Die Seelenlicht Chroniken - Katrin Gindele - E-Book

Die Seelenlicht Chroniken E-Book

Katrin Gindele

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Beschreibung

Ich bin in deine Welt gekommen, um die meine zu beschützen. Hier jage ich Schatten, jene Kreaturen, die vom Dunklen Magier erschaffen wurden, um mein Volk zu unterwerfen. Ich werde nicht ruhen, bis ich alle Schatten vernichtet habe. Denn das ist meine Bestimmung. Aus Fremden werden Freunde. Aus Sympathie wird Zuneigung. Als Hannah auf Mickal trifft, ahnt sie noch nicht, in welcher Gefahr sie schwebt, und als die Situation außer Kontrolle gerät, stößt sie an ihre Grenzen. Mickal setzt alles daran, um sie zu beschützen, doch erst als ihr klar wird, wie skrupellos die Schatten sind, beginnt sie zu verstehen, dass der dinarische Krieger ihre einzige Chance ist. Schon bald steht Hannah vor einer Entscheidung, die ihr bisheriges Leben unwiderruflich auslöschen wird. Und wenn die Entscheidung gefallen ist, gibt es kein Zurück mehr … Ke shalan dour – ich gehöre dir.

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Jessica Strang

Stapenhorststraße 15

33615 Bielefeld

www.tagtraeumer-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Buchsatz: Laura Nickel

Lektorat/ Korrektorat: Libri Melior Lektorat & Korrektorat

Umschlaggestaltung: Anna Hein

https://fuchsias-weltenecho.de/

©Shutterstock.com

Covermodel: Stephanie Roski

Illustrationen: Sandra Vorholzer

Druck: Printed in Germany

ISBN: 978-3-946843-77-1

Alle Rechte vorbehalten

© Tagträumer Verlag 2020

Die Seelenlicht

Chroniken

Mickal & Hannah

Katrin Gindele

Für Franzi,

weil du einer der wundervollsten Menschen bist,

die ich kennenlernen durfte.

Prolog

Ich spürte ihren eindringlichen Blick und fragte mich, was ihr wohl gerade durch den Kopf ging.

»Pass auf dich auf«, sagte sie mit einem Lächeln, das gezwungen wirkte. Ihre Sorge um mich, um uns alle, konnte sie nur schwerlich hinter diesem Lächeln verbergen. »Und tut mir leid wegen des Zauberfeuers«, setzte sie nach, »denn du darfst es leider nicht mitnehmen.«

Warum eigentlich nicht?

Ich fragte sie nicht danach, sondern trat einen Schritt vor, um mich von ihr umarmen zu lassen. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Haltung zeugte jedoch von unermesslichem Stolz. Diese junge Frau, so klein und zierlich sie mir auch vorkam, hatte mehr Willensstärke bewiesen als mancher Krieger.

»Mach dir um mich keine Sorgen«, versuchte ich sie zu beruhigen. Um mich musste man sich nicht sorgen, das war in meinen Augen völlig unnötig, denn bis jetzt hatte ich noch jeder Herausforderung getrotzt.

Ihre sanften Augen suchten erneut meinen Blick, als sie den Kopf hob und mich ansah. »Wir sehen uns wieder«, beschwor sie mich. »Eines Tages werden wir uns wiedersehen. Versprichst du es?«

»Natürlich«, nickte ich und erwiderte ihr zaghaftes Lächeln. »Wie könnte ich der Kraljica einen Wunsch abschlagen?«

»Mickal!« Sie trat einen Schritt zurück, während sie das Gesicht verzog. »Nenn mich nicht so«, tadelte sie mit strenger Miene. Doch dann seufzte sie leise, was mich ein bisschen verlegen machte. »Komm einfach wieder nach Hause, okay?«

Kapitel 1

»Du musst etwas essen.« Behutsam führte ich die Schüssel mit heißer Gemüsebrühe an ihre bleichen Lippen. »Nur ein paar Löffel«, beschwor ich sie.

Doch ihre Lippen blieben geschlossen.

Ich seufzte. »Mom, wenn du nichts essen willst, dann werde ich Dr. De Luca rufen, damit er dir eine Infusion verpasst. Ich scherze nicht. Nicht diesmal. Das ist mein voller Ernst.«

Ganz langsam hob sie den Kopf, ihre Augen wanderten in meine Richtung. Wenn Mom mich ansah, dann war es, als würde ich in einen Spiegel der Zukunft blicken. Ihre wunderschönen kupferfarbenen Haare, die in leichten Wellen bis über ihre Schultern fielen. Ihre großen blauen Augen, so strahlend wie ein Sommertag. Mom war eine wunderschöne Frau. Doch auch wenn wir uns so ähnlich sahen, gab es einen gravierenden Unterschied, der mich furchtbar ärgerte. Während mein Gesicht übersät war von unzähligen kleinen Sommersprossen, hatte Mom eine Haut wie eine Porzellanpuppe. Das war so ungerecht.

»Mom, komm schon«, bat ich, als sie noch immer keinerlei Anstalten machte, den Mund zu öffnen. »Verdammt noch mal, du bist nicht die Einzige, die trauert!«

Ihr Blick war fest auf mich gerichtet, doch sie schien mich nicht zu sehen. Ihre Augen sahen durch mich hindurch, als würde ich überhaupt nicht existieren. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, meine Gedanken wanderten zurück zu jener verhängnisvollen Nacht, als wir beide einen Teil unserer Familie verloren hatten.

Mein Vater und mein Bruder waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das Auto war in einer Kurve von der Straße abgekommen, hatte sich mehrfach überschlagen und war in Flammen aufgegangen. Für Dad und Tony war jede Hilfe zu spät gekommen.

