Die Schwarzen Musketiere 3 - Oliver Pötzsch - E-Book + Hörbuch

Die Schwarzen Musketiere 3 Hörbuch

Oliver Pötzsch

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Beschreibung

1634 – der Krieg in Europa geht in sein 17. Jahr und der große Feldherr Wallenstein ist tot. Steckt der Inquisitor Waldemar von Schönborn hinter der seiner Ermordung? Will er den Krieg in die Länge ziehen, um seine eigenen Ziele verfolgen? Hofastrologe Senno ist überzeugt, dass es nur einen gibt, der den Inquisitor aufhalten kann: Merlin. Lukas und seine Freunde machen sich auf die Suche nach dem sagenumwobenen Zauberer, doch sie haben nicht mit dem gerechnet, was sie finden. Störrisch, launisch und frech steht ihnen der große Magier im Körper eines Kindes gegenüber. Wie soll dieser trotzige Bengel ihnen helfen, Waldemars Pläne zu zerschlagen? Schafft es der Inquisitor am Ende doch noch, sich als wiederauferstandener Barbarossa als neuer Kaiser ausrufen zu lassen? Für die Freunde beginnt ein gefährlicher Wettlauf gegen die Zeit, der sie ins tiefe Herz des Reiches führt …

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Zeit:11 Std. 30 min

Sprecher:Götz Otto

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Oliver Pötzsch

DIE SCHWARZEN MUSKETIERE

Die Rückkehr des Zauberers

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2023

© 2023 by LAGO Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

Redaktion: Martina Kuscheck

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/AcantStudio, EAKARAT BUANOI, Svetlana Striukova

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95761-233-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-357-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-358-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für meine Kinder Niklas und Lily, einmal mehr!

Ihr wart stets aufmerksame und kritische Zuhörer bei all meinen Geschichten, beim Wandern, Spazieren-gehen, zu Hause auf dem Schoß oder vor dem Schlafengehen ... Ein besseres Lektorat gibt es nicht!

INHALT

PROLOG

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EPILOG

KLEINER REISEFÜHRER

LEXIKON

DANKE

ÜBER DEN AUTOR

PROLOG

25. Februar 1634, irgendwo im großen Deutschen Reich, ganz oben und doch tief unten …

Elsa blickte in den kristallklaren Teich und murmelte jenen Zauberspruch, der einem berühmten Mann schon bald den Tod bringen würde.

»MORTIS PARAMEN ET OMNIS GRAVIS …«

Die Worte hallten zurück von den Felswänden, winzige Wellen kräuselten sich auf der Oberfläche des Wassers. Aus Ritzen im Gestein plätscherten kleine Rinnsale und bildeten Pfützen auf dem Steinboden. In der Höhle war es finster wie in einem Grab und auch genauso kalt. Doch Elsa spürte die Kälte nicht. Sie kniete auf dem felsigen Untergrund und starrte fasziniert auf die Wasseroberfläche, die sich nach und nach glättete. Wabernde Schemen waren darauf zu erkennen. Zuerst nur undeutlich, dann immer klarer, wie Spiegelbilder. Ein hohes verschlossenes Burgtor, davor Wachen mit Hellebarden, weitere Männer, die sich verstohlen mit Schwertern und Spießen näherten …

»Siehst du?«, zischte eine Stimme hinter ihr. Sie klang gebieterisch und zärtlich zugleich. »Es ist ganz einfach. Jedenfalls für dich …« Ein Kichern ertönte aus der Dunkelheit. »Für dich ist alles einfach, meine kleine schwarze Hexe. Nicht wahr?«

Waldemar von Schönborn trat mit einer Fackel lautlos an sie heran, wie ein lebendiger Schatten. Doch Elsa erschrak nicht. Wieso auch? Schönborn war ein Zauberer, aber er war auch ihr Vater und Lehrmeister, derjenige, der ihr den wahren Weg gewiesen hatte; der ihr gezeigt hatte, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde waren. Jene, die sich ihnen entgegenstellten, waren Feinde, das hatte Schönborn immer wieder gepredigt. Und Freunde hatte Elsa eigentlich nicht. Oder doch? Irgendwo tief in ihrem Gedächtnis tauchte ein Junge auf.

Li… La… Lukas …

Seltsam, dass ihr dieser Name gerade in den Sinn kam. Ihre Erinnerungen waren verschwommen, ein dichter Nebel umgab sie, seitdem sie, ja, wann eigentlich … dieses riesige unterirdische Gewölbe betreten hatte.

Vor einem halben Jahr? Einer Ewigkeit?

In Elsas Kopf steckten so viele Zaubersprüche, so viel neues Wissen, so viele Geheimnisse, dass für Menschen und Erinnerungen kein Platz mehr war.

Menschen und Erinnerungen waren nicht wichtig.

Wichtig war nur die … Macht.

Waldemar von Schönborn steckte die Fackel in eine Felsspalte und kniete sich neben sie. Auch hier unten, in der ewigen Finsternis, trug er seinen roten Kardinalsmantel. Er sah darin aus wie ein ungekrönter König. Auf einem steinernen Tisch am Rande des Teichs lagen ein Totenkopf, ein toter Rabe, der winzige zerbrechliche Schädel eines Salamanders und etwas Glitschiges, Weißes mit vielen Beinen, das Schönborn vorher noch aus dem Teichwasser gefischt hatte und das nun tot in einem großen venezianischen Kristallglas schwamm. Mit Kohle war um die Gegenstände ein großes Pentagramm gemalt.

Die magischen Zutaten bildeten einen Kreis, in dessen Mitte sich ein leicht rostiger, gepanzerter Handschuh befand. Vor allem Letzterer war unerlässlich für den Spiegelzauber. Der Handschuh gehörte einem Mann, der zu den Mächtigsten des Reiches zählte. Gerade eben enthüllte der magische Spiegel eine Burg im böhmischen Eger.

Das Versteck des großen Feldherrn Wallenstein.

Der Spiegel zeigte Menschen, die weit entfernt waren, viele hundert Meilen weit weg. Den einstigen Oberbefehlshaber der Kaiserlichen ausfindig zu machen, war eine Sache. Doch über eine so große Entfernung zu töten, dazu war nur Elsa in der Lage. Nicht einmal Waldemar von Schönborn hatte die Macht dazu. Trotz ihrer erst zwölf Jahre war sie jetzt schon mächtiger als ihr Vater und Lehrmeister.

»Lass uns beginnen.« Schönborn deutete auf die beiden Wachen vor dem Burgtor, die sich schimmernd auf der Wasseroberfläche abzeichneten. »Fangen wir mit dem Schlafzauber an, eine der einfacheren Übungen. Du kannst ihn doch noch, oder? Denk daran, was ich dir beigebracht habe!«

Elsa nickte. »SOMNIS MENTOR«, murmelte sie. »NUNC!«

Es war, als hätte ein unsichtbarer Hammer die Wachen am Kopf getroffen. Ihre Beine knickten weg, und sie sanken zu Boden. Die bewaffneten Soldaten eilten herbei. Sie suchten in der Kleidung ihrer Opfer nach den Schlüsseln, öffneten geschwind das Tor und stürmten in den Vorhof. All das geschah völlig geräuschlos, nur das Plätschern von Tropfen war in der Höhle zu hören.

»Jetzt die zwei Kerle oben an der Treppe!«, flüsterte Schönborn. Die Fackel warf einen Schatten seines bleichen Gesichts an die Felswand, die scharfgeschnittene Hakennase sah aus wie der Schnabel eines Raubvogels. »Hol sie dir mit der Blitzfaust! Nun mach schon!«

»PARVEX VENETUM!«, rief Elsa. Ihre Stimme schwoll an wie ein Gewitter. »IGNIS!«

In der schillernden Oberfläche sah sie nun zwei Feuerbälle, die sich als Irrlichter auf die Wachen oben an der Burgtreppe zubewegten. Die Feuerbälle fegten die Männer wie dürres Klaubholz zur Seite.

Elsa kicherte. Es war ein Spiel, ein köstliches Spiel! Und willkommene Abwechslung in ihrem sonst so ereignislosen Leben im Bauch des Berges. Sie gab Befehle, und vor ihr im Wasser bewegten sich kleine Männchen, rannten um ihr Leben, taumelten, stürzten, starben ...

