Die Schwarzen Musketiere 2 - Oliver Pötzsch - E-Book + Hörbuch

Die Schwarzen Musketiere 2 E-Book und Hörbuch

Oliver Pötzsch

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Beschreibung

Lukas und seine drei Freunde wollen nur eins – die zerstörte Burg Lohenstein wiederaufbauen. Doch da taucht der Sterndeuter Senno auf und hat beunruhigende Neuigkeiten für die vier Kampfgenossen: Ihr alter Widersacher, der Inquisitor Waldemar von Schönborn, hat die legendären Reichsinsignien – Schwert, Krone und Zepter –, die für die Krönung eines deutschen Kaisers unerlässlich sind, in seinen Besitz gebracht. Welchen teuflischen Plan verfolgt er damit? Um das zu verhindern, begeben sich Lukas, Giovanni, Jerome und Paulus sogleich auf die Suche nach den wertvollen Gegenständen, die der Inquisitor und Schwarzmagier an drei verschiedenen Orten in der alten Kaiserstadt Prag versteckt hat. Doch das Abenteuer, das sie dort erwartet, stellt ihren Mut und ihre Freundschaft auf eine harte Probe ...

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Zeit:6 Std. 22 min

Sprecher:Götz Otto
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Oliver Pötzsch

DIE SCHWARZEN MUSKETIERE

Oliver Pötzsch

DIE SCHWARZEN MUSKETIERE

Das Schwert der Macht

LAGO

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2023

© 2023 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

HINWEIS:

Die gewählte männliche Form bezieht sich immer zugleich auf weibliche, männliche und diverse Personen. Auf konsequente Mehrfachbezeichnung wurde aufgrund besserer Lesbarkeit verzichtet.

Dieses Buch erschien 2016 zuerst bei bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH. Dies ist eine Neuausgabe.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

Redaktion: Martina Kuscheck

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/AcantStudio, EAKARAT BUANOI, Artskrin

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-232-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-355-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-356-0

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

In Erinnerung an Ulrich Kiesow, den Erfinder des deutschen Fantasy-Rollenspiels »Das Schwarze Auge«. Durch dieses Spiel bin ich ein Geschichtenerzähler geworden. Danke, Ulli!

INHALT

PROLOG

1

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EPILOG

KLEINER PRAG-REISEFÜHRER

LEXIKON

KLEINES WÖRTERBUCH DER FECHTKUNDE

DANKE

ÜBER DEN AUTOR

PROLOG

8. Juli Anno Domini 1633, nahe Hameln im Deutschen Reich, mitten im Dreißigjährigen Krieg

Graf Leopold von Torgau starrte auf das Fechten, Hauen und Stechen rings um ihn - und im gleichen Moment wusste er, dass die Schlacht verloren war.

Männer keuchten und schrien in Todesangst, nicht weit entfernt donnerte eine Zwanzigpfund-Kanone und die Erde erzitterte. Nur kurz darauf spritzten Lehmbrocken empor und regneten auf die letzten noch unversehrten Zelte des kaiserlichen Heerlagers hernieder.

Torgaus Streitross wieherte, es bäumte sich auf, während eine weitere Kanonenkugel nur einige Schritte entfernt einschlug. Der Krach war so gewaltig, dass Torgau kurz glaubte, taub zu werden. Nur für einen winzigen Augenblick verlor er den Halt, die Zügel entglitten ihm und er stürzte zu Boden. Während sein Pferd das Weite suchte, kroch er in einen der verlassenen Schützengräben, wo er sofort knietief im Schlamm steckte. Er schlug ein Kreuz und betete lautlos.

O gütiger Herrgott, steh mir bei! Lass diesen Albtraum vorübergehen ...

Der altgediente, mit zahlreichen Orden ausgezeichnete Offizier hatte bereits an vielen anderen Orten dieses deutschen Krieges gekämpft. Er war beileibe kein Angsthase, sondern ein Schwarzer Musketier, ein Soldat aus der legendären Elitetruppe des Feldherrn Wallenstein. Herzog Albrecht von Wallenstein war der wichtigste General des Kaisers - und die Schwarzen Musketiere galten als die besten Söldner, die man im ganzen Reich finden konnte. Doch diese Schlacht war die blutigste und grausamste, die Torgau bislang erlebt hatte. Und so langsam glaubte auch er, dass der Teufel selbst seine Hand im Spiel hatte. Wie sonst hätte es sein können, dass alle seine Männer verletzt, tot oder geflohen waren?

Dass ihre Mission drohte fehlzuschlagen?

Seit vielen Jahren kämpften nun schon im Deutschen Reich Katholiken gegen Protestanten, kaiserliche Truppen gegen Soldaten der Fürsten, ja, sogar Schweden, Dänen und Sachsen gegen Bayern und Spanier ... Der Krieg nahm kein Ende und jeder wollte so viel Beute wie möglich machen. Im dichten Pulvernebel sah Leopold von Torgau, wie die feindlichen Landsknechte mit Piken, Kurzschwertern und langen Messern das kaiserliche Lager stürmten. Sie grölten und schrien, eine Musketenkugel zischte nur eine Handbreit an Torgaus Helm vorbei. Er duckte sich und lud seine Pistole mit der letzten Kugel, die ihm noch geblieben war.

Ich bin der Letzte, dachte er. Ich darf nicht versagen!

Mit gut zwölftausend Mann waren die Kaiserlichen gekommen, um die verfluchten Schweden hier nahe der Stadt Hameln zu besiegen. Doch das Gelände war unwegsam, durchzogen von tückischen Felsen und Hügeln. Schon bald hatten Reiter das Heer eingekreist. Von ihren Pferden aus hieben sie mit Säbeln auf die Fußsoldaten ein oder feuerten ihre Pistolen ab. Auch Torgaus sonst so tapfere Schwarze Musketiere leisteten kaum Gegenwehr. Ihr Mut war dahin, und das hatte vor allem mit jenen beunruhigenden Nachrichten zu tun, die sich die Soldaten seit gestern Nacht hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten.

Es hieß, der Feind sei mit dem Teufel selbst im Bunde.

Von unbesiegbaren Geistern war die Rede, sogenannten »Gefrorenen«, die als seelenlose Kreaturen Tod und Verderben brachten. Man munkelte, ein schwarzer Zauberer, der auf der Seite der Protestanten kämpfte, habe ihnen das ewige Leben geschenkt. Keine Kugel und auch kein Schwertstreich könne sie töten. Und tatsächlich hatte auch Leopold von Torgau bereits Unheimliches in dieser Schlacht erlebt - einen flammenden Blitz, der durch drei Zelte gefahren war, und Männer, die aufrecht gingen, obwohl sie von zahlreichen Schwerthieben getroffen worden waren. Es mochte alles Einbildung gewesen sein, aber sicher war Torgau sich nicht.

Vorsichtig hob der alte Offizier den Kopf aus dem Schützengraben und blickte sich um. Erleichtert stellte er fest, dass die feindlichen Landsknechte mittlerweile vorübergezogen waren, ohne ihn zu bemerken. Er steckte die geladene Pistole zurück in den Gürtel und stemmte sich aus dem Graben. Es war an der Zeit, jenen mächtigen Gegenstand in Sicherheit zu bringen, den ihm der Kaiser selbst anvertraut hatte.

Es war der Auftrag von Torgaus Musketieren gewesen, den Gegenstand zurück nach Nürnberg zu schaffen. Doch sie alle hatten versagt, jämmerlich versagt. Nun konnte Leopold von Torgau nur hoffen, dass der Feind ihm nicht zuvorgekommen war.