Das war vor über fünf Jahren gewesen. Bis heute hatte niemand eine Erklärung dafür, was in jener Nacht tatsächlich passiert war.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte unsere Familie in Slowenien gelebt, wo ich den Großteil meiner Kindheit verbracht hatte. Eigentlich waren wir ständig umgezogen, nicht nur von einer Stadt zur nächsten, sondern meistens gleich in ein anderes Land. Inzwischen beherrschte ich fünf Sprachen und konnte zwei weitere zumindest so gut sprechen, dass es in Slowenien für einen halbwegs vernünftigen Schulabschluss gereicht hatte.

Nach dem Tod meines Vaters und meines Bruders waren wir wieder umgezogen, diesmal nach Italien. Mom hatte es damals furchtbar eilig gehabt. Kaum zwei Wochen nachdem Dad und Tony beerdigt worden waren, war unser Haus verkauft, die Tiere an einen ortsansässigen Bauern abgegeben und unsere schönen alten Möbel bei einem Antiquitätenhändler in Zahlung gegeben worden. Außer meinen Klamotten, ein paar Büchern und einem Kuscheltier aus meiner Kindheit – ein kleiner Stoffhase – durfte ich nichts mitnehmen.

Zu diesem Zeitpunkt schien es tatsächlich so, als würde sich Mom wieder erholen. Sie hatte ein Haus für uns direkt am Meer gekauft, mit einem kleinen Garten und einer Veranda. Während der nächsten Monate hatte sie ihre ganze Energie in die Renovierung gesteckt, hatte neue Möbel besorgt und ein Gemüsebeet angelegt. Nach einem halben Jahr hatte unser Leben wieder Stück für Stück ein gewisses Maß an Realität angenommen, eine Art Leben danach.

Doch der Schein hatte getrügt, wie ich sehr bald herausfinden musste. Mom war es nicht besser gegangen. Nicht ein bisschen.

Die ganze Zeit über hatte sie ihre Trauer vor mir verborgen, so lange, bis ihre Kräfte schwanden. Sie schien zu altern, in einer Geschwindigkeit, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Von einem Tag auf den anderen war ihre feurige Mähne von einzelnen grauen Strähnen durchzogen, um ihre Augen hatten sich immer mehr kleine Fältchen gebildet. Ich hatte praktisch dabei zusehen können, wie Mom stetig älter wurde. Und dann war der Tag gekommen, an dem sie so schwach war, dass sie das Bett hüten musste. Seitdem hatte sie ihr Bett kaum noch verlassen.

Äußerlich sah sie trotz der grauen Strähnen und kleinen Fältchen keinen Tag älter aus als fünfundvierzig, doch innerlich schien sie zu sterben, ganz langsam. Jeden Tag ein bisschen. Und ich wusste einfach nicht, wie ich ihr helfen sollte.

Beinahe kam es mir so vor, als wäre ein Teil von ihr an jenem Tag zusammen mit Dad gestorben. Und der andere Teil würde ihm schon bald folgen.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Mom unerwartet den Mund öffnete.

»Braves Mädchen«, lobte ich und schob den Löffel behutsam zwischen ihre Lippen.

»Rede nicht mit mir, als wäre ich ein kleines Kind«, murmelte sie. »Ich bin immer noch deine Mutter.«

»Dann verhalte dich auch so!«, rutschte es mir heraus.

Es war immer dasselbe: Meine Klappe war schneller als mein Hirn. Dadurch hatte ich schon zweimal den Job verloren, weil ich immer aussprechen musste, was mir gerade durch den Kopf ging.

»Tut mir leid«, entschuldigte ich meine unbedachte Wortwahl. »Aber du machst es mir in letzter Zeit wirklich nicht einfach.« Als Mom nichts erwiderte, setzte ich nach: »Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe. Manchmal rede ich einfach drauflos, ohne vorher zu überlegen.«

Da lächelte sie. Ein winziges, kaum wahrnehmbares Lächeln. »So warst du schon immer«, stellte sie fest. »Noch nie hast du dich darum geschert, was andere von dir denken. Und das ist auch gut so.«

Ich lächelte ebenfalls, teils vor Erleichterung, weil sie endlich etwas gegessen hatte, vor allem aber, weil ich genau wusste, worauf sie anspielte. »Meinetwegen hattest du ziemlich oft Ärger mit den Lehrern«, schnitt ich das Thema kurz an. »Weil ich so ein vorlautes Mädchen bin.«

Das waren nicht meine Worte, sondern die der jeweiligen Lehrkräfte. Andere Länder, andere Sitten, sagt man. Das Komische war nur, wenn es darum ging, mich nach allen Regeln der Kunst anzubrüllen, weil ich mal wieder nicht so wollte, wie es von mir erwartet wurde, dann waren sich alle Lehrer einig, ganz egal, in welchem Land.

Mom lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich, indem sie ihre Hand zärtlich an meine rechte Wange schmiegte. »Du bist etwas ganz Besonderes, Hannah. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden.«

Für einen Moment schloss ich die Augen und kuschelte meine Wange in ihre Handfläche. Sie war weich, aber eiskalt. »Ich bin wertvoller als ein Schatz«, wiederholte ich die Worte, die ich als Kind so oft von ihr gehört hatte. »Ein Schatz, auf den man aufpassen, der behütet und beschützt werden muss.«

Langsam öffnete ich die Augen. Mom lächelte noch immer, auch wenn es sie sehr anzustrengen schien.

