Die Schwertkämpferin - Maxine Hong Kingston - E-Book

Die Schwertkämpferin E-Book

Maxine Hong Kingston

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Beschreibung

Maxine Hong Kingston wächst in zwei scheinbar unvereinbaren Welten auf: im individualistischen Kalifornien der 1940er-Jahre, wohin ihre Eltern migrierten, und in dem in den Geschichten ihrer Mutter, Tapfere Orchidee, heraufbeschworenen China – einem Land voller Geisterglauben und Schrecken, Tradition und Zusammenhalt, das im harschen Widerspruch zur misogynen Wirklichkeit von starken, findigen Frauen bevölkert wird. Mit der Aufgabe betraut, jene unsichtbare Welt der Geister und Wunder in Einklang zu bringen mit den Bedingungen der neuen Heimat, begibt sich Kingston schließlich auf die Suche nach ihrem eigenen Platz in der Welt. Sie findet ihn in den rätselhaften Lücken, die ihr die Erzählungen der Mutter offenbaren. Kingstons so zorniges wie bezauberndes, vielschichtiges wie selbstbewusstes Die Schwertkämpferin ist ein bahnbrechendes Werk über Emigration und Identität, angesiedelt zwischen Fiktion und Erinnerung, Folklore und Familiengeschichte, ein ständiges Hin und Her zwischen dem profanen Alltag im Wäschereigeschäft der Familie und epischen, surrealen Traumlandschaften, das große emanzipative Kraft entfaltet.

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Seitenzahl: 361

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Schwertkämpferin

Maxine Hong Kingston

Die Schwertkämpferin

Aus dem Englischen von Gisela Stege

Für meine Mutter und meinen Vater

Inhalt

Frau Ohnenamen

Weiße Tiger

Schamane

Im westlichen Palast

Gesang für eine Barbaren-Rohrflöte

Frau Ohnenamen

»Was ich dir jetzt erzähle, darfst du niemandem weitersagen«, begann meine Mutter. »Dein Vater hatte in China eine Schwester, die sich umbrachte. Sie sprang in den Hausbrunnen. Wir sagen immer, dein Vater hätte nur Brüder gehabt, da es so ist, als wäre sie nie geboren.

Im Jahre 1924, einige Tage, nachdem in unserem Dorf siebzehn Schnelltrauungen stattgefunden hatten – um sicherzugehen, dass jeder junge Mann, der ›in die weite Welt zog‹, genügend Verantwortungsbewusstsein entwickeln und heimkehren würde –, gingen dein Vater und seine Brüder, dein Großvater und seine Brüder und der frischgebackene Ehemann deiner Tante nach Amerika, zum Gold Mountain, dem Goldberg. Es war die letzte Reise deines Großvaters. Jene, die das Glück gehabt hatten, Arbeitsverträge zu bekommen, winkten zum Abschied von den Decks. Sie versorgten und beschützten die blinden Passagiere und halfen ihnen in Kuba, New York, Bali oder Hawaii von Bord. ›Nächstes Jahr sehen wir uns in Kalifornien wieder‹, versprachen sie. Alle schickten sie Geld nach Hause.

Ich erinnere mich daran, wie ich deine Tante eines Tages, als wir uns beide ankleideten, beobachtete; bisher hatte ich noch nie bemerkt gehabt, dass sie einen so vorgewölbten Melonenbauch hatte. Aber ich dachte nicht: ›Sie ist schwanger‹; das dachte ich erst, als sie allmählich wie andere schwangere Frauen auszusehen begann, als sich ihr Hemd hochschob und die weißen Ränder ihrer schwarzen Hose sehen ließ. Denn sie konnte ja gar nicht schwanger sein – ihr Mann war schon seit Jahren fort. Niemand sagte etwas darüber. Wir sprachen nicht davon. Im Frühsommer war sie bereit, das Kind zu bekommen – lange nach dem Zeitpunkt, an dem es noch plausibel gewesen wäre.

Auch die Dorfbewohner hatten die Tage gezählt. In jener Nacht, in der das Kind zur Welt kommen sollte, überfielen sie unser Haus. Einige weinten. Wie eine große Säge, deren Zähne mit Lichtern besetzt waren, wanderten lange Menschenschlangen im Zickzack über unser Land und rissen die Reispflanzen aus. Ihre Laternen verdoppelten sich in dem aufgewühlten schwarzen Wasser, das den geborstenen Teichen entsickerte. Als die Dorfbewohner näher rückten, sahen wir, dass einige von ihnen, vermutlich jene Männer und Frauen, die wir gut kannten, weiße Masken trugen. Diejenigen mit langen Haaren verbargen ihr Gesicht dahinter. Frauen mit kurzen Haaren hatten sich so frisiert, dass die Enden emporstanden. Manche hatten sich weiße Stoffstreifen um Stirn, um Arme und Beine gewunden.

Zuerst schleuderten sie Erd- und Steinbrocken auf das Haus. Dann bewarfen sie es mit Eiern und schlachteten unser Vieh. Wir konnten die Todesschreie der Tiere hören: der Hähne, der Schweine, ein letztes, gewaltiges Brüllen des Ochsen. Wild verzerrte, vertraute Gesichter erschienen an unseren Nachtfenstern; die Dorfbewohner umzingelten uns. Einige machten kurz halt, um uns anzustarren; ihre Augen wanderten umher wie Suchscheinwerfer. Die Hände, flach an die Scheiben gedrückt, die Gesichter einrahmend, hinterließen rote Spuren.

Obwohl wir die Türen nicht verschlossen hatten, brachen die Dorfbewohner gleichzeitig Vorder- und Hintertür auf. Von ihren Messern tropfte das Blut unserer Tiere. Sie schmierten es an Türen und Wände. Eine Frau schwang ein Huhn, dem sie die Kehle aufgeschlitzt hatte, sodass das Blut in roten Bögen umherspritzte. Wir standen, umgeben von den Bildern und Tischen unserer Ahnen, im Mittelpunkt des Hauses, dem Familiensaal, und blickten starr geradeaus.

Zu jener Zeit bestand das Haus nur aus zwei Flügeln. Unmittelbar nach der Rückkehr der Männer sollten zwei weitere angebaut werden, um unser Hofgeviert zu schließen, und dann ein dritter als Anfang eines zweiten Hofes. Durch beide Flügel, selbst durch die Zimmer deiner Großeltern, stürmten die Dorfbewohner auf der Suche nach dem Zimmer deiner Tante, das bis zur Rückkehr der Männer auch das meinige war. Von unserem Zimmer aus sollte ein neuer Flügel für eine der jüngeren Familien seinen Anfang nehmen. Sie zerrissen die Kleider und Schuhe deiner Tante, sie zerbrachen ihre Kämme und zermalmten sie mit den Absätzen. Sie rissen die Wolle vom Webstuhl. Sie zertraten das Herdfeuer und wälzten die angefangene Weberei darin herum. Wir hörten, wie sie in der Küche unsere Schüsseln zerbrachen und auf unsere Töpfe einschlugen. Sie stürzten die großen, hüfthohen Tonkrüge um; Enteneier, eingelegte Früchte und Gemüse rollten heraus und vermischten sich zu ätzenden Strömen. Die alte Frau vom Nachbarfeld fegte mit einem Besen durch die Luft und ließ die Besengeister über unseren Köpfen los. ›Schwein!‹, ›Geist!‹, ›Schwein!‹, schluchzten und schimpften sie, während sie unser Haus verwüsteten.