Hastig eilte er an den vielen Sterbenden und Verwundeten vorbei auf eine Anhöhe zu und dort zu einem unscheinbaren Zelt, verborgen hinter dicht bewachsenen Büschen und Bäumen. Torgau erklomm den Hügel, stürzte ins Innere des verlassenen Zelts und fegte einen Tisch mit Landkarten und Schlachtplänen zur Seite. Am Boden darunter befand sich eine Holzplatte, die von Laub und Gras bedeckt war. Voll banger Erwartung schob Torgau die Platte zur Seite und griff in die Aushöhlung darunter. Er fühlte feuchtes Holz und das kalte Eisen eines Vorhängeschlosses. Erleichtert atmete der alte Kämpfer auf.

Gott sei Dank, sie ist noch da!

Er zog eine armlange Truhe hervor, die aus feinstem poliertem Nussholz gefertigt war. Andächtig fuhr Torgau über das Holz und die silbernen Beschläge und Verzierungen. Die Truhe war alt, doch ihr Inhalt war noch viel älter. Ein Ding, das zusammen mit einigen anderen Gegenständen das Schicksal des Deutschen Reiches besiegeln konnte. Jetzt sollte es endlich zurück nach Nürnberg gebracht werden, wo ...

Ein plötzliches Geräusch ließ Torgau innehalten.

Er wandte sich um und sah zu seinem Entsetzen, wie eine Säbelspitze sich durch die Zeltleinwand bohrte. Von oben nach unten schnitt die Spitze durch den Stoff, bis ein mannshoher Schlitz entstanden war.

Durch diesen Schlitz trat der Teufel.

Keuchend stolperte Leopold von Torgau einige Schritte nach hinten, während seine Hände noch immer die Truhe umklammerten. Der braun gebrannte Mann, der eben durch den Riss ins Innere des Zelts trat, war breit gebaut und groß wie ein Turm, mit langen, öligen schwarzen Haaren. Er trug Helm, Kürass und Pluderhose, ein typischer Söldner, vermutlich aus den südlichen spanischen Landen. Was Torgau jedoch so entsetzte, war nicht die Größe des Söldners, es war dessen Blick.

Der Graf sah in die Augen eines Toten.

Jetzt konnte er auch die vielen klaffenden Wunden am Körper des Mannes erkennen - allesamt tödliche Hiebe und Stiche, die den Kerl jedoch nicht davon abhielten, sich knurrend zu nähern.

»Stehen bleiben, du Monstrum!«

Mit grimmiger Entschlossenheit klemmte sich Torgau die Truhe unter den Arm und zielte mit der Pistole auf seinen Gegner. Er hatte nur noch diesen einen Schuss, er musste treffen. Seine Mission war zu wichtig! Wenn die Kiste in die falschen Hände geriet, war alles aus.

»Keinen Schritt weiter oder ich schieße!«, keuchte Torgau. Er spannte den Hahn, bereit, jeden Moment abzudrücken.

Der große Mann mit den toten Augen grinste. »Versuch ... es ... doch«, sagte der Söldner mit einer knarrenden, seltsam schleppenden Stimme, so als käme jedes Wort aus der Tiefe eines Grabes. »Du ... kannst ... mich ... nicht ... töten.«

»Mumpitz, natürlich kann ich! Sieh selbst!«

Leopold von Torgau schoss.

Es gab einen lauten Knall, der Rückstoß der Waffe ließ Torgau nach hinten taumeln. Verdutzt starrte er auf den Söldner, der noch immer grinsend vor ihm stand. Jetzt konnte er auch das Loch in dessen Brustpanzer sehen.

Genau auf Höhe des Herzens.

»Wie ich ... schon sagte«, knarrte der Söldner. »Du ... kannst mich nicht töten. Ich ... bin ... es ... schon.«

Langsam, mit staksenden Bewegungen kam der Riese auf Leopold von Torgau zu, der mit offenem Mund sein Schicksal erwartete. Seine Hände zitterten so sehr, dass die Truhe mit lautem Scheppern zu Boden fiel.

Geister! Gefrorene!, ging es dem Grafen noch durch den Kopf. Es gibt sie also doch! Meine Männer haben recht gehabt. Schwarze Zauberei, der Teufel ...

Dann hatte ihn der Mann mit den toten Augen erreicht.

1

ZWEI WOCHEN SPÄTER ...

Nahe Heidelberg in der Pfalz

Der alte Hirsch stand friedlich am Rande der Lichtung und wusste nicht, dass sein Tod schon kurz bevorstand. Es war ein prächtiger Zwölfender, mit spitzem Geweih und kräftigen Flanken. Etwa dreißig Schritte entfernt lag Lukas mit angehaltenem Atem auf dem Bauch. Verborgen hinter einem Brombeerbusch zielte er mit der Armbrust auf das schöne, edle Tier.

Kurz zögerte Lukas, doch er wusste, dass er sich kein Mitleid erlauben konnte. In den letzten Tagen hatten er und seine Gefährten nur ein paar kleine Hasen und Rebhühner gefangen, viel zu wenig, um all die Bewohner von Burg Lohenstein satt zu bekommen. Der Krieg hatte Armut und Hunger auch hierher in die Pfalz gebracht, die Felder waren niedergetrampelt oder von der Hitze des Sommers vertrocknet; die Menschen brauchten dringend etwas zu essen. Lukas sprach ein kurzes Dankesgebet, dann krümmten sich seine Finger um den Abzug.

Eben wollte er abdrücken, als der Hirsch wie vom Blitz gefällt zusammenbrach.

»Was zum Teufel ...«

Verwundert starrte Lukas auf seine Armbrust. Der Bolzen lag noch in der Schussrinne. Was also hatte den Hirsch so plötzlich stürzen lassen? Das Tier lag regungslos im Gras, wie tot. Gab es irgendwo im Dickicht etwa einen unbekannten Schützen? Vielleicht sogar einen heimtückischen Meuchelmörder? Immer wieder strichen durch die Wälder hungrige Söldner, die erbarmungslos raubten und mordeten - auch hier in der Nähe von Burg Lohenstein, Lukas’ Zuhause. Vorsichtig sah er sich um, während die Hand nach dem Dolch an seiner Seite griff. Irgendwo im Zwielicht des Waldes knackte ein Zweig, Vögel flatterten auf, über ihm krächzte ein Eichelhäher ...

Ein glockenhelles Lachen ertönte plötzlich und Lukas atmete erleichtert auf.

»Elsa!«, seufzte er und steckte den Dolch wieder zurück in die Scheide. »Verflixt, ich hätte eigentlich wissen müssen, dass du mir hinterherschnüffelst.«

Nur wenige Schritte entfernt, trat seine jüngere Schwester auf die Lichtung. Im Gegensatz zu Lukas’ schwarzer Mähne hatte Elsa strohblonde Haare und jetzt im Sommer so viele Sommersprossen, wie es Sterne am Nachthimmel gab. Mit ihren elf Jahren konnte sie ebenso altklug wie frech sein. Beides ging Lukas oft auf die Nerven.

»Du hast mich nicht bemerkt!«, kicherte sie. »Gib’s zu, ich hab dir einen ziemlichen Schrecken eingejagt!«

»Haha, sehr lustig!« Lukas deutete auf den regungslosen Hirsch. »Ich schwöre dir, Elsa, wenn du irgendwas damit zu tun haben solltest, dann ...«

»Du hättest dein Gesicht sehen sollen!«, unterbrach sie ihn lachend. »Allein das war den Zauberspruch schon wert.«

»Zauberspruch?« Lukas zuckte zusammen. »Soll ... soll das heißen, du hast wieder mal gehext?« Er richtete sich auf und sah seine kleine Schwester streng an. »Hast du mir nicht versprochen, dass du nur in Notfällen zauberst? Und jetzt das!«

Noch immer konnte sich Lukas nicht daran gewöhnen, dass Elsa wirklich hexen konnte. Keine billigen Jahrmarkttricks, sondern echte Magie. Sie hatte diese Fähigkeit offenbar von ihrer Mutter geerbt, der Gräfin Sophia von Lohenstein, die eine weiße Hexe und Heilerin gewesen war.

