Der Hexer und die Henkerstochter - Oliver Pötzsch - E-Book

Der Hexer und die Henkerstochter E-Book

Oliver Pötzsch

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Beschreibung

1666: Der Schongauer Medicus Simon und seine Frau Magdalena, die Tochter des Henkers, brechen zu einer Wallfahrt ins Kloster Andechs auf. Dort lernt Simon den mysteriösen Frater Virgilius kennen, der Uhrmacher und Erfinder ist. Simon ist fasziniert von den unheimlichen Automaten, die Virgilius erschaffen hat. Als der Frater verschwindet und sein Labor zerstört wird, ahnt Simon Böses und ruft Jakob Kuisl, den Schongauer Henker herbei. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche – nach einem wahnsinnigen Mörder … Die Henkerstochter ermittelt zum 4. Mal.

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Das Buch

Der Schongauer Medicus Simon Fronwieser und seine Frau Magdalena, die Tochter des Henkers, machen sich im Sommer 1666 auf zu einer Wallfahrt nach Andechs, um Gott für die Heilung ihrer beiden kleinen Söhne zu danken. Doch kaum sind sie im Kloster angekommen, wird ein Novize ermordet. Bei einem Unfall in seiner Werkstatt verschwindet der rätselhafte Uhrmacher Frater Virgilius, der auch menschenähnliche Automaten baut, spurlos, sein Gehilfe verbrennt bis zur Unkenntlichkeit.

Der Abt bittet Simon um Hilfe bei der Aufklärung der Morde, doch die anderen Mönche glauben fest an Hexerei. Als im zerstörten Haus des Uhrmachers das Okular des Apothekers Frater Johannes gefunden wird, scheint der Schuldige festzustehen. Der Apotheker wird als Hexer verhaftet und dem Landrichter übergeben, obwohl er seine Unschuld beteuert. Magdalena entdeckt, dass es sich bei Frater Johannes um einen alten Freund ihres Vaters handelt, und schickt per Kurier einen Hilferuf nach Schongau: Der Henker Jakob Kuisl muss nach Andechs kommen und den wahren Mörder finden.

Von Oliver Pötzsch sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Henkerstochter Die Henkerstochter und der schwarze Mönch Die Henkerstochter und der König der Bettler Die Ludwig-Verschwörung

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage April 2012 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012 Dieses Werk wurde vermittelt von der Autoren- & Projektagentur Gerd F. Rumler (München) Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: Paar: © akg-images/Erich Lessing, Stich auf Umschlag: © akg-images Karten von Kloster Andechs und Bayern: © Peter Palm, Berlin Satz und eBook LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0105-1

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Für Marian, Wolfgang, Martin, Vitus, Michi und all die anderen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und das Schwert in einem fast perfekten Halbkreis schwingend …

Schongauer Pilger

Magdalena Fronwieser (geborene Kuisl), Henkerstochter

Simon Fronwieser, Schongauer Bader

Karl Semer, Erster Schongauer Bürgermeister

Sebastian Semer, Sohn des Ersten Bürgermeisters

Jakob Schreevogl, Hafner und Schongauer Ratsherr

Balthasar Hemerle, Altenstadter Zimmermann

Konrad Weber, Stadtpfarrer

Andre Losch, Lukas Müller, Hans und Josef Twangler, Maurergesellen

Weitere Schongauer

Jakob Kuisl, Schongauer Scharfrichter

Anna-Maria Kuisl, Frau des Scharfrichters

Die Kuisl-Zwillinge Georg und Barbara

Peter und Paul, Kinder von Magdalena und Simon Fronwieser

Martha Stechlin, Hebamme

Die Berchtholdt-Brüder Hans, Josef und Benedikt

Johann Lechner, Gerichtsschreiber

Kloster Andechs

Maurus Rambeck, Andechser Abt

Bruder Jeremias, Prior

Bruder Eckhart, Cellerar

Bruder Laurentius, Novizenmeister

Bruder Benedikt, Kantor und Bibliothekar

Frater Virgilius, Uhrmacher

Vitalis, Novize und Uhrmachergehilfe

Frater Johannes, Apotheker

Coelestin, Novize und Apothekergehilfe

Außerdem …

Michael Graetz, Erlinger Schinder

Matthias, Schindergeselle

Graf Leopold von Wartenberg, Wittelsbacher Abgesandter

Graf von Cäsana und Colle, Weilheimer Landrichter

Meister Hans, Weilheimer Scharfrichter

Erling bei Andechs Samstag, der 12. Juni Anno Domini 1666, abends

Unter dunklen Gewitterwolken und mit einem saftigen Fluch auf den Lippen ging der Novize Coelestin seinem baldigen Tod entgegen.

Drüben im Westen, jenseits des Ammersees, türmten sich schwarze Wirbel zu einem mächtigen Ungetüm, erste Blitze zuckten, und von fern war leises Donnern zu hören. Wenn Coelestin die Augen zusammenkniff, konnte er über der fünf Meilen entfernten Dießener Kloster­kirche bereits graue Regenschwaden erkennen. Es mochte sich nur noch um Minuten handeln, bis das Gewitter über dem Heiligen Berg war, und ausgerechnet jetzt sollte er dem fetten Apothekermönch zum Abendessen ­einen Karpfen aus dem Klosterweiher fischen. Coelestin fluchte ein weiteres Mal und zog die Kapuze seiner schwarzen Kutte tief ins Gesicht. Was sollte er machen? Gehorsam war eines der drei Gelübde der Benediktinermönche, und Frater Johannes war nun mal sein Vorgesetzter. Ein gelegentlich cholerischer, oft rätselhafter und vor allem gefräßiger Laienbruder, aber trotzdem sein Vorgesetzter.