Als sie abzogen, nahmen sie Zucker und Orangen mit, um sich zu belohnen. Sie schnitten Fleischstücke aus den toten Tieren. Einige von ihnen nahmen die Schüsseln mit, die nicht zerbrochen, die Kleider, die nicht zerrissen waren. Hinterher fegten wir den Reis zusammen und nähten ihn wieder in Säcke ein. Doch der Geruch von den verschütteten Konserven blieb. In jener Nacht gebar deine Tante im Schweinestall ein Kind. Als ich am nächsten Morgen Wasser holen wollte, sah ich, dass sie und das Baby den Hausbrunnen verstopften.

Dein Vater darf niemals erfahren, dass ich dir dies alles erzählt habe. Er verleugnet seine Schwester. Nun, da deine Menstruation eingesetzt hat, könnte dir das, was ihr zugestoßen ist, ebenfalls widerfahren. Mach uns keine Schande. Du willst sicher nicht vergessen werden, als wärst du nie geboren. Die Dorfbewohner sind wachsam.«

Wenn sie uns über das Leben belehren wollte, erzählte meine Mutter uns Geschichten, die so ausgingen wie diese: Geschichten zum Erwachsenwerden. Sie erprobte unser Vermögen, die Realität zu erkennen. Jene der Emigrantengeneration, die sich in der neuen Umgebung nicht behaupten und ein primitives Überleben sichern konnten, starben jung und weit entfernt von ihrer Heimat. Jene von uns, die zur ersten amerikanischen Generation zählten, mussten einen Weg finden, die unsichtbare Welt, die von den Emigranten um unsere Kindheit herum errichtet wurde, mit den festen Bedingungen der neuen Heimat in Übereinstimmung zu bringen.

Die Emigranten verwirrten die Götter, indem sie deren Fluch von sich ablenkten, sie mit krummen Straßen und falschen Namen irreführten. Anscheinend versuchen sie, ihre Sprösslinge ebenso zu verwirren, da sie sich, wie ich vermute, von ihnen, die sich ständig bemühen, die Dinge zu ordnen und das Unaussprechliche beim Namen zu nennen, auf ähnliche Weise bedroht fühlen. Alle mir bekannten Chinesen verheimlichen ihren Namen; Neuankömmlinge nehmen einen neuen Namen an, wenn sich ihr Leben verändert, und schützen ihren richtigen, indem sie ihn verschweigen.

Ihr chinesischen Amerikaner, wenn ihr zu erkennen sucht, was an euch chinesisch ist: Wie unterscheidet ihr das, was kennzeichnend ist für die Kindheit, die Armut, den Wahn, eine Familie, eine Mutter, die euer Heranwachsen mit Geschichten begleitet, von dem, was chinesisch ist? Was ist chinesische Tradition – und was nur Kino?

Wenn ich erfahren will, wie meine Tante sich kleidete, ob herausfordernd oder unauffällig, müsste ich mit der Frage beginnen: »Erinnerst du dich an Vaters im Brunnen ertrunkene Schwester?« Und diese Frage kann ich nicht stellen. Meine Mutter hat mir ein für alle Mal das erzählt, was für mich von Nutzen ist. Dem wird sie nie mehr etwas hinzufügen, es sei denn, die Notwendigkeit – dieser Damm, der den Fluss ihres Lebens leitet – verlangt es. Sie legt lieber Gemüsebeete an als einen Rasen; sie bringt die absonderlich geformten Tomaten vom Feld mit nach Hause und isst Speisen, die für die Götter übrig gelassen wurden.

Wann immer wir nutzlose Dinge taten, verbrauchten wir Energie; wir trieben alles auf die Spitze. Wir Kinder machten Freudensprünge wegen des schmelzenden Eises am Stiel, das unsere Eltern mitbrachten, wenn sie von der Arbeit heimkamen, und wegen der amerikanischen Filme am Neujahrstag – Oh, You Beautiful Doll mit Betty Grable im einen, She Wore a Yellow Ribbon mit John Wayne im nächsten Jahr. Die einzige Karussellfahrt bezahlten wir mit Schuldgefühlen; unser müder Vater zählte auf dem dunklen Heimweg das Wechselgeld.

Ehebruch ist eine Extravaganz. Konnten Menschen, die selbst Hühner hielten, deren Embryos und Köpfe als Delikatessen verspeisten und ihre Füße als Partyleckerbissen in Essig kochten, die nur den Harngrieß übrig ließen und sogar den Mageninhalt aßen – konnten solche Menschen eine verschwenderische Tante hervorbringen? Eine Frau zu sein, in Hungerzeiten eine Tochter zu haben, war doch bereits Verschwendung genug. Und eine einsame Romantikerin, die für Sex alles andere leichtsinnig aufgab, konnte meine Tante doch eigentlich nicht gewesen sein. Denn Frauen im alten China trafen keine Wahl. Irgendein Mann musste ihr befohlen haben, sich zu ihm zu legen und seine geheime Sünde zu sein. Ich würde gern wissen, ob er sich maskiert hatte, als er sich dem Überfall auf ihre Familie anschloss.

Vielleicht begegnete sie ihm auf dem Feld oder auf dem Berg, wo die Schwiegertöchter Brennholz sammelten. Oder er sah sie zuerst auf dem Marktplatz. Ein Fremder konnte er nicht gewesen sein, denn es gab im Dorf keinen einzigen Fremden. Sie musste auch in anderer Hinsicht mit ihm zu tun gehabt haben als nur durch Sex. Vielleicht beackerte er ein benachbartes Feld oder verkaufte ihr den Stoff für das Kleid, das sie sich nähte und dann trug. Sein Verlangen muss sie überrascht und dann in Schrecken versetzt haben. Sie gehorchte ihm; sie tat stets, was man ihr sagte.

Als die Familie einen jungen Mann aus dem Nachbardorf zum Ehemann für sie erkor, stand sie gefügig neben dem eitlen Gockel, seinem Stellvertreter, und versprach, ehe sie sich kennenlernten, auf ewig die Seine zu werden. Sie konnte von Glück reden, dass er in ihrem Alter war und sie seine erste Frau sein sollte, ein gesicherter Vorteil. An jenem Abend, an dem sie ihn zum ersten Mal sah, hatte er Geschlechtsverkehr mit ihr. Dann ging er nach Amerika. Sie hatte beinahe vergessen, wie er aussah. Wenn sie ihn sich vorzustellen versuchte, sah sie nur das schwarzweiße Gesicht auf dem Gruppenfoto, das die Männer vor ihrer Abreise hatten machen lassen.