»Ich muss jetzt zur Arbeit«, erklärte ich und stellte die Schüssel mit der restlichen Brühe auf den Nachtschrank, gleich neben das Glas Wasser, welches immer in greifbarerer Nähe stand und dennoch kaum angerührt wurde. »Kommst du ein paar Stunden ohne mich klar?«

Mom nickte. »Natürlich.« Doch als ich aufstehen wollte, ergriff sie meinen Arm und hielt mich fest. »Du musst auf dich achtgeben«, mahnte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Sie werden kommen. Schon bald.«

Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte. »Wer wird kommen, Mom?«

Sie beugte sich ein wenig vor, was ihr sichtlich schwerfiel. Dann flüsterte sie so leise, dass ich mich anstrengen musste, um etwas zu verstehen: »Die Monster.«

Stunden später zeigte ich einem weiteren Pärchen das Haus, doch Moms Worte hingen noch immer hartnäckig in meinen Gedanken fest.

Die Monster.

Was um alles in der Welt wollte Mom mir damit sagen? Sie musste verwirrt sein, eine andere Erklärung gab es dafür nicht.

Oder aber, überlegte ich, während mir das ältere Ehepaar gehorsam ins nächste Zimmer folgte, Mom spielte damit auf die Geschichten an, die Dad mir so oft erzählt hatte, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war.

Die Geschichten handelten von einem bösen König, der sein Volk versklavte, um einer Prophezeiung zu entgehen, und von unheimlichen Kriegern, die Jagd auf Menschen machten und sie einen nach dem anderen zur Strecke brachten.

Das musste es sein, sinnierte ich. Mom war nicht verrückt geworden. Bedingt durch ihren geschwächten Zustand hatte sie einfach nur etwas durcheinandergebracht.

»Ach, ich weiß nicht …«, murmelte die Interessentin. Die ältere Dame, die zusammen mit ihrem Mann nun schon zum zweiten Mal das Haus besichtigt hatte und wahrscheinlich auch noch ein drittes Mal vorbeikommen würde, ehe sie sich entscheiden konnte, blickte hilflos zu mir und fragte: »Was meinen Sie dazu?«

Ich verdrängte die düsteren Gedanken und konzentrierte mich stattdessen auf meinen Job. Meine Aufgabe war es, dieses Haus an den Mann zu bringen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für jedes verkaufte Objekt erhielt ich eine kleine Prämie, und die hatten wir wirklich bitternötig, denn unser Erspartes war längst aufgebraucht.

Signore Russo, der ortsansässige Makler, war ein freundlicher alter Mann mit einem Herzen so groß wie Italien. Obwohl ich über keinerlei Erfahrung verfügte, hatte er mir eine Chance gegeben, wofür ich ihm ewig dankbar sein würde. Doch er konnte mir nicht sehr viel bezahlen und ohne die zusätzliche Provision reichte mein Gehalt kaum zum Leben, weshalb ich an drei Abenden in der Woche noch ein paar Stunden an einer Tankstelle aushalf. Nichtsdestotrotz war es eine Arbeit, die ich gern verrichtete, vorausgesetzt natürlich, ich schaffte es, hin und wieder ein Haus zu verkaufen.

»Das Dach müsste repariert werden«, sprach ich aus, was mir als Erstes in den Sinn kam. »Hier regnet es zwar nicht so oft, aber wenn, dann haben Sie einen kleinen Teich im Schlafzimmer.«

Die Dame starrte mich erschrocken an.

»Das sind nur ein paar Kleinigkeiten«, beruhigte ich sie schnell. »Und wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine sehr gute Firma empfehlen, die schnell und sauber arbeitet und noch dazu sehr günstig ist.«

Schon vor langer Zeit hatte ich mir geschworen, immer ehrlich zu den Menschen zu sein, ganz egal, um welchen Preis, denn ich hasste nichts so sehr wie Lügen – und das hatte seinen Grund.

Eine Zeit lang hatte meine Familie in Amerika gelebt. Dort war ich auch geboren worden, weshalb ich meine Eltern noch heute mit Mom und Dad ansprach. Damals musste ich ungefähr acht oder neun gewesen sein. Meine beste Freundin war gemein zu mir gewesen, so richtig gemein, was ich bis heute nicht vergessen konnte. Im Beisein ein paar anderer Mädchen hatte sie mich zu einem See bestellt, angeblich, weil wir dort ein nettes Picknick machen wollten. Bis heute wusste ich nicht, warum sie sich von den anderen Mädchen hatte dazu überreden lassen, denn beste Freundinnen tun so etwas nicht. Beste Freundinnen halten zusammen.

Es gab einen Steg, der weit hinaus auf den See führte, und von dort aus hatten sie mich ins Wasser geschubst. Das Wasser war eiskalt gewesen, und ich hatte nicht schwimmen können, was wohl keine meiner angeblichen Freundinnen gewusst hatte, denn sie waren in Panik geraten, als ich nach einigen hilflosen Versuchen, mich über Wasser zu halten, untergegangen und nicht mehr aufgetaucht war.

Ein Spaziergänger war meine Rettung gewesen. Er war ins Wasser gesprungen und hatte mich an Land gezogen.

Nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, war ich nach Hause gerannt. Und wer weiß, vielleicht hätte ich meine Freundin am nächsten Tag zur Rede gestellt, sie gefragt, warum sie mich angelogen hatte, um mich zum See zu locken. Doch dazu hatte ich keine Gelegenheit mehr bekommen.

Als ich damals in die Straße einbog, in der wir gewohnt hatten, hatte ich schon von Weitem meinen Dad erkannt, der zusammen mit meinem Bruder diverse Kisten aus dem Haus geschleppt hatte. Noch in derselben Nacht waren wir umgezogen.

Doch eines war klar: Wäre der Spaziergänger nicht gewesen, würde ich heute nicht hier stehen und Häuser verkaufen.

