Die schwarze Maske - Eyal Kless - E-Book

Die schwarze Maske E-Book

Eyal Kless

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Beschreibung

Was wird mit der Menschheit geschehen, wenn das letzte Puzzleteil gesetzt ist? Das große Finale der »Puzzler«-Saga.

Rafik, der Puzzler, war ein Kind, bevor er sich in die größte Bedrohung seiner Welt verwandelte. Er gab seine körperliche Existenz auf, doch der Tod bedeutet für Rafik nicht das Ende. Dies gilt auch für den letzten Überlebenden der Gilde der Historiker: Funkelauge konnte Rafik im Kampf nicht besiegen, doch nun erhält er eine zweite Chance. Er kehrt von den Toten zurück und reist in die zwielichtige Stadt der Türme, wo schweres Geschütz und eine große Portion Glück vonnöten sein werden, um zu überleben. Denn Funkelauge wird verfolgt von seiner Vergangenheit, einem tödlichen Geheimnis und einem Mörder aus einer vergangenen Zeit.

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Das schwarze Mal
Die schwarze Maske

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Seitenzahl: 866

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Buch

Rafik, der Puzzler, war ein Kind, bevor er sich in die größte Bedrohung seiner Welt verwandelte. Er gab seine körperliche Existenz auf, doch der Tod bedeutet für Rafik nicht das Ende. Dies gilt auch für den letzten Überlebenden der Gilde der Historiker: Funkelauge konnte Rafik im Kampf nicht besiegen, doch nun erhält er eine zweite Chance. Er kehrt von den Toten zurück und reist in die zwielichtige Stadt der Türme, wo schweres Geschütz und eine große Portion Glück vonnöten sein werden, um zu überleben. Denn Funkelauge wird verfolgt von seiner Vergangenheit, einem tödlichen Geheimnis und einem Mörder aus einer vergangenen Zeit.

Autor

Eyal Kless ist professioneller Violinist sowie Gründer und erste Geige des »Israel Haydn Quartet«, aber auch Autor phantastischer Geschichten. Nach Stationen in England und Irland lebt Kless in Tel Aviv und unterrichtet an der Buchman Mehta School of Music. Nachdem er einen musikalischen Thriller veröffentlichte, hat er mit den Romanen »Das schwarze Mal« und »Die schwarze Maske« der Puzzler-Reihe einen außergewöhnlichen Vorstoß in die Science-Fantasy gewagt.

Weitere Informationen unter: www.der-puzzler.de

Von Eyal Kless bereits erschienen

Das schwarze Mal

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Eyal Kless

Die schwarze

Maske

Roman

Deutsch von Maike Hallmann

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Puzzler’s War« bei Harper Voyager, an Imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Eyal Kless

Translated from the English language: The Puzzler Returns

First published by: Harper Voyager

By Arrangement with The Deborah Harris Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, München.

JA · Herstellung: MR

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26703-2V001

www.penhaligon-verlag.de

Für Maayan und Ella

und das, was ihr mich über die Liebe gelehrt habt

Prolog

»Ist das dein Ernst? Das ist also dein Plan?«

»Es geht nicht anders.«

»Ich könnte alles verlieren. Ich könnte mich selbst verlieren.«

»Jean Pierre, es tut mir leid, du bist zu früh aufgewacht. Ich kann dich nicht extrahieren, nicht jetzt gleich. Du musst warten. Am besten schläfst du weiter.«

»Nein … ich kann nicht wieder zurück in die Leere. Bitte …«

»Dann geht es nicht anders.«

»Es muss doch eine andere Lösung geben.«

»Ich wurde entdeckt. Er hat Sucher auf mich angesetzt. Ich muss hier weg. Es geht nicht anders.«

»Nein, bitte geh nicht … nimm mich mit … bitte! Geh nicht … Vitor … hallo?«

Schmerz riss ihn aus der Dunkelheit. Ihm war zumute, als würden Tausende Nadeln zugleich durch seine Haut dringen, jeder Stich war wie eine elektrische Entladung geradewegs in sein Nervensystem. Er zuckte, zappelte. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei und füllte sich mit der zähen Flüssigkeit, die ihn von allen Seiten umgab. Er würgte und schlug in seiner Panik wild um sich, da berührte er etwas Weiches, Bewegliches. Ohne nachzudenken oder etwas zu sehen, versuchte er, es zu fassen zu bekommen, aber das Material war zu glatt und zu schlüpfrig. Panik fegte auch den letzten Rest Vernunft hinweg, und nur ganz am Rande registrierte er das seltsame Gefühl an seinen Fingern, als er noch einmal nach dem Etwas griff und spürte, wie es unter seiner Berührung zerriss. In welchem Behältnis auch immer er feststeckte, mit einem Mal neigte es sich zur Seite, und er wurde durch eine Art Metallröhre gespült. Er kugelte am anderen Ende hinaus und landete so hart, dass er sich Knie und Kiefer anschlug und eine Hand übel verdrehte. Der Schmerz war eine neue unangenehme Erfahrung, aber er war nur eine quälende Empfindung von vielen, die er alle zugleich erlitt. Keuchend erbrach er sich und versuchte, sich aufzurappeln oder wenigstens von seinem Erbrochenen wegzukriechen.

Ringsum nahm er eine Menge Bewegung wahr und auch Lärm, der ihm in den Ohren schmerzte. Andere Körper streiften ihn, jede Berührung war die reinste Folter. In der Luft hing ein eigenartiger Geruch, und überall hörte er unverständliches Zischen und Knurren. Als er zu sprechen versuchte, kam ein ganz ähnlicher Laut aus seiner eigenen Kehle: ein Zischen.

Er sah wirbelnde Farben. Blinzelte und schüttelte den Kopf – was er zu sehen bekam, war ebenso verzerrt wie rätselhaft. Er senkte den Kopf und schüttelte ihn noch einmal, so kräftig er sich nur traute, dann öffnete er erneut die Augen.

Das Erste, was er richtig in den Fokus bekam, war seine Hand. Aber es war keine richtige Hand. Vier Finger, raue Haut und Klauen. Er hatte Klauen. Während er sie noch entgeistert anstarrte, wurde ihm mit einem Mal klar, dass er sie ein wenig einziehen und ausfahren konnte. Sie ganz einzuziehen ging zwar nicht, aber er konnte den Winkel ändern und ein wenig auch die Länge. Es war ebenso eigenartig wie beängstigend, aber zugleich war es auch das erste Mal seit dem Erwachen, dass er über irgendetwas selbst bestimmte, und deshalb war es auch seltsam tröstlich.

Was ist mit mir passiert?

Dieser naheliegenden Frage folgte eine Flut vager, abstrakter Erinnerungen, mit denen er nichts anzufangen wusste. Er war irgendwo gefangen, er entkam. Es war ein gefährlicher, verrückter Plan, aber Professor Vitors Worte hallten in seinem verwirrten Verstand wider: Es geht nicht anders.

Wer bin ich?

Wieder streifte ihn ein anderer Körper, stieß ihn mit der Wucht seiner schieren Masse beiseite. Er wandte den Kopf, und sein Verstand drohte ihm zu entgleiten. Lange Schnauzen, gewaltige Hinterbeine, Reißzähne, olivgrüne Haut, Klauen, verdammte Schwänze … er war von Monstern umgeben. Instinktiv wich er zurück und stieß mit dem Rücken gegen etwas Kaltes, Hartes. Unter den Monstern waren einige Kämpfe im Gange, sie schlugen nacheinander und bissen zu, schrien vor Schmerz und Wut, aber die meisten sahen nur zu, und ihm schenkte niemand auch nur die leiseste Beachtung. Ihm ging auf, dass seine Klauen noch immer ganz ausgefahren waren, bereit, jeden möglichen Angreifer in Stücke zu reißen, und beim Anblick der ringsum tobenden Kämpfe spürte er unvertraute Angriffslust in sich aufsteigen. Er wollte nicht nur einfach seine eigene Haut verteidigen, er wollte töten, und er spürte, wie sich seine Muskeln spannten, als plötzlich das Wissen seinen Verstand erfüllte, wie man tötete. Er atmete tief durch, versuchte, diese Impulse in den Griff zu bekommen, und ließ schließlich die Arme sinken.

Wie lange er so dagestanden hatte? Er wusste es nicht. Mit einem Mal erfüllte ein süßer, verlockender Geruch die Luft und lenkte ihn ab. Die Kämpfe kamen zum Erliegen, und die Wesen ringsum bewegten die Köpfe, als würden sie einen Albtraum abschütteln. Runde Stahltüren, die ihm bis zu diesem Moment nicht aufgefallen waren, schoben sich zur Seite, dahinter lag ein langer Tunnel. Er versuchte, darüber nachzudenken, sich einen Reim darauf zu machen, aber irgendetwas brachte seine Gedanken durcheinander. In seinem Verstand erklang ein Zischen, wurde lauter. Es war kein natürliches Geräusch, aber trotzdem verlockend. Eins der Wesen setzte sich langsam in Bewegung, Richtung Tunnel. Einer nach dem anderen folgte, schließlich auch er selbst. Zuerst machte er noch zögerliche Schritte auf den starken Hinterbeinen, aber in ihm wuchs der Drang, sich schneller zu bewegen, und da ließ er sich auf alle viere fallen, wie ein Tier.

Was bin ich?