»Gut so, Mädchen!«, lobte Schönborn. »Jetzt öffne die Tür, schnell!«

»FORAMEN PORTA!«, donnerte Elsa. Die Tür oben an der Treppe schwang auf wie von Geisterhand. Die bewaffneten Soldaten stürmten in den Gang dahinter. Schönborn wedelte mit der Hand, das Wasser kräuselte sich, und das Bild auf der Oberfläche wechselte schlagartig. Elsa sah die Männer jetzt vor einer anderen massiven Tür stehen.

»FORAMEN PORTA!«, befahl sie ein weiteres Mal. Auch diese verschlossene Tür konnte ihrer Macht nicht standhalten.

Dahinter war ein Schlafzimmer zu erkennen, mit einem großen Himmelbett darin. Ein älterer, blasser Mann mit einem Spitzbart, bekleidet nur mit Nachthemd und Hausrock, stand in der Mitte des Raumes. Er hob abwehrend die Hände, als die Soldaten mit ihren Spießen und Schwertern den Raum stürmten. Noch immer war kein Geräusch zu hören, in der Höhle war es totenstill.

»Wallenstein!«, keuchte Schönborn. »Der Dummkopf ist doch tatsächlich ganz allein! Er glaubt wohl, er ist unantastbar.« Er grinste böse. »Aber das ist er nicht. Nicht für dich, mein Täubchen! Bist du bereit, das Schicksal der Welt zu verändern?«

Elsa nickte ein weiteres Mal.

»Dann tue es«, befahl er ihr. »Den Todeszauber! Jetzt!«

Elsa zögerte. »Aber …«, begann sie.

»Ich sagte, tue es! Zeig, dass du das Zeug zu einer mächtigen Zauberin hast. Dein Vater befiehlt es dir!«

Mit überschnappender Stimme schleuderte Elsa dem Wasser im Teich ihren letzten Spruch entgegen.

»CRANIX, MORS, PENUNTIA! NUNC, MANIFESTATE!!!«

Sie sah noch, wie einer der mörderischen Spieße durch den Raum sauste, als würde er an einer unsichtbaren Schnur gezogen. Er flog direkt auf den alten Mann zu. Dieser wich erschrocken zurück, öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei … Dann trübte sich mit einem Mal die Teichoberfläche, das Wasser war nicht mehr klar, die Gestalten und der Raum verschwanden nach und nach.

Stattdessen färbte sich das Wasser blutrot.

»Jetzt, Elsa, kann uns nichts mehr aufhalten«, sagte Waldemar von Schönborn befriedigt. Schweiß stand ihm auf der Stirn, Speichelfäden hingen in seinen Mundwinkeln wie Geifer bei einem Raubtier. »Du hast deine Prüfung bestanden. Summa cum laude! Besser geht es nicht.« Er stand auf und klatschte in die Hände, sodass es in der Höhle hallte wie vom Flattern tausender Fledermausflügel.

»Gemeinsam werden wir schon bald die Welt beherrschen!«, rief der Zauberer. »Ist das nicht wunderbar?«

»Ja, Vater«, flüsterte Elsa. »Wunderbar …«

Sie lächelte matt, das Zaubern machte sie immer sehr müde. Müde und erschöpft, als wäre sie eine weite Strecke ganz allein gerannt.

Erst jetzt spürte Elsa die Kälte.

1

Sechs Wochen später auf Burg Lohenstein bei Heidelberg …

Die Eichentruhe war mit Eisenbändern verstärkt, die jeweils mit dicken Bolzen vernagelt waren. Drei Vorhängeschlösser hingen vorne daran. Zusätzlich war der schwere Behälter am Boden verschraubt, und wurde an allen vier Seiten mit Ketten beschwert, die mit harten Nieten in die Wand geschlagen waren. Ganz zu schweigen von den meterdicken Wänden des Bergfrieds ringsum …

Sonst könnte das Ding womöglich wegfliegen, dachte Lukas.

Gedankenverloren stand er vor der Truhe, die flackernde Laterne in der Hand, tief unten in der elterlichen Burg. Manchmal fragte er sich selbst, ob all diese Vorsichtsmaßnahmen wirklich nötig waren. Doch nur so konnte er halbwegs beruhigt schlafen. Immerhin befand sich in der Truhe das mächtigste Zauberbuch der Welt.

Das Grimorium Nocturnum. Das Buch der Nacht.

Einst hatte es Lukas’ und Elsas Mutter gehört, die eine sogenannte Weiße Hexe gewesen war. Sie hatte es gut versteckt, auch weil sie wusste, was für eine böse Macht dem Buch innewohnte. Das Grimorium hatte Elsa verhext. Seit fast einem Dreivierteljahr war seine kleine Schwester spurlos verschwunden, zusammen mit dem Inquisitor und Schwarzmagier Waldemar von Schönborn. Das Buch hingegen war bei Lukas geblieben, seitdem hütete er es wie seinen Augapfel.

Wie einen bösen gefährlichen Drachen, ging es ihm durch den Kopf.

Deshalb hatte er es hier unten in der Truhe weggesperrt. Von Zeit zu Zeit ging er hinunter in den stinkenden Kerker des Bergfrieds, um nach dem Rechten zu sehen. Er überprüfte die Schlösser, rüttelte an den Nieten … Wenn er ehrlich war, zog es ihn auch aus einem anderen Grund hierher. In der Finsternis und Stille des Kerkers verlor er sich in seinen Erinnerungen. Hier unten im Bergfried hatte alles angefangen. Damals vor fast drei Jahren, als Schönborn und seine Schergen gekommen waren und seine Eltern getötet hatten. Das war ausgerechnet sein dreizehnter Geburtstag gewesen.

Es kam Lukas vor wie eine Ewigkeit.

»He, bist du da unten eingeschlafen?«, ertönte eine Stimme von oben. »Oder hältst du ein Schwätzchen mit den Ratten?«

Lukas blickte auf und erkannte in dem hellen Viereck der Kerkerluke Giovannis Gesicht.

Sein Freund grinste breit. »Hier steckst du also! Ich hab dich schon überall gesucht.«

»Ich … ich wollte nur mal schauen, ob …«, begann Lukas.

»Jaja, ob sich der verdammte Schwarzmagier Schönborn nicht als Maulwurf bis zum Buch durchgegraben hat«, ergänzte Giovanni. »Meinst du, ich wüsste nicht, warum du immer wieder da runtergehst? Wir haben doch gar keine Ahnung, ob Schönborn überhaupt noch lebt.« Er rümpfte die Nase. »Bäh! Es stinkt, und es ist kalt und dunkel da unten. Da kommt man nur auf dumme Gedanken. Außerdem warten alle auf dich.« Giovanni runzelte die Stirn. »Oder hat der junge Herr Baron etwa die Schwertleite vergessen?«

»Die Schwertleite!« Lukas schlug sich an den Kopf. »Verflucht, du hast recht.«

Geschwind kletterte er die Leiter nach oben, wo ihn Giovanni bereits lächelnd erwartete. »Die neuen Schwertträger machen sich fast in die Hose vor Aufregung. Alle sind gekämmt und geschniegelt wie die Grafensöhne. Außerdem haben wir alle einen Bärenhunger! Die Köchin hat die Wildsau am Spieß gebraten, die Paulus gestern noch erlegt hat. Das wird ein Festessen!«

»Wenn Paulus die Sau nicht schon vorher selbst aufgegessen hat«, ergänzte Lukas grinsend, während sie über den schmalen Gang vorbei an den Schießscharten hinüber zum Burghof gingen. Tatsächlich hätte er dort unten im Kerker, beladen mit all den trüben Gedanken und Erinnerungen, fast das Fest der Schwertleite vergessen. Eigentlich wurden auf diese Weise nur adlige Söhne zu Rittern geschlagen. Doch Lukas hatte das Fest eingeführt, um den Burgbewohnern seine Anerkennung zu zollen. Gemeinsam hatten sie die von Schönborns Soldaten zerstörte Burg im letzten Jahr wieder aufgebaut, und sie hatten auch manchen Kampf zusammen gefochten.

Burg Lohenstein lag hoch oben im Odenwald, einem großen bewaldeten Gebirge nordöstlich von Heidelberg. Ein paar Mal war die abgelegene Burg von streunenden Söldnern angegriffen worden, doch diese hatten jedes Mal schnell das Weite gesucht. Die Burgbesatzung war bestens ausgebildet, und das, obwohl sie fast nur aus halbwüchsigen Jungen und Mädchen bestand. Lukas und seine Freunde, die Musketiere Giovanni, Jerome und der dicke Paulus, hatten als Fechtlehrer ganze Arbeit geleistet.

