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In einer fernen Zukunft … Die Überlebenden der Menschheit leben größtenteils in schwimmenden Städten mitten im Meer. Es gibt zehn dieser Städte, Sektionen genannt, und Bryalis ist unter ihnen ein Hort des Wissens ebenso wie ein Ort der Verbrechen. Eigentlich haben Kianis und River Urlaub. Doch eine ungewöhnliche Nachricht bringt sie zu einem Mordfall, der bereits vor elf Jahren geschah. Die Ermittlungen gestalten sich dementsprechend schwierig, doch mit einem Mal überschlagen sich die Ereignisse und ihr eigenes Leben gerät in Gefahr … Ca. 76.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 380 Seiten Der zweite Teil der Bryalis-Trilogie!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
In einer fernen Zukunft …
Die Überlebenden der Menschheit leben größtenteils in schwimmenden Städten mitten im Meer. Es gibt zehn dieser Städte, Sektionen genannt, und Bryalis ist unter ihnen ein Hort des Wissens ebenso wie ein Ort der Verbrechen.
Eigentlich haben Kianis und River Urlaub. Doch eine ungewöhnliche Nachricht bringt sie zu einem Mordfall, der bereits vor elf Jahren geschah. Die Ermittlungen gestalten sich dementsprechend schwierig, doch mit einem Mal überschlagen sich die Ereignisse und ihr eigenes Leben gerät in Gefahr …
Ca. 76.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 380 Seiten
Der zweite Teil der Bryalis-Trilogie!
von
Sonja Amatis
Inhalt
Kapitel 1: Verpasste Momente
Kapitel 2: Flaschenpost
Kapitel 3: Versprechen
Kapitel 4: Erinnerungen
Kapitel 5: Ulma
Kapitel 6: Freudlose Begegnungen
Kapitel 7: Aleiv
Kapitel 8: Hass
Kapitel 9: Halbwegs
Kapitel 10: Seltsamer Besuch
Kapitel 11: Merkwürdige Ideen
Kapitel 12: Traurige Gewissheit
Kapitel 13: Erwachen
Kapitel 14: Schlafende Monster
Kapitel 15: Todeskampf
Kapitel 16: Gespräche
Kapitel 17: Heilung
Kapitel 18: Der Kreis schließt sich
Epilog: Einige Wochen später …
eute war ein freier Tag.
Dementsprechend langsam ließen Kianis und River es angehen.
Kianis war bereits seit mindestens einer Stunde wach, doch er war einfach liegengeblieben, um River nicht aufzuwecken, der im Gästezimmer schlief. Er wusste mittlerweile, dass River alles andere als ein Morgenmensch war, der fröhlich aus dem Bett sprang und sich darauf freute, in den Tag durchzustarten.
Kianis gehörte selbst eher zur morgendlich fitten Kategorie Mensch. Doch es war auch schön, mal liegenbleiben zu können, gemütlich ein Buch zu lesen und mit Muffin zu kuscheln, dem Genießerkater, der im Laufe der Nacht unbemerkt zu ihm ins Schlafzimmer gehuscht war.
Mittlerweile hatte River es allerdings aus dem Bett geschafft. Man hörte ihn im Badezimmer werkeln; er duschte sich gerade – und sang dabei. Es war mit Sicherheit eine alte Volksweise mit vernünftigem Text, Kianis war sich auch halb sicher, die Melodie zu erkennen. Da die dicken Wände und das Wasser die Geräusche dämpften und verzerrten, hörte man im Schlafzimmer bloß etwas, das nach „Ayo ayo, tschumm tschumm hali ayo, bamm boya tschumm tschumm“ klang.
Kianis gluckste, intensivierte die Streicheleinheiten für Muffin, der sich mit lautem Schnurren dafür bedankte, und stand schließlich auf. Freier Tag hin oder her, er benötigte sein Amza, um funktionieren zu können.
„Dein Lieblingsmensch ist nicht unbedingt ein begnadeter Sänger, hm?“, murmelte er, als er mit der Katze auf der Schulter am Bad vorbeischlappte. Auch ohne die dämpfenden Wände klang das Ganze eher laut und fröhlich als nach echtem Gesang. Muffin miaute, augenscheinlich in Zustimmung. Wobei niemand sagen konnte, was der typische Musikgeschmack einer Antylox-Katze sein mochte.
Kianis war gerade damit fertig, zwei große Becher Amza vorzubereiten, als River in die Küche kam. Dampfend, die wilden, langen Rastalocken noch feucht, und lediglich ein großes Handtuch bedeckte das Nötigste.
„Gut’n Morg’n“, brummelte er müde lächelnd. „Ich habe Amza geschnuppert.“
„Perfektes Näschen hat er. Das gleicht die mangelnden Gesangskünste aus, würde ich sagen“, murmelte Kianis an Muffin gewandt. Der gähnte herzhaft, was auch immer das heißen mochte. River lachte hingegen mit einem „Jajaja, und jetzt gib endlich her!“, bevor er sich seinen Amza-Becher schnappte und wieder aus der Küche hinausschlappte. Kianis bekam so die Gelegenheit, für etwa drei Sekunden die halbnackte Kehrseite seines Kollegen und Hausgastes zu bewundern. River war jung, knackig, fit, und entsprechend hübsch war der Anblick.
War es falsch, so etwas zu bemerken?
Nein, beschloss Kianis und nahm einen tiefen Schluck aus seinem eigenen Becher. Er war schließlich auch nur ein Mensch, zudem genauso jung, im besten Fortpflanzungsalter, für alle denkbaren Reize empfänglich. Da durfte man absolut auch hinschauen, wenn es etwas Schönes zu sehen gab, das ihm mit hinreißend natürlicher Anmut und einer Portion unschuldiger Naivität präsentiert wurde. Verwerflich wäre es, würde er diese Unschuld als Einladung ansehen, sie zu verderben. So etwas hatte er definitiv nicht vor. Die Dinge zwischen ihm und River waren ungeklärt … seltsam. Irgendwas zwischen Kollegen, Freunden, Wahlbrüdern. Dieser seltsame Status war zu gut, zu wertvoll und viel zu fragil, um ihn zu gefährden. Kianis war sich ziemlich sicher, dass River auf ähnliche Weise empfand. Da war der eine oder andere Blick gewesen, der Interesse andeutete. Und warum auch nicht? Kianis wusste, dass er selbst recht attraktiv war. Gutes Aussehen war aber nun einmal nicht alles und Sex nicht bedeutsam genug, wenn es andere Dinge zu bedenken galt.
Er beschloss, das Denken sein zu lassen, setzte Muffin sanft auf den Boden ab und ging selbst duschen. Wenn man attraktiv bleiben wollte, durfte man sich nicht gehen lassen … Und gegen merkwürdige Gedankengänge half es hoffentlich gleich mit. Insbesondere, wenn er kaltes Wasser nahm.
„Was hast du heute vor?“, fragte River gut gelaunt, als Kianis und er auf dem Weg in die Unterstadt waren, zu Rivers Elternhaus, um dort gemeinsam zu frühstücken. Sie würden es heute ziemlich ruhig haben, seine Familie war jetzt schon unterwegs zur Arbeit beziehungsweise im Fall seiner jüngsten Schwester Starlight zur Schule.
„Vorhaben? Was meinst du?“, fragte Kianis, der heute Morgen ziemlich abgelenkt wirkte.