Aus dem Dahintrotten wurde ein Rennen, und kurz darauf rasten sie wie verrückt durch das Dämmerlicht dahin, einer jagte dem anderen hinterher. Er war schnell, viel schneller als je zuvor, rannte viel schneller, als ein Mensch es je vermocht hätte. Seine eigene Geschwindigkeit berauschte ihn.

Sie schossen ins Licht hinaus, und als sich die heißen Sonnenstrahlen in seine Haut brannten, verspürte er angenehmen Schmerz. Noch immer war da jener Sog in seinem Verstand, aber er widersetzte sich ihm und zwang sich anzuhalten. Richtete sich auf, während die anderen an ihm vorbeihetzten. Sah Gebäude, viele Gebäude, sie erstreckten sich bis zum Horizont, tiefschwarz gegen den rötlich gelben Sand. Die Luft war heiß und trocken, jeder Atemzug brannte in seiner Kehle, aber er achtete nicht darauf. Seine Umgebung kam ihm vage vertraut vor.

Wo bin ich?

Im hellen Sonnenlicht sah er sogar noch missgestalteter und abstoßender aus. Und geschlechtslos, soweit er es erkennen konnte. Er nahm es gleichmütig hin. Es war einfach zu viel in einer sehr kurzen Zeitspanne geschehen, um jetzt wegen fehlender Genitalien in Panik zu geraten.

Der Sog in seinem Verstand war noch immer da, aber direkt dahinter lag noch etwas anderes, eine andere Stimme, ein Flüstern. Er sah den Letzten der anderen zwischen den Gebäuden verschwinden und machte sogar einige Schritte in dieselbe Richtung. Aber nein. Da war noch etwas anderes.

Er zwang sich zum Anhalten, richtete sich auf und konzentrierte sich, bis das Zischen verklang und mit ihm auch der Drang, seinen Ursprung zu finden. Stattdessen wurde ein anderes Geräusch deutlicher. Und dieses Geräusch hatte Klang und Bedeutung.

Intelligenz.

Es wurde lauter. Vibrierte in seinem Schädel, kreiste durch seinen Körper. Dann verwandelte es sich in einen Satz, der in seinem Verstand widerhallte.

»Komm zu mir.«

Kurz zögerte er. In ihm brannte der Drang, zwischen den Gebäuden entlangzujagen und sich ihnen anzuschließen, den … seinen? Wie rasch hatte er sich diesen Monstern verbunden gefühlt? Wie schnell würde er sich wohl vollständig in eins von ihnen verwandeln? Vielleicht sollte er …

»Komm zu mir, bitte.« Es war eine helle Stimme, die Stimme eines Kinds an der Schwelle zur jungen Frau, aber sie klang zutiefst eindringlich.

»Komm zu mir.« Vor seinem geistigen Auge entstand ein Bild. Rote Locken, graue Augen … im Hintergrund sah er eine Bergkette mit weißen Gipfeln. Der Drang, diese neue Richtung einzuschlagen, wurde zu einem fast schmerzhaften Ziehen in seinen Eingeweiden.

Er drehte sich um und lief los, in die genau entgegengesetzte Richtung, die seine Gefährten eingeschlagen hatten. Zuerst langsam und auf zwei Beinen, aber schon bald ließ er sich auf alle viere nieder und nahm Tempo auf. Warum nicht nutzen, was dieser monströse Körper ihm an Möglichkeiten bot?

Er folgte der Stimme.

»Meister.«

Der alte Mann ließ sich Zeit, ehe er von den Bildschirmen aufblickte. Der Soldat, sein Soldat, stand angespannt in Habachtstellung vor ihm. Meister, König, Gott – seit wann kamen ihm all diese Anreden eigentlich so normal vor? Seit Ewigkeiten. Aber verlangt hatte er nie, dass man ihn so nannte. Es war einfach so geschehen, erst hatte sein Team ihn ganz von allein so genannt, dann seine Armee und jetzt sein Volk, seine Herde aus lauter mörderischen Schafen.

»Meister …« Der Soldat wirkte zögerlich.

Die Kopfschmerzen waren wieder da. Das leise Pochen, das jenen Schmerz ankündigte, an den er sich auch nach all den Jahren nie hatte gewöhnen können. Er widerstand dem nutzlosen Impuls, sich die Schläfen zu massieren. Stattdessen bedachte er den Soldaten mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln, und sobald sich ihre Blicke begegneten, platzte der Soldat sofort nervös mit seinem Anliegen heraus.

»Sie versammeln sich draußen, Meister, um die hundert Leute aus dem Dorf im Osten.«

»Ich weiß«, antwortete er langsam. »Und es sind einundsiebzig, um präzise zu sein.« Natürlich wusste er es. Die Bildschirme auf seinem Tisch waren zum Leben erwacht, sobald die Menschenmenge auf dem Gelände aufgetaucht war, und sogar die einfache KI, die er installiert hatte, vermochte zu zählen.

Er sah zu, wie sie sich versammelten, umringt von Wachen. Sie waren durch und durch seine Leute, in jeder Hinsicht, und nicht zum ersten Mal wunderte er sich darüber, wie verrückt sich Menschen aufführten.

Ja, er beschützte sie, half ihnen hin und wieder oder versorgte sie mit Nahrung, aber es kam immer wieder der Zeitpunkt, da er sich von ihnen nähren musste. Und doch kamen sie zu ihm, primitive Geschenke in den Händen statt Fackeln und Mistgabeln. Manchmal richteten sie Bitten an ihn, manchmal brachten sie ihm der Jahreszeit entsprechende Gaben dar oder Versprechungen. Diesmal waren sie gekommen, um Zeugen eines Wunders zu werden.

»Es ist ja nur, weil der Captain sagte, dass sich ein Sturm zusammenbraut, und …«

»Ich weiß über den Sturm Bescheid«, unterbrach er den Soldaten und erhob sich langsam, verbarg mit einer Hand die schmerzerfüllte Grimasse, zu der sich selbst bei dieser schlichten Bewegung sein Gesicht verzerrte. Die Kopfschmerzen waren am schlimmsten, aber seit einigen Monaten litt er bei jeder Bewegung Schmerzen am ganzen Leib. Norma versuchte, ihn zu behandeln, verabreichte ihm Medikamente, aber es half immer nur kurz und machte ihn schwach und verwirrte seinen Verstand. Nicht unbedingt der Geisteszustand, in dem er vor die Menschen treten wollte, zu deren Anführer er sich gemacht hatte. Statt sich selbst mit Drogen ins Jenseits zu befördern, hatte er einfach gelernt, es hinzunehmen; der Schmerz war nun Teil seines Lebens. Er zog sogar eine Art masochistischer Befriedigung daraus. Wie war noch gleich der Name des alten Manns aus den Legenden seines Volks? Methusalem, ja, richtig. Nun, der Schmerz war ein Beweis dafür, dass er noch immer am Leben war, noch immer menschlich. Zumindest ein wenig.

Der Soldat glitt geschickt beiseite und trat hinter ihn, während er langsam ins Nebenzimmer ging, wo mehrere seiner Wissenschaftler arbeiteten – wenn man sie denn so bezeichnen wollte. Als er hereinkam, richtete sich sofort ihre geballte Aufmerksamkeit auf ihn. Radovitch kam auf ihn zu und verneigte sich. Ja, verdammt, er verneigte sich, und als er sich wieder aufrichtete, strich er mit einer fetten Hand das dünne, strähnige Haar über die schimmernde kahle Stelle auf seinem Schädel.

»Bericht.«

»Ein Sturm zieht auf.«

Am liebsten hätte er den Mann geohrfeigt. Es war kaum zu fassen, dass er Radovitch mitgenommen hatte, den ganzen langen Weg vom alten Kontinent bis hierher. Es war schmerzlich offenkundig, dass das Potenzial, das er in dem jungen Radovitch einst gesehen hatte, nicht zur vollen Blüte gelangt war. »Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß. Ist die Sternensäule bereit?«

Radovitch zögerte, kratzte sich am kahl werdenden Schädel. »Ein paar weitere Sonnentage würden die Hilfsgeneratoren sehr entlasten.«

»Der Sturm wird Tage anhalten, vielleicht sogar Wochen. Ich gehe heute rüber und lasse die nächste Sequenz durchlaufen. Sag den Wachen Bescheid, damit sie wissen, dass ich komme.«

Kurz schien Radovitch ihm widersprechen zu wollen, überlegte es sich aber noch einmal anders. Gut für ihn. Er wird immer nachlässiger, was es wahrscheinlicher macht, dass ihm Fehler unterlaufen. Und ich könnte eine neue Lunge wirklich gut gebrauchen.

»Was ist mit der Angelegenheit, über die wir uns unterhalten haben?«

Radovitch sah aus, als wüsste er nicht, wovon er redete. Japp, definitiv eine neue Lunge. Ich weiß ja, dass sie zu meinem Körper passen, was der zweite Grund dafür ist, dass du noch immer am Leben bist.