Der andere Mann unterschied sich im Großen und Ganzen nicht sonderlich von ihrem Ehemann. Beide erteilten ihr Befehle – sie gehorchte. »Wenn du es deiner Familie sagst, bekommst du Prügel von mir. Ich werde dich umbringen. Komm nächste Woche wieder her.« Über Sex sprach man nicht, niemals. Und meine Tante hätte die Vergewaltigungen womöglich von ihrem sonstigen Leben trennen können, wenn sie nicht ihr Öl von ihm hätte kaufen oder im selben Wald hätte Holz sammeln müssen. Ich wünschte, ihre Angst hätte nur so lange gedauert wie die Vergewaltigung, sodass sie sich in Grenzen halten ließ. Keine bleibende Angst. Doch Frauen gingen beim Sex das Risiko der Schwangerschaft und somit lebenslänglicher Folgen ein. Die Angst hörte nicht auf, sie war allgegenwärtig. »Ich glaube, ich bin schwanger«, sagte sie zu dem Mann. Er organisierte den Überfall auf sie.

Abends, wenn meine Eltern über ihr Leben in der Heimat sprachen, erwähnten sie zuweilen einen »Ausgestoßenentisch«, dessen Bedeutung sie mit gedämpfter Stimme auch da noch zu diskutieren schienen. Zwar pflegte man, da Lebensmittel kostbar waren, Mahlzeiten zu teilen, aber die älteren, über Macht verfügenden Mitglieder zwangen Missetäter, allein zu essen. Statt ihnen ein eigenes, neues Leben zu ermöglichen – wie bei den Japanern, wo man in so einem Fall Samurai oder Geisha werden konnte –, hielten die chinesischen Familien mit abgewandtem Gesicht, aber finsteren Seitenblicken an den Sündern fest und setzten ihnen ihre Reste vor. Meine Tante muss im selben Haus wie meine Eltern gelebt und an einem Ausgestoßenentisch gegessen haben. Meine Mutter sprach von dem Überfall, als habe sie ihn miterlebt, obwohl sie und meine Tante, die Schwiegertochter eines anderen Haushalts, gar nicht hätten zusammenleben dürfen. Schwiegertöchter lebten für gewöhnlich bei den Eltern ihrer Männer und nicht bei den eigenen; ein chinesisches Synonym für Heirat lautet »eine Schwiegertochter nehmen«. Den Eltern ihres Mannes hätte es zugestanden, meine Tante zu verkaufen, zu verpfänden, zu steinigen. Aber sie hatten sie zu ihren eigenen Eltern zurückgeschickt, ein rätselhafter Entschluss, der auf Schandtaten hindeutete, die mir vorenthalten wurden. Vielleicht hatten sie sie hinausgeworfen, um die Rächer abzulenken.

Sie war die einzige Tochter; ihre vier Brüder gingen mit ihrem Vater, ihrem Mann und ihren Onkeln »hinaus in die weite Welt« und wurden einige Jahre lang Westmänner. Als der Besitz der Familie aufgeteilt wurde, nahmen drei der Brüder Land, während der jüngste, mein Vater, eine Ausbildung wählte. Nachdem meine Großeltern ihre Tochter der Familie ihres Mannes übergeben hatten, hatten sie allen Spekulationen und allem Besitz entsagt. Sie erwarteten von ihr, dass sie allein die Tradition aufrechterhalten würde, die ihre Brüder, nunmehr unter den Barbaren, vernachlässigen konnten, ohne dass es bemerkt wurde. Den traditionsverhafteten Frauen fiel es zu, die Vergangenheit vor der Flut des Neuen zu bewahren, die Heimkehr zu sichern. Unsere Familie jedoch war vom Drang nach Westen beseelt, und so überschritt meine Tante Grenzen, die nirgendwo verzeichnet waren.

Die Pflicht des Bewahrens verlangt danach, die Gefühle, die einen im Innersten bewegen, nicht in die Tat umzusetzen. Man lässt sie dahinwelken wie Kirschblüten. Vielleicht aber ließ meine Tante, meine Vorläuferin, in einem langweiligen Leben gefangen, Träume wachsen, die wieder verblassten, und hielt sich, nachdem Monate oder Jahre vergangen waren, an das, was die Zeit überdauert hatte. Angst vor der Ungeheuerlichkeit des Verbotenen hielt ihre Sehnsüchte klein, drahtig und knochig. Sie sah einen Mann an, weil es ihr gefiel, wie er sich die Haare hinter die Ohren strich, oder weil es ihr die gekrümmte Silhouette seines langen Oberkörpers angetan hatte. Für freundliche Augen oder eine sanfte Stimme oder einen gemächlichen Gang – mehr nicht –, für ein paar Haare, eine Linie, ein Strahlen, ein Geräusch, für einen Schritt gab sie ihre Familie auf. Sie opferte uns um einer Verzauberung willen, die vor lauter Müdigkeit dahinschwand, um eines Zopfes wegen, der nicht mehr schwang, sobald der Wind erstarb. Ja, die falsche Beleuchtung konnte das Teuerste an ihm zum Verschwinden bringen.

Es konnte aber durchaus auch so gewesen sein, dass meiner Tante die subtilen Freuden eines Mannes nicht genügten, dass sie eine zügellose Frau war, die ausgelassene Gesellschaft liebte. Diese Vorstellung vom freien Sex aber passt einfach nicht zu ihr. Ich kenne keine solchen Frauen, und auch solche Männer kenne ich nicht. Wenn ich ihr Leben nicht in das meine münden sehe, kann sie mir keine Ahnenhilfe bieten.

Um sich ihre Verliebtheit zu bewahren, verbrachte sie viel Zeit vor dem Spiegel, probierte Farben und Formen aus, die ihm gefallen mochten, veränderte sie in regelmäßigen Abständen, bis sie die richtige Zusammenstellung fand. Sie wollte, dass er sich nach ihr umdrehte.

Auf einem Bauernhof nahe der See geriet eine Frau, die Wert auf ihr Äußeres legte, schnell in den Verruf, exzentrisch zu sein. Die verheirateten Frauen trugen die Haare auf Ohrenhöhe kurz geschnitten oder zu einem straffen Knoten geschlungen. Praktisch und nüchtern. Keine dieser beiden Frisuren konnte vom Wind aufreizend zerzaust werden. Und das letzte Mal, dass sie sich mit langem Haar zeigen konnten, war bei ihrer Hochzeit. »Es reichte mir bis an die Kniekehlen«, erzählt mir meine Mutter immer. »Obwohl es geflochten war, reichte es mir bis an die Kniekehlen.«

Vor dem Spiegel frisierte sich meine Tante Individualität in den Bubikopf. Einen Knoten konnte man so schlingen, dass sich schwarze Haarsträhnen lösten und im Wind wehten oder locker das Gesicht umrahmten, doch in unserem Fotoalbum tragen nur die älteren Frauen Knoten. Sie bürstete sich die Haare aus der Stirn und schob lose Strähnen hinter die Ohren. Sie knotete einen Faden zur Schlinge, nahm diese zwischen Zeigefinger und Daumen beider Hände und zog den Doppelfaden über ihre Stirn. Wenn sie die Finger schloss, als wolle sie zwei Schattenspielgänse zubeißen lassen, drehte sich der Faden zusammen und erfasste die kleinen Härchen. Dann zog sie den Faden mit einem Ruck von der Haut und riss sich dabei die Härchen aus, sodass ihr die Augen vor Schmerz nass wurden. Sie spreizte die Finger, reinigte den Faden und zog ihn sodann am Haaransatz und an der Oberkante der Brauen entlang. Dasselbe tat meine Mutter bei mir, bei meinen Schwestern und bei sich selbst. Bei dem Ausdruck »an den Haaren herbeigezogen« musste ich immer an einen Gefangenen denken, den eine Enthaarungsschnur festhält. Besonders weh tat es an den Schläfen, doch meine Mutter behauptete, wir könnten von Glück sagen, dass man uns nicht mit sieben Jahren die Füße abgebunden habe. Schwestern hätten weinend zusammen auf dem Bett gesessen, erzählte sie, während ihre Mütter oder die Sklavinnen jeden Abend die Bandagen für einige Minuten entfernten, damit das Blut wieder in die Adern schoss. Ich hoffe, der Mann, den meine Tante liebte, wusste eine glatte Stirn zu schätzen, und war nicht nur ein Brust-und-Po-Fanatiker.