„Na ja, was planst du mit deinen freien Tagen? Ich selbst bin noch unentschlossen. Heute Vormittag bleibe ich vielleicht einfach auf dem Bett liegen und lese, aber heute Abend sollte ich mal schauen, ob Freunde von mir Zeit und Lust haben, etwas zu unternehmen. Was machst du denn immer so üblicherweise?“ River war vom Freizeitkonzept seiner neuen Arbeitsstelle noch ein bisschen überfordert.
Bei der Polizeidienststelle in der Unterstadt war es normal, alle vierzehn Tage alternierend zwei bis vier Tage am Stück frei zu haben, je nachdem, wie der Schichtplan passte. Bei der Kriminalermittlung gab es lediglich vier Leute in zwei Teams. Sie konnten nicht einfach ein komplettes Wochenende frei machen und die Dienststelle des S.E.X.Y. unbesetzt lassen – den Section Executive Xenos Yard der Stadt Bryalis. Es war daher üblich, mehrere Wochen am Stück durchzuarbeiten und dann, wenn eine Flaute eintrat und es keinen akuten Fall zu bearbeiten galt, mehrere Tage am Stück frei zu nehmen. Das andere Team überbrückte, falls etwas auftrat. Zurückgerufen wurde man nur, wenn das zweite Team bereits einen sehr eiligen, zeitintensiven Fall bearbeitete, also entweder Menschenschmuggel oder Mord, und ein neuer, ähnlich gewichteter Fall aufkam.
„Hm – normalerweise mache ich Sport, gehe ins Theater, treffe mich mit Freunden“, murmelte Kianis. „Ich hab noch keine konkreten Pläne gemacht.“
„Hör zu – ich will dir unter keinen Umständen im Weg stehen“, sagte River. „Du musst nur ein kurzes Signal senden und ich räume sofort den Platz. Jederzeit. Meine Geschwister würden ein bisschen jammern, wenn ich mich wieder in mein altes Bett quetsche, aber das wäre kein Hinderungsgrund.“
„Hinderungsgrund?“ Kianis blinzelte verwirrt, offenkundig mit den Gedanken ganz woanders und nicht auf derselben Funkfrequenz wie River unterwegs. River lachte.
„Ach komm schon! Ich will es dir nicht buchstabieren müssen!“, rief er. „Wenn du die kommende Nacht lieber mit jemand anderem als mir Haus und Bad teilen möchtest, werde ich dir nicht im Weg sein.“
„Oh!“ Kianis‘ Wangen färbten sich dunkler, was entzückend aussah. „Ähm – also … Danke für das Angebot und die Rücksichtnahme. Geplant hatte ich es jetzt nicht unbedingt, aber ja, so etwas ergibt sich ja auch schon mal spontan … Keine Sorge, in dem Fall würde ich mich bemühen, leise zu sein, statt dich rauszuwerfen.“ Er zögerte, dachte sichtlich nach. „Wie hast du das eigentlich bislang geregelt? Und deine Geschwister? Ich meine, in deinem Elternhaus ist absolut nicht genug Platz für ein nettes Stelldichein.“
Nun war es an River, heiße Wangen zu bekommen und verlegen zu lachen.
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wartet man ab, bis das Haus leer ist, und schmuggelt sein Date mit rein. Wissend, dass sämtliche anwesenden Nachbarn ein Auge darauf haben, und dass jederzeit irgendwelche Familienmitglieder unplanmäßig heimkommen können. Oder man versucht sein Glück beim Haus seines Dates, mit denselben Erschwernissen. Alternativ trifft man sich in einem öffentliches Gebäude und versucht auf der Toilette, in der Abstellkammer oder in irgendeiner anderen dunklen, engen, einsamen Ecke körperlich aktiv zu werden. Es ist peinlich, es ist extrem unerotisch und man feiert sich anschließend, weil man nicht erwischt wurde statt dafür, dass es so viel Spaß gemacht hat.“
„Oh, ihr Heiligen, das klingt ja furchtbar!“ Kianis lachte mit ihm gemeinsam. „In den oberen Ebenen geht es definitiv privilegierter zu. Jedenfalls was den Zugang zu stillen Räumen angeht, in denen man unbeobachtet Dinge treiben kann. Wirklich lustig ist es trotzdem nicht, jedenfalls nicht in den Teenagerjahren. Sex ist wahnsinnig kompliziert, wenn man noch jung ist und herausfinden muss, wie das alles funktioniert, nicht wahr?“
„Ich bin froh, diese Phase hinter mir zu haben“, erwiderte River.
„Also, wenn du ein nettes Date findest, bring es ruhig heim.“ Kianis tätschelte ihm freundlich den Rücken. „Sag mir vorher Bescheid, sei leise und sag deiner Begleitung, dass sie sich manierlich benehmen soll, dann ist alles gut.“
„Danke, das weiß ich wirklich zu schätzen.“ River strahlte ihn an, obwohl er dieses Angebot beim besten Willen niemals in Anspruch nehmen würde. Er hatte keine Zeit für Dates und auch keine Lust, sich stundenlang mit fremden Menschen auseinanderzusetzen, um fünfzehn Minuten Spaß zu haben. Zumal in einem Haus, das ihm nicht gehörte und wo er selbst bloß Gast war. Und wo er den Gastgeber definitiv spannender fand als jeden Fremden, der ihm in einer Bar über den Weg gelaufen war. Nichts davon wollte er gerade mit Kianis diskutieren, also versuchte er es gar nicht erst und war heilfroh, als das Thema damit beendet war.
Eine Viertelstunde später saßen sie im Garten von Rivers Elternhaus und ließen sich das Frühstück schmecken, das seine Mutter für sie beide in der Küche hinterlassen hatte. Das müsste sie nicht tun, River und Kianis hätten sich auch selbst etwas zubereiten können. Es war ihr allerdings ein großes Bedürfnis, sie beide zu füttern, und so ließen sie es geschehen und freuten sich über die friedliche Zeit, die sie hier im Garten verbringen konnten, statt mit dem Kopf schon wieder bei der Arbeit zu sein, weil zumindest bei River noch nicht das Gefühl von Freizeit angekommen war.
Die Sonnenstrahlen erreichten hier unten die dicht gewachsene Waldebene dank geschickt eingestellter Spiegel, die für sanfte Beleuchtung von allen Seiten zugleich sorgten, ohne punktuelle Fokussierung, die Brände verursachen könnten. Es war angenehm hell und warm, der Duft von den zahllosen üppigen Blumen und Blüten, die in diesem Garten ungehindert wuchern durften, hing schwer in der Luft.
Winzige Fingeräffchen tollten umher, aufmerksam beobachtet von Muffin, der lang ausgestreckt auf einem Stein lag. Seine Ohren zuckten hierhin und dorthin, sein puscheliger Schwanz bewegte sich ebenfalls im Takt. Er versuchte jedoch nicht, eines der Äffchen einzufangen. Ob er zu träge war, um seinem Jagd- und Spieltrieb nachzugehen, oder es amüsant fand, die Kleinchen zu beobachten, ließ sich nicht zu bestimmen.
Ein nahezu unterarmlanger Schmetterling, dunkelblau gefärbt mit goldenen Sprenkeln am Flügelrand, flatterte an ihnen vorbei. Kianis wich vor ihm zurück, nicht hektisch, aber wachsam.
„Sie sind harmlos und vermeiden von sich aus Berührungen mit Menschen“, versicherte River.