Noch immer herrschte Krieg im Deutschen Reich. Lukas hatte aufgehört zu zählen wie viele Jahre schon. Mit seinen Gefährten hatte er so manches Abenteuer bestanden. Erst vor einem halben Jahr hatten sie die legendären Reichsinsignien in Prag sichergestellt. Schönborn hatte sie für eine finstere Beschwörung gestohlen, der der Deutsche Kaiser beinahe zum Opfer gefallen war.

Schon zuvor hatte Lukas erfahren, dass Waldemar von Schönborn Elsas leiblicher Vater war. Sehnlichst wünschte sich Lukas seine mittlerweile zwölfjährige Schwester zurück, doch als er sie das letzte Mal in Prag gesehen hatte, hatte sie ihn abgrundtief gehasst. Sie stand nun ganz im Bann ihres Vaters.

Lukas öffnete die Tür zum Burghof, und der helle Sonnenschein blendete ihn. Tief unten im finsteren Bergfried hatte er ganz vergessen, dass der Frühling sich mittlerweile regte. Der Schnee im Hof war weggetaut, die Sonne schien mild über die Burgmauer. Es war Mittag, die Mägde hatten den Hof mit grünen Zweigen geschmückt, auf langen Tafeln standen dampfende Schüsseln und Krüge. Eben trugen zwei ächzende Küchenjungen die Wildsau am Spieß herein, die Paulus mit seiner Armbrust erlegt hatte. Die Burgbewohner prosteten Lukas zu.

»Na, Giovanni, hast du ihn am Ende doch noch irgendwo ausgegraben!«, rief Paulus, der wie immer den größten Humpen in der Hand hielt. »Wir dachten schon, er will sich drücken.« Paulus war von Lukas’ Freunden der größte und stärkste. Mit seinen 17 Jahren war er auch der älteste von ihnen, schon fast ein Mann, was man auch an seinem beginnenden Bartwuchs erkannte.

»Vor was drücken?«, fragte Lukas verwirrt.

»Une petite surprise, eine kleine Überraschung.« Jerome zwinkerte ihm zu. Für die Schwertleite hatte der hübsche Franzose sein bestes Wams angezogen und sich die langen weißblonden Haare gekämmt. Wie so oft saß er inmitten der kichernden Mägde und war der sprichwörtliche Hahn im Korb.

»Ah, oui! Die Leute wünschen sich einen Kampf so wie früher. Wir sollen ihnen zeigen, wie die Schwarzen Musketiere fechten.«

Die Schwarzen Musketiere waren eine Eliteeinheit, der vor langer Zeit auch Lukas’ Vater angehört hatte. Sie galten als die besten Kämpfer im Reich.

Lukas stöhnte. »Das ist nicht euer Ernst! Mit steckt noch der Ritt von gestern in den Knochen, außerdem hab ich kaum gefrühstückt und …«

»Keine Ausreden.« Giovanni warf ihm seinen Degen zu. »Vorher gibt es keinen Wildschweinbraten.« Er nahm seinen eigenen Korbdegen und ging in Stellung. »En garde!«

Lukas bemerkte nun, dass die Tische absichtlich so gestellt waren, dass sich in der Mitte des Burghofs eine kleine Arena auftat. Auch seine beiden anderen Freunde hatten zu ihren Waffen gegriffen. Jerome focht wie so oft mit einem dünnen spitzen Rapier, während Paulus den wuchtigen Palasch bevorzugte. Brüllend und schnaubend stürzte sich der Hüne Lukas entgegen, der dem Angriff gerade noch ausweichen konnte und zu einer Riposte ansetzte. Giovanni und Jerome setzten nach und wirbelten mit gezückten Klingen durch die Arena. Die Burgbewohner klatschten und johlten.

Lukas konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Genauso hatten sie vor über zwei Jahren als sogenannte Schaufechter auf den Marktplätzen des Reichs gekämpft. Der alte Haudegen Dietmar von Scherendingen war damals ihr Lehrmeister gewesen. Beim Schaufechten ging es nicht darum, seinen Gegner zu verletzen oder gar zu töten, sondern um Unterhaltung und Spektakel. Und ein solches Spektakel boten sie nun den Burgbewohnern.

Lukas’ trübe Gedanken verflogen mit jedem weiteren Hieb. Die alte Freude kam zurück, die er schon bei den spielerischen Kämpfen mit seinem Vater so genossen hatte. Ochshau, Unterhau, Nachreisen, Zornhau … Die sogenannten Huten, die einzelnen Stellungen beim Fechten, glichen Tanzschritten. Die drei Freunde griffen ihn jetzt gemeinsam an, wobei Jerome seinen Mantel nach ihm warf, unter dem Lukas eben noch wegtauchte. Giovanni drängte ihn mit einigen blitzschnellen Finten immer weiter zurück.

Wie eine Katze sprang Lukas auf den Tisch; die Zuschauer schrien auf, als einige Schüsseln zu Bruch gingen. Paulus schickte sich eben an, den Tisch umzustürzen, als Lukas lachend seinen Degen wegwarf und die Hände hob.

»Erbarmen! Bevor wir noch alle vom Boden essen müssen. Ich ergebe mich!«

Die Burgbewohner applaudierten, und Lukas wischte sich den Schweiß von der Stirn. Paulus wandte sich an die Gruppe junger Burschen und Mädchen, die heute noch die Schwertleite empfangen sollten.

»Habt ihr gesehen, wie der Kerl gefochten hat? Gegen drei von uns, ein echter Satansbraten, fürwahr!« Paulus grinste. »Dabei ist er nicht größer als ein Zwerg aus dem Odenwald.«

»He!«, protestierte Lukas. »Giovanni ist nicht viel größer als ich.«

»Was den Verstand angeht, schlage ich euch alle um Längen«, erwiderte Giovanni lächelnd. »Jemand Lust auf eine Partie Schach?«

Giovanni hatte sein halbes Leben in einem Kloster verbracht und sich dort durch die gesamte Bibliothek gelesen. Auch Lukas musste zugeben, dass Giovannis Wissen oft wertvoller als jede Waffe war.

»Schach? O Gott, wie langweilig!« Jerome rollte mit den Augen. »Die Spiele, die ich schätze, haben alle mit Karten, Würfeln und Mädchen zu tun.«

»Lasst uns lieber was essen«, brummte Paulus. »So ein Kampf macht Hunger, besonders, wenn man dabei mit den Füßen im Braten steht.«

Eine Weile später saßen die vier Freunde an der Tafel und ließen sich das Wildschwein schmecken, das auf frisch gebackenen, noch dampfenden Brotscheiben serviert wurde. Dazu gab es würziges Dünnbier, das Lukas nach dem hitzigen Kampf schnell zu Kopf stieg.

»Respekt, Schmalhans«, sagte Paulus mit vollem Mund. Er wischte sich über die fettigen Lippen. »Du kannst immer noch kämpfen. Dachte schon, du wärst genauso eingerostet, wie die Truhe dort unten im Bergfried.«

»Wichtiger ist, dass die Jungen und Mädchen auf der Burg kämpfen können«, erwiderte Lukas. »Aus Heidelberg kommen Nachrichten, dass eine neue Armee schwedischer Söldner von Norden anrückt. Sicher werden sich auch einige Marodeure in den Odenwald aufmachen …«

»Dann werden sie ihr blaues Wunder erleben«, sagte Jerome. »Bis jetzt konnten wir alle abwehren … Ah, mon dieu!« Er wischte einen Soßenfleck von seiner grünen Samtjacke. »Dieses Wams war fast neu!«

»Du bist und bleibst ein eitler Geck!«, brummte Paulus. »Fast so schlimm wie dieser Sternenschwafler Senno in seinem schillernd blauen Mantel. Ob er wohl wirklich kommt?«

»Nun, sein Brief war sehr deutlich«, sagte Lukas. »Die Frage ist eher, was er hier will.«

Erst letzte Woche hatte ein berittener Bote einen Brief aus Heidelberg gebracht, in dem sich ihr alter Bekannter Senno angekündigt hatte. Der Hofastrologe Wallensteins war den Freunden schon in etlichen Abenteuern begegnet. Vor allem Paulus konnte ihn nicht recht leiden, weil man bei Senno nie wusste, ob er nicht zuvorderst nur an sich dachte.

»Das letzte Mal, als er uns besucht hat, sind wir mit Elsa nach Prag gezaubert worden«, murrte Jerome. »Mit Hilfe des Grimoriums. Ihr erinnert euch? Damit fingen die Probleme mit deiner Schwester an, Lukas.«

Lukas nickte grimmig. »Das wird diesmal nicht geschehen, so viel ist sicher. Ich werde das Grimorium nicht verwenden, niemals! Das hab ich mir geschworen.«

»Auch wenn du der neue Auserwählte bist?«, fragte Giovanni und goss sich einen weiteren Becher Dünnbier ein.