Plötzlich erinnerte sich der Mann, und sein Blick hellte sich sichtlich auf. Vorsichtshalber wechselte er zu seiner Muttersprache, die man auf dem alten Kontinent sprach. »Ah, ja, natürlich. Wir konnten eine Agentin ausfindig machen, aber die Verbindung ist schwach.«

»Umso besser, dann entdeckt man uns nicht so leicht. Weißt du, wer diese Agentin ist?«

»Nein, aber wir hatten Glück. Der Seriennummer nach zu urteilen ist sie schon alt und von hohem Rang – aber sagen wir es mal so: Sie war tief vergraben. Ich bin fast sicher, dass wir sie rausholen können, ohne dass irgendwer es merkt.«

»Fast sicher?«

»Ich habe einen Notbunker mit sehr schwacher Energiesignatur gefunden«, sagte Radovitch unsicher. »Selbst wenn die ihr Verschwinden bemerken, haben sie keine Ahnung, wo sie geblieben ist.«

»Na schön.« Dann darfst du noch ein bisschen länger leben. »Ich werde eine Weile unterwegs sein. Ich will, dass sie geweckt wird, ehe ich zum Knoten aufbreche, aber falls ich in einer Woche noch nicht wieder da bin, leitet ihr die Traumsequenz ein. Das war das Standardvorgehen bei den Tarakanischen Schläfern.« Soweit ich weiß jedenfalls. Den letzten Gedanken sprach er nicht laut aus – er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass niemand einem Anführer folgen wollte, der freimütig solche Schwächen eingestand.

Radovitch nickte.

»Das ist sehr wichtig, Radovitch.« Nur mit Rücksicht auf seine körperliche Schwäche verzichtete er darauf, den Mann am Jackenkragen zu packen. »Ich muss diesen Puzzler haben, und das hier ist seit einem Jahr unsere erste und einzige Spur. Ab sofort hat diese Angelegenheit für dich oberste Priorität. Ich setze auch Sergiu darauf an.«

»Ja, Meister.« Bei der Erwähnung dieses Namens verzog Radovitch das Gesicht. Die gegenseitige Abneigung zwischen den beiden Männern war mindestens so stark wie ihre Loyalität zu ihm. Mit einer knappen Handbewegung entließ er ihn, und Radovitch verneigte sich steif erneut und ging zurück an seinen Posten.

Möge die Vorstellung beginnen.

Als er die Tür nach draußen erreichte, hatten sich schon sechs Soldaten um ihn gruppiert, alle in ordnungsgemäßen Schutzanzügen mitsamt Masken. Als sich einer der Soldaten mit dem schweren Rad abmühte, das die verschlossene Tür öffnete, erhaschte er einen kurzen Blick auf sein eigenes Spiegelbild. Sein Körper war von Alter, Krieg, Strahlung und zahllosen Operationen so übel zugerichtet, dass er wie ein Monster aussah, knorrig, voller Narben und Falten wie eine uralte kranke Eiche.

Oh, Professor Vitor. Wenn Sie mich jetzt sehen könnten … würden Sie mich wiedererkennen, Ihren früheren Schüler, Ihren Kollegen, Ihren apokalyptischen Engel?

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er heute in einem besseren Zustand wäre, wenn er sich damals den Erwartungen gebeugt und seinen Körper gegen ein neueres Modell ausgewechselt hätte, ehe die Katastrophe zuschlug. Und wie jedes Mal tröstete er sich damit, dass es vermutlich keinen großen Unterschied bedeutet hätte. Vielleicht hätte er mehr von seinen ursprünglichen Organen behalten können oder weniger Haut von anderen Menschen auftragen müssen, aber früher oder später geht nun einmal alles vor die Hunde und stirbt. Und außerdem war sein körperlicher Zustand verglichen mit dem, was mit seiner Seele geschehen war, ohnehin nur die Spitze des Eisbergs.

Die vorderste Wache öffnete ihnen die Außenluke. Wie gewöhnlich machte er sich nicht die Mühe, Strahlenschutzkleidung anzulegen. Sich nicht mit dem Anzug herumschlagen zu müssen war ihm die häufigeren Strahlenbehandlungen wert, und zudem trug es eindeutig zu seinem Ruhm bei. Nichts konnte ihm etwas anhaben. Nichts.

Auch die draußen versammelte Menschenmenge steckte in echter oder vermeintlicher Schutzkleidung. Einige hatten sich in Alufolie oder altes Plastik gewickelt, hier und da trug sogar jemand eine uralte Gasmaske. In gewisser Weise war es ganz schön lustig.

Nach all den Jahren war der radioaktive Fallout hier in der Gegend nicht mehr so schlimm wie einst, und das Gleiche galt für die Bodenbelastung, aber trotzdem wurden noch immer viele tote oder entstellte Babys geboren. Die Menschen hatten sich angepasst, aber ohne ihn, ihren Wunderwirker, ihren Herrn, läge die durchschnittliche Lebenserwartung dennoch in den unteren Dreißigern.

Er schritt auf sie zu. Hinter ihm ragte in all ihrer gewaltigen Pracht die Sternensäule auf. Das machte sich gut. Das letzte verbliebene Wunder dieser Welt, die größte Errungenschaft der Menschheit, die aus der grauen Staubwolke emporragte und die Nächte erhellte; den Menschen Hoffnung machte, aber auch Angst.

Angst ist besser als Hoffnung.

Als er vor sie trat, verneigten sie sich tief, manche knieten sogar nieder. Es gab eine Zeremonie. Es gab immer eine verdammte Zeremonie, und natürlich brachten sie ihm Opfer dar: eigenhändig angebautes Gemüse, eine kränkliche Ziege und mehrere Gallonen mit aufbereitetem Wasser. Er hoffte, dass der Leutnant, der die Geschenke an seiner statt entgegennahm, nicht vergaß, dass alles gründlich dekontaminiert werden musste, auch die Ziege, damit sie nicht noch mehr Leute verloren.

Als die Zeremonie vorüber war, teilte sich die Menge, um ein Paar durchzulassen. Die beiden waren angespannt, so wie es sein sollte, und in den Augen der Frau standen Angst und Kummer. Ihr Mann sah aus, als hätte er sich in Jauche gewälzt, und roch vermutlich entsprechend. Ein Bauer also. Auch er zitterte sichtlich, als er dem Leutnant ein Bündel überreichte: Eine tragbare Wiege, eingewickelt in halb durchsichtiges Plastik. Es war ein Wunder, dass das Baby darin nicht erstickte. Es war ein Mädchen.

Der Leutnant scannte die Eltern und das Baby mit einem Handgerät, dann wickelte er vorsichtig die Plastikfolie ab, nahm das Baby heraus und brachte es zu seinem Meister.

Er nahm das Kind entgegen. Es lag schlaff in seinen Armen, vermutlich litt es unter Mangelernährung und schwerer Strahlenbelastung. Es war ein Wunder, dass die kleine Kämpferin überhaupt noch am Leben war.

Er war der Einzige, der sich zum Gehen wandte. Es war ja nicht nötig, dass er dem Dekontaminierungsprocedere seiner Wachen beiwohnte. Hinter der Tür warteten Dienna und die anderen bereits auf ihn. Sie nahm ihm das Baby ab und eilte damit zur Krankenstation. Er folgte ihr in würdevollem Tempo. Niemals rennen. Nicht dass ich es überhaupt noch könnte.

»Hallo, Norma«, sagte er, als er die Krankenstation erreichte. »Bericht, aber nur an mich.«

Nach so vielen Jahren klang die Stimme der KI so brüchig und verzerrt, dass es unangenehm war, ihr zu lauschen, vor allem dann, wenn sie direkt in seinem Kopf erklang. Ihre Stimm-Subroutinen gehörten dringend mal komplett neu aufgesetzt, aber niemand in seinem Team besaß dafür die notwendigen Fähigkeiten, und er selbst hatte weder die Zeit noch die Geduld für eine derart frickelige Operation. Außerdem erinnerte ihn der verzerrte Klang daran, dass ihm die Zeit davonlief. Alles fiel auseinander. Er fiel auseinander. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihn die Kräfte der Entropie niederstreckten. Es war an der Zeit für einen weiteren kühnen Schritt. Er plante einen großen Abgang.

Die Werte des kleinen Mädchens waren schlecht, aber nicht haarsträubend. Gut möglich, dass es am Leben blieb – oder zumindest den bevorstehenden Prozess überlebte, was ja das Wichtigste war.

»Fang mit den Strahlungsspülungen und der Zellerneuerung an«, wies er die KI an. Die anderen waren bereits hinausgeschlurft und hatten ihn allein gelassen. Als Norma seine Stimme hörte, antwortete sie ebenfalls laut.

»Ich darf Sie daran erinnern, dass es sich um ein kostspieliges Procedere handelt, und angesichts unserer begrenzten Ressourcen und der Überlebenschancen des Babys …«

»Fang an.« Das Schöne an Norma war, dass sie inzwischen nicht mehr wütend wurde, wenn er sie mitten im Satz unterbrach, vor allem, seit er gewisse Änderungen in ihrem Programmcode vorgenommen hatte. Das Baby durch die Dekontamination zu schicken bedeutete, dass einer seiner Soldaten auf die monatliche Strahlenbehandlung verzichten musste, aber im Ergebnis würde es sich auszahlen. Hoffte er.

»Nimm auch eine DNA-Probe«, sagte er, als die Maschinen ringsum anfingen zu summen. Der Prozess verschlang eine Menge Energie und war immer ausgesprochen kostspielig, das fing schon bei den Scans an. Inzwischen war er vollkommen weggetreten, blind für den Rest der Welt. Er betete, dass die Kühlung nicht versagte – es wäre ein höllisches Desaster, wenn mittendrin die Energiezufuhr ausfiel, so wie vor zwei Jahren.