„Mag sein“, entgegnete Kianis. „Ich finde sie trotzdem ein wenig unheimlich, obwohl sie sehr hübsch sind. Solche Exemplare haben wir nicht in den oberen Ebenen. Überhaupt ist hier die Flora und Fauna völlig anders. Man weiß es ja aus der Schule, es selbst sehen zu können ist trotzdem beeindruckend.“
Bevor River etwas erwidern konnte, erklang das fiepende Signal von Kianis‘ Holoport, das einen Anruf anzeigte.
„Das ist Ingre“, sagte Kianis stirnrunzelnd und nahm den Anruf entgegen. Ingres Gesicht erschien als perfektes, lebensgroßes Hologramm. Sie winkte ihnen beiden zu.
„Guten Morgen, ihr zwei Faulenzer“, rief sie. „Ihr habt es ja hübsch. Seid ihr im Unterstadtpark?“
„Nein, bei Rivers Zuhause. Seine Mutter hat mich zum Frühstück eingeladen.“
River schaffte es, sein Gesicht unbewegt zu halten. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, ob sie den Kolleginnen erzählen wollten, wie eng ihre Partnerschaft inzwischen geworden war. Es war einfach kein Thema, über das geredet werden musste. Dass Kianis es jetzt auf diese Weise elegant umging, war einerseits vollkommen in Ordnung und andererseits … Doch, es störte ihn ein wenig. Er könnte nicht einmal sagen, warum genau. Da es gerade vollkommen unwichtig war, sagte er nichts dazu.
„Hast du Sehnsucht?“, fragte Kianis. „Oder gab es gleich mehrere Fälle?“
„Weder noch.“ Ingre winkte beruhigend ab. „Wenn ihr keine dringenden Pläne nach dem Frühstück habt, kommt gerne trotzdem mal vorbei. Es gibt etwas Interessantes zu sehen. Vielleicht kann River uns etwas darüber erzählen, wir sind etwas ratlos, was es bedeutet. Aber es hetzt nicht, und es kann auch absolut warten, bis ihr wieder im Dienst seid.“
Kianis blickte ihn an.
„Ich für meinen Teil habe heute Morgen noch nichts vor, wie sieht es bei dir aus?“
River zuckte mit den Schultern. „Etwas Interessantes, das ein Rätsel ist, das klingt nach einer guten Methode, um den freien Tag zu verbringen. Also, wir kommen gerne nachher mal vorbei.“
„Wir freuen uns. Aber jetzt frühstückt erst mal schön. Du kannst deine Mutter fragen, ob sie mich auch mal einlädt, River. Der Garten sieht ja fantastisch aus!“
„Mach ich. Sie würde vor Freunde singen, das kann ich versprechen. Ich muss allerdings vorwarnen, meine Geschwister sind anstrengend.“
„Ach was“, widersprach Kianis. „Sie sind laut, sie sind chaotisch, sie sind übermäßig beschützend, sie sind distanzlos und wenn man River bedroht, könnten sie eventuell auch Mordinstinkte entwickeln. Aber anstrengend, nein, es wäre gemein, das zu behaupten.“
„Ich sehe, du hattest schon das Vergnügen … Na dann, Jungs, bis nachher!“
„Bis nachher.“ Kianis winkte und schaltete den Holoport danach wieder ab.
Für eine Weile blieben sie still nebeneinander sitzen, beendeten ihr Frühstück, schauten weiter Muffin zu, der die Äffchen belauerte. Es war schließlich Kianis, der als Erster aufgab.
„Es tut mir leid“, murmelte er. „Wir hatten einfach noch nicht abgesprochen, wie … Ich wollte nicht …“
„Es ist in Ordnung.“ River lächelte ihn breit an, um auf keinen Fall zu zeigen, dass er eben doch ein wenig verletzt war. Schon weil er das selbst albern fand. „Wir haben ja auch sonst noch nicht über Dinge geredet, die Worte verdient hätten. Jetzt war nicht der richtige Moment, um es zu ändern. Ingre und Elena müssen das nicht wissen.“
„Ist jetzt der richtige Moment?“, fragte Kianis mit zweifelndem Ton und blickte knapp an ihm vorbei, statt Augenkontakt zu suchen. „Ich bin nicht gut mit solchen Dingen.“
„Nein“, sagte River fest. „Nein, wir haben ihn verpasst. Aber er wird zurückkommen. Mach dir keine Sorgen. Vertrau dem Prozess. Das sagt meine Mama immer. Vertrau auf den Prozess. Egal ob es ums Kochen, Gärtnern oder wichtige Gespräche geht, es wird sich alles irgendwie finden.“
„Dann … dann habe ich Vertrauen.“ Nun blickte Kianis ihn doch an und lächelte. Sie wussten beide nicht, wohin miteinander. Attraktion allein genügte nicht. Offenkundig waren sie nicht die Typen für schnellen, belanglosen Sex. Als Kollegen gehörten sie nicht zusammen, nicht auf diese Weise. Kianis war ihm vorgesetzt, dadurch verbot es sich erst recht. Verhältnisse mit Machtgefälle, das war gesellschaftlich strikt verpönt. Und der wichtigste Punkt: Kianis stammte aus der Mitte, River aus der Unterstadt. In der Konstellation war alles undenkbar, was über schnellen Sex hinausging. Es gab keine Verbote in dieser Hinsicht, es war lediglich allgemeiner Konsens. Unten blieb unten. Oben blieb oben.
All dies änderte nichts daran, dass da etwas zwischen ihnen war. Namenlos. Verwirrend. Einfach … da. Darüber zu reden würde ihm wohl keinen Namen geben können.
„Lass uns schauen, was die Königinnen gefunden haben“, sagte Kianis schließlich, nachdem sie sich eine gefühlte Ewigkeit gegenseitig in die Augen geblickt hatten, und stand auf. Es war ein Scherz zwischen ihm und Ingre, dass er sie und Elena gelegentlich als Königinnen bezeichnete.
„Muffin? Wir gehen“, rief River und wandte sich von ihm ab. Mit einem Satz aus dem Stand sprang der Kater mehrere Meter durch die Luft und landete zielsicher auf Rivers Rücken. Er zuckte leicht, als scharfe Klauen über seine Haut schrammten, bis Muffin den nötigen Halt gefunden hatte. „Autsch“, sagte er tadelnd, was mit einem leisen, zufrieden klingenden Maunzen beantwortet wurde. Das war wohl die Kurzform von: „Stell dich nicht so an, der kleine Kratzer ist angemessen für die Ehre, mich tragen zu dürfen!“ Womit der Kleine ja recht hatte. Der Auserwählte einer Antylox-Katze zu sein, war eben mit Schmerzen verbunden.
Immer noch kein Vergleich zu den Schmerzen, die eine unerfüllbare Verliebtheit mit sich brachte.
Welch ein Glück, dass Verliebtheit auszuschließen war. So dumm waren sie beide nicht …
und eine halbe Stunde später saßen sie zu viert im Büro der Kriminalermittlung in einem der Verwaltungsgebäude der Mittelstadt. Ingre und Elena freuten sich, dass sie trotz des freien Tages so zügig dem Ruf gefolgt waren. Oyai, ihre Vorgesetzte und Departmentleiterin, hatte heute ebenfalls frei, weswegen sie nicht mit einem Tadel rechnen mussten – eigentlich waren freie Tage heilig und durften nur im Notfall unterbrochen werden. Ein Notfall lag definitiv nicht vor.