Elsa zuckte mit den Schultern und schmollte. »Ich muss schließlich üben. Was passiert, wenn wirklich ein Notfall eintritt und ich mich nicht wehren kann, hä? Was, wenn plötzlich spanische Söldner auftauchen oder Gefrorene oder gar mein Vater, Waldemar von Schönborn ...«

»Sei still, Elsa!«, fuhr Lukas dazwischen. »Wir hatten vereinbart, dass wir seinen Namen nicht mehr erwähnen.«

Es war ein Schock gewesen, als Lukas damals erfahren hatte, dass der finstere Inquisitor und Zauberer Waldemar von Schönborn Elsas Vater war. Elsa war Lukas’ Halbschwester, und auch wenn sie ihren Vater hasste, so war sie ihm doch, fürchtete Lukas, ähnlicher, als sie selbst es zugab.

Vor allem dann, wenn sie zauberte.

»Pah, dadurch, dass wir nicht von ihm reden, wird die Gefahr auch nicht weniger«, zischte Elsa. Mit einem Mal wirkte sie sehr ernst, alles Spöttische war aus ihren Augen verschwunden. Sie senkte die Stimme. »Lukas, du weißt, wir sind hier auf Lohenstein nicht sicher! Nicht, solange wir nicht wissen, was ER vorhat. Er wird sich rächen, irgendwann!«

Mürrisch schwiegen beide, und Lukas musste an die letzten beiden vergangenen Jahre denken, die ihn und seine kleine Schwester so verändert hatten. Zwei Sommer war es nun her, dass der Inquisitor Waldemar von Schönborn gemeinsam mit einem Bataillon spanischer Söldner die heimische Burg Lohenstein überfallen hatte. Lukas’ Vater, der Graf von Lohenstein, war damals getötet worden. Ihre Mutter hatte als Hexe auf dem Scheiterhaufen in Heidelberg ihr Leben gelassen, Elsa war von Schönborn entführt worden. Lukas hatte über ein Jahr gebraucht, um seine Schwester wiederzufinden - und ein Geheimnis zu lüften, das ihre Mutter lange gehütet hatte.

Das Geheimnis des Grimorium Nocturnum, des »Buchs der Nacht«, des mächtigsten Zauberbuchs der Welt.

Ein Buch, das jetzt in Elsas Besitz war - und das es ihr ermöglichte, wirklich zu zaubern. Der Inquisitor Schönborn war damals durch das Grimorium und durch Elsas Zauberkräfte vertrieben worden. Aber Lukas ahnte, dass er irgendwann zurückkommen würde, um das Buch in seinen Besitz zu bringen.

»Hast du das Grimorium jetzt etwa bei dir?«, fragte Lukas leise. »Wenn du recht hast, dass wir auf Lohenstein nicht sicher sind, dann sind wir es in den Wäldern noch viel weniger! Wir hatten vereinbart, dass das Buch in der Burgbibliothek bleibt, also ...«

»Keine Sorge, ich brauche das Grimorium nicht mehr, um zu zaubern«, unterbrach ihn Elsa achselzuckend. »Jedenfalls nicht bei den kleinen Sprüchen. Vieles darin kann ich ohnehin schon auswendig.«

»Das hatte ich befürchtet«, murmelte Lukas, mehr zu sich selbst.

Allein der Gedanke an das Grimorium brachte ihn manchmal um den Schlaf. Er hatte Angst, dass jeder Zauberspruch Schönborns Aufmerksamkeit wecken könnte. Aber das hielt Elsa nicht davon ab, fast jeden Abend in dem Buch zu blättern und gelegentlich auch zu zaubern.

»Gerade weil wir nicht wissen, was unser Feind vorhat, solltest du vorsichtig sein«, mahnte Lukas seine Schwester. »Magie ist kein Spiel, Elsa!«

»Bitte schön, dann beenden wir den Zauber eben, wenn das dem jungen Herrn Grafen lieber ist. EVIGILA ACUTUM!« Elsa klatschte in die Hände, und der Hirsch erhob sich leicht wackelig auf seine Hufe, ganz so, als wäre er soeben aus einem tiefen Schlaf erwacht. Noch bevor Lukas zu seiner Armbrust greifen konnte, war das Tier bereits mit einigen langen Sprüngen im Wald verschwunden.

»Verflucht, so war das nicht gemeint, Elsa!«, schimpfte er. »Du weißt, dass wir das Fleisch zum Räuchern und Pökeln gut hätten gebrauchen können. Da zauberst du einmal was Sinnvolles, und dann das!«

»Was jetzt? Zaubern oder nicht zaubern? Ich wollte doch nur helfen, und dann ist es auch wieder nicht recht!« Tränen des Zorns traten Elsa in die Augen. »Du ... du bist doch nur neidisch, dass ich hexen kann und du nicht!«

Lukas verdrehte die Augen. »Elsa, das stimmt einfach nicht. Es ist nur so, dass ...«

Doch Elsa hatte sich schon abgewandt und rannte in den Wald. Lukas wollte ihr noch nacheilen, doch dann ließ er es sein. Sie würde ohnehin nicht auf ihn hören. Auch wenn er selbst bereits vierzehn und damit fast schon ein junger Mann war, ließ Elsa sich von ihm nur noch selten etwas sagen. Er beschloss, die Jagd für heute aufzugeben und zurück zur Burg zu gehen. Sicher würde Elsa irgendwann wieder auftauchen, wenn sie genug geschmollt hatte.

Er spannte die Armbrust aus, hängte sie sich über die Schulter und begab sich auf den Heimweg. Warm und angenehm schien die späte Nachmittagssonne durch die dichten Zweige, Vögel zwitscherten, irgendwo in der Nähe rauschte glucksend ein Bach - trotzdem war Lukas beunruhigt.

Immer wieder musste er an den schwarzen Zauberer Waldemar von Schönborn denken.

Eine halbe Stunde später hatte Lukas den Wald hinter sich gelassen und eilte auf die Burg zu. Lohenstein thronte auf einem Felssporn direkt über dem Neckar, der hundert Schritte tiefer als breiter, träger Strom Richtung Heidelberg floss. Westlich der Burgmauern lagen einige Felder und Bauernhäuser, die zum Gut gehörten.

Noch immer war Lukas verwundert, in welch kurzer Zeit sie es geschafft hatten, das elterliche Anwesen wieder aufzubauen. Als er vor einem halben Jahr mit Elsa hierher zurückgekehrt war, war Lohenstein von den Schweden fast vollständig zerstört gewesen. Doch mit der Hilfe der Burgbewohner und vieler Bauern der Gegend stand die Burg fast wieder so stolz und mächtig über dem Fluss wie zur Zeit, als Lukas’ Eltern noch lebten.

Mit schnellen Schritten ging er über eine breite Rampe hoch zum geöffneten Burgtor. Dahinter schloss ein Hof an, der von einigen steinernen Gebäuden umgeben war. Ein hoher Turm, außerdem ein Haus für das Gesinde und der sogenannte Palas, der aber eher wie ein trutziges Bollwerk als wie ein Palast wirkte, vervollständigten die Szenerie. Lohenstein war eine kleine, ärmliche Burg - kein Schloss wie das des Kaisers in Wien. Trotzdem war Lukas auf sein Zuhause immer stolz gewesen.

Zwei Bauern in zerlumpten Gewändern luden gerade einen Sack von einem Karren und schleppten ihn hinüber zur Vorratskammer. Daneben stand ein älterer grauhaariger Mann. Es war der Kastellan Eberhart, der sich nach dem Tod von Lukas’ Eltern um die Belange der Burg kümmerte, wenigstens bis Lukas volljährig war. Traurig zeigte Eberhart auf den Karren, auf dem noch zwei weitere kleine Säcke lagen.