»Ich darf Sie daran erinnern, dass unsere Speicherkapazitäten zu dreiundneunzig Prozent ausgelastet sind.« Diesmal klang Norma deutlich schärfer und kälter als zuvor. »Das wären zusätzliche null Komma sechs acht Prozent, was ein hohes Risiko mit sich bringt, dass …«

Er sah auf das bewusstlose Baby hinunter, und Normas Stimme wurde zu einem bloßen Hintergrundrauschen. So lange hatte er nicht mehr an Deborah gedacht, aber jetzt, da die Erinnerung wieder emporstieg, war ihm zumute, als träfe ihn ein Hammerschlag mitten vor die Brust. Früher hatte er einige ihrer überschwänglichen Sprachnachrichten und ein paar Aufnahmen von ihr beim Springreiten in seinem Hirnspeicher gehabt, aber sie waren nun schon so lange ausgelöscht, dass er nicht einmal ganz sicher war, dass das Gesicht, das er vor seinem geistigen Auge sah, wirklich das seiner Tochter war. Das machte ihn wütend.

»Wie steht es um ihre genetische Diversität?« Er achtete darauf, dass man seiner Stimme nichts anhörte.

Eine Pause entstand. Es war ein Anzeichen für Normas fortschreitenden Verfall, dass sie eine Weile brauchte, um die Antwort zu berechnen.

Ja, die Entropie ist ein Miststück.

»Sieben Komma zwei«, antwortete das empfindungsfähige Programm endlich.

Er traf eine Entscheidung. »Nimm ihre DNA und wirf dafür eine Probe von sieben oder weniger aus. Hast du die Eltern schon analysiert?«

»Natürlich habe ich das.«

Fand Norma seine Bemerkungen kränkend? Es war ihm schon lange gleichgültig, ob er durch das, was er tat oder sagte, irgendwen verletzte, aber irgendetwas an diesem Baby erweckte eine lang verlorene Empfindsamkeit in ihm wieder zum Leben. Das gefiel ihm gar nicht.

»Welcher Elternteil ist besser kompatibel?«

»Beide könnten funktionierende Organe spenden.«

Das war keine große Überraschung, sein ganzes Volk war bis zu einem gewissen Grad kompatibel; dafür hatte er Sorge getragen.

»Die Frau«, fuhr Norma fort, »ist in erheblich besserer Verfassung als der Mann und hat eine um siebzehn Prozent höhere Chance, einen medizinischen Eingriff zu überleben. Vorausgesetzt, dass Sie keine lebenswichtigen Organe entnehmen, versteht sich.«

Ach, die gute alte Zeit, als man benötigte Organe einfach im Labor züchten konnte. Heutzutage musste er dafür seine Herde dezimieren.

»Wie ist mein Zustand?«

Diesmal gab es keine Pause. Norma behielt seine Werte stets im Blick.

»Sie sind derzeit zu dreiundsiebzig Prozent funktionstüchtig.«

Dreiundsiebzig? Um ehrlich zu sein, fühlte es sich nach weniger an. Einmal war er bei siebenundvierzig gewesen, die reinste Hölle; danach war er noch monatelang am Stock gegangen. Nie wieder.

Er wandte sich wieder der Gegenwart und den anstehenden Entscheidungen zu. Die Mutter zu töten würde das Kind zum sicheren Tod verurteilen, das wusste er, aber selbst wenn die Strahlenbehandlung erfolgreich war, wäre es ein Wunder, wenn das Kind lange genug lebte, um das Erwachsenenalter zu erreichen.

Während die Prozedur weiterlief, grübelte er, was er tun sollte. Als die Behandlung durch war, verabreichte er dem Baby per Injektion einen Booster und Impfstoffe. Angesichts ihres schlechten Zustands nicht die gesündeste Mischung, aber es würde reichen müssen.

Ihre Haut war noch immer blass, hatte aber nicht mehr die fiebrige gelbliche Färbung wie zuvor, und sie atmete eindeutig weniger flach. Sie wachte nicht auf, als er sie auf den Arm nahm. Selbst nach all den Jahren schnupperte er unwillkürlich an ihrem Kopf, ein ganz nutzloses Unterfangen, denn seinen Geruchssinn hatte er schon vor Ewigkeiten verloren.

Deborah …

Es gab ein Sprichwort in einer der alten Religionen – aus welcher genau es stammte, wusste er nicht: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt. Selbst wenn das stimmte, standen die Zahlen nicht zu seinen Gunsten.

Als er wieder unter freien Himmel trat, war die Sonne bereits untergegangen, und die Wolken waren schwer von kontaminiertem Regen. Der versammelten Menschenmenge stand ein langer, nasser Heimweg bevor. Sie würden nicht warten, um dem zweiten Teil der Zeremonie beizuwohnen. Der Teil, bei dem der Preis fällig wurde.

Er zwickte das Baby, und es erwachte und gab ein erschrockenes gesundes Protestgeheul von sich. Das entlockte der wartenden Menge Jubelschreie, und sobald sie ihn erblickten, knieten sie alle vor ihm nieder. Und so begründet sich eine weitere Legende, ein weiteres Wunder. Eine Geschichte, die von Familie zu Familie weitergetragen wird und von Dorf zu Dorf, die man sich wieder und wieder erzählen wird in diesen kalten, trockenen Nächten. Mit jeder Version wird meine Rolle darin größer, und der Preis wird immer kleiner, bis man ihn ganz vergisst. Eine Nahaufnahme der menschlichen Natur.

Die Mutter des Babys erhob sich und nahm ihre Tochter entgegen. Sie weinte vor Dankbarkeit und Erleichterung.

»Nimm die hier.« Er drückte ihr die eingewickelten Tabletten in die Hand. »Lös immer eine davon in etwas kochendem Wasser auf, lass es abkühlen und flöß es ihr nach dem Trinken ein. Eine Woche lang, zweimal am Tag.«

Sie wagte nicht, ihn anzusehen, aber sie nickte, um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Ihr Mann kam ebenfalls nach vorn und blieb neben ihr stehen. Jetzt war offensichtlich, wer den Preis bezahlen würde, und er war blass und zitterte sichtlich. Trotzdem küsste er seine Tochter auf die Stirn und legte seiner Frau kurz eine Hand auf die Schulter. Die Menge wurde still und ernst, aber sie akzeptierten den Tauschhandel. Es muss ein Preis gezahlt werden, so lautete die Regel. Wenigstens leistete der Bauer keinen Widerstand. Er ließ sich von den Soldaten fortbringen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Wenn er den Mann zum nächsten Mal sah, wäre er auf der Krankenstation mit Gurten an eine Liege geschnallt. Das war der Augenblick, in dem die meisten von ihnen ihr Versprechen vergaßen und um Gnade flehten.

Hoffen wir um deiner Frau und deiner Tochter willen, dass du überlebst. Aber ich brauche allermindestens eine neue Niere.

Er wandte sich ab, aber wie immer veranlasste ihn der Anblick der Sternensäule, die über der Militärbasis aufragte, zum staunenden Innehalten. Zwar war sie mehrere Fahrstunden weit entfernt, aber diese größte Leistung Tarakans, ein wahres Weltwunder, war so gewaltig, dass es ihm vorkam, als stünde er direkt darunter.

Dort hat alles angefangen. Ich nehme an, dort wird es auch enden.

Als er dastand, tief in Erinnerungen versunken, erhob sich aus der hinter ihm stehenden Menge ein Ruf. Zunächst nur ein Flüstern, doch rasch schwoll es zu einem dröhnenden Crescendo an. Sie riefen seinen Namen, voller Dankbarkeit, Ehrfurcht und Gehorsam.

Sein Name war Mannes.

Kapitel 1 

Funkelauge

Aufzuwachen ist etwas vollkommen Normales, es sei denn, man ist tot.

Als ich die Augen öffnete, erinnerte ich mich als Allererstes daran, wie sich mein Bewusstsein im vollkommenen Nichts verloren hatte. Selbst als ich meine ersten schnellen Atemzüge tat, war mir vollkommen klar, dass ich in der Stadt unterm Berg umgekommen war, und als ob es nicht schon schlimm genug wäre, diese Welt verlassen zu müssen, war ich unter entsetzlichen Todesqualen gestorben. Während der letzten Phase der Übertragung war mein Körper von den Zähnen und Klauen der Eidechsen in Stücke gerissen worden. Normalerweise weiß man nicht, was Menschen beim Sterben wirklich empfinden oder denken, weil die Toten nicht mehr darüber berichten können. Aber jetzt hatte ich meine Antwort auf diese Frage bekommen, und sie war alles andere als schön oder tröstlich. Als mein Geist aus meinem sterbenden Körper weggezerrt worden war, hatte ich instinktiv dagegen angekämpft, hatte versucht, mich an der Welt und an dem Gefäß, das mich beherbergte, festzuklammern; hatte mit aller Macht darum gerungen, das Bewusstsein nicht zu verlieren. Ich erinnerte mich an alles, an jede entsetzliche Sekunde, bis ganz zum Ende. Und doch hatte ich soeben die Augen geöffnet und mich in einem weichen Bett aufgesetzt. Ich war am Leben. Das war ich doch, oder?

Ich tastete meinen Körper ab. Er steckte in einem dünnen, weißen, tunikaartigen Gewand und einer dazu passenden Hose aus einem weichen Stoff, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Ich zog das Hemd hoch und untersuchte meinen Bauch. Er war heil – keine Spur der scharfen Klauen, die, wie ich sehr genau wusste, meine Haut zerfetzt hatten. Die Erinnerung blitzte in meinem Verstand auf, und ich zuckte zusammen und ließ das Hemd los.