„Wir hatten vorhin dem Tipp eines Informanten Folge geleistet“, begann Elena mit der Erklärung, weswegen sie sich hier versammelt hatten. „Eine genaue Angabe, wo sich der Sammlungsort von Menschenschmugglern befindet. Wir haben das gesamte Nest mithilfe der Unterstadt-Polizei ausgehoben. Vier illegale Einwanderer vom Festland sowie ein halbes Dutzend Schmuggler sind in Gewahrsam.“
River zuckte leicht, ohne etwas zu sagen. Kianis konnte sich zumindest intellektuell vorstellen, was in ihm gerade vorging. Auch er und seine Familie waren zunächst illegal nach Bryalis gekommen. Festgeschnallt auf einem wackligen Floß, mit dem sie die über zwanzig Kilometer über das Meer auf sich genommen hatten. Nicht jeder, der mit ihnen diese gefahrvolle Reise begonnen hatte, war auch angekommen, und Rivers Familie war die einzige gewesen, die anschließend Bleiberecht erhalten hatte, während die anderen in ein angeblich sicheres und fruchtbares Tal ausgeflogen worden waren, um dort weiter um ihr Überleben zu kämpfen. Dass er es sicherlich schwierig fand, sich nicht mit diesen Illegalen zu identifizieren, konnte man vermuten.
Schwieriger war die Beurteilung der Schmuggler. Diese Leute rafften an sich, was auch immer die notleidenden Festlandbewohner zu geben hatten, und bereicherten sich auf diese Weise. Es war widerwärtig und wurde kompromisslos mit Exil bestraft, sobald die Täter überführt waren. Der Zorn der Obrigkeit richtete sich dabei stets gegen diese Verbrecher, während man mit den Immigranten behutsam umging, ihnen Essen, Kleidung, medizinische Versorgung gewährte, und jeden Fall einzeln betrachtete. Bleiben durften diejenigen, die großes Potential besaßen, sich in das Stadtleben einzufügen, es gab durchaus den Platz. Wer zu alt oder zu krank für ein Leben auf dem Festland war, wurde dauerhaft aufgenommen, wer jung genug war, um ein vollwertiger Bürger werden zu können, hatte ebenfalls große Chancen. Die über fünfundzwanzigjährigen Flüchtlinge wurden zumeist weitergeschickt. Sie schafften es praktisch nie, sich in die fremdartige Kultur einzugliedern und man tat ihnen keinen Gefallen, wenn man sie dabehielt. Ausnahmen gab es auch von dieser Regel. Rivers Eltern waren Ausnahmen gewesen …
Auf lange Frist wollte man mindestens noch eine weitere Sektionsstadt erbauen, um die verbliebenen Festlandbewohner dorthin umzusiedeln. Zumindest diejenigen, die das wünschten und nicht als Strafe für ein kapitales Verbrechern verstoßen worden waren.
„Die vier Festländer waren eine kleine Familie“, sagte Ingre und musterte River dabei aufmerksam. „Vater, schwangere Mutter, zwei Kinder unter sechs. Diese Eltern sind selbst noch Teenager. Es ist unklar, ob sie sich hier einfügen könnten und ob sie das überhaupt wollen, sollte aber eigentlich kein Ding sein. Deswegen haben wir euch aber natürlich nicht aus eurer wohlverdienten Erholungspause geholt. Die junge Mutter hatte etwas bei sich. Sie hat es mir in die Hände gedrückt und gesagt, ich solle herausfinden, was es bedeutet, dann könnte ich Unrecht gutmachen, das ich nicht verschuldet habe.“
„Das hat sie so gesagt?“, fragte Kianis verblüfft. „Unrecht, das du nicht verschuldet hast?“
„Ja, wortwörtlich, ich schwöre.“
„Es ist von großer Bedeutung“, murmelte River, den Blick auf Muffin fokussiert, den er mittlerweile auf dem Schoß hielt und mit langsamen Bewegungen streichelte. „Auf dem Festland lebende Gruppen haben keine Polizei, keine Matriarchin, keine Sangoma, die den Geist heilen. Wenn Unrecht geschieht, muss die Gruppe selbst entscheiden, wie sie damit umgehen will. Wiedergutmachung hat immense Wichtigkeit für das friedvolle Zusammenleben. Jede Gruppe regelt es auf ihre eigene Art, was verboten ist, welche Rechte und Pflichten jeder besitzt, wie Vergehen geahndet werden.“
„Verstehe“, sagte Ingre. „Und wenn derjenige, der das Verbrechen begangen hat, nicht mehr lebt, muss es jemand anderes übernehmen, es gut zu machen? Damit alles im Gleichgewicht bleibt?“
„Genau“, erwiderte River. „Jede Tat hat Auswirkungen. Weder der Tod eines Opfers noch der des Täters kann diese Auswirkungen beseitigen. Solange es noch mindestens einen Menschen gibt, der sich daran erinnert, was geschehen ist, bleibt die Pflicht zur Sühne und Wiedergutmachung.“
Kianis versuchte sich vorzustellen, wie solch ein Konzept in Bryalis funktionieren würde. Rund zweihunderttausend Menschen lebten hier zusammen. Es würde also mehrere Generationen benötigen, um eine ungesühnte Tat zu vergessen. Das wäre beim besten Willen nicht vorstellbar und auch unfunktional. In einer kleinen Gemeinschaft in der Wildnis hingegen, ja, da konnte er sich das gut vorstellen.
Elena öffnete derweil ihre Schreibtischschublade und zog einen seltsamen Gegenstand hervor. Er sah aus wie eine gewöhnliche Flasche, bloß dass jemand sie angemalt und mit Muscheln beklebt hatte. Das Ganze war ein Kunstwerk, die bunten Farben und Muscheln bildeten ein Muster. Wirklich hübsch sah es nicht aus, weil es nicht sonderlich symmetrisch war und die Farben merkwürdig roh wirkten.
„Wir sind noch nicht dahintergekommen, wie man damit umzugehen hat“, sagte Elena. „Kannst du uns etwas darüber sagen, River?“
„Ja. Nicht zu kompliziert denken.“ Schmunzelnd nahm er die Flasche an sich, holte aus seiner eigenen Schreibpultschublade ein kleines Messerchen und bearbeitete damit den Verschluss. „Er ist in Bienenwachs eingesetzt und versiegelt“, erklärte er. „Das ist die übliche Methode.“
Sie rückten alle näher zusammen, um ihn besser bei der Arbeit beobachten zu können. Ein, zwei Minuten lang puhlte er an dem Siegel. Dann gab es endlich nach und River zog ein Stück Rinde aus der Glasflasche, das als Verschlusspfropfen gedient hatte. Anschließend drehte er sie um, schüttelte sie sanft – und ein Papierbogen fiel heraus. Grobschlächtiges Algen- oder Graspapier, über und über mit seltsamen Tribalmustern bemalt.