»Ich muss noch eine Nacht darüber schlafen«, holte mich die Dame in die Wirklichkeit zurück. »Können wir uns das Haus morgen noch einmal ansehen?«

»Natürlich.« Ich ließ mir nicht anmerken, wie frustriert ich war. »Wie wäre es morgen gegen siebzehn Uhr?«, schlug ich vor und trug die Uhrzeit in meinen Kalender ein, nachdem die Dame zugestimmt hatte. »Soll ich bei der Gelegenheit die Firma kommen lassen, damit sie sich das Dach ansieht?«

Die Dame wechselte einen ratlosen Blick mit ihrem Mann.

»Tun Sie das«, antwortete dieser nach einigen Sekunden mit einem Lächeln.

»In Ordnung.« Hastig machte ich mir hinter dem Termin eine Notiz, dann begleitete ich das Pärchen nach draußen und schloss die Haustür ab. »Dann sehen wir uns morgen«, verabschiedete ich mich. »Einen schönen Tag noch.«

Die Dame winkte mir kurz zu, ehe sie im Inneren ihres Wagens verschwand.

Ich seufzte leise und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle, um Signore Russo über die Lage zu informieren. Ein Auto konnten Mom und ich uns nicht leisten.

Das Gespräch mit meinem Chef dauerte viel länger, als es eigentlich sollte. Er zeigte mir einige neue Objekte, weil er meine Meinung hören wollte. Dadurch blieb mir kaum noch eine halbe Stunde Zeit, bis meine Schicht an der Tankstelle begann.

Der Bus, mit dem ich eigentlich nach Hause fahren wollte, hatte Verspätung. Natürlich. Nun blieb mir nicht einmal mehr die Zeit, um mich vorher umzuziehen, was mich zwar tierisch nervte, aber sich nun nicht mehr ändern ließ.

»Auch das noch«, schimpfte ich leise vor mich hin, als ich völlig durchgeschwitzt die Tankstelle betrat. Dank meiner Verspätung war ich nun gezwungen, meinen zweiten Job in der Arbeitskleidung meines ersten Jobs anzutreten.

»Bist du nicht ein bisschen zu schick angezogen?«, begrüßte mich Patrizia mit hochgezogener Augenbraue.

Ich nahm meine Arbeitskollegin und beste Freundin in den Arm und küsste sie auf beide Wangen, so wie es hier Brauch war. Dabei schlüpfte ich aus meinen Pumps und zog die Spange aus meinen Haaren. »Mein Chef hat mir noch ein paar Häuser gezeigt, und der Bus hatte auch schon wieder Verspätung«, beschwerte ich mich. »Du hast nicht zufällig einen zweiten Haargummi dabei?«

Patrizia war eine hochgewachsene Schönheit, mit langen dunklen Haaren und haselnussbraunen Augen. Ihre Haut war das ganze Jahr über sonnengebräunt, was mich furchtbar neidisch machte, denn meine schneeweiße Haut wollte einfach keine Farbe annehmen, und das, obwohl ich nun schon so lange in Italien lebte. Ich wurde höchstens knallrot.

»Nimm den hier«, bot sie an und zog den Haargummi aus ihrem Pferdeschwanz.

Schnell band ich meine Haare zusammen, streifte meinen Blazer ab und zog die weiße Bluse aus meinem Rock, damit mein Outfit nicht ganz so streng wirkte. Das graue Kostüm, welches ich trug, war eindeutig viel zu schick, aber was sollte ich machen?

»Besser so?«

Ihre Augen wanderten an mir herunter. »Willst du meine ehrliche Meinung hören?«, grinste sie.

Ich stöhnte innerlich. »So schlimm?«

Patrizia winkte ab. »Du siehst bezaubernd aus, genauso wie die Tussis, die für meinen Vater arbeiten.«

»Na, vielen Dank auch.«

Ihr Dad besaß ein Autohaus für Nobelkarossen, dort gab es tatsächlich einige Damen, die den ganzen Tag über in solch einem Kostüm herumstolzierten.

Warum Patrizia dennoch für ein paar Stunden pro Woche an einer Tankstelle aushalf, obwohl ihre Familie über ein sehr großes Vermögen verfügte, entzog sich meinem Verständnis. Einmal hatte ich sie darauf angesprochen, aber sie meinte nur, sie tue es gern.

»Du hast gesagt, ich soll immer ehrlich zu dir sein«, neckte sie mich augenzwinkernd. »Das ist die Wahrheit.«

Ich nickte, dankbar für ihre Ehrlichkeit. »Das muss für heute reichen. Die paar Stunden schaffe ich schon, außerdem ist Donnerstag, da ist sowieso nicht viel los.«

Mit einem Tritt beförderte ich meine Pumps unter den Tresen, quetschte den Blazer in meine Handtasche und machte mich barfuß daran, das Wechselgeld in der Kasse nachzuzählen, was eigentlich nicht nötig war, weil Patrizia nie einen Fehler machte.

»Kann ich dir etwas erzählen?«, fragte sie mich, während sie an einer Flasche Wasser nippte.

»Klar«, nickte ich und drückte die Schublade an der Kasse zu. »Schieß los, was gibt’s?«

Patrizia ließ die Flasche sinken. »Ich bin schwanger.«

Meine Augen wurden riesengroß. »Echt? Und?«

Sie zögerte keine Minute mit ihrer Antwort. »Was denkst du denn«, schmunzelte sie. »Marcello wird ausflippen. Er liebt Kinder und will eine große Familie.«

Marcello war ihr Verlobter und ein ganz lieber Kerl, der Patrizia auf Händen trug.