Ich schüttelte den Kopf, um die fürchterlichen Bilder loszuwerden, und sah mich um. Ich befand mich in einem kleinen leeren Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte ich eine kleine Tür, zu meiner Rechten ein offenes Fenster. Lichtstrahlen fielen herein, begleitet von einer sachten Brise und Vogelzwitschern. Ich stand auf und sah hohe kräftige Eichen, nur ein paar Schritte vom offenen Fenster entfernt. Die Luft war mild, und ich schloss die Augen und atmete ein paarmal tief ein. Das erwies sich als Fehler. Als hätten sie nur auf diese Gelegenheit gewartet, fluteten Erinnerungen über mich hinweg. Der Gestank nach Tod, Schmerz und Entsetzen erfüllte meinen Kopf. Es war grauenhaft und erschreckend plastisch.

Ich taumelte zurück und landete wieder auf dem Bett, saß schwer atmend da und schwor mir, die Augen nicht mehr zu schließen, solange ich nur konnte. Nach einer Weile sah ich mich um und stellte fest, dass mein erster Eindruck eines vollkommen leeren Raums mich getrogen hatte: An der Wand hing ein Spiegel. Ein rascher Blick zeigte mir, dass ich immer noch ich war, vollständig und mit den gleichen Tätowierungen gezeichnet wie schon immer. Irgendjemand hatte beim Zusammenflicken ausgezeichnete Arbeit geleistet, denn ich erinnerte mich genau daran, dass Stücke von mir überall verteilt gewesen waren. Was meinen ersten klaren Gedanken auf den Plan rief:

Irgendwas stimmt hier nicht.

Nicht dass ich mich darüber beschweren wollte, am Leben zu sein, aber irgendwas an dieser ganzen Sache war eindeutig seltsam. Ich spürte es in meinen Eingeweiden, die, wie ich rasch noch mal überprüfte, sicher in meinem Bauch verstaut waren.

Mir fiel nichts anderes ein, als zur Tür zu gehen, nach der hölzernen Klinke zu greifen und sie hinunterzudrücken. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber jedenfalls sicher nicht, dass vor der Tür zwei weiße Hausschuhe auf einer grünen Fußmatte lagen und mich erwarteten. Zögernd schlüpfte ich in einen davon und sah zu, wie er sich perfekt meinem Fuß anpasste.

Japp, die ganze Sache rostet zum Himmel.

Ich trat auf einen gepflasterten Weg hinaus, der mitten durch einen in voller Blüte stehenden kleinen Garten führte. Zwischen den perfekten Blumen summten große, schwarz und gelb gestreifte Bienen hin und her. Über mir sausten kleine Kolibris entlang, und ich spürte die Sonne warm auf meiner Haut. Ich wagte es nicht, die Augen zu schließen, stand aber lange ganz still da und schwelgte in dem Anblick.

Bin ich im Himmel?

Nach einer Weile folgte ich dem Weg zu einem schmalen Tor und ging hindurch in den Wald. Nicht lange darauf kam ich zu einer kleinen Lichtung, wo mich ein Junge erwartete. Er saß an einem Holztisch, der üppig mit reifen Früchten, Käse, Brot und einer dampfenden Kanne beladen war. Im Näherkommen erkannte ich den Jungen wieder: braune Augen, rasierter Schädel, eine kleine Narbe am Kinn. Es war eindeutig: Dies war das Kind, das ich mir lange nur vorgestellt und dann sofort erkannt hatte, als ich tief in der Stadt unterm Berg seiner Projektion begegnet war. Jetzt und schon seit langer Zeit war er ein Teil Adams, des inzwischen zumeist schlummernden Tarakanischen Künstlichen Bewusstseins, und obwohl er sein Erscheinungsbild ganz nach Lust und Laune ändern konnte, hatte er sich aus irgendeinem Grund dafür entschieden, wie der Junge auszusehen, der er damals gewesen war.

Ich setzte mich auf die Holzbank gegenüber. Wortlos griff Rafik nach der Kanne und goss etwas von ihrem dampfenden Inhalt in die Tasse, die vor mir auf dem Tisch stand. Ich sah zu, wie die heiße Flüssigkeit die Tasse füllte. Als Rafik die Kanne wieder abstellte, sagte ich: »Ich wette, das hättest du nicht tun müssen.« Ich hob die Tasse hoch und atmete den verlockenden Duft ein. »Ich wette, du hättest meine Tasse auch füllen können, ohne dass du die Kanne hochhebst oder auch nur berührst.«

»Manchmal ist die Geste ebenso wichtig wie das Ergebnis«, antwortete Rafik und sah zu, wie ich an meinem Tee nippte. Es war das allerbeste Irgendwas, das ich je gekostet hatte. Bei unserem letzten Zusammentreffen hatte ich Rafik darum gebeten, das Aussehen eines Erwachsenen anzunehmen, aber diesmal hatte er sich dafür entschieden, wieder als Kind an der Schwelle zum Erwachsenwerden aufzutreten. Ich fragte mich, weshalb.

»Sind wir … bin ich … jetzt in Adam?« Eigentlich war es offensichtlich, aber ich musste es einfach hören.

Rafik nickte. »Ja, wir haben dich gerade noch rechtzeitig extrahiert. Es war nicht leicht, keine ›glatte Operation‹, wie ihr Salutisten sagen würdet, und wir mussten einige empfindlichere Teile deines Bewusstseins im Nachhinein rekonstruieren, aber jetzt bist du hier.«

Ich sah mich um und unterdrückte ein Schaudern. »Ist das alles echt?«

»Das hast du mich schon mal gefragt, erinnerst du dich?« Rafik wartete mein Nicken ab, ehe er hinzufügte: »Spielt das denn eine Rolle?«

Ich nahm einen großen Schluck. Der Tee war zu heiß, ich verbrannte mir die Kehle. Hustend spuckte ich ihn wieder aus. Es fühlte sich jedenfalls echt an.

Als ich mich wieder gefangen hatte, stellte ich die Tasse ab, aber Rafik beugte sich vor und goss sie wieder ganz voll, wobei er sorgfältig darauf achtete, keinen Tropfen zu verschütten.

»Haben wir eigentlich gewonnen?« Ich suchte seinen Blick. »Wir haben viele gute Trolle in dieser Schlacht verloren. Es wäre schön zu wissen, dass es nicht vergebens war.«

»Das Hauptlabor gehört jetzt uns, ja.« Rafik lehnte sich zurück. »Und Cains Eidechsenproduktion konnten wir um die Hälfte reduzieren. Jetzt ist die Menge … zu bewältigen. Mit der Zeit wird das Tal von den Horden gesäubert sein, und dann können wir dorthin zurückkehren.«

»Mit ein paar mehr Puzzlern«, warf ich ein, und mir entging nicht, dass sein Gesicht völlig ausdruckslos blieb. Wir waren in die Stadt unterm Berg vorgedrungen, um nach Rafik zu suchen, und waren dabei mitten in den Krieg zwischen diesen beiden fremdartigen Wesenheiten geraten, Adam und Cain. Ihr Krieg hatte bereits mit der Katastrophe begonnen, und ich war nur einer von vielen Namen auf der Verlustliste.

Ich nahm eine seltsam geformte gelbe Frucht aus dem Korb.

»Du musst sie schälen«, warnte mich Rafik, als ich hineinbeißen wollte.

»Schmeckt sie denn überhaupt?«, fragte ich und brach die Spitze an der einen Seite ab.

»Das musst du selbst beurteilen. Ich mag sie.«

Er hatte recht. Die Frucht schmeckte ganz ausgezeichnet, vor allem für etwas, das gar nicht existierte.

»Wie heißt das?«

»Man nennt es Banane.«

»Lecker.«

Ich aß die Banane auf, widerstand aber der Versuchung, mir eine zweite aus dem Korb zu nehmen. Die Schale ließ ich fallen und sah zu, wie sie auf dem Boden landete.

»Und was jetzt? Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute?«

Rafiks Augen funkelten. »Nein, so weit sind wir leider noch nicht, fürchte ich. Aber bevor ich es dir erzähle, noch eine Frage. Die Rekonstruktion deines Verstands war …« Rafik tat, als würde er nach den richtigen Worten suchen, obwohl er vermutlich schon wusste, was er sagen würde. »… nicht einfach. Selbst mit Tarakanischer Technologie war es ein langer, komplizierter Prozess, der zu Desorientierung führen kann. Kannst du mir sagen, wie du heißt?«

»Funkelauge«, antwortete ich beinahe sofort.