»Porca miseria!«

Wie so oft, wenn er schlechte Laune hatte, wechselte Coe­le­stin in die Sprache seiner Eltern. Er war in einem italienischen Gebirgsdorf jenseits der Alpen aufgewachsen, doch die Wirren des Krieges hatten aus seinem Vater einen Söldner und aus seiner Mutter eine Marketenderin und Hure gemacht. Hier im Kloster am Heiligen Berg hatte ­Coelestin in der Andechser Klosterapotheke eine Heimat gefunden, und auch wenn ihm die ewigen Litaneien und die nächtlichen Gebete gelegentlich auf die Nerven gingen, fühlte er sich doch geborgen. Er bekam dreimal täglich reichlich zu essen, hatte eine warme, trockene Schlafstatt, und das Andechser Bier galt als eines der besten im ganzen bayerischen Kurfürstentum. Man konnte es in diesen schweren Zeiten wahrlich schlim­mer treffen. Trotzdem schimpfte der spindeldürre klei­ne Novize leise vor sich hin, und das hatte nicht nur mit der Tatsache zu tun, dass er bald ebenso nass sein würde wie die Karpfen im Erlinger Klosterweiher.

Coelestin hatte Angst.

Seitdem er vor drei Tagen diese Entdeckung gemacht hatte, nagte die Furcht an ihm wie ein kleines tollwütiges Tier. Der Anblick war so entsetzlich gewesen, dass ihm beinahe das Blut in den Adern gefror. Noch immer verfolgte ihn das Gesehene in seinen Träumen, und dann wachte er schreiend und schweißüberströmt auf. Einen derartigen Frevel würde Gott nicht unbestraft lassen, so viel war sicher. Die düsteren Wolken, die Blitze am Himmel erschienen Coelestin wie erste Vorboten einer alttestamentarischen Rache, die schon bald über das Kloster kommen würde.

Noch bedrohlicher als die Ketzerei waren allerdings die hasserfüllten Blicke des Mannes. Er hatte Coelestin bei dessen überstürzter Flucht erkannt, zumindest glaubte der Novize das. Die Blicke des Ertappten sagten mehr als tausend Worte. In den letzten Tagen hatten sie ihn wie mit langen Fingern abgetastet, so als wollten sie prüfen, ob Coelestin das Geheimnis verriet.

Coelestin wusste, dass der andere mächtige Fürsprecher hatte. Würde man ihm, dem kleinen Novizen, glauben? Der Vorwurf war so ungeheuerlich, dass er Gefahr lief, für verrückt erklärt zu werden. Oder, was noch ärger wäre, fortan als Rufmörder zu gelten. Das schöne Leben mit Fleisch, Bier und warmer, trockener Schlafstatt wäre dann vermutlich für immer vorbei.

Trotzdem hatte Coelestin beschlossen zu reden. Gleich morgen würde er dem Klosterrat melden, was er gesehen hatte, und sein Gewissen wäre endlich wieder rein.

Ein mächtiger Donner rollte über das Land, und der fröstelnde Novize spürte erste kühle Regentropfen im Gesicht. Er raffte seine Kutte und beschleunigte seine Schritte. Schon bald hatte er die letzten Häuser von Erling hinter sich ge­lassen. Felder und Weiden breiteten sich vor ihm aus, hinter einem kleinen Waldstück, umgeben von Zäunen und Buschwerk, lag der Karpfenweiher. Als Coelestin sich umdrehte, sah er über sich auf dem Berg, überragt von dunklen Gewitterwolken, das Kloster stehen – sein Zuhause, das er vielleicht schon bald würde verlassen müssen. Er seufzte und schlurfte die letzten Meter zum Weiher wie zu seiner eigenen Hinrichtung.

Mittlerweile fielen die Tropfen immer schneller vom Himmel, die Oberfläche des Teichs brodelte wie eine giftige Brühe. Coelestin sah die fetten grauen Leiber der Karpfen, die sich zu Dutzenden in dem trüben Wasser wanden. Ihre hungrigen Mäuler schnappten nach den Regentropfen, so als wären sie göttliches Manna, das vom Himmel fiel. Coelestin schüttelte sich vor Abscheu. Er hatte Karpfen noch nie leiden können. Sie waren dumme schleimige Aasfresser, deren Fleisch nach Moos und Verwesung schmeckte. Die Fische erinnerten ihn an die Ungetüme, die er von Bildern mit Jonas und dem Wal kannte. Grässliche Wesen aus der Tiefe, die alles schluckten und fraßen, was vor ihnen im Wasser zappelte.

Zaghaft betrat Coelestin den schmalen, rutschigen Steg und griff nach dem Kescher, der an einem Molenpfosten lehnte. Die Kapuze tief im Gesicht, duckte er sich gegen die Wand aus Regen und Wind und ließ lustlos das Netz im Wasser hin und her gleiten. Wenn er sich beeilte, war er vielleicht wieder in der Klosterapotheke, bevor auch noch die Hose und die Socken unter der dicken schwarzen Wollkutte klatschnass wurden. In einem anderen Leben hätte er Frater Johannes den Karpfen vermutlich um die feisten Wangen gehauen, aber so war er zum Beten und Gehorchen verdammt. Das war eben der Preis, den er für ein angenehmes Leben bezahlte.

Ein Geräusch ließ den Novizen innehalten, ein leises Knarren, vom Donner beinahe übertönt, so als hätte jemand hinter ihm den Steg betreten. Doch gerade als Coelestin sich um­drehen wollte, zappelte etwas im Netz des Keschers. Mit einem Seufzer der Erleichterung zog er die lange Stange zu sich her­an.

»Hab dich«, murmelte er. »Wollen mal sehen, was für ein fetter Brocken …«

In diesem Augenblick traf ihn etwas Schweres am Hinterkopf.

Coelestin schwankte, taumelte, geriet auf dem vom ­Regen glitschigen Holzsteg ins Rutschen und fiel schließlich samt Kescher in die brodelnden Wasser des Weihers. Wild schlug er um sich und kämpfte um sein Leben. Wie so viele Menschen seiner Zeit konnte Coelestin zwar einem Hasen die Haut abziehen, einige Hundert Kräuter am Duft unterscheiden und weite Teile der Bibel auswendig vorbeten. Nur eines konnte er nicht – schwimmen.

Der junge Novize schrie und zappelte, er ruderte mit den Armen und strampelte mit den dünnen Beinen, doch sein eigenes Gewicht zog ihn unerbittlich in die Tiefe. Mit einem Mal spürte er den morastigen Grund unter seinen Füßen, er stieß sich ab und tauchte japsend aus dem Wasser auf. Als er in letzter Verzweiflung um sich griff, bekam er plötzlich die Stange des Keschers zu fassen, der vor ihm an der Oberfläche trieb. Der Mönch hielt sich daran fest und zog sich hoch. Zwischen den immer heftiger werdenden Regenschauern sah er auf dem Steg eine vermummte Gestalt stehen, die das andere Ende des Keschers hielt.