Einmal entdeckte meine Tante eine Sommersprosse an ihrem Kinn – an einer Stelle, die sie, wie der Almanach erklärte, zum Unglück prädestinierte. Sie brannte sie mit einer heißen Nadel aus und wusch die Wunde mit Wasserstoffperoxid.

Mehr Pflege ihres Äußeren als dieses Haarauszupfen und Hautfleckenentfernen hätte bei den Dorfbewohnern nur Klatsch ausgelöst. Sie besaßen Arbeitskleidung und Kleider für Festtage, und die guten Kleider trugen sie zur Feier der neuen Jahreszeiten. Eine Frau, die sich die Haare frisierte, beschwor demnach Neuerungen herauf, und so fand meine Tante nur selten Gelegenheit, sich schönzumachen. Die Frauen sahen aus wie große Uferschnecken: Die Säuglinge, Reisig- und Wäschebündel, die sie trugen, waren die Häuser auf ihren Rücken. Die Chinesen hegten keine Bewunderung für einen gebeugten Rücken; Göttinnen und Krieger standen aufrecht. Und so muss es eine wundersame Freisetzung von Schönheit gewesen sein, wenn eine Arbeiterin sich ihrer Last entledigte, sich reckte und streckte.

Solch alltägliche Schönheit war meiner Tante jedoch nicht genug. Sie träumte von einem Liebhaber für die fünfzehn Neujahrstage, für jene Zeit, in der die Familien sich gegenseitig Besuche abstatteten, Geld und Lebensmittel tauschten. Sie benutzte ihren geheimen Kamm. Und brachte damit selbstverständlich Fluch über das Jahr, die Familie, das Dorf und sich selbst.

Selbst als ihr Haar bereits ihren zukünftigen Liebhaber anlockte, zog sie noch die Blicke vieler anderer Männer auf sich. Auch die Onkel, Vettern und Brüder hätten ihr nachgeblickt, wären sie inzwischen wieder nach Hause gekommen. Vielleicht hatten sie ihre Neugier bereits zügeln müssen und waren davongezogen, voll Angst, ihre Blicke würden, wie ein Feld nistender Vögel, aufgescheucht und eingefangen. Armut tat weh, und das war sicherlich der Hauptgrund für ihre Reise. Ein anderer, letzter Anlass dafür, dass sie das enge Haus verließen, blieb jedoch ungesagt.

Sie mag mehr als andere Kinder geliebt worden sein, die kostbare einzige Tochter, verwöhnt und eitel durch die Zuneigung, die ihr die Familie in reichem Maße entgegenbrachte. Als ihr Mann China verließ, ergriffen ihre Eltern daher freudig die Gelegenheit, sie von den Schwiegereltern zurückzuholen; so konnte sie noch eine Weile länger als kleine Tochter bei ihnen leben. Es kursieren Gerüchte, mein Großvater sei anders gewesen als die anderen, »verrückt seit damals, als der kleine Japs ihn am Kopf bajonettierte«. Lachend habe er seinen entblößten Penis auf den Esstisch zu legen gepflegt. Und eines Tages habe er ein Baby mit nach Hause gebracht, ein kleines Mädchen, in eine braune Cowboy-Joppe eingewickelt. Er hatte es gegen einen seiner Söhne, vermutlich meinen Vater, den jüngsten, eingetauscht. Meine Großmutter habe ihn gezwungen, den Tausch rückgängig zu machen. Und als er endlich eine eigene Tochter bekommen habe, sei er völlig vernarrt in sie gewesen. Alle müssen sie geliebt haben, ausgenommen vielleicht mein Vater, der einzige Bruder, der niemals nach China zurückkehrte, war er doch einst gegen ein Mädchen eingetauscht worden.

Brüder und Schwestern, sobald sie zu Männern und Frauen geworden waren, mussten ihre Geschlechtsmerkmale verbergen und eine nichtssagende Miene aufsetzen. Lockende Haare und Augen, ein außergewöhnliches Lächeln bedrohten wie nichts anderes das Ideal von fünf Generationen, die unter einem Dach zusammenlebten. Um Uneindeutigkeiten zu vermeiden, schrien die Menschen, wenn sie sich gegenüberstanden und brüllten von einem Zimmer zum anderen. Alle Einwanderer, die ich kenne, haben laute Stimmen, die selbst nach Jahren fern der Heimat, wo man sich über die Felder hinweg Grüße zugerufen hatte, noch nicht auf die amerikanische Lautstärke eingepegelt sind. Es ist mir nie gelungen, das Geschrei meiner Mutter in öffentlichen Bibliotheken oder am Telefon zu dämpfen. Indem ich aufrecht ging (Knie durchgedrückt, Zehen geradeaus, statt auf chinesische Art einwärts gerichtet) und mit fast unhörbarer Stimme sprach, versuchte ich, zur Amerikanerin zu werden. Die Kommunikation der Chinesen hingegen fand laut, öffentlich statt. Nur Kranke mussten flüstern. Am Esstisch aber, wo sich die Familienmitglieder am nächsten kamen, durfte niemand sprechen, weder die Ausgestoßenen noch die Speisenden. Jedes Wort, das dort aus dem Mund fällt, ist eine verlorene Münze. Schweigend gaben und nahmen sie die Speisen mit beiden Händen. Ein zerstreutes Kind, das seine Schale mit einer Hand hielt, wurde mahnend angesehen. Einen Augenblick absoluter Aufmerksamkeit sind alle gleichermaßen schuldig. Kinder und Liebende bilden hier keine Ausnahme, doch meine Tante folgte einer geheimen Stimme, einer ganz privaten Zuwendung.

Sie behielt den Namen des Mannes während der gesamten Zeit ihrer Wehen und ihres Sterbens für sich; sie klagte ihn nicht an, auf dass er zusammen mit ihr bestraft werde. Um den Namen des Kindsvaters zu schützen, gebar sie stumm.

Er mag Mitglied ihres eigenen Haushalts gewesen sein, doch Geschlechtsverkehr mit einem Mann außerhalb der Familie wäre nicht weniger empörend gewesen. Alle Dorfbewohner waren miteinander verwandt, und die mit lauten Bauernstimmen gerufenen Verwandtschaftsgrade ließen diese Familienbande niemals in Vergessenheit geraten. Jeder Mann in der näheren Umgebung wäre als Liebhaber neutralisiert worden: »Bruder«, »jüngerer Bruder«, »älterer Bruder« – hundertfünfzehn verwandtschaftliche Bezeichnungen. Eltern studierten die Geburtstabellen nicht so sehr im Hinblick auf Glück verheißende Konstellationen als vielmehr, um in einer lediglich einhundert verschiedene Nachnamen aufweisenden Bevölkerung Inzest zu vermeiden. Wo jeder Einzelne acht Millionen Verwandte hat. Wie sinnlos also sexuelle Eigenwilligkeit, und wie gefährlich!

