sofern keine herbeieilenden Leute sie zum Ausweichen zwangen, aber als der Dieb an einem Gemüsestand vorbeikam und mit den Kisten auch Tomaten, Kohlköpfe und Gurken auf dem Straßenpflaster verteilte, hatte sie keine andere Wahl.

In Gedanken zischte Astra einen Fluch, als sie um das Chaos an Gemüse auf ihrem Weg herumlaufen musste, denn nun hatte sich der Abstand zwischen dem Dieb und ihr wieder vergrößert.

Dann allerdings machte er einen fatalen Fehler: Er sah im falschen Moment zurück, nämlich in dem Augenblick, als er eine Straßenkreuzung erreichte. Dadurch sah er den Ochsenkarren, der gerade von rechts kam, nicht mehr rechtzeitig – und fiel unter lautem Getöse zu Boden, als er verzweifelt noch auszuweichen versuchte.

Die paar Sekunden, die er benötigte, um sich aufzurappeln, sich zu orientieren und weiterzulaufen, genügten Astra vollkommen. Mit einem großen Sprung setzte sie über den hüfthohen Wagen hinweg und bekam im nächsten Moment den brauen Umhang zu fassen.

Sie packte zu, so fest sie konnte, und zog den Dieb mit einem kräftigen Ruck zurück. Noch während er stolperte und um Balance rang, machte Astra kurzen Prozess – indem sie ihn mit einem gezielten Schlag zu Fall brachte, genau wie Chana es am Prüfungstag mit ihr gemacht hatte.

Mit einem Stöhnen ging der Mann zu Boden und blieb dort mit dem Gesicht ins Pflaster gedrückt liegen.

Astra holte einige Male tief Luft und wischte sich ein paar lose Haarsträhnen aus der Stirn. Insgesamt hatte sie eine Strecke zurückgelegt, die sie zuhause routinemäßig zurücklegte, ohne dabei ins Schwitzen zu kommen. Doch normalerweise jagte sie dabei keinen Verbrechern hinterher, deshalb hatten die Panik über den gestohlenen Geldbeutel und der Stress wohl ihren noch immer rasenden Puls zu verantworten.

Um sie herum waren die Menschen stehen geblieben und starrten, aber niemand wagte sich näher heran. Der Dieb lag noch immer kraftlos da, alle Viere von sich gestreckt, also nahm Astra sich die Zeit zum Durchatmen, ehe sie neben dem Mann in die Hocke ging.