»Hab Dank!«, ächzte er. »Du hast mir das Leben …«

In diesem Moment drückte die Gestalt den Kescher nach unten, so dass Coelestin gurgelnd versank. Als er wieder an die Oberfläche kam, merkte er, dass die Stange ihn erneut kraftvoll nach unten presste.

»Aber …«, begann der Novize, da füllte sich sein Mund mit trübem Teichwasser und erstickte seinen letzten verzweifelten Schrei. Lautlos versank er im Weiher.

Während das Leben in perlenden Luftblasen aus seinem Körper wich, fühlte Coelestin noch, wie sich die fetten schleimigen Karpfen an seinen Wangen rieben und in den kurzen Haaren der Mönchstonsur gründelten. Als der sterbende Jüngling endlich auf den Grund sank, hatte er den Mund ebenso weit aufgesperrt wie die Fische um ihn her­­um, die ihn mit dummen, ausdruckslosen Augen anstarrten.

Der Mann auf dem Steg sah noch eine Weile auf die blubbernden Blasen. Endlich nickte er zufrieden, stellte den Kescher zurück an seinen Platz und machte sich auf den Heimweg.

Es galt, das Werk zu vollenden.

Zur gleichen Zeit in den Wäldern unterhalb des Heiligen Berges

er Blitz fuhr vom Himmel wie der Finger eines zornigen Gottes.

Simon Fronwieser erblickte ihn direkt über dem Ammersee, wo er die schaumigen grünen Wogen für den Bruchteil einer Sekunde giftig aufleuchten ließ. Mit dem darauffolgenden Donner begann der Regen herabzurauschen, eine schwarze nasse Wand, und innerhalb weniger Augen­blicke waren die Kleider der rund zwei Dutzend Schongauer Pilger tropfnass. Obwohl es erst gegen sieben Uhr abends war, schien plötzlich die Nacht hereingebrochen zu sein. Der Medicus fasste die Hand seiner Frau Magdalena fester, und gemeinsam mit den anderen machten sie sich daran, den steilen Berg zum Kloster Andechs hinaufzusteigen.

»Wir haben Glück gehabt!«, schrie Magdalena gegen den tosenden Regen an. »Eine Stunde früher, und das Gewitter hätte uns ungeschützt auf dem See erwischt!«

Simon nickte schweigend. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Schiff mit Wallfahrern in den Fluten des Ammersees mit Mann und Maus untergegangen wäre. Jetzt, knapp zwanzig Jahre nach dem Ende des Großen Krieges, waren die Pilgerströme zu dem berühmten bayerischen Kloster so groß wie seit Menschengedenken nicht mehr. In dieser von Hunger, Unwettern, gierigen Wölfen und marodierenden Räuberbanden geprägten Zeit suchten die Menschen besonders dringlich Schutz in den Armen der Kirche. Gelegentliche Wundermeldungen nährten diese Sehnsucht noch, und gerade das Kloster Andechs, gut dreißig Meilen südwestlich von München gelegen, war bekannt für seine uralten wundertätigen Reliquien – aber auch für sein Vergessen spendendes Bier.

Als der Medicus sich noch einmal umdrehte, sah er zwischen den Regenschwaden den vom Wind aufgepeitschten See, dem sie gerade noch entronnen waren. Vor zwei Tagen war er mit Magdalena und einem Trupp Schongauer aus ihrer Heimatstadt aufgebrochen. Die Pilgerfahrt hatte sie über den Hohenpeißenberg nach Dießen am Ammersee geführt, wo sie ein wackliger Kahn zur anderen Uferseite brachte. Nun wanderten sie auf einem steilen, matschigen Pfad durch den Wald auf das Kloster zu, das weit über ­ihnen dunkel aus den Wolken ragte.

An der Spitze des Zuges trabte auf einem Pferd Bürgermeister Karl Semer, zu Fuß gefolgt von seinem erwachsenen Sohn und dem Schongauer Pfarrer, der sich mit einem großen bemalten Holzkreuz gegen den Sturm stemmte. Dann kamen einige Zimmerleute, Maurer und Schreiner und schließlich der junge Patrizier Jakob Schreevogl, der als einziger Ratsherr neben Semer dem Aufruf zur Wallfahrt gefolgt war.

Simon vermutete, dass es Schreevogl dabei genau wie dem Bürgermeister nicht so sehr um sein Seelenheil, sondern eher um gute Geschäfte ging. Ein Ort wie Andechs mit seinen Tausenden von hungrigen und durstigen Pilgern war wie geschaffen dafür, Geld zu scheffeln. Der Medicus hätte gern gewusst, was der Herrgott von diesem Treiben hielt. Hatte Jesus nicht alle Händler und Geldverleiher aus dem Tempel gejagt? Nun, er selbst hatte in dieser Hinsicht ein reines Gewissen. Schließlich waren er und Magdalena nicht zum Geldverdienen nach Andechs gekommen, sondern allein um Gott für die Rettung ihrer beiden Kinder zu danken.

Unwillkürlich musste Simon lächeln, als er an den dreijährigen Peter und den erst zweijährigen Paul zu Hause dachte. Ob die beiden ihren Großvater, den Schongauer Henker, wohl gerade wieder zur Weißglut brachten?

In diesem Augenblick schlug ein weiterer Blitz krachend in eine nahe stehende Buche ein, und die Menschen warfen sich schreiend zu Boden. Es knackte und knisterte, schon sprangen erste Funken auf andere Bäume über. In Sekundenschnelle schien der ganze Wald zu brennen.

»Heilige Maria, Mutter Gottes!«

Simon sah im Zwielicht, wie der Erste Bürgermeister Karl Semer einige Schritte entfernt auf die Knie fiel und sich mehrmals bekreuzigte. Sein Sohn neben ihm war vor Angst wie versteinert. Mit weit geöffneten Augen starrte er auf die bren­nende Buche, während um ihn herum die anderen Schongauer vor dem Gewitter in eine nahe Talsenke flohen. Simons Ohren dröhnten von dem markerschütternden Donner, der zugleich mit dem Blitz direkt über ihnen erschallt war. Gedämpft wie durch eine Wand hörte er die Stimme seiner Frau.