»Das ist die ganze Gerste, die die Bauern auf ihren Feldern dieses Jahr ernten konnten«, erklärte er. »Der große Hagel vor ein paar Wochen hat fast alles vernichtet.«

»Und nun nehmen wir ihnen von dieser verschwindend kleinen Ernte auch noch etwas weg«, erwiderte Lukas mürrisch. »Ist das gerecht?«

Eberhart zuckte mit den Schultern. »So ist es seit alters der Brauch. Einen Teil bekommt die Kirche, einen anderen die Burg.«

»Und die Bauern müssen hungern!«, begehrte Lukas auf.

»Junger Herr.« Eberhart seufzte. Sie hatten das Thema schon oft besprochen. »Auch das Gesinde auf der Burg braucht etwas zu essen. Außerdem haben wir Ausgaben, der Wiederaufbau der Burg, all das kostet! Und nun hat auch noch ein Sommersturm unser Weingut in der Pfalz vernichtet.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich werde schon morgen hinreisen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Und ich bete zu Gott, dass ...«

»Donner und Doria, jammert dir der Schwarzseher wieder die Ohren voll? Hilf uns lieber mal, dieses Monstrum fürs Abendessen fertig zu machen.«

Lukas blickte hinüber zum Burgtor, woher die brummige Stimme gekommen war. Es war der große, breitschultrige Paulus, der dort grinsend mit Lukas’ beiden anderen Freunden Giovanni und Jerome stand. Zu dritt trugen sie an einer Stange ein gewaltiges Wildschwein, dem die Zunge aus dem Maul hing.

»Du kannst ruhig mithelfen«, ächzte der kleine Giovanni, während sie ihre Last kurz von den Schultern nahmen. »Das Vieh hier wiegt mindestens so viel wie der fette Wirt aus der Dorfschenke. Den ganzen Weg vom Fluss haben wir das Schwein hochgetragen.«

»Ich habe es getragen«, knurrte Paulus und spannte seinen mächtigen Bizeps. »Ihr zwei habt höchstens die Ohren gehalten.«

Der Anblick seiner Freunde ließ Lukas ein wenig leichter ums Herz werden. Sie hatten sich vor zwei Jahren in einer Gruppe von Schaufechtern und Gauklern kennengelernt. Gemeinsam hatten sie seitdem einige Abenteuer überstanden und waren sogar in die Reihen der legendären Schwarzen Musketiere, einer Elitetruppe des Feldherrn Wallenstein, aufgenommen worden. Seit gut einem halben Jahr lebten die Freunde nun hier auf Burg Lohenstein. Für Lukas waren die drei Gefährten mittlerweile fast wie Brüder, gerade auch, weil man sich hin und wieder stritt und miteinander focht und raufte.

»Mon dieu, wir haben das Prachtexemplar unten an der Furt erwischt«, sagte Jerome lachend und mit seinem für ihn typischen französischen Akzent. »Es wollte sich wohl gerade nach Heidelberg einschiffen!« Wie immer trug er von den vier Freunden die schönsten Kleider. In seinem roten Samtwams wirkte Jerome eher, als würde er auf einen Ball gehen statt auf die Jagd. Über seiner Schulter baumelte ein langer Bogen aus Eschenholz. Er zwinkerte Lukas zu, während sie das schwere Tier in eine Ecke des Burghofs trugen. »Und du? Hast du einen Hasen erwischt? Na, so wie du dreinblickst, wohl nicht mal ein Häschen.«

»Einen kapitalen Hirsch hätte ich fast geschossen«, erwiderte Lukas aufbrausend. Dann senkte er die Stimme, sodass ihn der Kastellan Eberhart nicht hören konnte. »Wenn Elsa ihn nicht verhext hätte.«

»Verhext?« Giovanni sah verärgert auf. »Maledissimo! Das hatten wir ihr doch ausdrücklich verboten.« Obwohl bereits fünfzehn Jahre, war Giovanni nicht viel größer als Lukas. Dafür besaß er den Verstand eines Gelehrten und sprach manchmal so gedrechselt, dass vor allem der starke Paulus Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Bei meiner Treu, wenn Elsa so weitermacht, werden bald alle Bauern der Gegend wissen, dass auf Lohenstein wieder eine Hexe wohnt!«, flüsterte Giovanni. »Und ich brauche nicht aus dem verruchten Buch der Inquisition zitieren, damit du verstehst, was man hierzulande mit Hexen macht.«

»Ich glaube, du weißt selbst, dass sich Elsa nicht an Verbote hält«, entgegnete Lukas. »Was soll ich denn machen? Sie in der Bibliothek festbinden?«

»Ha, vielleicht nicht die schlechteste Idee.« Jerome pfiff durch die Zähne. »Deine Schwester kann einen wirklich manchmal in den Wahnsinn treiben. Du weißt, ich mag Mädchen. Aber manchmal ist sie wirklich ein neunmalkluges, unausstehliches Biest.«

»Ein unausstehliches Biest, das dummerweise auch noch zaubern kann«, fügte Paulus brummend hinzu. »Also passt auf, was ihr sagt. Sonst lässt sie unsere Nasen wachsen und einen wichtigen anderen Teil von uns ganz plötzlich schrumpfen.«

Die anderen lachten und auch Lukas rang sich ein Lächeln ab.

»Es stimmt ja«, gab er zu. »Elsa ist manchmal wirklich unausstehlich. Aber sie ist nun einmal meine kleine Schwester. Ich bin dafür verantwortlich, dass ihr nichts geschieht.« Sein Gesicht wurde plötzlich wieder ernst. »Giovanni hat recht. Was passiert, wenn auch andere davon erfahren, dass sie zaubern kann? Bis jetzt wissen das nur wir. Aber denkt daran, was meiner Mutter widerfahren ist! Hexen verbrennt man auf dem Scheiterhaufen.« Er ballte die Fäuste. »Verfluchte Zauberei! Hätten wir nur nie dieses Buch gefunden!«

»Nun lasst uns Elsa und die Zauberei mal für einen Augenblick vergessen und uns lieber um das Wildschwein kümmern«, brummte Paulus und zog sein Messer. »Sonst wird das nichts mehr mit Wildschweinkeule zum Abendbrot. Und ich hab jetzt schon einen Bärenhunger.«

Elsa erschien auch zum Abendessen nicht, und so aßen die Freunde allein im großen Saal des Palas, der auch im Sommer immer kühl und feucht war. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, das aber mehr rauchte, als wirklich Wärme spendete. Der Kastellan hatte Lukas immerhin berichtet, dass Elsa vor einiger Zeit nach Lohenstein zurückgekehrt war und sich in der Bibliothek eingeschlossen hatte.

Die Burgbibliothek war Elsas liebster Aufenthaltsort. Hier blätterte sie im Grimorium, aber auch in vielen anderen Büchern, die noch aus dem Besitz ihrer verstorbenen Mutter stammten. Anders als Lukas war Elsa immer eine Leseratte gewesen, er selbst hingegen zog einen guten Degenkampf jedem Buch vor. Außerdem war sein Latein hundsmiserabel, und die meisten der Bücher waren leider in dieser alten, stocklangweiligen Sprache geschrieben.

Mit sichtlichem Appetit biss Paulus in die dampfende Wildschweinkeule. Es war bereits seine zweite. Manchmal konnte Lukas gar nicht glauben, was sein zwei Jahre älterer Freund alles verdrücken konnte. Dafür hatte er auch Kräfte für drei. Paulus spülte das Wildschwein mit einem Schluck Bier hinunter und rülpste laut. Dann deutete er zur Decke.