Es schien so, als würde das Zauberbuch sich jeweils eine Person aussuchen, einen Auserwählten. Zunächst war es Elsas und Lukas’ Mutter gewesen, dann Elsa, doch aus irgendeinem Grund war das Grimorium zuletzt bei Lukas geblieben. Gezaubert hatte er damit nie, er wusste auch nicht, ob es ihm gelingen würde. Seine geringen magischen Kräfte, die er offenbar von seiner Mutter geerbt hatte, schöpfte er aus einer anderen Quelle.

»Auserwählter oder nicht, das Ding bleibt in der Truhe«, entgegnete Lukas knapp. »Egal, was Senno diesmal wieder vorhat.«

Eine Weile schwiegen sie und aßen mit Messern und Fingern ihre Bratenscheiben.

»Interessant, dass sich Senno genau für den Tag vor Vollmond angekündigt hat«, warf Giovanni schließlich ein. »Er hat es in seinem Brief extra nochmal erwähnt. Ich frage mich, ob das was bedeutet.«

»Er ist Astrologe, vergiss das nicht«, sagte Paulus und schnitt sich eine neue dicke Scheibe Braten ab. »Diese Sternenschwafler reden alle so. Ich werde jedenfalls diesmal nicht auf Sennos schöne Worte reinfallen. Das letzte Mal hat er uns einfach im Stich gelassen, auch wenn er sich nachher rausgewunden hat. Ich glaube …«

»Lass uns lieber über was anderes reden«, unterbrach ihn Lukas. »Ich habe heute schon genug gegrübelt.«

Nach einer Weile war das Festessen beendet, die Tische und Bänke wurden an den Rand des Burghofs geschoben. Fünf Jungen und zwei Mädchen erhoben sich. Sie hatten sich in den Übungskämpfen ausgezeichnet und waren deshalb für die Schwertleite vorgesehen. In aufrechter Haltung stellten sie sich nebeneinander und Lukas schritt sie einzeln ab. In seiner Hand hielt er das alte Schwert seines Vaters, mit dem er nun jedem zuerst auf die rechte und dann auf die linke Schulter schlug. Schließlich verpasste er ihnen mit der Hand jeweils einen spielerischen Klapps auf die Wange, so wie es der Brauch vorsah.

»Das soll der letzte unerwiderte Hieb in deinem Leben sein«, sagte er jedes Mal und sah sein Gegenüber dabei fest an. Nun folgte der Spruch, der den uralten Grundsätzen der Ritter folgte. Lukas hatte ihn nur ein wenig abgeändert.

»Von nun an lebt nach den Regeln der Ritterschaft«, sagte Lukas mit fester lauter Stimme, die durch den Burghof hallte. »Verteidigt die Alten, Kranken und Schwachen. Kämpft niemals unfair. Zeigt Mut, aber erkennt auch, dass Angst nichts Schlechtes sein muss. Gemeinsam gegen Tod und Teufel …«

»… In die Hölle und darüber hinaus!«, riefen ihm die neuen Schwertträger zu.

Damit war das Ritual beendet, die Leute klatschten, und einige der Burgbewohner griffen zu Fiedel, Flöte und Pauke. Es wurde getanzt, gesungen und gelacht. Lukas hoffte, dass es ewig so weiter gehen würde.

Aber er wusste auch, dass dies nur ein Wunschtraum war.

2

Drei Tage später kam Senno.

Der Hofastrologe war allein auf seinem Pferd unterwegs, wie immer trug er seinen blauen Mantel mit Sternenzeichen, der im Licht der Sonne wie auf magische Weise schimmerte. Ein paar Kinder aus den umliegenden Weilern hatten ihn zuerst entdeckt. Sie liefen den ganzen steilen Weg hoch zur Burg neben ihm her. Dabei schrien und lachten sie jedes Mal begeistert, wenn Senno aus seiner Hand bunte Tücher zauberte oder süßes Naschwerk aus seinem Ohr kramte und ihnen zuwarf.

»Der alte Aufschneider«, brummelte Paulus, der Sennos Auftritt von der Wehrmauer aus beobachtete. »Kinder kann er mit seinen Tricks vielleicht für sich einnehmen, mich nicht.«

Lukas stand neben ihm und lächelte. »Nun komm schon! Er meint es doch nur gut. Und die Kinder können ein wenig Spaß wahrlich gebrauchen. Eine ganze Reihe von ihnen haben im Krieg ihre Eltern verloren.« Er ging die Treppe hinunter und öffnete das schmale Einmanntor. Senno war mittlerweile abgestiegen und führte sein Pferd hindurch. Wie immer wirkte er wie ein etwas zu eitler Priester, auch hörte er sich genauso gerne reden. Als er Lukas sah, strahlte er über das ganze Gesicht.

»Lukas, mein Junge!« Er breitete die Arme aus. »Was für eine Freude, dich und deine Gefährten wieder zu sehen!« Er wandte sich an Paulus, Giovanni und Jerome, die mittlerweile hinzugestoßen waren. »Herrgott, seid ihr groß geworden, richtige Männer …«

»Spart Euch die öligen Worte«, knurrte Paulus. »Irgendwas sagt mir, dass Euer Kommen kein reiner Höflichkeitsbesuch ist.«

»Der gute alte Paulus …« Senno rieb sich lächelnd seinen mit Bienenwachs gehärteten Bart, den er stets sorgfältig pflegte. »Fällt immer noch mit der Tür ins Haus, wenn er sie nicht vorher eintritt. Tatsächlich gibt es einiges zu besprechen. Aber vielleicht können wir das auch bei einem Trunk tun?« Er stöhnte. »Ich bin seit Tagen von Böhmen unterwegs und völlig ausgedörrt! Kein leichter Ritt, vor allem, wenn es durch Feindesland geht …«

»Was habt Ihr in Böhmen gemacht?«, fragte Lukas.

Senno seufzte. »Ich fürchte, ich bringe schlechte Neuigkeiten. Sehr schlechte Neuigkeiten …«

Kurz darauf saßen sie oben im Burgsaal an dem großen Tisch, wie auch schon bei ihrem letzten Treffen vor über einem halben Jahr. Ein Feuer brannte im Kamin, doch es brachte keine rechte Wärme. In den zugigen Gemäuern einer Burg war es immer kalt, zu jeder Jahreszeit.

Senno trank einen großen Schluck Wein aus einem irdenen Krug, dann wischte er sich über den Spitzbart und sah die Freunde aufmerksam an.

»Ist die Kunde noch nicht bis zu euch in den Odenwald vorgedrungen?«

»Welche Kunde?«, fragte Jerome. »Wovon redet Ihr?

Senno machte ein betrübtes Gesicht. Erst jetzt sah Lukas, dass der Astrologe alt geworden war. Er war zwar erst Anfang dreißig, doch sein Gesicht war blass und eingefallen, unter den Augen lagen tiefe Ringe. Erste graue Strähnen spitzten zwischen den schwarzen Haaren hervor. Außerdem trug er am linken Arm einen Verband, der Lukas unter dem Mantel bislang nicht aufgefallen war.

»Wallenstein ist tot«, sagte Senno knapp.

»Was?« Lukas war verblüfft, damit hatte er nicht gerechnet. Er selbst hatte Wallenstein, den obersten kaiserlichen General, nur einmal kurz in einer Schlacht gesehen. »Aber … aber wie ist das möglich? Er ist der mächtigste Feldherr in diesem Krieg …«

»Wohl zu mächtig«, erwiderte Giovanni. »Ich hatte so etwas schon länger befürchtet. Der Kaiser hat Wallenstein sein Vertrauen entzogen. Vermutlich hatte seine Majestät Ferdinand II. Angst, dass sich sein Generalissimus zum eigentlichen Herrscher über das Deutsche Reich aufschwingt.«

Senno nickte. »So ist es. Dabei wollte Wallenstein mit den Schweden Frieden schließen. Ein Waffenstillstandabkommen war beinahe schon unterzeichnet …«

»Aber wie kann man einen mächtigen Feldherrn wie ihn töten?«, warf Jerome ein. »Ich meine, er ist doch vermutlich der am besten bewachte Mann im Reich gewesen …«

»Tja, das ist die große Frage.« Senno zuckte die Achseln. »Wallenstein hatte sich mit hunderten seiner letzten Getreuen auf Burg Eger in Böhmen zurückgezogen, ich selbst war mit ihm dort. Doch der Stadtkommandant hat ihn wohl verraten. Bleibt zu klären, wie die Meuchler an seiner Leibgarde vorbeikamen und ihn schließlich töten konnten …« Er hob die Augenbraue. »Ich denke, ihr wisst, worauf ich hinauswill.«

»Schönborn!«, rief Giovanni. »Ihr glaubt, Waldemar von Schönborn hat Wallenstein mittels magischer Kräfte umgebracht. Er hat das auch mit dem schwedischen König gemacht, und beim deutschen Kaiser hat er es ebenso versucht …«

»Wir wissen doch nicht mal, ob Schönborn überhaupt noch lebt«, warf Paulus ein.