»O Mann, das ist ja krass«, jauchzte ich und fiel meiner Freundin um den Hals. Dann trat ich einen Schritt zurück und verschränkte gespielt beleidigt die Arme. »Und was wird nun aus unserem wöchentlichen Cocktailabend?«

Dank Patrizia, die ich gleich an meinem ersten Abend in der Tankstelle kennengelernt hatte, durfte ich mich inzwischen über einen großen Freundeskreis freuen. Ihre Freunde hatten mich allesamt mit offenen Armen empfangen, wofür ich ihr heute noch unendlich dankbar war.

»Unseren Samstagabend gibt es auch weiterhin«, versicherte sie mir. »Zumindest noch so lange, wie ich in meine Kleider passe. Alkoholfreie Cocktails sollen gar nicht so übel schmecken, hab ich gehört.« Sie verzog das Gesicht, als ich sie zweifelnd anblickte. »Sind ja nur ein paar Monate, das werde ich schon überleben.«

»Ich freue mich so für dich«, sagte ich und drückte sie noch einmal fest an mich. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Meine Mutter wird ausflippen«, prophezeite sie, nachdem ich sie losgelassen hatte. »Seit zwei Jahren liegt sie mir damit in den Ohren, dass wir endlich heiraten sollen, weil sie Enkelkinder will. Ich meine, hallo, ich bin sechsundzwanzig. Ist ja nicht so, als wären meine Eierstöcke schon vertrocknet.«

Trotz der sieben Jahre Altersunterschied verstanden wir uns prächtig. Patrizia war für mich wie die große Schwester, die ich nie gehabt hatte. Nach meiner Mom war sie die engste Vertraute in meinem Leben, worüber ich unendlich froh war.

»Dann werde ich mal gehen«, sagte sie und griff nach ihrer Handtasche. »Ich werde für Marcello kochen und ihm dann die freudige Nachricht überbringen.«

»Viel Glück«, rief ich ihr hinterher, obwohl wir beide wussten, dass es überhaupt nicht nötig war. Marcello würde sich riesig freuen, davon war ich überzeugt.

Nach zwanzig Minuten kam die erste Kundin zum Tanken. Zusätzlich kaufte sie eine Zeitschrift und zwei Flaschen Cola. Mein Italienisch war inzwischen so perfekt, dass ich beinahe ohne Akzent sprach. Sprachen lernen, das war mir schon immer sehr leicht gefallen. Zum Glück, sonst hätte ich wahrscheinlich nicht jedes Mal so schnell Anschluss gefunden.

»Ti auguro una buona serata«, verabschiedete ich die Kundin. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.

Danach blieb es eine Stunde lang ruhig, nur zwei ältere Herren kamen vorbei, um nach dem Weg zu fragen.

Kurz vor Ende meiner Schicht füllte ich das Regal mit ein paar Flaschen Wasser auf, und ein Motorrad kam langsam auf die Tankstelle zu. Ohne den Helm abzunehmen, stieg der Fahrer von seiner Maschine ab, ging in die Hocke und fummelte an seinem Vorderreifen herum.

Ich drehte mich um, stellte mich auf die Zehenspitzen und lugte durchs Fenster. Das Motorrad war mattschwarz, eine ausländische Rennmaschine, das erkannte ich sofort, denn das gleiche Modell war mein Bruder damals gefahren. Die brachte locker dreihundert Sachen auf die Straße.

Mein Blick wanderte vom Motorrad zum Besitzer. Verdammt, dachte ich, der Typ musste fast zwei Meter groß sein. Und obwohl er mit dem Rücken zu mir hockte, entging mir nicht, wie extrem muskulös er gebaut war. Das schwarze Shirt spannte sich gefährlich eng um seine massigen Oberarme, als er sich nach vorn beugte und an dem Vorderreifen herumhantierte. Seine Jeans saß tief auf den Hüften und wirkte ziemlich ausgewaschen. Die hatte auch schon bessere Tage gesehen.

Eine Weile überlegte ich, ob ich lieber hier drinnen warten sollte, doch dann ging ich kurz entschlossen nach draußen. »Posso aiutarti?« Kann ich Ihnen helfen?

Der Typ wandte sich mir zu, machte sich jedoch nicht einmal die Mühe, das Visier an seinem Helm hochzuschieben. »No«, antwortete er nur, dabei wanderte sein Blick abschätzend an mir herunter, das konnte ich spüren.

Natürlich nicht, dachte ich zähneknirschend. Weil ich so aussah, als hätte ich keine Ahnung von Motorrädern?

Angespannt straffte ich die Schultern. »Non parli italiano?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, dass er meine Hilfe nicht ablehnte, weil er kein Italienisch konnte, sondern weil ich eine Frau war. Eine Frau, die barfuß, mit rosa lackierten Zehennägeln samt grauem Rock und weißer Bluse, vor eine Tankstelle stand.

Er richtete sich auf, wie in Zeitlupe, und ich wich ein Stück zurück, weil er so riesig war. Seine Statur überragte mich um gut zwei Köpfe.

»Wir können uns auch auf Englisch unterhalten«, schlug ich hastig vor. »Oder meinetwegen auch auf Deutsch oder Slowenisch.«

Seine Hände wanderten nach oben, dann löste er den Verschluss und zog den Helm vom Kopf.

Oh, wow! Breite Schultern, kräftige Arme, schmale Taille. Scharf geschnittene Wangenknochen, ein eckiges Kinn. Seine schulterlangen, honigblonden Haare standen im starken Kontrast zu der sonnengebräunten Haut, und die strahlend blauen Augen waren atemberaubend schön. Doch sein stechender Blick wirkte eiskalt und unberechenbar.

»Ich habe einen Platten«, erklärte er auf Englisch. »Und du siehst nicht so aus, als würdest du wissen, was zu tun ist.« Sein durchdringender Blick war fest auf mich gerichtet, stechend und kühl, als würde ihm nie etwas entgehen.

Ich kniff die Augen zusammen. Hielt der mich für blöd?