»Weiß der Teufel, was Elsa so lange da oben in der Bibliothek treibt«, brummte er. »Nun, dann soll sie halt ihre Bücher essen, wenn sie ihr so schmecken. Bleibt mehr Wildschwein für uns und das Gesinde übrig.«

»Du denkst auch nur ans Essen und Raufen, Dickwanst.« Giovanni schmunzelte. »Dabei können Bücher tatsächlich satt machen. Ich habe in meiner Zeit als Mönchsnovize einmal zwei Tage und Nächte durchgelesen, ohne etwas zu essen.«

Giovanni war der dritte Sohn eines niederen Adligen aus der Gegend von Verona. Seine Eltern hatten ihn in ein Kloster gesteckt, aus dem er jedoch schon bald wieder geflohen war. Geblieben war ihm sein großes Wissen, das er in der Klosterbibliothek erworben hatte - und das den Freunden schon oft geholfen hatte.

»Ein dürrer Hering wie du mag das ja schaffen«, erwiderte Paulus grinsend und nahm sich eine weitere Scheibe dampfendes Fleisch von der Platte. »Unsereins braucht da schon etwas Handfesteres.«

»Esst, solange noch etwas da ist.« Jerome tupfte sich den Mund mit seinem Spitzentuch ab und sah die Freunde ernst an. »Vielleicht ist das ja unser letztes Stück Fleisch für längere Zeit.«

»Wie meinst du das?«, fragte Lukas.

Jerome zuckte mit den Schultern. »Es heißt, der Krieg kehrt zurück in die Pfalz. Erst vor zwei Wochen hat es oben im Norden, irgendwo bei Hameln, wieder eine große Schlacht gegeben. Sicher werden schon bald auch hier wieder Städte und Dörfer brennen. Merde!«

Als Kind war Jerome aus dem Elsass geflohen. Seine Eltern waren als fahrende Gaukler von Söldnern ermordet worden. Er tröstete sich oft mit schönen Mädchen, die gleich reihenweise auf den gut aussehenden Jungen hereinfielen.

»Der Krieg ist noch weit«, beruhigte ihn Paulus.

»Nicht weit genug.« Jerome runzelte die Stirn. »Ihr wisst selbst, wie schnell so ein Heer marschiert. In ein paar Wochen können die Söldner schon hier sein. Und die Burg ist noch nicht genügend befestigt.«

Lukas hatte auf einmal keinen Appetit mehr. Jeromes Nachricht beunruhigte ihn. Zwar war es hier am Rande des Odenwalds einigermaßen friedlich, doch das konnte sich schon morgen wieder ändern. Schon seit Lukas’ Geburt stand fast das ganze Reich in Flammen. Jeder kämpfte gegen jeden, es schien, als ob die halbe Welt sich seit einer Ewigkeit auf deutschem Boden bekriegte. Hinzu kamen Pest, Missernten und harte Winter, die viele Menschen hatten erfrieren und verhungern lassen. Nicht wenige Gegenden waren so verödet, dass nur noch Wölfe und Bären durch die verwüsteten Dörfer streiften.

Und dann trieb sich dort draußen auch irgendwo noch ein schwarzer Hexer herum, der ihnen ewige Rache geschworen hatte.

»Was meint ihr, wo die Ratte Schönborn sich verkrochen hat?«, fragte Paulus, als hätte er Lukas’ Gedanken erraten. »Ehrlich gesagt, mache ich mir seinetwegen mehr Sorgen als wegen irgendwelcher Schweden.«

Giovanni schob seinen Teller zur Seite, auch ihm war offenbar der Appetit vergangen. »Das Letzte, was wir wissen, ist, dass er wohl zum Kardinal in Rom ernannt wurde und dort seine Kräfte sammelt.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Zauberer auf einem Kardinalsstuhl. Wenn der Papst das wüsste! Aber Schönborn war schon immer gut darin, sich zu verstellen.«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir schon bald wieder von ihm hören werden«, sagte Lukas leise.

Nach dem nun sehr einsilbigen Mahl schnappte sich Lukas ein paar Stücke kalten Wildschweinbraten, einen Krug Apfelmost und einen halben Laib Brot; dann ging er die Treppe hinauf zur Bibliothek. Leise klopfte er an die Tür.

»Elsa, hörst du mich?«, fragte er. »Ich weiß, dass du da drin bist. Mach auf.«

»Ich will keinen von euch Torfköpfen sehen!«, kam es von drinnen. »Geh zurück zu deinen blöden Freunden mit ihren Schwertern und Armbrüsten!«

»Ich hab auch was zu essen für dich mitgebracht. Fleisch und Brot und ...«

Abrupt wurde der Riegel zur Seite geschoben und Elsas Gesicht tauchte im Türschlitz auf. Sie zwinkerte ihrem Bruder zu. »Na, das ist etwas anderes. Ich hab tatsächlich, äh ... ein wenig Hunger.«

Gierig nahm sie das Essen entgegen, eilte hinüber zu einem Tisch, auf dem sich Stapel mit Büchern befanden, und begann, den Braten in sich hineinzustopfen.

Lukas grinste. Ihr vorheriger Streit schien schon wieder vergessen zu sein.

»Nun, ein wenig Hunger sieht aber anders aus«, spottete er. »Du frisst ja wie ein Wolf.« Dann deutete er auf ein unscheinbares kleines Buch, das zuoberst auf einem der Bücherstapel lag. Es war abgegriffen und in schwarzes Leder gebunden, ohne Titel und Verzierungen. »Das ist es, nicht wahr?«, flüsterte er, als könnte sie jemand hören. »Ich habe es schon lange nicht mehr gesehen.«

Noch vor einigen Monaten hatten sie das Grimorium unten in einer Kiste im Keller verwahrt. Doch seine Schwester hatte darauf bestanden, es hier in der Bibliothek zu verstecken.

Elsa wies mit dem Kopf hinüber zur Tür. »Sperr lieber ab«, sagte sie zwischen zwei Bissen. »Sicher ist sicher.«

»Hast du etwa Angst, dass das Grimorium wegfliegt und den dicken Paulus angreift?«, fragte Lukas lachend.

»Wer weiß. Ich kenne seine Macht noch zu wenig. Aber du hast selbst gesehen, wozu das Grimorium in der Lage ist. Also schließ besser die Tür.« Elsa klang sehr ernst, und auch Lukas war plötzlich nicht mehr zum Spaßen aufgelegt.

Er legte den Riegel vor, dann setzte er sich wieder an den Tisch und starrte auf das Buch.

Das Grimorium Nocturnum war das mächtigste Zauberbuch der Welt. Jahrhundertlang war es gut versteckt gewesen, dann war es in den Besitz von Lukas’ und Elsas Mutter übergegangen. Der Inquisitor Waldemar von Schönborn hatte die Burggräfin gefoltert, um in den Besitz des Buches zu gelangen. Doch Sophia von Lohenstein hatte bis zum Schluss geschwiegen und dessen Versteck nicht verraten. Es waren Lukas und Elsa gewesen, die es schließlich, gemeinsam mit den Freunden, gefunden hatten. Lukas fröstelte in der dunklen, kalten Bibliothek. Dieses Buch, das nun so unscheinbar auf dem Tisch vor ihm lag, war der gefährlichste Gegenstand, den er kannte. Gefährlicher als jedes Schwert, jede noch so zerstörerische Kanone.

Und es hatte seine Schwester zu einer Zauberin gemacht.

Oft hatte Lukas schon daran gedacht, das Grimorium zu vernichten, es einfach zu verbrennen oder in tausend Fetzen zu zerreißen. Aber er wusste, dass ihm Elsa das nie verziehen hätte.

»Hör zu«, sagte Lukas besänftigend. »Ich weiß, dass du mir vorhin bei der Jagd nur helfen wolltest. Aber ich habe wirklich das Gefühl, du solltest die Macht des Buches nicht allzu oft nutzen. Nicht nur, weil sich sonst herumspricht, dass es auf Lohenstein vielleicht eine neue Hexe gibt, sondern auch ...« Er zögerte.

»Was auch?«, fragte Elsa und wischte sich über den fettigen Mund.