»O doch, er lebt«, sagte Senno. »Daran habe ich keinen Zweifel. Und tatsächlich bin ich überzeugt, dass er beim Attentat auf Wallenstein die Finger im Spiel hatte. Es gibt Hinweise …«

»Waren es wieder die verfluchten Gefrorenen?«, wollte Lukas wissen.

Ihn schauderte. Die Gefrorenen waren verzauberte spanische Söldner, die Schönborn ihre Seele verkauft hatten. Dafür waren sie unbesiegbar, zumindest fast. Giovanni hatte herausgefunden, dass man sie durch Feuer töten konnte. Schon ein paar Mal war ihnen Lukas eben noch entronnen.

»Nein, diesmal war es anders.« Senno schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die Toten vor Ort angesehen, da war schwarze Magie im Spiel! Einige Wachen fielen in einen todesähnlichen Schlaf. Versperrte Türen öffneten sich wie von Geisterhand. Es sieht so aus, als hätte jemand von fern all diese Dinge, nun ja …«, er zögerte, »… gelenkt.« Der Astrologe sah Lukas an. »Du hast nicht zufällig wieder etwas von deiner Schwester gehört?«

Lukas erschrak. »Ihr meint, Elsa steckt hinter diesem Hexenwerk? Zusammen mit Schönborn? Aber das Grimorium ist hier auf Burg Lohenstein, ich habe es gut gesichert …«

»Ich fürchte, Elsa braucht das Buch gar nicht mehr. Sie ist auch so schon stark genug, vor allem zusammen mit ihrem verruchten Vater.« Senno musterte Lukas scharf. »Wir müssen sie aufhalten, Lukas. Beide! Schönborn benutzt diesen Krieg, um von Tag zu Tag stärker und mächtiger zu werden. Der Krieg gibt ihm Nahrung. Deshalb hat er den schwedischen König und nun auch Wallenstein getötet, um das Chaos für seine finsteren Zwecke zu nutzen.«

»Aber wie sollen wir ihn aufhalten?«, fragte Lukas. »Wir haben es schon einmal versucht und sind gescheitert.«

Senno nahm einen Schluck Wein und lehnte sich seufzend zurück. »Vermutlich hast du Recht, Junge, wir können es nicht. Wir sind nicht mächtig genug. Es gibt wohl nur einen, der das kann.«

»Und wer soll das sein?«, fragte Paulus. »Irgendein unbesiegbarer Krieger? Sowas wie ein Gefrorener vielleicht?«

»O nein, kein Krieger. Ein Zauberer. Der mächtigste, den diese Welt je gesehen hat. Mächtiger als Schönborn und auch mächtiger als Elsa.« Senno machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. »Dieser Zauberer heißt Merlin.«

Eine Weile sagte keiner etwas. Schließlich brach Giovanni in lautes Lachen aus. »Merlin? Das ist nicht Euer Ernst, Senno! Der Mann ist eine Sagengestalt. Genauso gut könntet Ihr sagen, dass Frau Holle Schönborn besiegen kann.«

»Merlin ist keine Sagengestalt, und er lebt, immer noch«, entgegnete Senno kühl. Er zwirbelte seinen Bart. »Ich habe in den letzten Monaten viel gelesen über ihn.«

»Wer soll denn dieser Merlin eigentlich sein?«, fragte Jerome. »Ich weiß nur, dass er wohl Zauberer am Hof von König Artus war, weit weg in England.«

»Merlin ist nicht sein einziger Name gewesen«, sagte Giovanni. »Die Waliser nennen ihn Myrddin. Bei den Römern wiederum hieß er Ambrosius Aurelianus. Es ist nicht mal geklärt, ob er ein Zauberer war oder ein Barde. Oder vielleicht sogar ein römischer Heerführer, der in England gegen die Sachsen gekämpft hat, vor über tausend Jahren. In den Artus-Sagen ist er dann Ratgeber und Erzieher des Königs …«

»Woher weißt du das bloß wieder alles?«, fuhr Paulus dazwischen.

Giovanni zuckte mit den Schultern. »Das steht in so Dingern, die Bücher heißen. Solltest deine Nase da auch mal reinstecken, nicht nur in Kochbücher.«

»He, hör mal …«, brauste Paulus auf.

»Egal, wer oder was Merlin war«, unterbrach Lukas. »Er war. Nun ist er tot und kann uns nicht helfen.«

»Er lebt, da bin ich sicher. Ich habe Erkundigungen über ihn eingeholt.« Senno nickte. »Und er lebt weiterhin in Wales.«

»Aber dann wäre er ja viele hundert Jahre alt!«, warf Jerome ein. »Für einen so mächtigen Zauberer wie ihn ist das kein Problem. Allerdings gilt er als, nun ja … schwierig.« Der Astrologe runzelte die Stirn. »Er interessiert sich nicht sonderlich für die Menschen und schon gar nicht für einen Krieg, der irgendwo weit weg von den englischen Inseln ausgefochten wird.«

»Dann wüsste ich nicht, warum er uns helfen sollte«, entgegnete Lukas.

»Nun, ich denke, es gibt schon etwas, das ihn interessiert.« Senno lächelte und zwirbelte erneut seinen Spitzbart. »Und dieses etwas hast du, Lukas …«

Lukas zuckte zusammen. »Ihr meint doch nicht etwa …«

»Das Grimorium, o ja! Merlins eigener Lehrmeister, ein Barde mit dem Namen Taliesin, hat es vor langer Zeit geschrieben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Merlin dieses Buch nur zu gerne haben möchte. In gewissem Sinne gehört es ihm. Merlin ist der Erbe von Taliesin.«

»Wenn ich Euch recht verstehe, sollen wir Merlin das Buch als Pfand bringen, damit er uns dafür gegen Schönborn hilft«, meldete sich Giovanni. »Mal abgesehen davon, dass das eine saudumme Idee ist – wie sollen wir überhaupt nach Wales kommen? Das ist viele tausend Meilen entfernt!«

»Das lasst meine Sorge sein«, erwiderte Senno.

»Wenn Ihr glaubt, dass wir es machen wie damals bei unserer Reise nach Prag, habt Ihr Euch getäuscht«, sagte Lukas. Seine Lippen wurden schmal. »Ich bin nicht Elsa, und ich werde das Grimorium sicher nicht benutzen, niemals! Das habe ich auch meinen Freunden schon gesagt. Ich habe mit eignen Augen gesehen, was es mit meiner Schwester gemacht hat.«

Damals waren sie mit Hilfe des Grimoriums nach Prag gereist, in nur einem Wimpernschlag. In dieser Zeit hatte das Buch auch angefangen, seinen bösen Einfluss auf Elsa auszuüben.

Senno hob die Hand. »Ehrenwort, wir benötigen das Grimorium diesmal nicht. Es gibt, nun ja … andere Wege. Aber für den Handel mit Merlin brauche ich das Zauberbuch und dich, Lukas.« Der Astrologe sah Lukas eindringlich an. »Das Buch gehört zu dir! Nur du kannst es Merlin übergeben, kein anderer, du bist der Auserwählte. Und du hättest es los. Ist es nicht das, was du ohnehin willst?«

Lukas schwieg. »Ich … werde es mir überlegen«, sagte er schließlich zögernd.

»He!«, protestierte Paulus. »Das ist nicht dein Ernst, Lukas! Dieser Sternenschwafler will dich doch nur wieder in irgendeine üble Sache reinziehen.«

»Ihr müsst mich ja nicht begleiten«, entgegnete Lukas.

»Das würde dir so passen.« Jerome zwinkerte ihm zu. »Dass du allein zu diesem sagenhaften Zauberer aufbrichst. Wenn du gehst, gehen wir mit. So war es doch schon immer. Einer für alle …«

»… und alle für einen«, fielen die anderen mit ein.