»Schnell weg von hier! Dort unten am Bach sind wir in Sicherheit!« Magdalena packte ihren noch zögernden Gatten und zog ihn weg von dem schmalen Steig, an dessen Rand bereits zwei Buchen und eine Reihe kleinerer Tannen in Flammen standen. Simon stolperte über einen morschen Ast, dann rutschte er den flachen, von altem Laub bedeckten Abhang hinunter. Endlich unten angekommen, richtete er sich stöhnend auf, wischte sich ein paar Zweige aus dem Haar und warf einen Blick auf das apokalyptische Chaos um ihn herum.

Der Blitz hatte die mächtige alte Buche genau in der Mitte gespalten, bis in die Talsenke herab lagen überall auf dem Boden brennende Äste und Zweige. Die Flammen warfen ein flackerndes Licht auf die Schongauer, die stöhnten, beteten oder sich die vom Sturz schmerzenden Glieder rieben. Glücklicherweise schien keiner von ihnen verletzt, auch der Erste Bürgermeister und sein Sohn hatten das ­Unglück offensichtlich unbeschadet überstanden. Der alte Semer war bereits damit beschäftigt, in der beginnenden Abenddämmerung sein Pferd zu suchen, das samt Gepäck davongaloppiert war.

Simon spürte eine leise Genugtuung, als er ihn laut brüllend durch den Wald hasten sah.

Hoffentlich ist die Mähre samt der dicken Geldbörse durchgegangen, dachte er. Wenn der fette Sack noch einmal vom Sattel aus ein Halleluja anstimmt, begeh ich eine Todsünde.

Schnell verdrängte Simon diesen Gedanken, der einer Pilgerreise nicht würdig war. Er verfluchte sich leise, dass er keinen wärmeren Mantel mitgenommen hatte. Das neue grüne Wollcape vom Augsburger Stoffmarkt sah zwar schmuck aus, allerdings hing es nun nach dem Regen wie ein labbriges Tuch an ihm.

»Man möchte fast glauben, Gott hätte was dagegen, dass wir dem Kloster heute noch einen Besuch abstatten.«

Simon Fronwieser drehte sich zu Magdalena um, die das Gesicht gen Himmel gerichtet hatte und sich den Regen über die schlammbespritzten Wangen rinnen ließ.

»Gewitter sind in dieser Jahreszeit ziemlich häufig«, erwiderte er betont beiläufig und bemühte sich, wieder einigermaßen gefasst zu klingen. »Ich glaube nicht, dass …«

»Ein Zeichen ist’s!«, erklang von rechts eine zitternde Stimme. Es war Sebastian Semer, der Sohn des Bürgermeisters, der die Finger seiner rechten Hand in einer Schutzgeste vor sich hielt. »Ich habe gleich gesagt, dass wir das Weib zu Hause lassen sollen.« Er deutete auf Magdalena und Simon. »Wer eine Henkerstochter und einen dreckigen Bader auf eine Pilgerreise zum Heiligen Berg mitnimmt, der kann auch gleich den Beelzebub einladen. Der Blitz ist ein Zeichen Gottes, der uns mahnt, Buße zu tun und …«

»Halt deine freche Gosch’n, Semer-Bub!«, zischte Magdalena und blitzte den Jüngling aus schmalen Augen an. »Was weißt du denn schon vom Büßen, hä? Wisch dir lieber deine Hosen ab, bevor die anderen merken, dass du dich vor Angst angepieselt hast.«

Verschämt glotzte Sebastian Semer auf den dunklen Fleck vorne an seiner weit geschnittenen purpurroten Rheingrafenhose. Dann wandte er sich schweigend ab, nicht ohne Magdalena ein letztes Mal mit einem bösen Blick zu strafen.

»Hört nicht auf ihn. Der kleine Filou ist nichts weiter als ein verwöhnter Zögling seines Vaters.«

Aus der Dunkelheit des Waldes trat nun Jakob Schreevogl hervor. Der Patrizier trug ein enges Wams, hohe Lederstiefel und einen weißen Spitzenkragen, der ein markantes Gesicht mit Knebelbart und Hakennase einrahmte. Der Regen lief in einem feinen Rinnsal von seinem Zier­degen herab.

»Im Übrigen gebe ich Euch recht, Fronwieser.« Schreevogl wandte sich an Simon und deutete zum Himmel. »Im Juni sind solche heftigen Gewitter nichts Ungewöhn­liches. Doch wenn die Blitze direkt neben einem einschlagen, glaubt man den Zorn Gottes zu spüren.«

»Oder den Zorn seiner Mitmenschen«, fügte Simon düster hinzu.

Fast vier Sommer war die Hochzeit mit Magdalena nun her, und in der ganzen Zeit hatten nicht wenige Schongauer Bürger Simon spüren lassen, was sie von dieser Ehe hielten. Als Tochter des Scharfrichters Jakob Kuisl war Magdalena eine Ehrlose, der man tunlichst aus dem Weg ging.

Simon nestelte an seinem Gürtel und überprüfte, ob der Sack mit Heilkräutern und medizinischen Instrumenten noch daran befestigt war. Gut möglich, dass er ein paar seiner Arzneien auch während dieser Wallfahrt brauchen würde. Die Schongauer hatten seine Hilfe in den letzten Jahren ziemlich oft in Anspruch genommen. Zwar spukte der Große Krieg nur noch in den Köpfen der Alten, doch die Pest und andere Seuchen waren in den letzten Jahren immer wieder über Schongau gekommen. Im letzten Winter hatte es auch Simons und Magdalenas Söhne getroffen. Aber der Herrgott hatte ein Einsehen gehabt und die beiden Kleinen genesen lassen. In den Tagen danach betete Magdalena viele Rosenkränze und überredete Simon schließlich, mit ihr nach Pfingsten eine Pilgerreise zum Heiligen Berg anzutreten – gemeinsam mit knapp zwei Dutzend anderer Schongauer und Altenstadter Bürger, die auf dem berühmten Dreihostienfest dem Herrgott ihre Dankbarkeit erweisen wollten. Die beiden Kinder hatten Simon und Magdalena in der Obhut der Großeltern zurückgelassen. Eine weise Entscheidung, wie sich der Medicus nach den Vorfällen der letzten Stunde einmal mehr eingestehen musste.