»Weil ... weil das Buch dich verändert.«

Elsa lachte. »Wie meinst du das? Weil es mich älter macht? Reifer, erwachsener? Weil ich nicht mehr deine kleine süße Schwester bin?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie oft habe ich euch in den letzten Monaten schon damit helfen können? Denk nur an die Räuber, die ich vertrieben habe.«

»Du hast zwei von ihnen die Haare angezündet«, sagte Lukas leise. »Sie brannten wie trockenes Stroh. Einer der Räuber schaffte es nicht mehr rechtzeitig zum Bach und starb elendig.«

»Eine gerechte Strafe.« Elsa nickte mürrisch. »Sie hätten uns sonst abgestochen wie die Hühner.«

»Und die Küchenmagd mit den roten Pusteln im Gesicht?«

»Sie war frech zu mir. Ich fand, die Pusteln standen ihr.« Elsa kicherte und nahm sich ein weiteres Stück kalten Braten.

»Sie hat bitterlich geweint, als sie die Burg verließ. Wir wissen nicht, was sie in Heidelberg erzählt hat. Außerdem war es nicht notwendig.« Lukas beugte sich nach vorne und deutete auf das Buch. »Was machst du demnächst, wenn das Gerstenmus auf dem Herd anbrennt? Den Koch in eine schleimige Kröte verwandeln?«

»Dummkopf! Du weißt, dass ich das gar nicht kann. Selbst wenn ich es wollte. Ich habe das Grimorium noch lange nicht genug erforscht. All die Zeichen und Runen, die darinstehen. Manchmal sprechen sie zu mir wie kleine schwarze Engel ...« Elsa wurde plötzlich ganz still. Sie schüttelte sich, als müsste sie einen bösen Traum abstreifen. »Aber in einem gebe ich dir recht. Ich sollte vorsichtiger mit dem Buch sein.« Sie stand auf, nahm das Grimorium wie einen Beutel explosives Schießpulver zwischen zwei Finger und trug es zum Regal, wo eine schwere, eisenbeschlagene Schatulle stand. Dort hinein sperrte sie das Buch, der Schlüssel hing an einer Kette um ihren Hals. »Ich spüre, dass ER es noch immer will«, flüsterte sie. »Und auch mich will er. Weil ... weil ich seine Tochter bin.«

Ihre Stimme brach und Lukas drückte sie fest an sich. Elsa hasste Schönborn - und trotzdem war er ihr Vater! Sie war das Kind einer weißen Hexe und eines schwarzen Zauberers. Diese Erkenntnis ließ sie manchmal viel älter wirken als ihre elf Jahre. In diesen Augenblicken glaubte Lukas in die Augen einer alten Frau zu blicken. Dabei war sie doch nur seine kleine Schwester.

»Vergessen wir das Buch für eine Weile«, tröstete er sie. »Was hältst du davon, wenn wir hoch auf den Burgturm gehen und die Sterne betrachten? So wie früher, als die Eltern noch lebten.«

Elsa lächelte dankbar. »Ja, so wie früher. Lass uns einfach wieder Bruder und Schwester sein. Das sind wir doch, oder?«

Sie drückte sich fest an ihn, dann eilten sie auf Zehenspitzen hinaus auf den Gang, über den Hof und schließlich die Treppe zum Turm empor. Wie zwei ganz normale Kinder auf einem heimlichen nächtlichen Ausflug.

Doch Lukas wusste, dass sie keine normalen Kinder waren.

Keiner von ihnen beiden.

2

»Haltet eure Deckung hoch, verflucht! Sonst bohrt der Feind Löcher in euch wie in einen Mehlsack. Und Zornhau, Finte, Ausfall, Zwerchhau! Himmelherrgott, ich sagte Zwerchhau und nicht Kitzeln und Streicheln!«

Die breiten Arme in die Seiten gestützt, saß Paulus auf dem Brunnenrand im Burghof und beobachtete von dort aus, wie sich etwa zwei Dutzend Bauernjungen im Stockkampf abmühten. Es war der Morgen des nächsten Tages. Eben erst erhob sich die Sonne hinter dem Bergfried, und schon jetzt war es so heiß wie in einem Backofen.

In zwei Reihen standen sich die Jungen gegenüber. Auch Lukas, Giovanni und Jerome hatten sich unter die Kämpfenden gemischt. Vor Lukas hielt ein dürrer zwölfjähriger Bub aus dem Nachbardorf zitternd seinen Eschenstock in die Höhe. Trotz Lukas’ aufmunternder Worte war der Respekt des Bauernjungen vor dem Grafensohn immer noch sehr groß. Vor allem in den letzten Monaten hatte sich Lukas einen legendären Ruf als Degenfechter erworben.

»Du musst besser auf deine Beine achten«, ermahnte er seinen schmächtigen Trainingspartner. »Die Beine sind ebenso wichtig wie deine Arme. Jeder Kampf ist wie ein Tanz. Siehst du, so.« Lukas machte ein paar Schritte nach vorne und zur Seite und der Junge folgte ihm. Mit der Schwerthand deutete Lukas eine Bewegung rechts an, dann schlug er ganz plötzlich links zu. Der Stock des Jungen landete auf dem Boden des Burghofs.

»Tut ... tut mir leid, junger Herr«, stammelte der Bauernbursche und senkte den Kopf. »Ich werde wohl nie ein guter Degenfechter.«

»Oh doch, das wirst du! Es ist alles nur Übung. Üben, üben, üben, jeden Tag! Und hör auf, mich ›junger Herr‹ zu nennen. Sonst hau ich dir das nächste Mal auf die Finger, dass du zwei Wochen lang keinen Löffel mehr halten kannst.« Augenzwinkernd deutete Lukas auf den Stock am Boden. »Und jetzt hebt Euer Schwert wieder auf, edler Junker. Der Kampf gegen den Drachen geht weiter. In die Ausgangshut!«

Sie gingen zurück in die Anfangsposition und der Kampf begann erneut. Diesmal gab sich der Junge mehr Mühe. Seine Beine tänzelten und er beobachtete jede einzelne von Lukas’ Bewegungen. Schließlich ging er selbst zum Ausfall über. Im letzten Moment trat Lukas einen Schritt zur Seite und der Angriff ging ins Leere.

»Schon viel besser«, lobte Lukas und klopfte dem keuchenden Jungen auf die Schulter. Er musste daran denken, wie auch sein Vater früher fast jeden Tag mit ihm geübt hatte. Oft waren seine Hände danach voller blauer Flecken gewesen.

»Verdammt, wenn ihr weiter so kämpft, können wir nur hoffen, dass sich die Schweden totlachen«, donnerte Paulus vom Brunnenrand aus. Als Sohn eines Kölner Waffenschmieds war er von den vier Freunden derjenige, der sich am besten mit Waffen auskannte. Paulus sprang herunter, nahm sich einen Prügel und begann damit, auf zwei Burschen gleichzeitig einzudreschen, bis diese fast in den Brunnen fielen. »Ochs, Unterhau, Nachreisen ... So geht das!«

»Hör auf, Paulus!«, mahnte Giovanni. »Du machst noch Mus aus ihnen. Dann siegen die Schweden auf jeden Fall.«

Grinsend hielt Paulus inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit gut zwei Monaten übten sie nun fast täglich mit den jungen Burschen aus der Gegend. Einige von ihnen waren durchaus begabt, doch die meisten konnten einen Prügel nicht von einer Mistgabel unterscheiden. Trotzdem hatten es sich die Freunde zur Aufgabe gemacht, aus den Jungen ein wehrfähiges Regiment zusammenzustellen. Sollten die Schweden oder irgendwelche anderen Söldner wieder über Lohenstein und seine Dörfer herfallen, würden sie diesmal eine böse Überraschung erleben. Allerdings drohte den Lohensteinern nun, nach der Schlacht oben bei Hameln, die Zeit knapp zu werden.