»So oder so, bis morgen früh brauche ich eine Entscheidung«, sagte Senno und stand vom Tisch auf. »Wenn ihr nicht mitkommt, versuche ich, Merlin allein zu überzeugen. Er ist der Einzige, der uns jetzt helfen kann! Aber ich fürchte, ohne das Buch habe ich schlechte Karten.« Er wandte sich noch einmal an Lukas. »Denk dran, du könntest das Grimorium endlich los sein.« Er lächelte plötzlich. »Und vielleicht kennt Merlin ja auch einen Weg, wie du deine Schwester wiederfindest.« Der Astrologe verbeugte sich. »Ihr entschuldigt mich, ich hatte einen anstrengenden Ritt. Außerdem gibt es noch etliche Dinge vorzubereiten.«

Lukas starrte dumpf in sein Glas, ganz so, als könnte er im Wein erkennen, welchen Weg er einschlagen sollte. Nur eines wusste er: Wenn er nach Wales reiste, dann auch aus einem anderen, ganz speziellen Grund.

Doch den würde er seinen Freunden bestimmt nicht erzählen.

In dieser Nacht schlief Lukas lange nicht ein. Er wälzte sich im Bett hin und her und starrte hinüber zum Fenster, von wo aus der Mond hell ins Zimmer schien. Aus einem bestimmten Grund wollte Senno bis morgen eine Entscheidung. Warum wohl?

Lukas’ Gedanken drehten sich um Elsa und das Zauberbuch. War es richtig, das Grimorium aus der Hand zu geben? War das nicht zu gefährlich? Was geschah, wenn dieser Zauberer Merlin das Buch selbst für seine Zwecke einsetzte, so wie auch Schönborn das vorgehabt hatte? Magiern war nicht zu trauen, das hatte er gelernt.

Und dann war da noch etwas anderes: Auch wenn Lukas das Grimorium tief in den Bergfried gesperrt hatte, so mochte er sich doch nicht davon trennen. Allein der Gedanke daran schmerzte.

Das Grimorium gehörte ihm!

Es war seltsam: Er mochte es nicht verwenden, und doch kam er nicht davon los.

So hat es vermutlich auch bei Elsa angefangen, dachte er.

Manchmal träumte er von dem Buch. Dann rief es nach ihm. Sehnsüchtig, fordernd …

Lukas, Lukas … Nutze mich … Wir beide können die Welt verändern! Ich kann dir deine Schwester zurückbringen …

Doch Lukas wusste, dass das nicht stimmte. Das Buch konnte Elsa vielleicht zu ihm zurückbringen, doch sie würde ihn weiter hassen. Sie würden sich um das Buch streiten. Tatsächlich war es besser, es loszuwerden, bevor es ihn noch mehr in seinen Bann zog als jetzt schon.

Vielleicht war Sennos Vorschlag nicht der schlechteste. Sie brauchten den mächtigsten Zauberer der Welt, um es mit Schönborn aufzunehmen. Nur so konnte Lukas seine Schwester vielleicht zurückgewinnen. Doch wenn er das Buch mitnehmen sollte, musste er es vor fremden Blicken schützen.

Er musste sich selbst vor ihm schützen …

Lukas stand auf und kroch unter sein Bett, wo sich ein kleines Schatzkästchen aus Ebenholz befand, nicht viel größer als seine Hand. Die Schatulle verfügte über ein massives Schloss. Er besaß sie seit seiner frühesten Kindheit, darin befanden sich einige Dinge, die ihm ans Herz gewachsen waren. Ein Amulett mit dem Portrait seiner Mutter, einige alte römische Münzen, welche er auf einem nahegelegenen Feld gefunden hatte, ein silberner Ring … Aber auch ein kleines Samtsäckchen mit einer Haarsträhne seiner Schwester. Elsa hatte ihm die Strähne vor etlichen Jahren geschenkt, als sie sich noch nahegestanden hatten. Lukas nickte grimmig. In diesem Kästchen würde er das Grimorium mit auf die Reise nehmen. Es war zwar keine schwer gesicherte Schatztruhe, aber immer noch besser als nichts.

Ein wenig beruhigt legte er sich wieder hin. Erneut ging sein Blick zum Fenster, wo der fast volle Mond als helle Scheibe leuchtete. Lukas hatte keine Ahnung, wie Senno sie nach Wales bringen wollte. Doch der Name des Landes hatte eine Glocke in ihm angeschlagen. Es gab jemanden, der dort wohnte. Jemand, der ihn dorthin eingeladen hatte. Eine Person, der er vielleicht irgendwann den Ring aus der Schatulle schenken könnte.

Besuch mich doch mal in Wales, Lukas. Beannachd leibh!

Es war ein ganz bestimmtes Mädchen, das ihm seit einem halben Jahr nicht mehr aus dem Kopf ging.

Gwendolyn …

Mit dem Gedanken an sie schlief Lukas endlich ein.

3

»Ich habe meine Entscheidung getroffen.«

Lukas stand am Rande des Burghofs, die Sonne kroch gerade erst über die Berge, es war noch nicht mal sieben Uhr morgens. Trotzdem war Senno schon hinten am Stall, wo er die Satteltaschen an seinem Pferd festzurrte. Er hob den Kopf.

»Und? Wie lautet sie?«

»Ich werde Euch begleiten«, sagte Lukas.

»Wie schön.« Senno lächelte. Seltsamerweise hatte Lukas den Eindruck, dass der Astrologe keine andere Antwort erwartet hatte.

»Und deine Freunde …?«, hob Senno an.

»Kommen natürlich mit, bien sûr«, ertönte eine Stimme von oben aus einem der Fenster des Palas. Jerome und Giovanni schauten grinsend zu ihnen hinunter.

»Ehrlich gesagt waren wir schon gestern sicher, dass du gehen würdest«, wandte sich Giovanni an Lukas. »Und wir mit dir. So ein Abenteuer lassen sich die Schwarzen Musketiere nicht entgehen. Wenn wir Merlin wirklich treffen sollten, würde ich nur zu gerne seine Bibliothek sehen!«

»Und was ist mit Paulus?«, fragte Lukas vorsichtig.

»Ach, der alte Brummbär.« Jerome winkte ab. »Der hat gestern schon seine Waffen poliert für die Reise. Meint, er müsste dich vor falschen Sternendeutern und Aufschneidern beschützen …« Er sah hinüber zu Senno, der beiläufig weiter packte und so tat, als würde er nichts hören. »Im Grunde haben wir nur auf dein Zeichen gewartet.«

»Na dann.« Lukas seufzte. Er sah sich noch einmal um. Sie hatten die Burg wirklich schöner aufgebaut als sie je zuvor gewesen war. Der dicke Bergfried war neu verputzt, die Löcher in der Mauer verstopft, die Dächer waren frisch mit Birkenrinde gedeckt … Er konnte nur hoffen, dass in ihrer Abwesenheit kein Angriff irgendwelcher marodierender Söldner erfolgte. Doch dann fielen Lukas die Jungen und Mädchen wieder ein, die gestern die Schwertleite empfangen hatten. Und all die anderen, die Lohenstein verteidigen würden.

Die Burg war in guten Händen.

Der alte Burgverwalter Eberhart kam ihm mit gebeugten Rücken entgegen.

»Habe ich richtig gehört, junger Herr? Ihr verlasst uns?«

»Nicht für lange«, beschwichtigte Lukas. »Nur eine kurze Reise, um etwas … zu Ende zu bringen.«

Das hoffe ich zumindest, dachte er.

Er gab dem alten Eberhart einige letzte Anweisungen, dann packte er seine Sachen und traf ein paar letzte Vorkehrungen. Schließlich ging er hinunter in den Bergfried, wo die schwere Truhe stand. Er zog den Schlüsselbund hervor, den er in einer geheimen Nische in seiner Kammer verwahrte, und öffnete die Schlösser, eines nach dem anderen. Als er den Truhendeckel aufklappte, glaubte er einen lang gezogenen Ton zu hören, wie ein erleichtertes Seufzen.

Aaaaahhh! Endlich …

Lukas zuckte zusammen. Hatte das Buch etwa zu ihm gesprochen? Vorsichtig beugte er sich vor. Dort unten am Boden der Truhe lag das Grimorium. Es war unscheinbar, ein kleines Büchlein nur, in schwarzes Leder gebunden – und doch hatte es mehr Macht als alle Herrscher der Welt zusammen. Lukas hatte selbst gesehen, wozu es fähig war.