Wie aus einem Atavismus heraus, der tiefer saß als die Angst, pflegte ich im Stillen, den Namen der Jungen das Wort »Bruder« hinzuzufügen. Das entzauberte die Jungen, die mich zum Tanz aufforderten oder auch nicht, und machte sie weniger beunruhigend, vielmehr vertraut und meiner Freundschaft so würdig wie die Mädchen.

Doch damit legte ich mich natürlich selbst in Ketten: keine Verabredungen. Ich hätte aufstehen, beide Arme schwenken und durch die ganze Bibliothek rufen sollen: »Hey, du! Lieb mich doch auch!« Aber ich hatte keine Ahnung, wie man seine Attraktivität herausstellt, wie man die Richtung der Gefühle lenkt und in welchem Ausmaß. Wenn ich mich amerikanisch hübsch machte, damit die fünf bis sechs chinesischen Jungen meiner Klasse sich in mich verliebten, würden es auch alle anderen tun – Weiße, Schwarze und Japaner. Schwesterlichkeit, würdevoll und höchst ehrbar, war also weitaus vernünftiger.

Sexuelle Anziehungskraft entzieht sich so hartnäckig der Kontrolle, dass ganze Gesellschaften, dazu bestimmt, die Beziehungen der Menschen zueinander zu organisieren, die Ordnung nicht wahren können, nicht einmal, wenn sie die Menschen von Kindheit an zusammen aufwachsen lassen. Bei den ganz Armen wie bei den Reichen heirateten Brüder, wie Tauben, ihre Adoptivschwestern. Unsere Familie duldete sogar ein bisschen Romantik, bezahlte den Preis für erwachsene Bräute und gab Mitgift, damit die Söhne und Töchter Fremde heiraten konnten. Die Ehe verspricht, Fremde in freundlich gesonnene Verwandte zu verwandeln – ein Volk von Geschwistern.

In der dörflichen Struktur blitzten immer wieder Geister zwischen den Lebenden auf, im Zaum und Gleichgewicht gehalten von Zeit und Land. Doch durch einen einzigen Menschen, der in Gewalttätigkeit ausbrach, konnte sich ein schwarzes Loch auftun, ein Mahlstrom, der den Himmel einsog. Die verängstigten Dorfbewohner, die sich aufeinander verlassen mussten, wollten sie an der Realität festhalten, gingen zu meiner Tante, um ihr persönlich, physisch den Bruch zu vermitteln, den sie in der »Rundheit« verursacht hatte. Falsche Paarungen zerrissen das Band der Zukunft, das durch legale Nachkommen verkörpert wurde. Die Dorfbewohner bestraften sie dafür, dass sie geglaubt hatte, sie könne ein eigenes Leben führen, heimlich und abseits von der Dorfgemeinschaft.

Hätte meine Tante die Familie zu einer Zeit reicher Ernte und des Friedens hintergangen, zu einer Zeit, da viele Söhne geboren und an viele Häuser neue Flügel angebaut wurden, wäre sie dieser schweren Strafe womöglich entgangen. Aber die Männer – hungrig, gierig, des Beackerns der ausgedörrten Erde müde – hatten das Dorf verlassen müssen, um Essensgeld heimsenden zu können. Es gab Geisterplagen, Banditenplagen, Kriege mit den Japanern, Hochwasser. Mein chinesischer Bruder, meine chinesische Schwester waren an einer unbekannten Krankheit gestorben. Ehebruch, in guten Zeiten allenfalls ein Fehltritt, wurde zum Verbrechen, sobald das Dorf Hunger litt.

Runde Mondkuchen, runde Türöffnungen, die runden Tische verschiedenster Größe, eine Rundheit, die in die andere passte, runde Fenster und runde Reisschalen – diese Talismane hatten ihre Kraft verloren, die Familie an das Gesetz zu mahnen: Eine Familie muss vollständig sein, getreu die Generationslinie einhalten, das heißt Söhne haben, die die Alten und die Toten nähren, die wiederum für die Familie sorgen. Die Dorfbewohner kamen, um meiner Tante und ihrem heimlichen Liebhaber ein zerrüttetes Haus vor Augen zu führen. Sie beschleunigten den Kreislauf der Ereignisse, war meine Tante selbst schließlich zu kurzsichtig, um zu erkennen, dass ihre Treulosigkeit dem Dorf bereits Schaden zugefügt hatte, dass die Wogen der Konsequenzen auf unberechenbare Art und Weise wiederkehren würden, zuweilen – wie diesmal – maskiert, um ihr zu schaden. Die Rundheit musste auf Münzengröße reduziert werden, damit sie ihren ganzen Umfang fassen konnte: Man strafte sie bei der Geburt ihres Kindes. Ließ sie das Unabwendbare erkennen. Menschen, die den Fatalismus ablehnten, weil sie imstande waren sich kleine Ruheinseln auszumalen, pochten auf die Schuldhaftigkeit der Tante. Leugneten den Zufall und rangen den Sternen Verschulden ab.

Nachdem die Dorfbewohner verschwunden und ihre Laternen in alle Himmelsrichtungen heimwärts davongezogen waren, brach die Familie das Schweigen und verfluchte sie. »Aiaa, wir werden sterben. Der Tod kommt. Der Tod kommt. Sieh an, was du getan hast. Du hast uns getötet. Geist! Toter Geist! Geist! Du wurdest nie geboren!« Sie rannte auf die Felder hinaus, bis sie die Stimmen nicht mehr hören konnte, und presste sich an die Erde, die ihr eigen nicht mehr war. Als sie die Geburt nahen fühlte, meinte sie, verletzt worden zu sein. Ihr Körper verkrampfte sich. »Sie haben mich zu schwer verletzt«, dachte sie. »Es ist die Bitterkeit, die mich töten wird.« Stirn und Knie auf den Erdboden gedrückt, verkrampfte sich ihr Körper und löste sich wieder. Sie drehte sich auf den Rücken, lag niedergestreckt da. Die schwarze Kuppel aus Himmel und Sternen wich weiter und weiter und weiter zurück; ihr Körper, ihre verwickelte Lage schienen sich aufzulösen. Sie war eins mit den Sternen, ein leuchtender Punkt in der Schwärze, ohne Heim, ohne Beistand, in ewiger Kälte und Lautlosigkeit. Platzangst stieg in ihr auf, höher und höher, füllte sie vollständig aus; sie würde sie nicht mehr unterdrücken können; die Angst würde kein Ende nehmen.