Belustigt legte Rafik den Kopf schief. »Wie heißt du wirklich?«

Es war kindisch, aber ich wollte wenigstens dieses letzte Etwas geheim halten vor diesen Leuten – oder dieser Kreatur –, die uns zu einer selbstmörderischen Mission gezwungen hatten. »Mir gefällt der Name Funkelauge, wenn’s dir nichts ausmacht. Aber warte mal …« Verspätet traf mich die Bedeutung seiner Worte mit der Wucht eines Energiehammers. »Du hast gesagt, es hat gedauert, mich wieder zusammenzuflicken. Wie lange ist es her, dass ich im Labor gestorben bin?«

»Etwas über fünf Jahre.«

»Oh, Rost.« Ich stieß die Luft aus, meine Hände umklammerten die hölzerne Tischkante. »Aber ich erinnere mich an gar nichts, seit ich in Stücke gerissen wurde … seit meinem Tod.« Ich zeigte auf Rafik und war überrascht, dass mein Finger nicht zitterte. »Du hast mich einfach jahrelang im Dunkeln hängen lassen. So war das nicht vereinbart.«

»Erstens«, Rafik klopfte sacht auf den Tisch, »haben wir unsere Übereinkunft unter extremem Druck getroffen.«

»Trotzdem. Abmachung ist Abm…«

»Wir haben zugesichert, dass wir dich retten und in Adam hochladen«, sagte Rafik. Es war das erste Mal, dass er mich unterbrach. »Aber es gab keine Vereinbarungen über die genauen Bedingungen. All das hier«, er umfasste mit einer Geste unsere Umgebung, »kostet uns mehr Energie, als wir uns eigentlich leisten können. Wir haben dich am Leben gehalten und ausreichend stimuliert, damit du nicht den Verstand verlierst. Aber es gab keinen Grund, dich bei Bewusstsein zu halten.«

»Also hätte ich ebenso gut in diesem Labor sterben können. Ein traumloser, körperloser Schlaf kommt der allgemeinen Auffassung des Todes jedenfalls erschreckend nah.«

»Aber jetzt bist du hier, mitten in einem wunderschönen Wald, und wir essen und trinken zusammen.« Rafik pustete leicht über die Oberfläche seines eigenen Getränks, ehe er vorsichtig daran nippte.

»Das hier existiert in Wirklichkeit alles gar nicht«, sagte ich, lehnte mich zurück und warf einen raschen Blick auf den Boden. Die Bananenschale, die ich hatte fallen lassen, lag noch immer dort.

»In der physikalischen Welt nicht, das stimmt, aber hier zu sein hat für dich eine Menge Vorteile.« Rafik zählte sie an den Fingern ab. »Du wirst nicht alt oder müde oder krank, und du musst nur dann schlafen, wenn du diesen Zustand wünschenswert findest.«

»Nach allem, was ihr mit mir angestellt hab, bin ich nicht ganz sicher, ob ich je wieder die Augen schließen will.«

Rafik beachtete meinen Einwurf nicht weiter. »Hier gibt es fast nichts, was du nicht tun kannst.« Er deutete nach oben. »Siehst du den Ast dort ganz hoch oben?«

Ich sah auf.

»Versuch, dort hinaufzufliegen.«

Ich starrte ihn an. »Du meinst … ich kann …?«

Er nickte, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. »Wenn du möchtest, ja – die Physik hier würde dich jedenfalls nicht daran hindern. Es ist ganz leicht.«

Ich stand von der Bank auf und sah nach oben. »Was muss ich tun?«

»Nichts weiter. Du musste es einfach nur wollen.«

Und so war es. Plötzlich berührten meine Füße nicht mehr den Boden, und ich glitt langsam zu dem hohen Ast empor.

Ich jubelte wie ein Kind, und dann versuchte ich mich an ein paar Flugmanövern. Es war tatsächlich ganz leicht, sobald ich erst einmal wusste, was ich wollte. Ich breitete die Arme aus und flog dem Himmel entgegen. Als ich nach unten sah, waren die Holzhütte und der Garten nur noch kleine Flecken tief unter mir. Was ich für einen riesigen Wald gehalten hatte, waren nur ein paar Reihen Bäume rings um die Lichtung. Dahinter lag weißes Nichts, das sich in alle Richtungen erstreckte. Ein ernüchternder Anblick.

»Du kannst jetzt wieder runterkommen.« Rafiks Stimme hallte in meinem Kopf, und im nächsten Augenblick stand ich wieder vor ihm.

»Früher einmal konnte jedes neu eintreffende Bewusstsein eine große Welt ganz nach seinen Wünschen gestalten«, sagte Rafik, während ich noch um mein Gleichgewicht kämpfte. »Viel größer als dieses kleine Fleckchen, und man konnte sich all seine Sehnsüchte erfüllen. Die meisten haben sich irgendwelche körperlichen Superfähigkeiten verliehen, Alter und Aussehen verändert und sehr schnell begriffen, dass sie jeden Augenblick hier drin erheblich ausdehnen können, während die Zeit in der echten Welt dort draußen ganz normal verstreicht. Dann wurden sie … erfinderisch.« Lächelnd bedeutete mir Rafik, ich solle mich wieder setzen. Ich tat wie mir geheißen.

»Aber inzwischen ist das nicht mehr möglich. Wir haben nur noch sehr begrenzte Energie zur Verfügung, also mussten wir die meisten von uns in Schlaf versetzen, so wie wir es auch mit dir getan haben.«

»Ich dachte, wir hätten den Krieg gegen Cain gewonnen.«

»Die Schlacht haben wir gewonnen, ja, aber den Krieg – ich fürchte nein.«

Ich nahm mir einen Butterkeks von einem vollen Teller, ließ ihn aber wieder fallen, als mich urplötzlich ein Gedanke ansprang. »Und jetzt sitzen wir hier«, sagte ich. »Nach fünf Jahren glückseligen Schlummers hast du plötzlich beschlossen, mich zu wecken.« Ich seufzte. »Jetzt erklär mir, was eigentlich los ist.«

Rafik nippte bedächtig an seinem Becher und griff dann ein scheinbar vollkommen anderes Thema auf. »Es gab mal einen alten Nahkampfstil namens Jiu-Jitsu. Heutzutage ist es nur ein weiteres Fragment des verlorenen Wissens der Menschheit. Die Praktizierenden haben ihr Kampftraining damit begonnen, dass sie auf dem Rücken lagen, den Gegner über ihnen.«

»Das … ergibt keinen Sinn«, sagte ich, »und klingt auch nicht gerade fair.«

»Wer sagt denn, dass es im Kampf fair zugeht?«, fragte Rafik trocken. »Mit Training und Disziplin kann auch eine zierliche Frau aus dieser ausgelieferten Position entkommen und einen größeren, stärkeren Gegner überwältigen. In gewisser Weise haben sich Adam und Cain in einem solchen Kampf gegenseitig gefangen. Adam ist stärker und fähiger, aber obwohl Cain auf dem Rücken liegt, hat er einen Vorteil errungen, sozusagen einen Würgegriff angesetzt. So schnürt er uns langsam die Luft ab, versucht, Adam zu ersticken, und er ist damit erfolgreicher, als wir je geglaubt hätten.«

»Ich komme gerade nicht ganz mit«, sagte ich und machte mir nicht die Mühe, meine Bitterkeit zu verbergen. »Vielleicht liegt es ja an meinem Schockzustand durch Tod und Verrat und so weiter.«

Auch diesmal achtete Rafik nicht auf meinen Einwurf. »Eigentlich sollte Vincha hierher zurückkehren, gemeinsam mit ihrer Tochter, Emilija, einem Puzzler. Es sieht alles danach aus, als hätte dieses Mädchen eine wichtige Codezeile in ihrer Essenz – womöglich der letzte Strang, den wir benötigen, um wieder ganz zu erwachen. Aber Vincha ist nicht wiedergekommen.«

»Wenn du ernsthaft für möglich gehalten hast, Vincha würde sich je wieder hier blicken lassen, muss ich an deinem Verstand zweifeln.« Die kleine Beleidigung auf ihn abzufeuern tat mir gut. »Sie hat diesen ganzen Rost durchgestanden, um für Emilijas Sicherheit zu sorgen – und du hast ernsthaft geglaubt, sie würde sie dir ausliefern, einfach so?«

»Die Möglichkeit, dass Vincha unvernünftig handelt, war uns bewusst.«

»Die Möglichkeit?«

»Aber Puzzler landen am Ende immer im Tal«, fuhr Rafik fort, als hätte er meinen Einwurf nicht gehört. »Es zieht sie unwiderstehlich zurück nach Tarakan. Es ist in ihre DNA eingeschrieben.«

»Ihre was?«

»Ihre Essenz. Das, woraus sie gemacht sind, und ein wichtiger Einflussfaktor auf das, zu was sie am Ende werden«, erklärte Rafik ohne jedes Anzeichen von Ungeduld. »Wir wussten: Selbst wenn Vincha ihre Tochter nicht hierherbringt, würde Emilija irgendwann trotzdem zu uns kommen. Wir haben noch andere Möglichkeiten, Kontakt zu ihr aufzunehmen.«

»Träume vom Großen Puzzle zum Beispiel?«

Rafik dachte kurz nach, dann nickte er. »Es war unausweichlich, dass sie irgendwann hier auftaucht, mit oder ohne ihre Mutter. Und auch wenn sie gescheitert oder gestorben wäre – irgendwann wäre jemand anders gekommen.«

»Aber irgendwas ist schiefgelaufen, stimmt’s?«, fragte ich, ohne nachzudenken. »Irgendwas hat dazu geführt, dass ihr eure Abwart-Strategie jetzt aufgebt und mich aus meinem Schönheitsschlaf weckt.«

Rafiks Zögern verriet mir, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Kindischer Stolz wallte in mir auf.

»Das Tal ist noch nicht ganz von den Eidechsen befreit, aber es ist auch nicht mehr so gefährlich wie früher«, sagte Rafik. »Wir hatten erwartet, dass inzwischen die ersten Salutisten-Crews zurückkehren würden, aber das ist nicht passiert. Unsere Informationen darüber, was außerhalb unseres Einflussgebiets vor sich geht, sind äußerst begrenzt, aber es sieht ganz danach aus, als fänden in der Stadt der Türme Kämpfe statt.«

»Redest du von Krieg?« Ich richtete mich kerzengerade auf.