„Was ist das?“, fragte Kianis mit gefurchter Stirn. „Es sieht beinahe aus wie Schrift.“
„Das ist eine Art Schrift.“ River zuckte mit den Schultern und lachte, als er die Verwirrung bei Kianis, Elena und Ingre bemerkte. „Ich weiß, wir Festländer gelten als vollkommen ungebildete Analphabeten. Und im weitesten Sinne stimmt das auch. Wir schreiben keine Briefe und keine Bücher. Aber wir haben ein Zeichensystem, das wir in Bäume und Felsen und zur Not in die nackte Erde ritzen, um andere Menschen auf Gefahrenstellen oder Besonderheiten aufmerksam zu machen. Wir nennen diese Zeichen Hiro-Gliffen. Woher dieser Begriff kommt, weiß niemand mehr, glaube ich. Wenn wir etwa eine versteckte Quelle mit sauberem Wasser entdecken, dann ritzen wir das entsprechende Symbol in die Landschaft und fügen noch Wegmarken hinzu, damit man die Quelle mühelos finden kann.“
„Das ergibt Sinn“, murmelte Elena.
„Ich dachte, es ist mehr ein Gegeneinander der verschiedenen Gruppen dort draußen?“, sagte Ingre hingegen.
„Nein, nicht wirklich.“ River schüttelte den Kopf. „Es kann zwar immer zu feindlichen Auseinandersetzungen kommen, gerade im Winter, wenn die Ressourcen richtig knapp werden. Trotzdem warnen wir uns ohne Ausnahme gegenseitig vor giftigen Pflanzen oder Raubtieren im Revier, vor neuen Erdspalten und ähnlichen Dingen. Es gilt als vollkommen ehrlos, so etwas nicht zu tun. Und Zugang zu sauberem Trinkwasser würde man sich auch niemals gegenseitig verwehren. An Trinkquellen gilt absoluter Waffenstillstand. Wer nicht respektiert, dass alle anderen dort draußen ebenfalls Menschen sind, die um ihr Überleben kämpfen, den können nachts die Kojoten fressen und niemand wird um ihn weinen.“
Rivers Blick ging ins Leere. Er hatte von „wir“ und „uns“ gesprochen. Egal wie viele Jahre er nun schon in Bryalis lebte, ein Teil von ihm würde niemals hier wirklich ankommen. Er war mit dem Festland verwurzelt, das konnte man in diesem Moment überdeutlich spüren.
Muffin biss ihm zart in den Arm, was River zusammenfahren ließ. Breit lächelnd kehrte er ins Hier und Jetzt zurück, als wäre er niemals fort gewesen.
„Wenn dich heute Nacht die Kojoten fressen, werden wir um dich weinen“, sagte Ingre und tätschelte ihm freundlich die Schulter. Vermutlich ahnte sie nicht, welche tiefe Bedeutung dieser Spruch tatsächlich besaß. „So, und nun erzähl mal, was steht da geschrieben?“
River deutete auf das erste Symbol. „Das hier ist ein allgemeines Zeichen für ‚Gib acht, pass auf!‘ Es verlangt, besonders aufmerksam zu sein. Das nächste Zeichen, das mit den ulkigen kleinen Zacken da unten, bedeutet normalerweise so viel wie ‚Wahrheit‘. Es ist auf den Kopf gestellt, wodurch es ins Gegenteil verkehrt ist. Dies ist also eine Warnung vor einer Lüge. In der nächsten Zeile sieht man das Zeichen für die Zahl elf.“ Er wies auf etwas, das zwei Fäusten entsprechen könnte, darüber ein dünner Strich. Auch das erschloss sich sinnvoll, zehn Finger und noch einer dazu, das ergab elf. „Dann der Sonnenkreis. Er ist geschlossen, darum ist ein volles Jahr gemeint. Elf Jahre, in diesem Fall. Daneben steht die Hiro-Gliffe für Kuppelstadt, sowie die Zahl eins. Damit wird bei uns Bryalis gezeichnet, das ist die erste Stadt. Es ist durchgestrichen, wie man sieht. Dieses folgende Symbol mit dem kleinen Kreis und zwei waagerechten Strichen steht für ‚Frau‘, und die Tropfensymbole daneben bedeuten entweder Regen oder Tränen. Somit bedeutet diese Zeile: Vor elf Jahren hat eine Frau – vermutlich die Schreiberin selbst – Bryalis verlassen, gegen ihren Willen, denn sie hat es beweint. So. Die nächste Zeile. Das erste Symbol, das an einen Steinhaufen erinnert, steht für den Tod. Da eine Hand nach ihm zu greifen scheint, bedeutet das ‚Mord‘. Dann folgt diese Hiro-Gliffe hier, die für ‚Richter‘ oder ‚Gericht‘ steht, ein Pfeil, der nach rechts zeigt, wieder auf das Symbol ‚Frau‘, wieder mit Tränen.“
„Was bedeutet das alles?“, fragte Ingre verwirrt, während Kianis noch verarbeiten musste, wie komplex diese Symbolsprache war. Das waren nicht bloß ein paar krude Warnzeichen, die in Baumstämme geritzt wurden, um andere Gruppen vor Giftschlangen zu warnen, das war ein eigenständiges Schriftsystem! Warum hatte man noch nie davon gehört? Warum behaupteten alle, selbst die Forscher, dass Festlandgeborene kaum mehr als stammelnde, sprachunfähige, vollkommen ungebildete Idioten waren? Kaum weiter entwickelt als wilde Tiere, ohne jede Kultur oder höheres Verständnis für Technik?
„Da zum Abschluss das Zeichnen für ‚falsch‘ steht, interpretiere ich das so: Vor elf Jahren wurde eine Frau aus Bryalis ins Exil geschickt, für einen Mord, den sie nicht begangen hat“, erwiderte River zögerlich. „Wartet mal … Die ersten beiden Symbole … Das kann ‚Warnung vor einer Lüge‘ heißen, aber es könnte auch bedeuten, dass man den eigenen Augen nicht trauen soll, und …“ Er starrte auf das Papier, drehte es plötzlich auf den Kopf und aktivierte seinen Holoport. Es gab dort eine Funktion, mit der man die Ansicht von Gegenständen vergrößern und beleuchten konnte. Nicht mit der Hochauflösung eines Mikroskops, aber es genügte, um winzige Buchstaben deutlich zu machen – in Normalschrift.
„Ich, Shea Narieve, wurde für einen Mord angeklagt und verbannt, den ich nie begangen habe“, las River vor und blickte die anderen der Reihe nach an.
„Wow!“, murmelte Elena. „Das ist ja mal was ganz anderes.“
„Verbrecher behaupten ja gerne, dass sie vollkommen unschuldig sind. Nur weil diese Person ihre Schuld leugnet, muss das nicht der Wahrheit entsprechen.“ Ingre öffnete ihren Holo-Bildschirm und begann nach etwas zu suchen. „Ich erinnere mich an diesen Namen, das weiß ich. Vor elf Jahren war ich bereits hier.“
„Natürlich warst du das. Vor hundertelf Jahren vermutlich auch schon, oder?“, fragte Elena neckend, auch wenn der Witz reichlich flach daherkam.