»Sieht so aus, als würde der Regen das Feuer endgültig löschen.« Jakob Schreevogl deutete auf die zerborstene Buche, aus der nur noch wenige Flammen züngelten. »Wir sollten weitergehen. Bis Andechs kann es nicht mehr weit sein. Vielleicht noch ein, zwei Meilen, was meint Ihr?«

Simon zuckte mit den Schultern und sah sich um. Auch die anderen Bäume schwelten nur noch leicht vor sich hin. Dafür war der Regen jetzt so stark geworden, dass man in der Abenddämmerung kaum noch die Hand vor Augen sah. Die Schongauer hatten unter ein paar nahe gelegenen Tannen Schutz gesucht, um den schlimmsten Guss abzuwarten. Nur Karl Semer schien noch immer sein Pferd zu vermissen und tappte irgendwo in der Nähe laut rufend durch den Wald. Sein Sohn hatte es währenddessen vorgezogen, schmollend auf einem umgestürzten Baumstamm zu hocken und sich mit Hilfe einer mitgebrachten Schnapsflasche die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben. Stirnrunzelnd sah Hochwürden Konrad Weber zu dem jungen Stutzer hinüber, schritt aber nicht ein. Der alte Schongauer Pfarrer würde den Teufel tun und sich mit dem Filius des Ersten Bürgermeisters anlegen.

Die Pilger hatten sich gerade ein wenig beruhigt, da schlug erneut, nicht weit entfernt, ein krachender Blitz ein. Wieder stoben die Schongauer wie aufgeschreckte Hühner auseinander und rannten über rutschige Abhänge und ­Muren weiter hinunter ins Tal. Das Holzkreuz des Pfarrers blieb verdreckt und zersplittert zwischen einigen Findlingen aus Bruchstein liegen.

»Bleibt doch zusammen!«, schrie Simon gegen Donner und Regen an. »Ihr müsst euch auf den Boden werfen! Am Boden seid ihr sicher!«

»Vergiss es.« Magdalena schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Die hören dich nicht. Und selbst wenn, würden sie wohl kaum einem ehrlosen Bader gehorchen.«

Simon seufzte und eilte gemeinsam mit Magdalena den anderen nach. Neben ihnen lief der Zimmermann Bal­thasar Hemerle, der noch immer die fast dreißig Pfund schwere Wallfahrtskerze trug. Ihre Flamme war mittlerweile ausgegangen, doch der starke, beinahe sechs Fuß große Hüne hielt sie dennoch so aufrecht wie eine Fahne im Krieg. Neben ihm kam sich Simon noch kleiner und schmächtiger vor, als er ohnehin war.

»Dummes Bauernpack!«, knurrte Hemerle und umrundete mit großen Schritten eine morastige Pfütze. »Ein Gewitter ist’s und sonst nichts! Wir sollten aus diesem gottverdammten Wald raus, und zwar schnell. Aber wenn die Angst­hasen weiter so rennen, verirren wir uns darin noch ganz!«

Schweigend nickte Simon und hastete weiter. Mittlerweile war es unter dem dichten Blätterdach stockfinster geworden. Von den meisten Schongauern sah der Medicus nur noch vereinzelte Schemen, von fern waren ängstliche Rufe zu hören, irgendjemand betete laut zu den vierzehn Nothelfern.

Außerdem ertönte jetzt von weiter weg das Heulen von Wölfen.

Simon zuckte zusammen. Die Biester hatten sich in den Jahren nach dem Großen Krieg stark vermehrt, mittlerweile waren sie wie die Wildschweine zu einer wahren Land­plage geworden. Einem Trupp von zwanzig entschlossenen Männern hätten die hungrigen Tiere nichts anhaben können, aber für die Schongauer, die vereinzelt durch den Wald irrten, stellten die Wölfe eine echte Gefahr dar.

Zweige schlugen Simon ins Gesicht, und er gab sich Mühe, wenigstens Magdalena und den stämmigen Balthasar Hemerle mit der Wallfahrtskerze nicht aus den Augen zu ver­lieren. Der Zimmermann war glücklicherweise so groß, dass Simon ihn immer wieder hinter Büschen und niedrigen Bäumen auftauchen sah.

Plötzlich blieb der Hüne wie angewurzelt stehen. Simon taumelte, beinahe wäre er in Hemerle und Magdalena ­hineingelaufen. Schon wollte der Medicus zu einem Fluch ­ansetzen, als er erstarrte und spürte, wie sich ihm die Na­cken­haare aufstellten.

Direkt vor ihnen auf einer kleinen Lichtung standen mit heruntergezogenen Lefzen zwei Wölfe und knurrten die drei Pilger feindselig an. Ihre Augen waren kleine rote Punkte in der Nacht, die Hinterläufe gespannt zum Sprung. Die Leiber waren dürr und ausgemergelt, so als hätten sie schon lange keine Beute mehr gemacht.

»Bewegt euch nicht!«, zischte Balthasar Hemerle. »Wenn ihr flieht, springen sie euch von hinten an. Außerdem wissen wir nicht, ob noch mehr in der Nähe sind.«

Langsam griff Simon zu seinem Leinenbeutel, in dem er neben anderen medizinischen Instrumenten und einigen Kräutern auch ein ra­sier­messerscharfes Stilett aufbewahrte. Allerdings war er skeptisch, ob ihm das kleine Messer gegen die zwei ausgehungerten Bestien helfen würde. Magdalena neben ihm machte keinen Mucks, sie starrte nur die Wölfe an. Ein paar Schritte entfernt reckte Balthasar Hemerle die schwere Kerze wie ein Schwert in die Höhe, ganz so, als wollte er damit den Kopf eines der Tiere zerschmettern.

Eine mit Wolfsblut befleckte Wallfahrtskerze!, fuhr es ­Simon durch den Kopf. Was wohl der Abt des Klosters dazu sagen würde?