Geschunden, ungeschützt vor dem leeren Raum, fühlte sie den Schmerz zurückkehren, ihren Körper zum Mittelpunkt machen. Der Schmerz ließ sie frösteln – ein eiskalter, gleichmäßiger, oberflächlicher Schmerz. Und in ihrem Inneren löste der andere Schmerz, der Schmerz durch das Kind, spasmodische Hitzewellen aus. Stundenlang lag sie auf der Erde, abwechselnd Körper und leerer Raum. Zuweilen löschte eine Vision normaler Häuslichkeit die Realität aus: Sie sah, wie die Familie sich des Abends um den Esstisch versammelte, wie die Jungen den Älteren die Rücken massierten. Sie sah, wie sie einander an den Morgen, an denen die Reisschößlinge aus dem Boden sprossen, voller Freude gratulierten. Sobald diese Bilder zerstoben, rückten die Sterne noch weiter auseinander. Ein schwarzer leerer Raum öffnete sich.

Sie richtete sich auf, um besser kämpfen zu können, und dann fiel ihr ein, dass abergläubische Frauen ihre Kinder im Schweinestall zur Welt brachten, um die eifersüchtigen, Schmerz austeilenden Götter, die keine Ferkel rauben, irrezuführen. Bevor die nächste Wehe sie packen konnte, lief sie, jeder Schritt ein Sturz ins Leere, zum Schweinekoben. Sie kletterte über den Zaun und kniete sich in den Schlamm. Es war gut, einen Zaun um sich zu wissen, wenn man als Herdenmensch alleine war.

Unter Wehen stieß die Frau dieses Kind, das sie wie einen Fremdkörper, der sie an jedem einzelnen Tag elend machte, getragen hatte, endlich aus. Sie langte hinab zu der warmen, feuchten, sich bewegenden Masse, eindeutig kleiner als alles, was menschlich war, und fühlte, dass es doch ein Mensch sein musste: Finger, Zehen, Nägel, Nase. Sie zog dieses Wesen auf ihren Bauch, und dort lag es, zusammengerollt, mit dem Hinterteil nach oben, ein Fuß unter den anderen gezogen. Sie öffnete ihr weites Hemd und knöpfte das Kind hinein. Als es ausgeruht war, bewegte es sich, strampelte, und sie drückte es an ihre Brust. Es warf den Kopf hin und her, bis es die Brustwarze fand. Dort gab es kleine, schniefende Laute von sich. Sie biss die Zähne zusammen, so bezaubernd war es in seiner Art – wie ein junges Kalb, ein Ferkel, ein Welpe.

In den Schweinekoben ist sie vielleicht in einem letzten Anfall von Verantwortungsbewusstsein gegangen: Sie wollte dieses Kind beschützen, wie sie seinen Vater geschützt hatte. Es würde für ihre Seele sorgen, auf ihrem Grab Speisen niederlegen. Doch wie sollte dieses winzige Kind ohne Familie ihr Grab finden, wo doch nirgends eine Gedenktafel für sie stehen würde, weder auf der Erde noch im Ahnensaal? Niemand würde ihr einen Namen im Familiensaal geben. Sie hatte das Kind in die Verdammung mitgenommen. Bei seiner Geburt hatten beide den harten Trennungsschmerz empfunden, eine Wunde, die nur die fest zusammenhaltende Familie würde heilen können. Ein Kind ohne Ahnentafel würde ihr Leben niemals abrunden, sondern wie ein Geist hinter ihr herschleichen, sie bitten, ihm einen Lebenssinn zu geben. Und im Morgengrauen würden die Dorfbewohner auf dem Weg zu den Feldern um den Zaun herumstehen und starren.

Satt von der Milch, begann der kleine Geist zu schlafen. Als er erwachte, verhärtete sie ihre Brüste gegen die Milch, die vom Weinen eingeschossen war. Gegen Morgen nahm sie das Kind und ging zum Brunnen.

Dass sie das Kind zum Brunnen getragen hat, beweist ihre Liebe. Sie hätte es verlassen, es mit dem Gesicht in den Schlamm drücken können. Mütter, die ihre Kinder lieben, nehmen sie mit. Vermutlich war es ein kleines Mädchen; für Jungen gibt es eine gewisse Hoffnung auf Vergebung.

»Sag niemandem, dass du eine Tante hattest. Dein Vater will ihren Namen nicht hören. Sie ist niemals geboren worden.« Ich habe immer geglaubt, dass Sex etwas ist, worüber man nicht spricht, und dass Wörter so kraftvoll, Väter so schwach sind, dass »Tante« meinem Vater auf geheimnisvolle Weise schaden würde. Ich habe geglaubt, dass meine Familie, nachdem sie sich inmitten von Einwanderern niedergelassen hatte, die schon im Land unserer Vorfahren ihre Nachbarn gewesen waren, ihren Namen reinigen musste und dass ein falsches Wort die Verwandten selbst hier aufwiegeln würde. Aber es steckt noch mehr hinter diesem Schweigen: Sie wollen, dass ich mich an der Bestrafung meiner Tante beteilige. Und nichts anderes habe ich getan.

In den zwanzig Jahren, die vergangen sind, seitdem mir die Geschichte erzählt wurde, habe ich weder nach Einzelheiten gefragt noch den Namen meiner Tante ausgesprochen; ich kenne ihn nicht. Menschen, die den Toten Trost spenden können, können ihnen auch hinterherjagen, um ihnen noch mehr Schmerz zuzufügen – ein umgekehrter Ahnenkult. Die eigentliche Strafe war nicht der von den Dörflern spontan inszenierte Überfall, sondern das bewusste Vergessen durch die Familie. Der Verrat meiner Tante machte sie so wütend, dass die Verwandten dafür sorgten, dass sie auf ewig leiden musste, selbst noch nach ihrem Tod. Immer hungrig, immer bedürftig, würde sie sich von anderen Geistern Speisen erbetteln, sie jenen entreißen, von jenen stehlen müssen, deren lebende Nachkommen Geschenke brachten. Sie würde an Kreuzungen mit zuhauf versammelten Geistern um die Brosamen kämpfen müssen, die vorsorgliche Bürger verteilten, um sie vom Dorf und von ihrem Heim fernzuhalten, damit die Ahnengeister ungehindert speisen konnten. In Ruhe gelassen, konnten sie sich wie Götter und nicht wie Geister verhalten, da ihre Nachkommen sie bis in alle Ewigkeit mit Papieranzügen und -kleidern, mit Geistergeld, Papierhäusern, Papierautos, Hühnern, Fleisch und Reis versorgten – Essenzen, dargebracht in Rauch und Flammen, Dampf und Weihrauch, die aus jeder Reisschale aufstiegen. Um die Chinesen dazu zu bringen, sich auch um Menschen außerhalb ihrer Familie zu kümmern, rief uns der Vorsitzende Mao auf, unsere Papiernachbildungen den Geistern verdienter Soldaten und Arbeiter zu weihen, ohne Rücksicht darauf, wessen Vorfahren sie sein mochten. Meine Tante wird ewig hungern müssen. Auch unter den Toten ist der Besitz nicht gleichmäßig verteilt.

Meine Tante sucht mich heim; ihr Geist fühlt sich zu mir hingezogen, weil ich allein ihr nach fünfzig Jahren der Vernachlässigung mehrere Bögen Papier widme, auch wenn diese nicht zu Häusern und Kleidern gefaltet sind. Ich glaube nicht, dass sie mir immer Gutes will. Ich gebe ihre Geschichte preis, und ihren Selbstmord hat sie in böser Absicht begangen: Sie hat sich im Trinkwasserbrunnen ertränkt. Die Chinesen fürchten sich stets vor den Ertrunkenen, deren weinender Geist mit nassem, hängendem Haar und aufgedunsener Haut schweigend neben dem Wasser wartet, um einen Stellvertreter hinabzuziehen.