„Haha … Da, da ist sie schon.“ Ingre räusperte sich, bevor sie ihren Bildschirm so drehte, dass jeder im Raum mitlesen konnte. Shea war damals einunddreißig Jahre alt gewesen, eine Mittelstädterin, als Teenager mit den Eltern zugezogen aus der Sektionsstadt Berkelet. Sie war Leiterin des Museums für bildende Künste, das unter anderem auch eng mit allen Schulen und Kinderhorten von Bryalis zusammenarbeitete, und den Kindern in Workshops diverse Kunsttechniken wie Töpfern und Malen, aber auch nahezu ausgestorbene Techniken wie Nähen, Flicken, Stricken, Knüpfen und Sticken beibrachte. Sie hatte also einen guten Ruf und hohes Ansehen genossen. Bis sie eines Tages mit der Leiche ihrer Stieftochter in den Armen aufgefunden wurde. Ein vierzehnjähriges Mädchen, die Tochter von Sheas Lebensgefährtin Ulma. Erst hatte man an ein Unglück oder Suizid des Mädchens gedacht, bis die Gerichtsmedizin feststellte, dass Ilva an den Folgen eines brutalen Schlages in den Unterleib gestorben war, der zur Ruptur der Milz und innerem Verbluten geführt hatte. Die kriminalistische Ermittlung hatte ergeben, dass Shea und Ilva den gesamten Tag allein im Haus gewesen waren. Shea hatte jede Beteiligung am Tod des Mädchens geleugnet, sich dann in Widersprüche verstrickt. Das Hohe Gericht hatte ihre Schuld als erwiesen betrachtet und sie aufs Festland verbannt.
Ulma lebte nach wie vor in Bryalis, sie hatte wieder geheiratet und war Mutter von zwei kleinen Jungen, wie Kianis durch kurze Recherche herausfand. Er fühlte sich ein wenig vor den Kopf geschlagen, dass er diese Namen nicht sofort erkannt hatte – er hatte Ilva persönlich gekannt, sie waren gemeinsam zur Schule gegangen. Ihr Tod hatte ihn damals sehr getroffen. Er versuchte erst einmal, sich nichts anmerken zu lassen. Es gab keinen Grund, daraus ein Geheimnis zu machen, doch er wollte mit den Gefühlen, die zu der Erinnerung gehörten, ganz in Ruhe umgehen.
„Der Fall hier wäre völlig uninteressant, wäre jetzt nicht der Brief auf diese kuriose Weise in unsere Hände gelangt“, sagte Ingre. „Warum hat Shea nicht deutlich geschrieben, was sie zu sagen hat? Sie ist stadtgeboren, also hätte sie in unserer Schrift darlegen können, warum sie unschuldig ist und wer die Tat an ihrer statt begangen hat, sofern sie es weiß.“
„Sie musste damit rechnen, dass die Festländer das Siegel brechen und in die Flasche schauen, bevor sie alles neu versiegeln. Ich gehe sogar davon aus, dass genau das geschehen ist“, sagte River. „Menschen sind nun einmal chronisch neugierig. Wenn Shea die Flasche an die Familie übergeben hat, die den Versuch wagen wollte, in die Stadt zu gelangen, dann musste sie dementsprechend vorausplanen. Andernfalls wäre das gute Stück im Meer gelandet, als unnötiger Ballast, mit dem man sich nicht abgeben wollte. Festländer sind erst einmal misstrauisch gegenüber allen Dingen, die sie nicht verstehen. Die Hiro-Gliffen waren demnach für sie gedacht, sie brauchten etwas, das sie verstehen konnten. Jedenfalls ist das meine Interpretation der Dinge.“
„Klingt logisch und nachvollziehbar“, brummte Kianis. „Dennoch seltsam. Shea konnte sich nicht darauf verlassen, dass es hier jemanden gibt, der diese Botschaft lesen kann.“
„Du bist noch nicht ganz wach, oder?“, fragte Elena und stand auf, um ihnen allen Amza zu besorgen. „Denk nach. Shea hat die Flasche an die Festländer-Familie übergeben, die übers Meer wollten. Klar, die hätten auch ertrinken können, aber dann wäre die Botschaft ebenfalls weg gewesen. Diese Boten wären jedenfalls in der Lage gewesen, die Nachricht zu lesen und sie uns zu erklären.“
„Schon gut, Entschuldige. Ich hatte wohl wirklich noch nicht genügend Amza.“ Kianis hatte nie Schwierigkeiten, einen Fehler zuzugeben. Es gab viel, was er seinen Eltern vorwerfen konnte. Sie hatten ihn vor die Tür gesetzt, als er gerade erst sechzehn gewesen war, sie hatten ihm nie allzu viel Liebe zuteil werden lassen, sie hatten nie gezögert, ihn daran zu erinnern, dass er verpflichtet war, die bestmögliche Leistung zu bringen und einen Beruf zu ergreifen, den sie als ehrenvoll ansahen – Anwalt, Politiker, das wäre das Minimum in ihren Augen gewesen und in der Hinsicht hatte er vollkommen versagt. Doch sie hatten ihm auch einige gute Eigenschaften anerzogen und durch Vorbild vorgelebt, und das war eines davon.
„Nun denn.“ Ingre drehte und wendete den Briefbogen, suchte nach weiteren Hinweisen. Als keine mehr zu finden waren, steckte sie die Nachricht zurück in die Flasche. „Wir haben keine Handhabe hier“, sagte sie. „Oyai kommt erst in zwei Tagen wieder, solange wir sie nicht aus dem Frei rufen. Ein Brief einer verurteilten Mörderin ist noch kein Grund, irgendetwas zu unternehmen. Aber vielleicht habt ihr zwei ja Lust, euren Vormittag damit zu verbringen, euch ein bisschen damit zu beschäftigen?“ Sie zwinkerte ihnen zu. „Eure Entscheidung. Es ist absolut eure Entscheidung, wie ihr eure freien Tage nutzt.“ Sie drückte Kianis die Flasche in die Hand. „Ich würde euch dann jetzt auch rausschmeißen. Oyai macht mich mindestens einen Kopf kürzer, wenn sie dahinterkommt, dass ich euch ins Büro gerufen habe.“
„Ach was.“ Kianis winkte ab. „Niemand kann dir vorwerfen, dass du mit zwei von deinen Lieblingskollegen Amza in der Frühstückspause trinken wolltest, und ihnen dabei noch etwas Unterhaltsames gezeigt hast, hm?“ Er nickte River auffordernd zu. „Na komm, lassen wir die beiden Königinnen allein.“
Sie verabschiedeten sich von den Frauen und blieben dann vor der Tür stehen. Kianis wedelte mit der Flasche durch die Luft.
„Also wenn du nichts anderes im Moment geplant hast, könnten wir gerne mal mit der Festland-Familie reden“, sagte er. „Es ist kein Muss. Ich bin einfach neugierig.“ Und der Fall ging ihm nah …
„Machst du Witze? Ich finde das sehr spannend!“ River nahm die Flasche an sich und musterte den Muschelschmuck. „In den Ruinenstädten haben wir eine Menge von diesen Flaschen gefunden“, sagte er. „In luftdicht abgeschlossenen Hohlräumen vor allem. Es ist eine seltsame Vorstellung, dass dieses Ding vor tausenden von Jahren hergestellt wurde und heute noch einen Nutzen hat, obwohl diejenigen, die es erschaffen haben, schon lange tot und vergessen sind.“
„Ich finde das irgendwie tröstlich.“ Kianis zuckte mit den Schultern. „Eine schöne Vorstellung, dass manches die Jahrtausende überdauern kann. Es wäre lustig, wenn wir fünftausend Jahre in die Zukunft reisen und einem Team von Forschern dabei zusehen könnten, wie sie in den zerbrochenen Überresten von Bryalis herumwühlen und zu interpretieren versuchen, wie unser Leben hier gewesen ist. Was würden sie über uns denken?“
„Ihr Heiligen, das will ich gar nicht wissen.“ River winkte ihm zu und marschierte voran, mit Muffin auf der Schulter. Kianis dachte an seine letzte Beziehungskiste. Ja, es war schon lange her, dass er sich die Zeit für solche Dinge genommen hatte, und keinen dieser Menschen hatte er je in seinem Haus übernachten lassen. Fest stand jedenfalls: Keiner von denen hätte einen freien Tag für ehrenamtliche Ermittlungsarbeiten genutzt, einfach nur, weil es interessant war. Keiner von denen hätte verstanden, warum er das gerne tun wollte, sondern hätten herumgejammert, wie viel besser man die schöne Zeit hätte nutzen können.