»Bleib ruhig, Balthasar«, flüsterte Magdalena nach einer Weile des Schweigens dem Zimmermann zu. »Schau dir ihre gesenkten Ruten an. Die Viecher haben mehr Angst vor uns als wir vor ihnen. Lass uns also langsam zurück …«

Im selben Augenblick sprang der größere der beiden ausgehungerten Wölfe auf Simon und Magdalena zu. Der ­Medicus warf sich zur Seite und sah aus dem Augenwinkel die Bestie an sich vorbeirauschen. Doch kaum war der Wolf auf den Pfoten gelandet, drehte er sich um, um erneut anzugreifen. Das Tier riss sein Maul auf, und Simon erblickte große weiße Reißzähne, von denen der Speichel troff. Wie durch eine Linse hindurch glaubte er, jeden Speicheltropfen einzeln zu sehen. Der Wolf setzte zu einem neuen Sprung an.

Da ertönte von irgendwoher ein Knall.

Einen kurzen Moment glaubte Simon, der Blitz hätte ein weiteres Mal in der Nähe eingeschlagen. Doch dann sah er, wie sich der Wolf vor Schmerzen wand. Er kläffte und winselte, bevor er endlich zuckend zu Boden sank und krepierte. Aus einer Wunde am Hals ergoss sich rotes Blut ins Laub. Der zweite Wolf knurrte noch einmal, dann ergriff er mit einem weiten Satz die Flucht. Eine Sekunde später war er in der Dunkelheit verschwunden.

»Der Herr gab ihm das Leben, und er nimmt es ihm auch wieder. Amen.«

Zwischen den Bäumen tauchte jetzt eine breitgebaute Gestalt auf, die in der einen Hand eine rauchende Muskete und in der anderen eine brennende Laterne hielt. Der Mann trug eine schwarze Kutte und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Im strömenden Regen sah er aus wie ein zorniger Waldgeist auf der Suche nach Wilddieben.

Schließlich schlug der Fremde die Kapuze zurück, und Simon blickte in das freundliche Gesicht eines Glatzkopfs mit abstehenden Ohren, schiefen Zähnen und adern­zer­furchter Knollennase. Er war der wohl hässlichste Mensch, den Simon je gesehen hatte.

»Gestatten, Frater Johannes vom Kloster Andechs«, sagte der fette Mönch und blinzelte die drei verirrten Pilger an. »Ihr habt hier in der Gegend nicht zufällig Blutwurz wachsen sehen?«

Der Medicus, dem Angstschweiß und Regen übers Gesicht liefen, war zu erschöpft, um zu antworten. Er rutschte an einem Buchenstamm zu Boden und sprach ein kurzes Dankgebet.

So wie es aussah, würde er auf dem Heiligen Berg wohl oder übel eine weitere Kerze stiften müssen.

Eine halbe Stunde später wanderten die Schongauer Pilger unter der Führung von Frater Johannes den schmalen Steig hinauf zum Kloster.

Allesamt waren sie verschmutzt, die Kleidung teils zerrissen, teils in Fetzen, einige der Wallfahrer hatten ein paar Kratzer und Beulen davongetragen. Aber ansonsten schienen sie alle unversehrt. Sogar das Pferd des Bürgermeisters war wieder aufgetaucht. Der alte Semer ritt an der Spitze des Zugs, gleich hinter dem fetten Mönch, und versuchte einen würdevollen Eindruck zu machen – was ihm jedoch angesichts des zerbeulten Huts und des schlammverkrusteten Mantels nur annähernd gelang. Der Regen war mittlerweile in ein stetes Nieseln übergegangen, und das Gewitter zog nach Osten weiter, dem Würmsee entgegen. Nur noch von fern war leises Donnern zu hören.

»Wir haben Euch zu danken, Frater«, erklärte Karl ­Semer mit getragener Stimme. »Wärt Ihr nicht gewesen, hätten sich wohl einige von uns im Wald verirrt.«

»Verflucht dummer Plan, bei einem aufziehenden Gewitter die Straße zu verlassen und den alten Klostersteig zu benutzen«, knurrte Frater Johannes und schob den prall gefüllten Leinensack, aus dem ein paar eiserne Stangen ragten, auf die andere Schulter. »Ihr könnt von Glück reden, dass ich auf der Suche nach Heilkräutern war, sonst hätten euch Wölfe und Blitze den Garaus gemacht.«

»In Anbetracht der aufziehenden Dämmerung hielt ich es für klüger, den … äh, kürzeren Weg zu nehmen«, murmelte der Bürgermeister. »Ich gebe zu, dass …«

»Drauf geschissen.« Frater Johannes drehte sich zu den Pilgern um und betrachtete die große weiße Wallfahrtskerze, die der Zimmermann Balthasar Hemerle noch immer in seinen schwieligen Händen trug.

»Verdammt schwere Kerze, die ihr da habt«, sagte er anerkennend. »Wie weit tragt ihr sie denn schon?«

»Wir kommen aus Schongau«, mischte sich Simon ein, der mit Magdalena dicht hinter dem Mönch lief. Das Wams des jungen Medicus starrte vor Dreck, die roten Hahnenfedern auf seinem neuen Hut waren umgeknickt, und die Lederstiefel aus Augsburg brauchten vermutlich frische Sohlen. »Seit zwei Tagen sind wir unterwegs«, fuhr er müde fort. »Schon gestern bei Wessobrunn haben wir ein Rudel Wölfe heulen hören, aber sie haben nicht gewagt, uns anzugreifen.«

Frater Johannes schnaufte, während er den steilen Steig durch den Wald hinaufschritt. Die Laterne an seiner Hand baumelte hin und her wie ein huschendes Irrlicht. »Dann habt ihr großes Glück gehabt«, brummte er. »Die Bestien werden immer frecher. Hier in der Gegend haben sie schon zwei Kinder und ein Weib gerissen. Und dann plagen uns noch die vermaledeiten Vaganten und Mordbanden.« Er schlug ein hastiges Kreuz. »Deus nos protegat! Der Herr schütze uns in diesen dunklen Zeiten.«

Mittlerweile hatte sich der Wald gelichtet. Vor den Schongauern leuchteten warm und heimelig die Fenster des kleinen Dorfes Erling, das direkt unterhalb des Heiligen Berges auf einer Hochebene lag. Simon atmete erleichtert auf und drückte Magdalenas Hand. Sie hatten ihr Ziel unbeschadet erreicht – eine Gnade, die in diesen Zeiten nicht jedem zuteilwurde. Inständig hoffte er, dass es ihren beiden Kindern Peter und Paul in Schongau gut erging. Angesichts der überbordenden Liebe der Großeltern hatte er daran aber eigentlich keine Zweifel.