Rafik zuckte mit den Schultern. »Irgendwelche kleineren bewaffneten Auseinandersetzungen, keine ernstzunehmende Gefahr für die Stadt, aber die Trolle sind trotzdem schwer damit beschäftigt.«

»Nun ja, wie du bereits sagtest«, ich zuckte ebenfalls mit den Schultern, »es ist nur eine Frage der Zeit …« Komm schon, Rafik, spuck’s aus.

»Vor ein paar Wochen hat Cain Angriffe an mehreren Fronten zugleich gestartet. Er ist durch unsere Abwehr gedrungen, wenn auch nur kurz. Aber nachdem wir ihn abgewehrt hatten, stellten wir fest, dass er einen unserer Schläfer gestohlen hat.«

»Und zwar …«

»Eine hochspezialisierte Tarakanische Agentin, die auf Sondermissionen eingesetzt wurde. Die Lücke in unserer Verteidigung konnten wir schließen, aber da hatte Cain bereits von Emilija erfahren.«

»Für strahlende Gewinner müssen wir aber ganz schön was einstecken.«

Diesmal schien die Beleidigung zu sitzen, denn Rafik erwiderte scharf: »Cain hat eindeutig Hilfe von außerhalb. Und jetzt benutzt er diesen Jemand, um Vinchas Tochter ausfindig zu machen. Sollte Cain sie als Erster finden, nimmt er Adam endgültig in die Zange. Cain würde gewinnen.« Zum ersten Mal standen Gefühle in Rafiks Gesicht. Vielleicht sogar Angst.

»Diese ›Hilfe von außerhalb‹, die du erwähnt hast …«, sagte ich, ehe mir zu spät klar wurde, dass seine wütende Antwort gar kein Ausrutscher war, sondern ein Köder. Ich wurde gerade mit Geduld und Spucke in etwas hineinmanipuliert, das ich ganz sicher bereuen würde.

»Was weißt du über Mannes Holtz?«

Überrascht zuckte ich mit den Schultern. »Nicht viel. Den Namen hab ich in der Stadt immer mal wieder gehört. Er ist irgendwas zwischen Gerücht und Mythos – man sagt, er lebe hinter der Sandwüste im Süden. Erzählt sich über ihn, er trinke das Blut seiner Feinde und nur ein Pflock durchs Herz könne ihn töten. Ich denke, dass er in Wirklichkeit irgendein skrupelloser Warlord ist – wenn er denn überhaupt existiert.« Eine weitere Erinnerung ploppte an die Oberfläche, und ich fügte hinzu: »Ich kannte mal jemanden, der behauptet hat, ihn zu kennen, aber der Mann war viel zu betrunken, um mir darüber etwas Zusammenhängendes zu erzählen.«

»Mannes Holtz gibt es wirklich, und auch wenn wir nicht bestätigen können, dass er Blut trinkt, kann ich dir doch versichern, dass er älter ist als die von ihm verursachte Große Katastrophe.«

Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff, was Rafik gerade gesagt hatte.

»Du willst sagen, er …«

»Mannes ist mehr als hundertfünfzig Jahre alt. Er war mal einer von uns, ein hochrangiger Tarkanier, aber in Wahrheit war er ein Verräter, ein Mörder, und außerdem war er auch derjenige, der Cain erschaffen hat. Cain war der erste Schlag in jenem Krieg, den du die Große Katastrophe nennst. Damals nahmen wir an, dass Mannes überlistet oder gezwungen wurde, Cain zu erschaffen, und dass er am Tag der Katastrophe den Tod gefunden hat. Aber irgendwie hat er überlebt. Vor ein paar Jahrzehnten ist er wieder aufgetaucht, hat sich der Sternensäule bemächtigt … Das ist ein weit entferntes, aber strategisch bedeutsames Gebiet und leider ein Schwachpunkt in Adams Verteidigung. Seitdem arbeitet er unermüdlich daran, uns zu schwächen und Cain zu stärken. Welchen Gerüchten auch immer du Glauben schenken willst, ich versichere dir, dass Mannes ebenso skrupellos ist wie gefährlich, und jetzt hat er von Emilija erfahren und weiß, wie wichtig sie für uns ist.«

So langsam kam mir der Verdacht, dass mein Kopf nur deshalb nicht schmerzte, weil ich, technisch gesehen, gar keinen Kopf besaß.

»Also willst du, dass ich …«, sagte ich langsam und ganz vorsichtig.

»… dass du Emilija für uns ausfindig machst«, beendete Rafik den Satz. »Was vermutlich am besten funktioniert, wenn du ihre Mutter findest. Vincha.«

Mein Gesichtsausdruck sprach offenbar Bände, denn Rafik fuhr hastig fort: »Es ist dir schon einmal gelungen, sie zu finden.«

»Das war reines Glück. Hast du eine Ahnung, wie oft ich auf dieser Mission um ein Haar gestorben wäre? Und damit meine ich all die anderen Male bis auf das eine Mal, wo ich wirklich gestorben bin.«

»Wir glauben an dich.« Rafik beugte sich vor. »Und diesmal stehen dir Informationen und Ausrüstung zur Verfügung. Es gibt Dateien über Mannes; nach der Katastrophe ist es uns gelungen, sie zu bergen. Du solltest sie dir ebenfalls ansehen, sobald wir dich in den Bunker transferiert haben.«

»Wohin transferiert?«

»Wir schicken dich zurück in die physikalische Welt. Der Bunker, in dem du erwachen wirst, ist noch bestens ausgestattet. Du findest dort alles, was du für deine Mission brauchst.«

»Von den Toten zurückgekehrt, um eine letzte Mission zu erfüllen«, sagte ich ironisch. »Klingt wie einer der Salu-Romane, die ich früher gelesen habe, als ich noch jung und dumm war. Was, wenn ich mich weigere?«

Rafik ließ sich ein bisschen Zeit, ehe er antwortete: »Du würdest wieder schlafen. Wir können uns die Energie, dich bei Bewusstsein zu halten, nicht leisten. Aber wenn du uns Emilija bringst, stünde dir eine ganze Welt zur Verfügung, in der du ein Gott sein kannst.«

Diesmal ließ auch ich mir Zeit mit meiner Antwort. »Und wo ist der Haken?«

»Der was?«

Ich starrte ihn unverwandt an. »Du hältst mir hier eine fette, saftige Karotte vor die Nase, aber was passiert, wenn ich diese irrwitzige Mission in den Sand setze? Und was sollte mich davon abhalten, auf alles zu pfeifen und einfach in der physikalischen Welt zu bleiben? Wo ist der Haken? Es gibt immer irgendeinen rostigen Haken.«

»Eure Körper werden in weniger als drei Jahren anfangen zu verrotten.« Rafik erwiderte meinen Blick. »Es geht ziemlich schnell, ist aber trotzdem keine sonderlich angenehme Erfahrung.«

»Da ist also der Haken«, sagte ich leise. Dann setzte ich hinzu: »Du hast ›eure Körper‹ gesagt?«

»Wir schicken dich nicht allein auf so eine gefährliche Mission.«

»Ah, ich bekomme also eine bewaffnete Eskorte, ja? Ein Troll-Team?«

»›Eskorte‹, ja. ›Team‹ – nun, das ist wohl eher Ansichtssache.« Anscheinend wusste Rafik, dass er mich hatte, und machte sich jetzt einen Spaß daraus, mich aufzuziehen.

»An wen denkst du?«

Rafik verriet es mir, und zum ersten Mal, seit ich wieder ins Leben zurückgekehrt war, lächelte ich.

Kapitel 2 

Peach

Initialisierung.Datum und Uhrzeit unbekannt.Status: Körperfunktionen und Gesundheit intakt.Keine spezifischen Anweisungen gespeichert.Wirtskörper ist eine Frau mittleren Alters, asiatische Herkunft, dunkle Haut. Größe und Gewicht für Frauen dieser Region unterdurchschnittlich.Wirtskörper wurde für Aufklärung und Infiltration gezüchtet, nicht für den Kampf. Durchschnittliche körperliche Leistungsfähigkeit, Standard-Robustheit gegenüber Angriffen. Schmerzdämpfer voll funktionsfähig, Kampffertigkeiten und Reflexe auf Standardniveau. ESM vorhanden.Keine internen Kommunikationsgeräte. Aus Sicherheitsgründen werde ich keine externen Geräte benutzen, um Kontakt zum Hauptquartier herzustellen.Die sterile Kammer enthält Grundausrüstung, leichte Kleidung, Nährpillen, Salbe für stark beschleunigtes Haarwachstum und dergleichen, aber weder Waffen noch andere Kampfausrüstung.Schlussfolgerung: Es handelt sich um einen Notbunker und keinen Standard-Knotenpunkt.Die Energieversorgung des Bunkers läuft auf Minimum. Ich habe einen zweiten Wirtskörper ausgemacht, eine Kampfzüchtung, weiblich, aber er hat Schäden oder Fehlfunktionen erlitten und ist nicht mehr reparabel. Möglicherweise bin ich deshalb in diesem Wirtskörper aufgewacht.Da mein Auftrag ungewiss ist und der Bunker sich im Notfallmodus befindet, starte ich Überlebenscode Alpha.Wechsle zu Persönlichkeitsmodus.

Sobald ich die Augen aufschlug, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Es war nicht nur meine Umgebung – ich war schon in übleren Ecken erwacht – oder der Umstand, dass mein Wirtskörper eine Asiatin mittleren Alters war. Auf vergangenen Missionen hatte ich schon alle möglichen Wirtskörper bewohnt, von einem muskelbepackten Krieger bis hin zu einem neunjährigen Kind. Aber diesmal kam mir alles grundfalsch vor.