Dann trat ich mutig einen Schritt vor. »Du musst den Reifen entweder flicken oder einen neuen aufziehen, was anderes wird dir wohl nicht übrig bleiben.«

Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, offenbar hatte ich ihn beeindruckt, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, was an meiner Aussage so beeindruckend gewesen sein sollte.

»Dann unterhalten wir uns also auf Englisch«, schlug ich vor, als er nichts weiter sagte. »Ist dir das recht?«

Er nickte nur, drehte den Kopf und starrte sein Vorderrad an, das immer mehr an Luft verlor. »Einen neuen Reifen«, erklärte er nach einer Schweigeminute. »Hast du so was?«

»Nicht dieses Modell«, gab ich zu verstehen. »Den müsste ich erst bestellen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wie lange?«

Entnervt warf ich ihm einen Seitenblick zu. »Sag mal, kannst du auch in ganzen Sätzen sprechen, oder redest du immer so?« Ich war ja nun wirklich nicht kleinlich, aber so etwas mochte ich gar nicht. »Muss man dir jedes Wort aus der Nase ziehen?«, fragte ich angesäuert. »So etwas gehört sich nicht.«

Ich spürte, dass er mich wieder musterte, und plötzlich fühlte sich meine Haut viel zu eng an. Mir wurde heiß unter seinem eindringlichen Blick. Sehr heiß.

»Fangen wir noch mal von vorne an«, versuchte ich die Situation zu entschärfen und streckte meinen Arm aus, um ihm die Hand zu reichen. »Ich bin Hannah. Und du bist?«

Sein Blick wanderte zu meinem ausgestreckten Arm, doch er machte keinerlei Anstalten, meinen Gruß zu erwidern. »Nicht interessiert«, gab er zurück, ohne mit der Wimper zu zucken.

Mir klappte die Kinnlade herunter. So etwas Unfreundliches war mir in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. »Nicht interessiert?«, blaffte ich und ließ den Arm sinken. »Bist du dir etwa zu fein, dich vorzustellen? Sag mal, was hast du für ein Problem?«

Zu meinem Erstaunen antwortete er mit einem Lächeln, wovon mir beinahe die Knie weich wurden, wäre ich nicht so sauer gewesen.

»Bin gespannt, wie du dein Problem lösen willst«, stellte ich klar, wirbelte herum und kehrte an meinen Arbeitsplatz zurück. Der Typ sollte bloß nicht denken, dass ich mir solch ein Benehmen gefallen lassen würde. Sollte er doch selbst sehen, woher er einen neuen Reifen bekam. Hier in der Nähe gab es weder eine andere Tankstelle noch eine Werkstatt, und selbst wenn, diese Art von Reifen hatte niemand vorrätig, davon war ich felsenfest überzeugt.

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schnappte ich mir eine Flasche Wasser aus dem Regal, stellte mich damit demonstrativ vor die große Fensterscheibe, drehte langsam den Deckel auf und nahm einen kleinen Schluck.

Er schaute zu mir herüber, seine Augen folgten meiner Hand, als ich die Flasche erneut an meine Lippen führte.

»Hast du etwa Durst?«, dachte ich laut, mit einer Befriedigung, die mein Grinsen noch breiter werden ließ. »Hier sitze ich am längeren Hebel, mein Freund, und wenn du etwas von mir willst, dann wirst du gefälligst darum bitten, und zwar in ganzen Sätzen.«

Natürlich war mir klar, dass er mich dort draußen nicht hören konnte, doch das war mir egal. Allein es laut auszusprechen reichte mir schon völlig, und meine Laune hob sich dadurch auf der Stelle ein wenig.

Siegessicher setzte ich mein schönstes Lächeln auf und winkte ihm zu, mit der Wasserflasche in der Hand. Als er mich perplex anstarrte, mit gerunzelter Stirn, da er offenbar nicht wusste, was er davon halten sollte, verpuffte auch der letzte Rest meiner schlechten Laune.

So oder so, der Typ würde zu Kreuze kriechen, was anderes blieb ihm gar nicht übrig. Entweder das oder er musste seine Reise zu Fuß fortsetzen, und bei diesen Temperaturen würde er nicht sonderlich lange durchhalten.

Leise singend ging ich hinter den Tresen, stellte mein Wasser ab und drehte die Musik, die immer im Hintergrund lief, etwas lauter. Dieser Abend, so stressig er auch begonnen hatte, würde mit Sicherheit noch sehr interessant werden.

Kapitel 2

Nachdem ich meine Kasse abgeschlossen und das Geld im Tresor verstaut hatte, kehrte ich hinter den Tresen zurück. Dort angekommen, bückte ich mich, schnappte mir meinen Blazer und die Schuhe samt Handtasche und richtete mich wieder auf.

Verdammt!

Der Motorradfahrer stand unvermittelt vor dem Tresen, so nah, dass ich vor Schreck leise aufschrie.

Er verneigte sich leicht und fragte schmunzelnd: »Könnten wir noch mal über das Problem mit meinem Reifen sprechen?«

Ich fühlte mich ein wenig überrumpelt, zögerte einen Moment und antwortete schließlich: »Meinetwegen.«

Während ich den Computer wieder hochfuhr, um die Bestellung einzugeben, beobachtete er mich aufmerksam.

»Was für einen brauchst du?«, fragte ich kühl, ohne aufzusehen. Der sollte bloß nicht denken, er könne mich behandeln wie irgendeine blöde Tussi, nur weil ich im Businesskostüm hinter dem Tresen stand.

»120/70 ZR17 von Bridgestone.«

Ich nickte. »BT 015 M?«

Er zog eine Augenbraue hoch und nickte perplex.