»Ich hoffe, ihr habt alle ein Quartier«, brummte Frater Johannes. »Ist keine Freude, in diesen klammen Juninächten draußen auf dem Feld zu schlafen.«

»Wir Schongauer Ratsherren kommen im Gästehaus des Klosters unter«, erwiderte Bürgermeister Semer kühl und deutete auf seinen Sohn und den Patrizier Jakob Schreevogl. »Die anderen werden wie vereinbart von den Bauern der Gegend verköstigt. Schließlich ist unsere Reise auch zum Nutzen der Gemeinde, nicht wahr?«

Frater Johannes lachte leise, und sein ohnehin schiefes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Erneut fiel Simon auf, wie hässlich er war.

»Wenn Ihr die Reparatur des Kirchturms meint, da muss ich Euch enttäuschen«, erwiderte der Mönch. »Den Bauern geht der Zustand des Klosters am nackten Arsch vorbei. Aber der Abt hat Brot und Fleisch all jenen Erlingern versprochen, die einen hilfsbereiten Maurer oder Zimmermann aufnehmen. Es soll also euer Schaden nicht sein.«

Semer nickte zufrieden und tätschelte den Hals seines Pferdes. »Der Herr sei gelobt!«, tönte er. »Auf mein Wort – wenn der Heiland uns gutes Wetter schickt, wird die Kirche schon bald fertig sein.«

Tatsächlich fand das Dreihostienfest, das zu den größten Wallfahrten Bayerns gehörte, erst in gut einer Woche statt. Doch Abt Maurus Rambeck hatte die Pilger der umliegenden Dörfer mittels Boten gebeten, schon früher zum Heiligen Berg zu kommen. Gut einen Monat war es nun her, dass der Blitz in den Kirchturm des Klosters eingeschlagen hatte. Der gesamte Dachstuhl war ausgebrannt, ein großer Teil des südlichen Kirchenschiffs zerstört. Damit das Wallfahrtsfest wie geplant stattfinden konnte, war die Hilfe vieler starker Arme vonnöten. Der Abt hatte den Handwerkern aus der Gegend deshalb Ablass für ein Jahr und außerdem einen guten Lohn versprochen. Ein Angebot, das nicht wenige hungrige Männer aus dem Umland nur allzu gern annahmen. Aus Schongau waren neben den üblichen Pilgern vier Maurer und ein Zimmermann gekommen, in Wessobrunn hatten sich dann noch drei Stuckateure ihrer Gruppe angeschlossen.

»Ich selbst bin wegen … äh, dringender Geschäfte hier«, ließ sich Karl Semer nun vernehmen. »Aber ich bin mir sicher, dass diese fromme Schar –«, er deutete auf den schmutzigen Haufen Schongauer, der gerade ein altes Kirchenlied anstimmte, »– nur allzu gern bereit ist, Euch bei den Bauarbeiten zu unterstützen.«

In den Häusern von Erling waren einige Fenster und ­Türen aufgegangen, argwöhnisch starrten die Dorfbewohner die Pilgergruppe an. Ein paar Hunde kläfften. Zu oft hatten Fremde in den letzten Jahrzehnten Tod und Verderben in den Ort gebracht, als dass man sie mit offenen Armen empfangen hätte. Aber wenigstens wurden die Erlinger für die lästigen Gäste diesmal reichlich entschädigt.

»Was ist das für ein Licht dort oben?«, fragte Magdalena unvermittelt und deutete auf das Kloster, das wie eine dunkle Raubritterburg über dem Dorf thronte.

»Ein Licht?« Frater Johannes starrte sie irritiert an.

»Das Licht dort oben im Kirchturm. Habt Ihr nicht selbst gesagt, der Turm sei völlig ausgebrannt und zerstört? Und trotzdem brennt dort oben ein Licht.«

Auch Simon sah nun zum Kloster hinauf. Tatsächlich flackerte über dem Kirchenschiff, dort, wo der Blitz vor vier Wochen in den Glockenstuhl eingeschlagen hatte, ein winziges Licht. Es war mehr ein schwaches Schimmern. Als der Medicus genauer hinblickte, war es plötzlich verschwunden.

Johannes schirmte seine Augen ab und blinzelte. »Ich kann nichts sehen«, sagte er schließlich. »Vielleicht das Wetterleuchten. Dort oben ist jedenfalls keiner, wäre viel zu gefährlich in der Nacht. Der Turm ist zwar zum größten Teil schon wieder aufgebaut, aber das Dachgeschoss und die Treppen sind noch in einem schlimmen Zustand.« Er zuckte mit den Schultern. »Außerdem, was sollte jemand um diese Zeit dort oben zu suchen haben? Die Aussicht genießen?« Er lachte kurz auf, doch Simon hatte das Gefühl, dass sein Lachen künstlich klang. Sein Blick schien leicht zu flackern. Schnell drehte sich der Mönch zu den anderen Pilgern um.

»Ich schlage vor, dass ihr diese Nacht gemeinsam beim Gronerwirt in der großen Scheune schlaft. Morgen werden wir euch dann auf die einzelnen Häuser und Ortschaften verteilen. Und nun gehabt euch wohl.« Frater Johannes rieb sich müde die Augen. »Ich hoffe schwer, dass mein junger Gehilfe mir noch meinen geliebten Karpfen mit Brunnenkresse zubereitet hat. Das Retten verirrter Wanderer macht verflucht Hunger.«

Gemeinsam mit den drei Ratsherren stapfte er auf das Kloster zu. Kurz darauf waren die Männer in der Dunkelheit verschwunden.

»Und nun?«, sagte Simon nach einer Weile und sah Magdalena fragend an. Die anderen Schongauer begaben sich derweil betend und singend zu der frisch gezimmerten Scheune neben dem Wirtshaus.

Noch einmal starrte die Henkerstochter zum dunklen Klosterturm hinauf, dann fuhr sie sich übers Gesicht, als wollte sie einen bösen Traum vertreiben.