Ein Glück, das er mit keinen von denen seine eigene Zeit verschwenden musste!
River versuchte sein Bestes, sein Unbehagen nicht zu zeigen. Obwohl es siebzehn Jahre her war, erinnerte er sich an diese Räumlichkeiten, als wäre es gestern gewesen.
Die Regierung war bemüht, illegale Einwanderer menschlich zu behandeln. Sie wurden zunächst ärztlich untersucht nach der zumeist traumatischen Überfahrt, mindestens ein Sangoma befragte sie behutsam, ob es Todesfälle gegeben hatte. Man erklärte ihnen die Einrichtungen im Bad und wie diese genutzt wurden, gab ihnen passende Kleidung, Nahrung, frisches Wasser. Danach wurden sie in einem Gebäude in der Unterstadt einquartiert. Da sie keine Ident-Tattoos besaßen, konnten sie dieses Gebäude nicht ohne Hilfe verlassen, was als Wachmaßnahme in der Regel genügte. Darum durften sich die Menschen ansonsten frei im Gebäude bewegen und hatten dabei auch die Möglichkeit, einen Innenhof zu nutzen, der unter freiem Himmel lag und hübsch bepflanzt war. Niemand hinderte sie daran, in diesem Hof zu schlafen, wenn ihnen das lieber war, als sich in ein steinernes Gebäude zu quetschen.
Es hatte sich wenig verändert, musste River feststellen. Er erkannte alles wieder. Das Licht, das ihn damals so verstört hatte, weil die Salzkristalllampen in den Wänden wie ein Wunder für ihn gewesen waren. Der Geruch. All die Menschen, die auf dem blanken Boden saßen, weil sie an Stühle und Tische nicht gewöhnt waren. Menschen, in deren hohläugigen Gesichtern knochentiefe Erschöpfung und Trauer nistete. Leere Blicke überall. Frauen, die ihre Babys stillten und versuchten, die etwas älteren Kinder zu bändigen, die nicht verstanden, was mit ihnen geschehen war. Er erinnerte sich. Erinnerte sich viel zu intensiv.
Die Leute beobachteten ihn. Sie erkannten ihn als einen der ihren, verstanden, dass er Bleiberecht erhalten hatte. Dass er sich einfügen konnte. Niemand sprach ihn an, dafür war die Angst zu groß, die Ungewissheit, was mit ihnen jetzt geschehen würde. Ob sie bleiben durften oder fortgebracht werden würden.
Ein Mann eilte durch die Halle auf sie zu. Er war groß, schmal, tiefschwarz. Sein kahler Schädel glänzte wie poliert. Tribal-Tattoos zierten sein Gesicht, und Schmucknarben verrieten, warum er hier arbeitete, mit den Flüchtlingen, von denen er einst selbst einer gewesen war.
„Die Herren von der Kriminalermittlung“, sagte er leise und winkte ihnen, ihm zu einem kleinen Büroraum zu folgen. „Ich hoffe, es geht um Menschenschmuggler, denen das Handwerk gelegt werden muss? Diese Leute sind die Pest! Wir haben momentan zum Glück nicht viele Gäste bei uns, die geschmuggelt wurden.“
Tatsächlich gab es unter diesen Schmugglern auch Menschen, die das Wohl der Festländer im Sinn hatten. Sie versuchten nicht, so viele Luxuswaren wie nur möglich zu erpressen und die hilflosen Menschen dann eben doch auf wacklige Boote mitten auf dem Meer im Stich zu lassen. Stattdessen nutzten sie Fluggleiter und brachten in erster Linie Frauen und Kinder durch die Kanäle in die Stadt, wo sie sie direkt den Behörden übergaben. Die dritte Sorte sammelte Menschen von Flößen ein, schleuste sie in die Stadt ein und hielt sie gefangen, um sie sexuell auszubeuten oder für irgendwelche widerwärtigen Experimente zu missbrauchen. Das wäre ziemlich sicher das Schicksal der Familie gewesen, die Ingre und Elena heute morgen befreit hatten, denn ansonsten gab es keinen Grund, diese Menschen irgendwo eingesperrt festzuhalten.
„Unsere Kolleginnen kümmern sich um die Schmuggler“, sagte Kianis. „Wir haben ein paar Fragen an die Familie, die heute früh hergebracht wurde. Reine Routine, wir werden sie nicht lange belästigen.“
„Braucht es einen Anwalt?“, fragte der Verwalter und betrachtete River dabei intensiv.
„Nein“, erwiderte Kianis fest. „Es geht nicht um die Feststellung von Straftaten und wie gesagt, für den Fall als solches sind unsere beiden Kolleginnen zuständig. Wir beide kümmern uns um einen anderen Fall, bei dem die Familie möglicherweise etwas wissen könnte. Wir werden behutsam mit ihnen umgehen, wir wissen, dass sie von ihrer Gefangennahme traumatisiert sind.“
„Die junge Frau ist schwanger, beschränken Sie sich bitte auf das Nötigste.“ Ohne weitere Fragen führte der Verwalter sie eine Treppe hinauf zu den Schlafräumlichkeiten. „Wenn etwas ist, kontaktieren Sie mich. Ich verlasse mich darauf, dass es keine Unannehmlichkeiten geben wird.“ Er nickte River zu. Sie kannten sich aus der Zeit, als River Polizist in der Unterstadt gewesen war und beinahe täglich illegitime Einwanderer aus den meerwärts liegenden Kanälen aufgesammelt und hergebracht hatte. Zumeist waren sie hochgradig traumatisiert und erschöpft gewesen und dankbar, dass sich irgendjemand um sie gekümmert hatte. In all der Zeit hatte River nie den Namen des Verwalters erfahren. Es war auch nicht notwendig. Er war der Mann, der für Ordnung sorgte, für Nahrung, für Heilung, für sichere Schlafplätze. Er war mehr eine Institution als ein Mensch, Namen sorgten da nicht immer für mehr Klarheit.
Kianis klopfte leise an der Tür, wartete einige Momente und öffnete sie behutsam. Vier Augenpaare blickten ihnen furchtsam entgegen. Zwei kleine Jungen, grob geschätzt vier und fünf Jahre alt, schmiegten sich schutzsuchend an die Beine ihres Vaters. Der schien kaum älter als neunzehn zu sein und schob sich beschützend vor seine hochschwangere Frau, die auf dem Bett lag. Auch sie war noch ein Kind, vielleicht achtzehn Jahre, wenn es hochkam. Schmucknarben überzogen ihren linken Arm, genau wie die des jungen Mannes, eine recht ansehnliche Sammlung von stilisierten Blumen. Jedes Blütenblatt bestand aus zwei gebogenen Linien. Jedes Blütenblatt symbolisierte eine tödliche Gefahr, die sie überlebt hatten.