Weiße Tiger

Wenn wir Chinesenmädchen den Geschichten der Erwachsenen lauschten, lernten wir, dass unser Lebenszweck verfehlt würde, wenn wir nur Ehefrauen oder Sklavinnen würden. Schließlich konnten wir Heldinnen werden, Schwertkämpferinnen. Eine Schwertkämpferin rechnete mit jedem ab, der ihrer Familie Schaden zufügte, und wenn sie dazu durch ganz China wüten musste. Vielleicht waren die Frauen einst so gefährlich gewesen, dass man ihnen die Füße bandagieren musste. Es war eine Frau, die gerade mal vor zweihundert Jahren den Weißen-Kranich-Stil erfunden hatte. Als Tochter eines Lehrers, ausgebildet im Shao-Lin-Tempel, wo ein Orden kriegerischer Mönche lebte, war sie bereits hervorragend geübt im Stabfechten. Und als sie sich eines Morgens frisierte, ließ sich ein weißer Kranich vor ihrem Fenster nieder. Sie neckte ihn mit ihrem Stab, den er jedoch mit sanftem Flügelschlag beiseite schob. Verwundert lief sie hinaus und versuchte, den Kranich von seinem Platz zu verscheuchen. Er brach den Stab entzwei. Da sie erkannte, dass hier eine große Macht im Spiel sein musste, fragte sie den Geist des weißen Kranichs, ob er sie das Boxen lehren wolle. Er antwortete mit einem Schrei, den die Weißkranichboxer heutzutage imitieren. Später kehrte der Vogel als alter Mann zurück und leitete viele Jahre lang ihr Boxtraining. So schenkte sie der Welt eine neue Kampfkunst.

Dies war eine der harmloseren, moderneren Geschichten, nichts weiter als eine Einleitung. Andere, die meine Mutter erzählte, begleiteten die Schwertkämpferinnen jahrelang durch Wälder und Paläste. Abend für Abend erzählte meine Mutter Geschichten, bis wir einschliefen. Ich könnte nicht sagen, wo die Geschichten aufhörten und die Träume begannen, wann ihre Stimme zur Stimme der Heldinnen in meinem Schlaf wurde. Und am Sonntag, von Mittag bis Mitternacht, gingen wir ins Kino der Konfuzius-Kirche. Wir sahen Schwertkämpferinnen aus dem Stand über Häuser springen; sie mussten dafür nicht einmal Anlauf nehmen.

Schließlich merkte ich, dass auch ich mich in der Nähe einer großen Macht befunden hatte: meiner Geschichten erzählenden Mutter. Als ich größer war, hörte ich das Lied von Fa Mu Lan, dem Mädchen, das den Platz ihres Vaters in der Schlacht eingenommen hatte. Sofort fiel mir ein, dass ich als Kind meiner Mutter im Haus überallhin gefolgt war, während wir beide davon sangen, wie Fa Mu Lan siegreich gekämpft hatte und heil aus dem Krieg zurückgekehrt war, um sich im Dorf niederzulassen. Ich hatte vergessen, dass dieses Lied einst mir gehört hatte, mir geschenkt von meiner Mutter, die dessen Erinnerungsmacht nicht erkannt haben mochte. Sie erklärte, ich würde zur Ehefrau und Sklavin heranwachsen, und lehrte mich zugleich den Gesang der Kriegerin Fa Mu Lan. Ich würde zur Kriegerin heranwachsen müssen.

Der Ruf würde von einem Vogel kommen, der über unser Dach hinwegflöge. Auf den Tuschzeichnungen sieht er aus wie das Schriftzeichen für »menschlich«: zwei schwarze Schwingen. Der Vogel würde die Sonne kreuzen und sich in die Berge hinaufschwingen (die wie das Schriftzeichen für »Berg« aussehen), wo er flüchtig den Dunst teilen würde, der sich sofort wieder zur Undurchsichtigkeit zusammenzöge. Ich würde an dem Tag, an dem ich dem Vogel in die Berge folge, sieben Jahre alt sein. Die Brombeersträucher würden mir die Schuhe zerreißen, die Steine tief in Füße und Finger schneiden, aber ich würde weiterklettern, den Blick fest auf den Vogel gerichtet. Immer wieder würden wir den höchsten Berg umrunden, immer weiter hinauf. Ich würde aus dem Fluss trinken, dem ich immer wieder begegnen würde. So hoch würden wir gelangen, dass sich die Pflanzen verändern würden und der Fluss, der am Dorf vorbeifließt, zum Wasserfall würde. Ganz oben, wo der Vogel verschwände, würden die Wolken die Welt wie mit Tintenlauge verfinstern.

Selbst wenn ich mich an das Grau gewöhnte, würden mir die Bergspitzen nur wie mit Bleistift schattiert erscheinen, die Felsen wie Kohlezeichnungen, alles dermaßen trüb. Lediglich zwei schwarze Striche würde es geben – den Vogel. Inmitten der Wolken – im Atem des Drachen – würde ich nicht wissen, wie viele Stunden oder Tage vergingen. Plötzlich, geräuschlos, würde ich in eine gelbe, warme Welt durchbrechen. Neue Bäume würden sich mir auf dem Bergabhang entgegenneigen, doch wenn ich mich nach dem Dorf umsähe, wäre es unter den Wolken verschwunden.

Der Vogel, nunmehr – der Sonne so nahe – goldfarben geworden, würde angeflogen kommen und auf dem Strohdach einer Hütte rasten, die, bis die Füße des Vogels sie berührten, wie ein Teil der Felswand wirken würde.

Die Tür ging auf, ein alter Mann und eine alte Frau traten heraus; in den Händen hielten sie Schalen mit Reis und Suppe und einen belaubten Zweig mit Pfirsichen.

»Hast du heute schon Reis gegessen, Kind?«, begrüßten sie mich.

»Ja, danke«, antwortete ich aus Höflichkeit.

(»Nein, noch nicht«, hätte ich im wahren Leben gesagt, voll Zorn auf die Chinesen, die so oft logen. »Ich bin halb verhungert. Habt ihr Gebäck? Am liebsten mag ich Schokoladenkekse.«)

»Wir wollten uns gerade zum Essen setzen«, erklärte die Frau. »Möchtest du nicht mit uns speisen?«

Zufällig hatten sie drei Reisschalen und drei Paar Silberstäbchen auf dem Brettertisch unter den Fichten bereitgelegt. Sie gaben mir ein Ei, als hätte ich Geburtstag, und Tee, obwohl sie älter waren als ich, aber immerhin schenkte ich ihnen ein. Die Teekanne und der Reistopf schienen unerschöpflich zu sein, aber vielleicht auch nicht; das alte Paar aß außer den Pfirsichen sehr wenig.