Er griff in die Truhe und holte es mit spitzen Fingern hervor, ganz so, als wäre es hoch entzündliches Schießpulver. Von irgendwoher kam plötzlich ein Windstoß, das Buch klappte auf, und die Seiten flatterten im Wind.

Nutze mich, Lukas!, erklang eine Stimme in seinem Kopf. Ich kann dich zu deiner Schwester bringen … Ich kann …

»Schweig!«, zischte Lukas.

Schnell schlug er das Grimorium wieder zu. Dann holte er das kleine Schatzkästlein hervor. Er würde der Macht des Zauberbuchs nicht erliegen, so wie Elsa, o nein! Es war wirklich Zeit, dass das fürchterliche Ding endlich wegkam. Und bis dahin würde es in dem Kästchen bleiben, keiner sollte es zu Gesicht bekommen, keiner außer Merlin.

Er packte das Buch hinein und schloss den Deckel. Die Schatulle verschwand in seinem Reisebeutel.

Oben am Burgtor warteten schon Senno und seine Freunde, die Pferde waren gesattelt, ihre wenigen Habseligkeiten verstaut. Noch einmal ging Lukas’ Blick zur Burg, wo oben auf den Zinnen die neuen Schwertträger standen und ihnen zum Abschied winkten. Während sein Rappe durch das Tor trabte, wandte sich Lukas an Senno, der ihm mit den anderen folgte.

»Ich denke, es ist an der Zeit, dass Ihr uns endlich sagt, wohin unsere Reise geht.«

»O, es ist nicht weit! Schon heute Abend werden wir unser Ziel erreicht haben. Ein vergessener Ort, fürwahr …« Senno lächelte. »Und eine ganz besondere Nacht. Lass dich überraschen.«

Es dauerte noch einige Stunden, bis Senno ihnen endlich seine Pläne verriet. Sie waren mittlerweile in einen schmalen Hohlweg eingebogen, der steil hinunter ins Tal führte. Rechts und links wucherte dichtes dorniges Buschwerk. Paulus sah sich aufmerksam um.

»Ein verdammt gutes Versteck für Strauchdiebe«, knurrte er und rückte seinen Waffengurt zurecht. »Wir sollten wachsam sein.«

»So nah an der Stadt haben wir nichts zu befürchten, denke ich«, sagte Lukas. Er wies mit der Hand nach vorne. »Dort zwischen den Baumspitzen kann man schon Heidelberg sehen.«

Tatsächlich war es nicht mehr weit bis zu der großen Pfälzer Stadt am Rande des Odenwalds. Zwischen den Wipfeln ragte bereits das im Krieg zerstörte Schloss hervor. Lukas hatte in Heidelberg einen der schwärzesten Tage seines Lebens erlebt, als seine Mutter dort auf den Scheiterhaufen gezerrt worden war. Damals war er noch ein kleiner ängstlicher Junge gewesen, so kam es ihm vor, dabei war es erst drei Jahre her.

»Ihr wollt uns doch nicht etwa nach Heidelberg bringen?« Paulus wandte sich mit grimmiger Miene an Senno. »Dafür hättet Ihr nicht so ein großes Gewese machen müssen.«

»Ich hielt es für besser, unser Ziel so lange wie möglich geheim zu halten«, erwiderte Senno. »Wer weiß schon, wo Schönborn überall Augen und Ohren hat. Nein, es ist nicht Heidelberg, aber fast …« Er deutete hinüber auf die andere Seite des Tals. »Der Heiligenberg oberhalb der Stadt. Es gibt dort ein altes Kloster …«

»Das kenne ich«, warf Giovanni ein. »Das Kloster Sankt Michael. Aber es ist schon seit über hundert Jahren verlassen, da steht nur noch eine Ruine.«

»Richtig, du Schlaumeier«, entgegnete Senno. »Aber was auch du vermutlich nicht weißt, ist, dass der Ort schon seit Urzeiten als sogenannter Kraftort gilt. Bereits die alten Germanen hatten oben auf dem Heiligenberg einen Opferplatz, später gab es dort einen römischen Tempel, auf dem dann das Kloster errichtet wurde.«

»Und was bringt uns das?«, fragte Paulus. »Sollen wir von dort oben etwa die Aussicht genießen? Bis nach Wales können wir auch von dort nicht schauen.«

»Nun, der alte römische Tempel wird der Ausgangspunkt für unsere Reise nach Wales sein. Es geht so ähnlich wie das letzte Mal, als wir uns nach Prag teleportierten. Nur diesmal ohne Buch …«

»Tele … was?«, fragte Jerome.

Senno seufzte. »Stell es dir wie einen großen Sprung vor. Einen Sprung von hier nach Wales in nur einem Wimpernschlag. Und doch ist es für uns eine Reise durch Raum und Zeit …«

Die Erwähnung von Wales hatte in Lukas wieder Gefühle geweckt.

Beannachd leibh!

Warum bekam er Gwendolyn nur einfach nicht aus dem Kopf? Gwendolyn war eine walisische Bogenschützin, die ihnen in Prag geholfen hatte. Ein rothaariger Wirbelwind … Lukas und sie waren sich damals nähergekommen, noch nie zuvor hatte er etwas Ähnliches gefühlt. Doch Gwendolyn war mit ihrem kleinen Bruder zurück in ihre Heimat gegangen. Seitdem musste Lukas immer wieder an sie denken. Vielleicht war es ja möglich, sie in Wales zu besuchen. Gwendolyns verstorbener Vater Falkenauge war ein bekannter Bogenschütze dort gewesen, wohl eine Art Anführer. Sicher kannte man seine Tochter dort, wusste vielleicht auch, wo sie lebte. Soweit Lukas es hatte in Erfahrung bringen können, war Wales nicht sonderlich groß, zumindest konnte er Gwendolyn dort eine Nachricht hinterlassen.

Aber er würde den Teufel tun und seinen Freunden davon erzählen. Die hatten ihn damals schon genug aufgezogen.

Mittlerweile hatten sie den Hohlweg verlassen und waren auf die große Straße nach Heidelberg eingebogen. Es war früher Nachmittag, sie überholten etliche beladene Ochsenkarren, mit Kraxen beladene Wanderer, einige Reiter und sogar eine Kutsche, die im Schlamm des Frühjahrs nur langsam vorankam. Heidelberg war bis zum Krieg die Hauptstadt der Pfalz gewesen. Die Kaiserlichen Truppen unter General Tilly hatten sie eingenommen und schwer zerstört, trotzdem sprudelte hier noch immer das Leben.

Lukas kannte einen Bauern in der Nähe der Stadt, wo sie die Pferde zurückließen. So war es mit Senno vorher ausgemacht worden. Der alte Burgvogt Eberhart würde die Tiere morgen wieder abholen lassen.

Vor ihnen lag schon bald eine große Brücke, die über den Neckar führte. Dahinter war die Stadt zu sehen und das einst prächtige Heidelberger Schloss, das nur noch eine Ruine war. Doch anstatt die Brücke zu überqueren, wandte sich Senno nach rechts, wo ein steiler Pfad einen Hang hinaufführte. Über steinerne, vermooste Stufen stiegen sie immer höher. Ein lichter Kastanienwald schloss an, in dem es viel wärmer zu sein schien als unten im Tal. Vögel zwitscherten, in den Felsspalten der Bruchsteinmauern sonnten sich Eidechsen.

»Als wäre hier schon Sommer«, sagte Lukas verwundert und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Anstieg hatte einiges an Kraft gekostet.

»Der Heiligenberg ist eben ein magischer Ort, in jeder Hinsicht.« Senno sah hoch zum Himmel, wo die Sonne bereits langsam hinter dem Hügel zu verschwinden drohte. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, kommt!«

Die Bäume standen nun dichter, auf dem Boden lag knöcheltief das verwelkte Eichenlaub des letzten Herbsts. Eichelhäher kreischten und kündigten ihr Kommen an. Ab und zu passierten sie uralte Meilensteine mit verblichenen Zeichen darauf, die Lukas nicht entziffern konnte. Schließlich kamen sie an eine mit Büschen bewachsene Senke, auf deren Grund noch die Überreste einer Straße zu erkennen waren.

»Der alte Weg zum Kloster!«, rief Senno erfreut. »Nun sind wir gleich da.«

Tatsächlich führte der Weg aus der Senke hinaus und schon bald auf den gerodeten Gipfel des Heiligenbergs. Darauf stand ein verfallenes Kloster. Der Kirchturm war zerstört, als hätte eine große Faust ihn getroffen, von vielen Gebäuden standen nur noch die Grundmauern. Hier oben wehte ein kalter Wind, der Lukas frösteln ließ. Im Westen ging eben die Sonne unter, der runde Vollmond erhob sich über den Wäldern. Senno sah prüfend hinüber und nickte.