„Tihuu, Tihuu“, sagte River und hob beide Hände in einer beschwichtigenden Geste. So begegnete man auf dem Festland fremden Gruppen, als Zeichen, dass man unbewaffnet und friedlich war. Keineswegs zufällig hatte er seine Hemdsärmel hochgekrempelt. Auch wenn es lediglich ein einziges Blütenblatt war, das seinen Arm zierte, es war ein starkes Zeichen. Sofort entspannten sich die beiden Erwachsenen, und somit wurden auch die Kinder ruhiger.
„Wir möchten uns setzen“, sagte River, unterstrich seine Absicht mit Gestik und nutzte bewusst den Festländer-Dialekt, den er nach wie vor fließend beherrschte. Er unterschied sich durch viele Eigenbegriffe von der Allgemeinsprache. Inwieweit Kianis dem Gespräch würde folgen können, war nicht klar, zur Not würde River es ihm anschließend übersetzen.
„Sei unser Gast“, murmelte die junge Frau, ohne den Kopf zu heben. Sie schien unverletzt, vermutlich war sie zu Tode erschöpft von der gefährlichen Überfahrt und den ausgestandenen Ängsten. Es war selten, dass Festlandfrauen einen männlichen Gefährten an sich banden. Normalerweise wusste niemand, wer der Vater der Kinder war, es interessierte auch nicht weiter. Stattdessen zogen kleine Frauengruppen ihre Kinder gemeinsam auf, und interagierten mit nah gelegenen Männergruppen. Auch gemischte Gruppierungen waren häufig, bei denen die Männer Verantwortung für jedes Kind übernahmen, weil jeder von ihnen der Vater sein könnte. Diese beiden hier schienen einen Liebesbund eingegangen zu sein, so wie auch Rivers Eltern es getan hatten. Es war riskant, so etwas zu tun. Wenn der Vater der Kinder sicher feststand, fühlten sich andere Männer nicht unbedingt verantwortlich. Es könnte erklären, warum diese kleine Familie die riskante Reise angetreten hatte – eben weil es noch gefährlicher gewesen wäre, als Kleinfamilie in der Wildnis zu bleiben.
River stellte sich und Kianis vor, während sie sich auf Sitzkissen niederließen. Muffin sprang derweil von seiner Schulter auf das Bett, tapste wachsam auf die Frau zu, schnüffelte und legte sich dann dicht an den riesig aufgewölbten Bauch nieder, um zu schnurren wie ein kaputter Lüfter. Es brachte die Frau zum Lächeln, sie streichelte behutsam über Muffins mähnengekröntes Köpfchen.
„Ich bin Veela“, sagte sie. „Das ist mein Gefährte, Mayim, und unsere Söhne Tibis und Nart.“
„Sie sind wunderschön und stark“, erwiderte River, eine traditionelle Antwort, wenn eine Mutter stolz ihre Kinder präsentierte. Worte besaßen die Macht, die Welt zu formen, denn nach der überlieferten Glaubensvorstellung versteckten sich überall Geister, die die Sterblichen belauschten. Drückte man seine Sorge laut aus, dass jemand kränklich oder schwach wirkte, dann könnte ein Geist sich angeregt fühlen, denjenigen ins Totenreich mitzunehmen. Natürlich wusste River, dass dies Unsinn war, doch für Festländer war es tagtägliche Realität. Jeder Kratzer konnte sich zur tödlichen Wunde entzünden, und ob man dafür nun böswillige Geister oder Bakterien verantwortlich machte, an Ursache und Wirkung gab es nichts zu rütteln. Zum Glück wirkten die Jungen tatsächlich halbwegs gut genährt und kräftig genug.
„Dürfen wir eine Frage stellen?“, bat River und ließ sich von Kianis die Flasche anreichen. „Ihr hattet dies bei euch. Wir haben die Botschaft gefunden. Könnt ihr uns von Shea erzählen?“
„Rede du“, murmelte die Frau und stieß ihren schweigsamen Gefährten an.
„Shea ist eine Ouwalla“, sagte Mayim folgsam. River nickte als Zeichen, dass er das Wort verstand. Eine Ouwalla war eine Stadtgeborene, die aufs Festland verbannt worden war. Einen entsprechenden Mann würde man Ouwit nennen. „Ich erinnere mich, wie sie mit dem Fluggerät gebracht wurde. Sie hat geweint, tagelang geweint. Wir haben ihr Nahrung hingestellt, obwohl es erst aussah, als würde sie sterben wollen. Das machen viele Vertriebene, sagt man. Sich hinlegen und sterben. Aber dann hat Shea den Kampf aufgenommen, sich eine kleine Hütte bei uns in der Nähe gebaut und gelernt zu leben. Sie war gut, kannte viele Pflanzen zum Essen und zur Heilung und konnte Kleidung weben, als wäre sie auf dem Land geboren. Wir mochten sie alle. Veela und ich wollten mit den Kindern in die Stadt siedeln, damit unsere Kleinen bessere Chancen haben als wir. Shea wusste davon, sie hat lange mit uns darüber gesprochen. Als wir uns verabschiedeten, hat sie uns die Flasche gegeben. Sie sagte, ihr Urteil war Unrecht und sie wollte, dass man in der Stadt davon hört. Shea ist sehr krank, ich weiß nicht, ob sie noch lebt.“
„Welche Krankheit hat sie?“, fragte River nach.
„Die Seitenkrankheit“, murmelte Veela. River nickte bekümmert. Als er Kianis‘ Verwirrung bemerkte, übersetzte er: „Shea hatte eine Blinddarmentzündung, als Veela und Mayim sich von ihr verabschieden wollten. Dagegen gibt es keine Heilung, wenn es wirklich ernst ist, und solche Operationen können nicht durchgeführt werden. Es ist ein langsamer, sehr hässlicher und schmerzhafter Tod.“ Manche brauchten Wochen, bis sie an ihrem geplatzten Blinddarm dahingesiecht waren.
„Unrecht ist Unrecht“, flüsterte Veela. „Wir sind ausschließlich wegen Shea schon jetzt los. Ihre Geschichten haben mich mein halbes Leben lang begleitet. Sie hat uns und den Gruppen in der Umgebung viel Wissen und Können gebracht. Wir wollen das für die Kinder. Unsere Kleinen sollen hier in der Stadt aufwachsen und das erlernen, was Shea konnte. Wir wissen, wie hart es sein wird, dass man uns Quomus nennt, dass unsere Kinder ausgelacht und ausgegrenzt werden würden. Trotzdem wollen wir das. Wir hätten gewartet, bis das Kleine in meinem Bauch geboren ist und sich entschieden hat, ob es überlebt. Als Shea krank wurde, mussten wir versuchen, herzukommen. Sie ist ein guter Mensch.“
„Wir kümmern uns darum“, versprach River. „Wir schauen, was wir tun können, um das Unrecht auszumerzen. Gibt es noch etwas, was ihr braucht?“
„Diese Leute, die uns gefangengenommen hatten …“ Mayim erschauderte. „Vor denen müssen wir keine Angst mehr haben? Sie wollten uns wehtun. Uns und den Kleinen, und sie wollten das Ungeborene stehlen.“
„Die beiden Frauen, die euch befreit haben, sorgen dafür, dass diese Leute euch nie wieder anfassen können. Sie werden ihre Strafe erhalten. Sie werden tuubau.“ Verurteilte Menschenschmuggler erhielten ein besonderes Tattoo auf der Schläfe. Es signalisierte den Festländern, dass diese Leute die schlimmste Art von Verbrechern waren. Wer als tuubau