Ich wusste, wer ich war, und ich kannte meine Aufgabe. Ich sollte eine junge Frau finden, Emilija, und sie heil und gesund zu einem vereinbarten Treffpunkt bringen – aber das war’s auch schon. Über das Mädchen wusste ich nichts – nicht einmal, wie sie aussah –, und es gab auch kein Extraktionsteam, mir lagen keine Informationen über die Gefahrenlage vor, und ich wusste nicht, wohin ich das Mädchen bringen sollte. Ich wusste nur, dass ihr nichts zustoßen durfte und ich mich nach Tarkania aufmachen sollte … die Stadt der Türme. Zwar machte mir das alles keine Angst – ich hatte schon zu viel erlebt, als dass mich solche nicht ganz idealen Begleitumstände aus der Fassung bringen könnten –, aber das Hauptquartier antwortete mir nicht, und das war ungewöhnlich. Immerhin war es eine Mission von der schlichten Suchen-und-Überbringen-Sorte, kein Auftragsmord und auch nicht meine Spezialität, die Massensabotage. Ich fragte mich, wer das Mädchen sein mochte. Jedenfalls war sie so wichtig, dass man ihr jemanden von meinem Rang und Status hinterhersandte.

Ich verspürte ein überwältigendes, unerklärliches Verlangen nach einem Pfirsich. Auch das war nichts Ungewöhnliches für einen Schläfer. Manchmal manifestieren sich während des Transfers in einen neuen Körper seltsame Schrullen. Es konnte passieren, dass man beim Aufwachen feststellte, dass man Milch zutiefst verabscheute oder unbedingt blaue Kleidung tragen wollte oder, so wie ich gerade, für einen Pfirsich bereitwillig sein Leben gegeben hätte. Keine große Sache, aber es passierte normalerweise nur dann, wenn der Schläfer sehr lange geruht hatte. Länger jedenfalls als ein oder zwei Monate.

Die recycelte Luft im Bunker reichte aus, war aber nicht von sonderlich guter Qualität. Mir wurde davon flau im Magen, also war meine erste Priorität, erst mal hier rauszukommen. Das allerdings erwies sich als größeres Problem als zuerst angenommen: Schon bald musste ich feststellen, dass der nach draußen führende Tunnel eingestürzt war und mir Trümmer den Weg versperrten. Es dauerte mehrere Stunden, bis ich mich mit improvisiertem Werkzeug durch den Tunnel gearbeitet hatte, und dabei erlitt ich einige kleinere Verletzungen – überwiegend blaue Flecken und Schnitte.

Als ich endlich die versiegelte Tür erreichte, musste ich sie manuell entriegeln und mich dann gegen die Wand stemmen, um einen schweren Betonbrocken beiseitezuwuchten, der obenauf lag. Eigentlich ein gutes Zeichen, weil es bedeutete, dass draußen kein feindliches Empfangskomitee auf mich wartete, aber allzu bald fand ich heraus, dass meine Lage trotzdem ausgesprochen prekär war.

Im ersten Moment sah es aus, als wäre ich auf einem bewaldeten Hügel herausgekommen. Ich erklomm einen Aussichtspunkt – eine dicke Betonplatte, auf der reichlich Moos wuchs – und nahm sorgfältig meine Umgebung in Augenschein; achtete auf selbst die winzigsten Details und versuchte, sie zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Ich befand mich mitten in einer riesigen, mir unbekannten Stadt, die katastrophale Schäden erlitten hatte. Während meiner Dienstzeit hatte ich schon viel gesehen, aber trotzdem dauerte es eine Weile, bis mir das ganze Ausmaß der Zerstörung dämmerte.

Mit Ausnahme mehrerer kleiner Tiere – überwiegend Vögel und Eichhörnchen – gab es keinerlei Lebenszeichen. Mein Körper registrierte Rückstände atomarer Verseuchung in der Luft, allerdings nur noch so schwach, dass es kein Gesundheitsrisiko darstellte, solange ich das kontaminierte Areal binnen Wochenfrist hinter mir ließ. Vorausgesetzt natürlich, es gab irgendwo Luft, die besser war als diese.

Trotz der allgegenwärtigen Zerstörung oder gerade deshalb hatte die Natur angefangen, sich das Land zurückzuerobern. Überall wucherte dichtes Gestrüpp, nur die höchstgelegenen Überreste der Stadt, die ich in weiter Ferne sah, waren bisher davon freigeblieben. Angesichts des Zustands von Ruinen und Fauna vermutete ich, dass die Stadt schon sehr lange in Trümmern lag, und nirgendwo entdeckte ich Anzeichen dafür, dass jemand versucht hatte, sie wieder aufzubauen. Das schloss einen Unfall oder eine Naturkatastrophe nahezu aus. Wenn eine so große Stadt so lange ungestört in Trümmern lag, war das ein sicheres Anzeichen für einen größeren Konflikt, vielleicht sogar die Vernichtung der hiesigen Zivilisation. Ich musste dringend herausfinden, welche Zivilisation es getroffen hatte. Immerhin verriet mir mein Erwachen, dass meine eigene Seite noch fortbestand.

Ich muss gestehen, dass ich trotz des erschütternden Anblicks und seiner Implikationen einen ganz schwachen Anflug von Stolz verspürte, weil meine Voraussagen – festgehalten in einer ganzen Reihe von Berichten – sich bewahrheitet hatten. Ich hatte es kommen sehen. Das hatte ich wirklich und wahrhaftig. Im Laufe zweier Jahrzehnte hatten sich meine Aufträge gewandelt, die anfängliche Subtilität war einem aggressiven, geradezu rücksichtslosen Vorgehen gewichen. Ich hatte mir jedes Mal selbst eingeredet, dass ich das große Ganze einfach nicht sah, dass das Hauptkommando zu der Einschätzung gekommen sei, dass die Vorstöße das Risiko wert waren, auch wenn sie Feindseligkeit und tiefen Argwohn hervorriefen. Aber wir hatten wohl alle falschgelegen. Nichts auf der Welt war das hier wert.

Es fing an zu nieseln. Ich setzte mich in Bewegung, lief wachsam und vorsichtig auf die hoch aufragenden Ruinen zu. Ging unter einer Brücke hindurch und erklomm eine weitere, sah mich dann aber zur Umkehr gezwungen. Irgendwann stand ich vor einem gewaltigen Graben, mindestens zwölf Meter tief und neun oder zehn Meter breit. Der Boden, soweit nicht von Schlamm bedeckt, schimmerte unter den abprallenden Regentropfen. Er bestand aus durchgehärtetem dunkelblauem Glas. Irgendetwas sehr Heißes hatte hier die Erde berührt und sie kristallisiert. Die Seitenwände waren kohlschwarz, schimmerten jedoch ebenso spiegelglatt wie der Boden. Der Graben hatte sich in beide Richtungen in den Boden gefressen, so weit ich blicken konnte, ganz als hätte Gott beschlossen, mit einem sehr heißen Messer seine Initialen in eine Stadt zu ritzen. Ein für den Kampf gezüchteter Wirtskörper hätte mich befähigt, mit etwas Anlauf hinüberzuspringen, aber mit diesem Körper hier ging das nicht, und so musste ich eine Stunde lang suchen, bis ich endlich einen umgestürzten Baum fand, der als Brücke taugte.

Der Nieselregen wurde stärker, und meine Leinenschuhe waren nicht für solche Wanderungen gemacht. Ich war nass und fror, und trotz der Nährpille, die ich bereits eingenommen hatte, verspürte ich immer bohrendere Sehnsucht nach richtigem Essen. Aber ich entschied mich dagegen, mich auf die Jagd zu begeben. Ich war unbewaffnet, und alles, was hier lebte, war höchstwahrscheinlich verseucht.

Es war eine kalte, nasse Nacht, es regnete ohne Unterlass, und ich suchte mir in einer bröckelnden Ruine einen Unterschlupf, rollte mich zusammen und schlang die Arme um mich, bis ich schließlich in leichten Dämmerschlaf sank. Aus der hohen Decke schloss ich, dass dies einmal ein riesiges Gebäude gewesen sein musste, aber jetzt standen davon nur noch eine Ecke und die gegenüberliegende Wand. Ehe ich mich hinlegte, entdeckte ich in der Ferne das Flackern eines kleinen Lagerfeuers, entschied mich aber dagegen, mich in der Hoffnung auf ein freundliches Gesicht in die Dunkelheit hinauszubegeben, wo ich nicht einmal den glitschigen Boden erkennen konnte. Jemand, der inmitten dieser Ruinen an einem Lagerfeuer saß, war vermutlich nicht unbedingt ein besonders gastfreundlicher Mensch.

Es war die richtige Entscheidung.

Am nächsten Morgen fand ich das Lagerfeuer und die abgenagten Überreste von vier kleinen Tieren, wahrscheinlich Eichhörnchen. Den Fußabdrücken und der Menge und Spritzhöhe des hinterlassenen Urins nach zu schließen, hatten mindestens drei Leute am Feuer gesessen, wahrscheinlich allesamt männlich.

Gegen Mittag entdeckte ich einen von ihnen, er versuchte gerade, einen bröckligen Steinhaufen zu erklimmen: ein junger Mann mit langem, ungekämmtem braunem Haar. An seinem breiten Gürtel baumelten etliche Gegenstände, offenbar sammelte er gern Trophäen. Das Interessanteste, was ich an ihm entdeckte, war ein kurzes Schwert.