»Wir haben einen klaren Himmel, sehr gut …«

»Vielleicht sprecht Ihr selbst mal ein wenig klarer«, brummte Paulus. »Was hat es mit diesen Kraftlinien auf sich? Und warum sollen wir gerade heute bei Vollmond hier oben sein?«

»Kommt mit, ich zeige es euch.«

Senno ging voraus, und die anderen folgten ihm durch die Ruinenlandschaft. Zwischen hohem Gras waren noch immer die alten steinernen Bodenplatten des Klosters zu sehen, es gab Stufen, die hinunter in einen Keller führten. Davor befand sich ein flaches Areal, wo früher wohl mal eine Kapelle gestanden hatte. Von der einstigen Pracht war nur noch ein steinerner Altar übrig, den Bauern und Hirten aus der Gegend offenbar weiterhin zum Gebet nutzten. Ein schlichtes Holzkreuz stand darauf, außerdem eine zerkratzte Vase mit ein paar Frühlingsprimeln darin. Eine einzelne Mauer mit einem Fensterloch erhob sich dahinter wie ein zersplitterter Zahn.

»Hier stand vor Urzeiten ein Merkurtempel der Römer«, erklärte Senno. Er deutete auf den Boden. »Man kann die Grundmauern noch erahnen.«

»Hm, Merkur ist der Gott der Diebe und Händler, aber auch der sogenannte Götterbote.« Giovanni runzelte die Stirn. »Er hat einen geflügelten Helm. Heißt das …«

»Genau, du Schlaumeier«, sagte Senno mit einem Augenzwinkern. »Mit Merkurs Hilfe werden wir nach Wales fliegen. Es fehlen nur noch ein paar letzte Zutaten …« Er wandte sich an Lukas. »Du hast das Grimorium, ja?«

Lukas nickte.

»Dürfte ich vielleicht mal einen kurzen Blick darauf …«, begann Senno.

»Vergesst es«, unterbrach ihn Lukas und packte seinen Lederbeutel mit dem Schatzkästchen fester. »Das Grimorium bekommt Merlin zu sehen, sonst keiner.«

»Schon gut, ich habe verstanden.« Seufzend ging der Astrologe hinüber zum Altar, räumte Kreuz und Vase beiseite und legte stattdessen einige andere Gegenstände dorthin, die er aus seinem eigenen Beutel hervorkramte. Lukas erkannte einen aus Holz geschnitzten, rot angemalten Drachen, eine winzige Harfe und einen Holzlöffel.

»Ich denke, ich weiß, was das soll«, sagte Lukas. »Das sind alles Gegenstände, die auf irgendeine Weise mit Wales zu tun haben. So ähnlich sind wir damals auch nach Prag gereist.«

Bei ihrer früheren Reise hatte ihnen Holzspielzeug geholfen, sich Prag besser vorzustellen. Damals waren es eine Brücke, eine Burg und eine Kirche gewesen.

»So ist es«, erwiderte Senno und deutete auf die Dinge auf dem Altar. »Der walisische Drache, die Harfe und der sogenannte Liebeslöffel, den junge Männer ihrer Angebeteten schnitzen. Diese Gegenstände sollen helfen, uns besser auf unser Reiseziel zu konzentrieren. Ach, eine Sache fehlt noch …«

Zu Lukas’ Überraschung kramte der Astrologe eine Stange Lauch hervor.

»Fragt mich nicht, wieso«, sagte Senno mit einem Achselzucken. »Aber der Lauch ist ein mächtiges walisisches Symbol. Früher trugen walisische Krieger sogar Lauch an ihren Rüstungen.«

»Die spinnen, die Waliser«, brummte Paulus. »Und worauf warten wir jetzt noch?«

»Nicht so ungeduldig, junge Herrschaften! Zunächst wollen wir rasten und ein wenig essen. Wer weiß, wann wir wieder dazu kommen.«

Senno verteilte Brot, Käse und Schinken, was die Freunde mit großem Appetit verzehrten. Dazu tranken sie kühles Wasser aus einer nahen Quelle. Es wurde dunkel, die Vögel hörten auf zu zwitschern, kein Wind wehte mehr. Eine seltsame Stille breitete sich über die Ruine, so als würde die Welt auf etwas warten. Der Vollmond stand hell am sternenklaren Nachthimmel.

»Warum ist es plötzlich so still?«, fragte Jerome. »Also, wenn das schon dieser Teledings ist …«

»Psst!«, machte Senno und legte die Finger an die Lippen. »Noch ein Weilchen … Ah, schaut selbst!« Er deutete auf das Fenster in der zerborstenen Mauer, wo sich der Mond nun in seiner ganzen Pracht zeigte. Lukas zuckte zusammen.

»Er ist rot!«, rief er. »Der Mond ist rot wie Blut!«

»Der sogenannte Blutmond«, erklärte Senno. »Nur bei einer absoluten Mondfinsternis ist er zu sehen. Und so eine haben wir heute. Die Erde steht genau zwischen Sonne und Mond. Ich habe den Tag genau errechnet, es geschieht nur alle paar Jahrzehnte!«

Plötzlich geschah etwas Seltsames. Nicht nur der Mond leuchtete rot, auch die Kapelle tat es, vielmehr ihr Grundriss! Auf dem grasbewachsenen Boden bildeten rote Linien jetzt ein Rechteck, welches leicht zu pulsieren begann. Der Mond schien genau auf den Altar, wo die Gegenstände lagen.

»Ich möchte, dass ihr euch jetzt bitte ganz fest auf die Dinge auf dem Altar konzentriert«, sagte Senno leise. »Wenn ich mit meinen Überlegungen richtig liege, dann führt diese Kraftlinie von hier aus direkt nach Wales, nach Avalon …«

»Nach Avalon?«, fragte Giovanni. »Ihr meint doch nicht etwa …«

In diesem Moment fingen die roten Linien plötzlich an zu leuchten. Gleichzeitig zog ein Nebel auf, so dicht, dass in Sekundenschnelle die Ruinen um sie herum verschwunden waren. Sie waren eingehüllt in eine weiße Wolke, so, als stünden sie nicht mehr auf dem Boden der Kapelle, sondern schwebten irgendwo mitten im Himmel. Vom Altar, der nur noch schemenhaft zu sehen war, verlief jetzt eine weitere rote Line direkt nach Westen. Ein Sturm brauste auf.

»Das ist unser Weg!«, rief Senno laut und deutete auf die Linie vor ihnen. »Konzentriert euch weiter auf die Dinge, sie führen uns nach Wales. Folgt mir!«

Er ging auf den Altar zu …

… und mitten durch ihn hindurch!

Lukas sah zu seinem Schrecken, dass Senno wie ein Geist durch den steinernen Block hindurchglitt. Auf der roten Linie, die sich als Pfad abzeichnete, schritt er voran. Noch einmal drehte der Astrologe sich zu den Freunden um.

»Verlasst auf gar keinen Fall den Weg!«, warnte er. »Egal, was auch geschieht. Es wäre euer Untergang …«

Mit diesen Worten verschwand er im Nebel.

Lukas und die anderen folgten ihm zögernd. Es war seltsam, auf der schmalen Linie zu gehen, und nicht eben ungefährlich. Sie war nicht viel breiter als der Stamm einer Eiche, dabei elastisch wie ein gespanntes Seil in ungeahnter Höhe. Es war ein ständiges Wippen und Balancieren, dazu tobte weiter der brausende Sturm, um sie herum trieben dichte Wolken. Von irgendwoher hörte Lukas menschliche Stimmen, sie redeten in unterschiedlichen Sprachen, die er nicht verstand. Manche schrien, andere klagten und jammerten.

»Was ist das?«, fragte Jerome, der als Letzter von ihnen ging und sich ängstlich umsah.

»Frag lieber nicht«, erwiderte Giovanni. »Denk dran, was Senno gesagt hat. Auf keinen Fall dürfen wir den Pfad verlassen!«

Paulus machte einen großen Schritt und taumelte, er ruderte mit den Armen, um nicht abzustürzen. Ein lauter Fluch kam ihm über die Lippen.

»Herrgott, wir hätten uns niemals auf diesen Sternenschwafler verlassen dürfen! Wo ist er überhaupt?«

Tatsächlich war von Senno in dem dichten Nebel nichts mehr zu sehen.