»Was schon? Wir werden dorthin gehen, wo wir hingehören.« Mürrisch schritt sie vor Simon her auf das Ende des Dorfes zu, wo ein einzelnes winziges Häuschen am Waldrand stand. Auf dem löchrigen Dach wuchsen Moos und Efeu. Von einem klapprigen Karren vor der Hütte wehte der Geruch von Verwesung zu ihnen herüber. »Im Gegensatz zu den anderen kennen wir hier wenigstens ­jemand.«

»Nur wen?«, murmelte Simon. »Einen räudigen Abdeckerund entfernten Vetter deines Vaters. Na dann, gute Nacht.«

Mit angehaltenem Atem folgte er Magdalena, die entschlossen an die schiefe Tür des Erlinger Schinders klopfte. Einmal mehr dankte Simon dem Herrgott, dass sie die beiden Kleinen daheim bei ihrem Schongauer Großvater gelassen hatten.

Oben im Klosterturm flammte erneut ein Licht auf. Wie ein großes böses Auge leuchtete es noch einmal weit hinaus in die Dunkelheit, so als suchte es etwas Bestimmtes in den Wäldern des Kientals.

Doch weder Simon noch Magdalena bemerkten es.

Die Gestalt im Turm klammerte sich an einem verkohlten Balken fest und ließ sich den Wind durch die Haare wehen. Am Horizont zuckten Blitze – große, kleine, gezackte, gerade … Hier oben, so nahe am Himmel, spürte der Mann die Macht Gottes am deutlichsten. Oder war es eine andere Macht? Eine, die viel stärker war als dieser brave, gutmütige Weltenlenker, der glaubte, dass die Liebe den Menschen heilen konnte, seinen eigenen Sohn aber am Kreuz hatte verrecken lassen?

Die Liebe.

Er brach in hämisches Gelächter aus. Als ob die Liebe irgendetwas bewirken könnte! Konnte sie Menschenleben retten? Konnte sie den Tod überdauern? Wenn ja, dann nur als Stachel in der Brust; eine Wunde, die eiterte und nässte und sich in das Innerste fraß, bis nicht mehr übrig blieb­ als eine leere Hülle. Ein Madensack, an dem sich die Würmer labten.

Mit leblosen Augen blickte der Mann auf das Häuflein Pilger tief unter ihm, das sich im Gewitter durch den Regen kämpfte, ein frommes Lied singend, buckelnd, betend – ihr Glaube war so stark, dass man ihn förmlich spüren konnte. Hier oben im Turm fühlte er ihn am stärksten, wie einen Blitzstrahl, wie einen Finger des Himmels, der ihn mit göttlicher Kraft versah. Lange hatte er darüber nachgegrübelt, wie er sich seinen Traum erfüllen könnte. Nun stand er kurz vor dem Ziel.

Er stellte die Laterne auf den Boden, sah sich um und begann mit der Arbeit.

Sonntagmorgen am 13. Juni Anno Domini 1666, Schongau im Pfaffenwinkel

reuzkruzifix! Nimm deine schmutzigen Saupranken von meinem allerheiligsten Mörser, bevor ich dich ohne Brei ins Bett stecke!«

Der Schongauer Scharfrichter saß am Tisch der Henkersstube und versuchte seinen dreijährigen Enkel Peter daran zu hindern, die zerstoßenen Kräuter aus dem uralten Steintiegel zu essen. Zwar waren die Pflanzen nicht giftig, dennoch vermochte auch Jakob Kuisl nicht zu sagen, was eine Mischung aus Arnika, Johanniskraut, Bärwurz und Brennnessel mit dem Kleinen anstellen würde. Im harmlosesten Fall würde der Bub Durchfall bekommen, was den Henker angesichts der wenigen noch sauberen Leinenwindeln erschaudern ließ.

»Und sag deinem Bruder, er soll die Hühner am Leben lassen. Sonst schlag ich ihm noch mal eigenhändig den Kopf ab!«

Der gerade zwei Jahre alte Paul tapste durch das duftende Binsenkraut, das auf dem Boden unter dem Tisch lag, und streckte kieksend seine Ärmchen nach den Hennen aus, woraufhin diese wild gackernd durch die Stube liefen.

»Himmelherrgottsakrament!«

»Du darfst nicht so streng mit ihnen sein«, erklang plötzlich eine matte Stimme von der Schlafstatt in der offenen Kammer nebenan. »Denk an unsere Magdalena, als sie klein war. Wie oft hast du ihr gesagt, sie soll die Hennen nicht bei lebendigem Leib rupfen, und sie hat’s trotzdem getan.«

»Und dafür jedes Mal eine anständige Tracht Prügel kassiert.«

Grinsend wandte sich Jakob Kuisl seiner Frau zu. Doch als er sie so blass und mit Ringen unter den Augen im Bett liegen sah, wurde er sofort wieder ernst. Ein schweres Fieber plagte Anna-Maria Kuisl seit letzter Nacht. Wie ein kalter Wind war es über sie gekommen, und nun lag sie zitternd unter den dünnen Wolldecken und ein paar löchrigen Wolfs- und Bärenpelzen. Die Mixtur aus dem Mörser sollte ihr, mit heißem Wasser und Honig vermengt, ein wenig Linderung verschaffen.

Jakob Kuisl sah sein Weib besorgt an. Die letzten Jahre waren an Anna-Maria nicht spurlos vorübergegangen. Sie ging mittlerweile auf die fünfzig zu, und obwohl sie immer noch eine schöne Frau war, hatten sich tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben. Ihr einst so glänzendes schwarzes Haar war matt geworden und von grauen Strähnen durchzogen. Blass und in die vielen Decken eingewickelt, die nur ihren Kopf freiließen, erinnerte sie Jakob Kuisl an eine weiße Rose, die nach einem langen Sommer zu welken begann.

»Versuch ein bisserl zu schlafen, Anna«, sagte der Henker sanft zu seiner Frau. »Schlaf ist immer noch die beste Arznei.«

»Schlafen? Wie denn?« Anna-Maria Kuisl lachte leise, doch das Gelächter ging schon bald in ein Husten über. »Du brüllst herum, dass es Gott erbarmt«, brachte sie schließlich keuchend hervor. »Und die beiden Kleinen werfen unsere Steinguttöpfe vom Regal, wenn sie nicht jemand auf der Stelle daran hindert. Der Herr des Hauses sieht so was ja nicht.«

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