Als die Berge und Fichten sich in blaue Ochsen, blaue Hunde und blaue aufrecht stehende Menschen verwandelt hatten, baten die Alten mich, die Nacht in ihrer Hütte zu verbringen. Ich dachte an den langen Rückweg in der unheimlichen Dunkelheit und stimmte zu. Das Innere der Hütte schien ebenso groß zu sein wie die Umgebung draußen. Ein dichter Fichtennadelteppich bedeckte den Fußboden; jemand hatte die gelben, grünen und braunen Nadeln ihrem Alter entsprechend sorgfältig zu Mustern angeordnet. Als ich ihn achtlos betrat und ein Muster durcheinanderbrachte, ergaben sich neue Farbschattierungen. Der alte Mann und die alte Frau hingegen schritten so bedacht, dass ihre Füße die Muster niemals auch nur um eine Nadel verschoben.

In der Mitte des Hauses ragte ein Felsblock aus dem Boden; das war der Tisch. Als Bänke dienten umgestürzte Bäume. Farne und Schattenblumen wuchsen an einer Wand, der Bergwand selbst. Das alte Paar legte mich in ein Bett, nicht breiter als ich selbst. »Atme gleichmäßig, sonst verlierst du die Balance und fällst hinaus«, ermahnte mich die Frau, während sie mich mit einem Seidensack voll Federn und Kräutern zudeckte. »Opernsänger, die ihre Ausbildung mit fünf Jahren beginnen, schlafen auch in solchen Betten.« Dann gingen die beiden hinaus, und ich sah durchs Fenster, wie sie an einem Strick zogen, der über einen Ast geschlungen war. Der Strick war oben am Dach befestigt, und das Dach öffnete sich wie ein Korbdeckel. Ich würde unter dem Mond und den Sternen schlafen. Ob die Alten auch schliefen, sah ich nicht mehr, so schnell fiel ich in Schlummer, aber am nächsten Morgen würden sie da sein und mich mit dem fertigen Frühstück wecken.

»Du hast jetzt fast einen Tag und eine Nacht bei uns verbracht, Kind«, begann die Alte. Im Morgenlicht sah ich, dass Gold ihre Ohrläppchen zierte. »Meinst du, du könntest es ertragen, fünfzehn Jahre bei uns zu bleiben? Wir könnten dich zur Kriegerin ausbilden.«

»Was ist mit meinen Eltern?«, erkundigte ich mich.

Der alte Mann nahm die Kürbisflasche, die auf seinem Rücken hing. Er hob den Deckel an und suchte nach etwas im Wasser. »Ah, ja, da!«, sagte er.

Zuerst sah ich nur Wasser, so klar, dass es die Fasern im Innern des Kürbisses vergrößerte. Auf der Oberfläche entdeckte ich nichts als mein eigenes rundes Spiegelbild. Der alte Mann umfasste den Kürbishals mit Daumen und Zeigefinger und schüttelte. Das Wasser bewegte sich, beruhigte sich wieder, Farben und Lichter ordneten sich schimmernd zu einem Bild, das etwas spiegelte, was in meiner Umgebung nicht vorhanden war. Dort, auf dem Boden der Kürbisflasche, standen meine Eltern und suchten den Himmel ab, in dem ich mich befand. »Es ist also bereits geschehen«, hörte ich meine Mutter sagen. »So früh hatte ich es nicht erwartet.« »Du wusstest seit ihrer Geburt, dass sie uns genommen werden würde«, antwortete mein Vater. »In diesem Jahr werden wir die Kartoffeln ohne ihre Hilfe ernten müssen«, sagte meine Mutter. Dann wandten sie sich, Strohkörbe in den Armen, den Feldern zu. Das Wasser bewegte sich und wurde wieder einfach zu Wasser. »Mama! Papa!«, rief ich laut, aber sie waren unten im Tal und konnten mich nicht hören.

»Was willst du nun?«, fragte der Alte. »Wenn es dir lieber ist, kannst du sofort wieder umkehren. Du kannst hingehen und Süßkartoffeln ernten, du kannst aber auch bei uns bleiben und lernen, wie man gegen Barbaren und Banditen kämpft.«

»Du kannst dein Dorf rächen«, ergänzte die alte Frau. »Du kannst die Ernten zurückholen, die von den Dieben gestohlen wurden. Du kannst dem Han-Volk durch deine Pflichterfüllung unvergesslich bleiben.«

»Ich bleibe«, entschied ich.

So wurde die Hütte zu meiner Heimat, und ich entdeckte, dass die alte Frau die Fichtennadeln nicht mit der Hand ordnete. Sie öffnete das Dach, ein Herbstwind hob an, und die Nadeln fielen in Zopfmustern nieder – braune Flechten, grüne Flechten, gelbe Flechten. Die alte Frau bewegte die Arme wie ein Dirigent; sie blies behutsam mit gespitzten Lippen. »Die Natur wirkt in den Bergen wahrlich anders als im Tal«, dachte ich.

»Zuerst musst du lernen, dich still zu verhalten«, erklärte mir die alte Frau. Sie ließ mich bei den Bächen zurück, wo ich die Tiere beobachten sollte. »Wenn du laut bist, muss das Wild deinetwegen dürsten.«

Als ich gelernt hatte, den ganzen Tag zu knien, ohne dass sich meine Beine verkrampften, und mein Atem gleichmäßig geworden war, vergruben die Eichhörnchen ihre Vorräte neben dem Saum meines Hemdes und bogen dann die Schwänze in feierlichem Tanz. Bei Nacht betrachteten mich die Mäuse und Kröten, ihre Augen flinke oder träge Sterne. Doch kein einziges Mal sah ich eine dreibeinige Kröte; um die zu ködern, braucht man Schnüre mit Münzen.

Die beiden Alten gaben mir Übungen auf, die im Morgengrauen begannen und bei Sonnenuntergang endeten, sodass ich unsere Schatten, fest verwurzelt in der Erde, wachsen, schrumpfen und wieder wachsen sah. Ich lernte, Finger, Hände, Füße, den Kopf und den gesamten Körper in Kreisen zu bewegen. Ich schritt einher, die Hacken zuerst aufgesetzt, die Fußspitzen um dreißig bis vierzig Grad nach außen gekehrt, um das Schriftzeichen für »acht«, das Schriftzeichen »menschlich« zu bilden. Mit gebeugten Knien vollführte ich jenen langsamen, rhythmischen Schritt, mit dem man kraftvoll in die Schlacht marschiert. Nach fünf Jahren wurde mein Körper so stark, dass ich sogar die Erweiterung der Pupillen in meiner Iris kontrollieren konnte. Ich konnte Eulen und Fledermäuse imitieren. Nach sechs Jahren ließen die Hirsche mich neben sich herlaufen. Ich konnte aus dem Stand sechs Meter hoch springen, wie ein Affe über die Hütte hüpfen. Jedes Lebewesen besitzt eine Fähigkeit, sich zu verstecken und eine Fähigkeit, zu kämpfen, die man sich als Krieger zunutze machen kann. Wenn sich Vögel auf meine Handfläche setzten, vermochte ich meine Muskeln unter ihren Füßen so zu entspannen, dass sie keine Grundlage mehr hatten, von der sie auffliegen konnten.

Aber ich konnte nicht fliegen wie der Vogel, der mich hergebracht hatte – es sei denn, in weiten, freien Träumen.