»Wenn ich daran denke, wie wir damals mit den Schwarzen Musketieren gekämpft haben«, knurrte Paulus. »Kommandant Zoltan und seine Männer hätten die Burschen hier zum Frühstück aufgefressen.«

»Die Schwarzen sind ausgebildete Söldner, die viele Jahre trainiert haben«, mahnte Lukas. »Das hier sind Bauern. Und ich finde, dafür machen sie ihre Sache ziemlich gut.«

»Gut reicht nicht. Sie müssen besser sein. Besser als die Schweden, die Dänen, die Spanier, oder welches Otterngezücht sonst noch hier im Odenwald auftaucht.« Paulus klatschte in die Hände. »Und weiter geht’s! Jeder sucht sich einen neuen Gegner!«

Die Jungen nahmen wieder ihre Plätze ein, und Lukas konnte beobachten, wie sie mit jedem Hieb ein winziges Stück besser wurden.

Noch ein Jahr!, dachte er, dann haben wir hier ein gut ausgebildetes Regiment. Doch er wusste, dass ihnen kein Jahr mehr bleiben würde. Vielleicht nicht mal mehr ein paar Monate.

Lukas blickte zu den Burgzinnen hinauf und sah Elsa, die auf der Turmplattform des Bergfrieds saß und in einem Buch schmökerte. Ihre Beine baumelten gut fünfzehn Schritt über dem Abgrund, ganz offenbar hatte sie keine Angst. Doch plötzlich schien sie etwas zu beunruhigen. Sie richtete sich auf und starrte nach Osten, wo die Heidelberger Straße zur Burg emporführte.

»Was ist?«, rief Lukas ihr zu. »Hast du etwas gesehen?«

Elsa nickte. Sie verschwand in der Bodenluke und war schon kurz darauf bei den Gefährten unten im Burghof.

»Ein ... ein einzelner Reiter kommt!«, sagte sie hastig, vom Lauf noch ganz außer Atem. »Er ist zwar noch ziemlich weit weg, aber es sieht so aus, als würde er das Gewand eines Geistlichen tragen.« Sie zögerte. »Vielleicht sogar das eines ... eines Kardinals. Ob ihm noch andere Reiter folgen, kann ich nicht sagen.«

»Schönborn!«, keuchte Lukas. »Hab ich’s doch gewusst! Vermutlich hat er ein ganzes Bataillon von päpstlichen Soldaten dabei.«

Er wandte sich an seine Freunde. »Sagt den Burgmannen und den Bauernburschen, sie sollen sich bereithalten! Wenn es wirklich der Inquisitor ist, der dort kommt, wird er uns nicht wehrlos vorfinden.«

»Worauf du deinen Arsch verwetten kannst. Diesmal entkommt mir der Schweinehund nicht!«

Paulus griff zu seinem breiten, frisch geschärften Säbel, der bislang auf dem Brunnenrand gelegen hatte. Auch Lukas, Giovanni und Jerome gürteten sich ihre Degen um. Die vier Freunde sahen sich grimmig an.

»In die Hölle!«, rief Lukas den alten Kampfspruch der Schwarzen Musketiere.

»Und darüber hinaus!«, antworteten ihm die anderen.

Dann stürmten sie auf das Burgportal zu.

Der Reiter kam langsam näher und er blieb alleine. Vom Wehrgang über dem Tor aus sahen die Freunde, dass er einen edlen Rappen ritt. Sein Gewand ähnelte dem eines Geistlichen, doch im Gegensatz zum roten Mantel eines Kardinals trug der Mann einen blauen Umhang, der merkwürdig zu leuchten schien. Es war, als würde alles Sonnenlicht von ihm verschluckt und sofort wieder zurückgeworfen. Lukas blinzelte.

»Hm, ich glaube, wir können aufatmen. Schönborn ist es nicht«, sagte er zögernd. »Wenn ich auch sein Gesicht in der Sonne ...« Er hielt inne, als ihm plötzlich klar wurde, wer da auf sie zuritt.

»Senno!«, rief Elsa überrascht. »Es ist Senno!« Sie lachte erleichtert auf. Doch dann verfinsterte sich mit einem Mal ihre Miene. »Bestimmt ist er wegen des Grimoriums hier. Er braucht nicht zu glauben, dass er es haben kann. Es ist allein mein Eigentum!«

Lukas starrte hinunter zu dem Reiter, der nun vor dem Burgtor anhielt. Er hatte Senno seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, doch dieser hatte sich kaum verändert. Er trug eine schlichte Priesterkappe und darunter einen gezwirbelten Spitzbart, der wie immer sehr gepflegt war. Aus der Nähe betrachtet, konnte Lukas einige seltsame Zeichen auf dem blauen Umhang erkennen. Ein paar der Burgmannen und Bauernburschen begannen bereits zu murmeln und sich zu bekreuzigen.

»Seid gegrüßt, meine jungen Freunde!«, rief Senno zu den Freunden empor. Er deutete auf die Burg. »Wie ich sehe, habt ihr ganze Arbeit geleistet. Als ich das letzte Mal hier war, stand kein Stein auf dem anderen.«

Senno war der Hofastrologe des Feldherrn Wallenstein. Ein zwielichtiger Sternendeuter, der den Freunden bei ihrem letzten Abenteuer geholfen hatte, das Grimorium zu finden. Paulus, Giovanni und Jerome konnten ihn nicht recht leiden, sie misstrauten ihm. Lukas hingegen schätzte seine Klugheit und sein Wissen. Senno war Schönborns größter Widersacher, er hatte den Inquisitor vor allen anderen durchschaut. Allerdings war sich auch Lukas nicht sicher, ob Senno nicht ebenso wie Schönborn nur hinter dem Grimorium her war.

»Was wollt Ihr, Sternenschwafler?«, herrschte ihn Paulus an. »Wenn Ihr die Zukunft voraussagen wollt, dann geht lieber auf den Heidelberger Jahrmarkt.«

»Wie wäre es, wenn ihr einen alten Freund erst mal einlasst?«, fragte Senno mit seiner typischen glockenhellen Stimme. »Bevor mich eure abergläubischen Burgmannen noch mit Pfeilen durchbohren.«

Lukas selbst öffnete das Burgtor. Senno war in der Zwischenzeit abgestiegen und führte seinen Rappen in den Hof. Er übergab ihm einen Diener und kam mit ausgebreiteten Armen auf Lukas und Elsa zu.

»Die Geschwister Lohenstein!«, rief er. »Wie schön, euch beide vereint und glücklich zu sehen!«

Lukas verbeugte sich, während sich Elsa verschlossen im Hintergrund hielt. Offenbar befürchtete sie noch immer, Senno wollte ihr das Grimorium wegnehmen.

»Es ist uns eine Ehre, den Hofastrologen des Feldherrn Wallenstein hier auf unserer Burg begrüßen zu dürfen«, sagte Lukas förmlich. »Fühlt Euch wie zu Hause.«

Senno zog die Augenbrauen hoch. »Oho, du sprichst ja schon wie ein echter Graf! Deine Eltern wären stolz auf dich, Lukas.« Er deutete auf die Bauernjungen, die ihn immer noch argwöhnisch musterten. »Sicher wirst du deinen Untergebenen später mal ein guter Herr sein.«

»Er ist und bleibt ein alter Süßholzraspler«, flüsterte Giovanni Lukas zu. »Ich bleibe dabei. Ich trau ihm nur so weit, wie ich spucken kann.«

»Nun lass uns doch erst mal sehen, was er überhaupt will«, gab Lukas leise zurück.

Kurz darauf saßen sie gemeinsam im Burgsaal vor dem brennenden Kamin. Durch die schmalen Fenster drang nur wenig Sonnenlicht herein, sodass Sennos Gesicht im Schatten lag. Der unheimliche blaue Mantel ließ ihn im Zwielicht beinahe schwarz erscheinen. Von dem Brot und dem Käse auf dem Tisch hatte der Astrologe nichts genommen - dafür aber um eine große Karaffe Wein gebeten.