Eins zu null für mich, dachte ich schmunzelnd. Schließlich hatte ich meinem Bruder oft genug über die Schulter geschaut, daher wusste ich ganz genau, welchen Typ Reifen er für diese Maschine brauchte.

»Mindestens eine Woche«, gab ich die Antwort des Herstellers an ihn weiter. »Bei anderen Anbietern dauert es noch länger.«

»Eine Woche?«, wiederholte er entgeistert. »Soll das ein schlechter Witz sein?«

In Italien dauerte alles ein wenig länger, das war eigentlich kein Geheimnis.

Ich räusperte mich. »Soll ich nun bestellen oder nicht?«

Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, nickte er schließlich mit grimmiger Miene.

»Okay«, stimmte ich zu und brachte die Bestellung zum Abschluss. »Dann bräuchte ich noch deine Nummer, damit ich dich erreichen kann, wenn die Lieferung eintrifft«, erklärte ich.

Er zögerte und ich verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was glaubst du, was ich mit deiner Handynummer vorhabe? Auf Flyer drucken und in der Stadt verteilen?«

So ein Idiot!

Statt mir zu antworten, fragte er: »Gibt es hier in der Nähe irgendwo ein Hotel?«

Hotels gab es natürlich reichlich, allerdings würde er dort kein Zimmer bekommen. »Wir haben Hauptsaison«, klärte ich ihn auf. »Ich glaube nicht, dass es noch freie Zimmer gibt.«

Sein intensiver Blick erfasste mich, er kniff die Augen zusammen. »Du hast nicht zufällig eine freie Couch übrig?« Bevor ich ablehnen konnte, fügte er hastig hinzu: »Selbstverständlich würde ich dafür bezahlen. Sagen wir … fünfhundert?« Er grinste, offenbar war ihm nicht entgangen, dass ich ihn abwimmeln wollte.

»Fünfhundert?«, japste ich. Meine Augen wurden riesengroß.

»Pro Nacht«, nickte er.

Beinahe wäre mein Herz stehen geblieben. Fünfhundert pro Nacht. Um so viel Geld zu verdienen, müsste ich wochenlang Doppelschichten schieben.

Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte – der Typ war an Unfreundlichkeit und Arroganz kaum zu übertreffen –, musste ich mir eingestehen, dass wir das Geld sehr gut gebrauchen konnten.

»Ähm …« Ich musste verrückt sein, auf solch ein Angebot einzugehen. »Okay«, stimmte ich zu, auch wenn mir meine eigene Antwort gewaltig gegen den Strich ging.

Seine Miene erhellte sich schlagartig. »Kann ich mein Motorrad hier irgendwo unterstellen?«, fragte er mit einem Blick auf seine Maschine.

Zögernd deutete ich zum Ausgang. »Rechts neben der Tankstelle ist ein kleiner Schuppen.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte nach draußen. Vor seinem Motorrad ging er in die Hocke und fummelte kurz unterhalb des Sitzes herum, wo er mehrere Gurte löste, die eine lange schmale Tasche hielten. Kurzerhand nahm er die Tasche mit dem Ledergurt und warf sie sich über die Schulter, dann schob er das Motorrad zum Schuppen.

Ich sammelte meine Sachen ein, machte die Musik sowie alle Lichter aus und aktivierte die Alarmanlage. Dann schloss ich die Ladentür ab und steckte den Schlüssel in meine Handtasche.

»Wo steht dein Auto?«, fragte er, kaum dass ich alles erledigt hatte.

»Ich habe kein Auto«, gab ich ihm zu verstehen. »Von hier aus ist es aber nicht sehr weit. Etwa zwanzig Minuten zu Fuß.«

Meine Antwort schien ihn zu verblüffen. Verstohlen musterte er mich aus den Augenwinkeln.

Tja, mein Freund, dachte ich innerlich grinsend. Die Schickimicki-Tussi parkte nun mal keinen Ferrari hinter der Tankstelle, er musste wohl oder übel laufen.

Eilig schlüpfte ich in meine Pumps und setzte mich in Bewegung. Er folgte mir.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er nach einer Weile und musterte mich prüfend.

Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern, weil ich noch immer sauer auf ihn war. »Ich hatte mich bereits vorgestellt, aber du warst nicht sonderlich daran interessiert, irgendwelche Höflichkeiten auszutauschen.«

Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als ich zu ihm spähte, offensichtlich hatte er nicht mit so einer frechen Antwort gerechnet.

»Hannah«, sagte er plötzlich. »Dein Name ist Hannah.«

Überrascht drehte ich den Kopf zur Seite und schaute ihn geradewegs an. Gegen meinen Willen musste ich zugeben, dass ich es irgendwie mochte, wie mein Name klang, wenn er ihn aussprach. Der Typ verfügte über ein bemerkenswertes Aussehen, das war mir gleich aufgefallen, nachdem er den Helm abgesetzt hatte.

Ich schluckte hart und richtete den Blick wieder streng nach vorne. Seine strahlend blauen Augen faszinierten mich auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte. Sein Blick war aufmerksam und sehr wachsam, ihm schien nichts zu entgehen.

»Hast du auch einen Namen?«, brachte ich mühsam hervor. Dann atmete ich tief durch, hob den Kopf und begegnete seinem durchdringenden Blick erneut. »Oder soll ich dich lieber mit Hey, du ansprechen?« Bevor er etwas erwidern konnte, fügte ich hastig hinzu: »Da ich so großzügig bin und dir für die nächsten Tage eine Bleibe zur Verfügung stelle, solltest du wenigstens versuchen, etwas freundlicher zu sein, meinst du nicht?«

Mit einem Blick nach links und rechts überquerte ich eilig die Straße und bog anschließend in die kleine Promenade ein, ungeachtet dessen, ob er mit mir Schritt halten konnte. Doch er blieb mühelos an meiner Seite.