»Mmh, einen köstlichen Rotwein habt ihr da«, sagte Senno nun, nachdem er einen tiefen Schluck aus seinem Kelch genommen hatte. Er wischte sich genüsslich über den Mund. »Von den eigenen Pfälzer Weinhängen nehme ich an, wohin euer werter Herr Kastellan just heute aufgebrochen ist.« Er seufzte. »Schade, dass ich ihn nicht kennenlernen kann.«

»Irgendetwas sagt mir, dass Ihr genau diesen Moment abgepasst habt, um uns hier zu besuchen«, erwiderte Giovanni. »Ist es nicht so?«

»Sagen wir, ich wollte ... äh, ungestört mit euch sprechen.« Senno sah sich um. »Sind wir das hier? Ungestört?«

»Die Bauernburschen haben wir alle wieder heimgeschickt und das Gesinde ist drüben in der Küche«, sagte Lukas. »Also, redet schon! Warum seid Ihr hier?«

»Nur nicht so ungeduldig, junger Graf.« Senno nahm einen weiteren tiefen Schluck. Erst dann fing er an zu sprechen, wobei sein Gesicht plötzlich sehr ernst wirkte.

Lukas spürte, dass das nette Geplauder nun offensichtlich zu Ende war.

»Könnt ihr euch noch erinnern, wie ich euch bei meinem letzten Besuch vom Schwert Kaiser Karls des Großen erzählt habe?«, fragte Senno.

»Ihr meintet, es sei verschollen«, erinnerte sich Lukas. »Finstere Mächte hätten es gestohlen.«

»In der Tat, finstere Mächte.« Der Astrologe nickte düster. »Und das, obwohl das Schwert eines der hochverehrten Reichsinsignien ist.«

»Der Reichs... was?« Jerome sah ihn verständnislos an. »Je ne comprends ...«

»So was kann auch nur ein dummer Froschfresser sagen.« Giovanni verdrehte die Augen. »Lernt ihr denn gar nichts da drüben in Frankreich außer Wein, Weib und Tanz? Die Reichsinsignien sind die heiligsten Gegenstände des Deutschen Reichs! Man braucht sie, um einen neuen Deutschen König zu krönen. Wie war das noch mal ...« Er zählte an den Fingern ab. »Das Schwert, die Reichskrone, das Zepter, die Heilige Lanze, das Kreuz, der Reichsapfel und noch einen Haufen anderer Gegenstände. Soweit ich weiß, liegen sie alle gut verwahrt in Nürnberg.«

»Tja, du Klugscheißer, das tun sie wohl nicht mehr«, fuhr Paulus dazwischen und goss sich einen Krug Bier ein. Im Gegensatz zu Lukas und den anderen ließ er sich gerne das herbsüße Gesöff schmecken. »Zumindest das Schwert ist nicht mehr dort, wenn ich den Herrn Sternenschwafler hier richtig verstanden habe.«

Senno hob verärgert die Augenbrauen. »Das ist, äh ... richtig. Nur ist das bisher keinem aufgefallen. Es gibt in Nürnberg eine gut gemachte Fälschung, außerdem liegt die letzte Krönung schon eine Weile zurück. Nun ist es jedoch leider geschehen, dass auch andere Reichsinsignien spurlos verschwunden sind.«

»Spurlos verschwunden?« Elsa sah Senno skeptisch an. »Solche wertvollen Dinge lösen sich doch nicht einfach in Luft auf, oder? Hat man sie denn nicht gut genug weggesperrt?«

»Nun, das Reichsschwert wurde tatsächlich vor längerer Zeit aus dem Nürnberger Heilig-Geist-Spital gestohlen. Wie genau, weiß keiner.« Senno runzelte die Stirn. »Die Krone wiederum befand sich kurzzeitig in Wien, für eine festliche Zeremonie des Kaisers. Sie verschwand dort vor einigen Monaten. Und nun ist auch noch das Zepter abhandengekommen! Der Kaiser selbst hatte es seinen Generälen mitgegeben, in der Hoffnung, dass es ihnen den Sieg schenken werde. Wenn ihr mich fragt, eine echte Schnapsidee.« Er schüttelte den Kopf. »Auf das Zepter aufpassen sollte ein gewisser Leopold von Torgau mit einer Einheit Schwarzer Musketiere ...«

»Torgau!«, rief Giovanni dazwischen. »Den hat Kommandant Zoltan tatsächlich öfter mal erwähnt. War wohl ein alter Kampfgefährte von ihm.«

Auch Lukas erinnerte sich jetzt an ein Gespräch mit Zoltan, bei dem der Name Torgau gefallen war. Lukas hatte zum Kommandanten der Schwarzen Musketiere immer ein besonders enges Verhältnis gehabt - auch deshalb, weil Zoltan seinen Vater gut gekannt hatte.

Senno nickte und nahm einen weiteren Schluck Wein. »Leopold von Torgau war einer der besten Schwarzen. Aber auch er hat nicht verhindern können, dass das Zepter in der Schlacht bei Hameln gestohlen wurde.«

»Wir haben von dieser Schlacht bereits gehört«, sagte Paulus. »Weiß man denn schon, wer das Zepter gestohlen hat?«

»Nun, äh ... leider kann uns der gute Torgau nicht mehr mitteilen, wer der Dieb war. Friede seiner Seele ...« Senno räusperte sich. »Aber ich habe so einen Verdacht, wer dahintersteckt. Ihr kennt ihn alle.«

Lukas fuhr von seinem Schemel hoch, sein Herz schlug plötzlich sehr heftig. »Ihr meint ...«

»In der Tat.« Mahnend hob Senno die Hand. »Alles deutet darauf hin, dass es Waldemar von Schönborn war. Zumindest in der Schlacht bei Hameln wurden seine verfluchten Gefrorenen gesehen. Diese seelenlosen Untoten! Und auch bei den beiden anderen Diebstählen ging es wohl nicht mit echten Dingen zu.«

»Aber was will Schönborn denn mit diesen Reichsinsignien?« Elsa sah Senno skeptisch an. »Wohl kaum deutscher König werden, oder?«

Senno lachte sein glockenhelles Lachen. »Das nun nicht gerade. Aber mit drei der wichtigsten Insignien kann er das Reich erpressen. Der jetzige Kaiser Ferdinand ist alt und gebrechlich. Vermutlich wird schon bald eine neue Krönung anstehen. Dann kann Schönborn mit den Reichsinsignien von den deutschen Fürsten fordern, was er will.« Er senkte die Stimme. »Schon jetzt ist er Kardinal in Rom. Wenn er auch noch der Beichtvater des neuen Kaisers wird, ist das Reich einem schwarzen Hexer ausgeliefert. Und das in solch schlimmen Zeiten!«

»Eine wirklich tragische Geschichte«, erwiderte Jerome und zuckte die Achseln. »C’est horrible! Aber was haben wir damit zu tun?«

»Ihr nichts. Aber sie.« Sennos dünner Finger zeigte auf Elsa, die zusammenzuckte. »Wenn jemand Schönborn die Insignien wieder abluchsen kann, dann ist es dieses Mädchen. Nur Elsa ist dazu in der Lage!«

Eine Weile sagte keiner etwas.

Endlich räusperte sich Lukas. »Nennt mir einen Grund, warum Elsa Lohenstein verlassen sollte, um sich einer solchen Gefahr auszusetzen.« Mit verschränkten Armen musterte er Senno. »Nur einen!«

»Vielleicht weil es um das Schicksal des Deutschen Reiches geht und nur Elsa Schönborn wirklichen Widerstand leisten kann?«, entgegnete Senno. »Vergesst nicht, sie ist nach dem Tod ihrer Mutter die letzte der Weißen!«