Diese fesselnden blauen Augen schauten mich an, musterten mich eingehend. Mir wurde ganz flau im Magen.

»Mickal«, sagte er, ohne das Tempo zu verlangsamen. »Und danke dafür, dass ich bei dir wohnen darf.«

Ich nickte nur, weil ich mich auf den Verkehr an der nächsten Kreuzung konzentrieren musste. Die Straße wurde schmaler, bog nach links ab und wand sich dann bis zur Kuppe eines Hügels hinauf. Dort stand unser Haus, eine kleine Finca, umgeben von herrlich blühenden Rhododendronbüschen. Erschöpft seufzte ich leise, als das Haus in Sichtweite kam.

»Ich lebe nicht allein«, setzte ich ihn in Kenntnis. »Sondern zusammen mit meiner Mutter. Sie ist …« Ich kam ins Stocken, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich ihren Zustand einem Fremden gegenüber beschreiben sollte. »Sie … hütet das Bett«, begann ich zögerlich. »Seit dem Unfalltod meines Vaters ist sie nicht mehr dieselbe. Sie isst kaum noch etwas und will nicht mehr aufstehen.«

Er hob den Blick und begegnete meinem. »Sie hat aufgegeben«, sagte er voller Überzeugung.

Aufgegeben. Das war das Wort, das mir auf der Zunge lag, aber nicht ausgesprochen werden wollte.

Mom hatte aufgegeben. Schon vor langer Zeit.

»Manchmal habe ich das Gefühl, dass unsere ganze Familie bei dem Unfall gestorben ist, nicht nur Dad und Tony.«

Mickal musterte mich fragend.

Ich blieb stehen und tat so, als müsste ich den Hausschlüssel in meiner Handtasche suchen. »Tony war mein großer Bruder. Er hatte das gleiche Motorrad wie du, als wir in Deutschland gelebt haben, deshalb wusste ich auch, welchen Reifen du brauchst.« Ich kramte den Schlüssel aus meiner Handtasche und ging die letzten Schritte bis zum Haus im gemächlichen Tempo weiter. »Mom ist so egoistisch«, beschwerte ich mich kleinlaut. »Sie tut so, als wäre nichts mehr wichtig. Aber ich bin nicht tot. Ich lebe noch und reiße mir jeden verdammten Tag den Arsch auf, damit wir über die Runden kommen.«

Erschrocken presste ich die Lippen zusammen. Warum nur hatte ich ihm das überhaupt erzählt? Wir kannten uns doch gar nicht. Außerdem war das nichts, was er wissen musste, das ging nur mich und meine Mutter etwas an. Dennoch tat es gut, mit jemandem darüber zu reden, selbst wenn mein Gegenüber nur stillschweigend zuhörte, ohne etwas zu erwidern.

Tränen der Verzweiflung brannten in meinen Augen. Die Sorge um meine Mutter, um unsere gemeinsame Zukunft, ließ mich kaum noch schlafen.

Ich blinzelte die Tränen weg, straffte die Schultern und steckte den Schlüssel ins Schloss, kaum dass wir die Haustür erreicht hatten.

»Mom, ich bin zu Hause«, rief ich nach oben. Dabei schlüpfte ich aus meinen Pumps und legte meine Handtasche auf die kleine Anrichte. Dann drehte ich mich zu meinem Gast um. »Das Haus ist nicht besonders groß. Zwei Schlafzimmer, eine Wohnküche und ein kleines Badezimmer, aber für uns reicht es allemal.« Mit einem Nicken deutete ich den Flur entlang. Die Wände waren kalkweiß gestrichen, der Boden war mit matten Steinfliesen gefliest. »Da vorne rechts ist die Küche, von dort aus gelangst du auch ins Wohnzimmer und in den Garten. Das Bad befindet sich hinter der linken Tür. Oben sind beide Schlafzimmer und eine kleine Abstellkammer. Du kannst dich gerne in Ruhe umsehen, während ich nach Mom schaue.«

Mickal nickte. Mit eingezogenem Kopf ging er den Flur entlang in Richtung der Küche, weil er mit seinen fast zwei Metern beinahe die niedrige Decke streifte.

Gedankenverloren schaute ich ihm hinterher und überlegte, wo zum Teufel dieser Riese überhaupt schlafen sollte. Unser Sofa war jedenfalls viel zu klein dafür, das war mir in dem Moment bewusst geworden, als ich mitbekommen hatte, wie er den Kopf einziehen musste, um durch die Tür ins Haus zu gelangen.

Na super, dachte ich, als ich die Treppe nach oben lief. Das konnte ja lustig werden.

Mom lag auf dem Rücken, die Arme unter der Bettdecke, und döste. Trotz der heißen Temperaturen, die für August hier in Italien völlig normal waren, brauchte sie immer eine Decke, weil ihr ständig kalt wurde.

»Mom?« Leise trat ich ans Bett und betrachtete ihr blasses Gesicht.

Die Haut spannte sich über den Wangenknochen, dunkle Schatten lagen unter ihren langen, dichten Wimpern. Ihre Lippen waren bereits spröde vom Wassermangel.

Mit einem Blick auf den unberührten Teller, der neben dem Bett auf dem kleinen Schränkchen stand, sagte ich: »Mom, du hast schon wieder nichts gegessen. Ich hatte dir extra Toast gemacht, weil du den so gerne magst.«

Langsam öffnete sie die Augen und schaute zu mir auf. »Wie war dein Tag?«

Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante und strich ein paar lose Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. »Wir haben einen Gast«, erklärte ich und lächelte, als sie die Augen aufriss.

»Einen Gast?«

Ich nickte. »Ein Tourist auf der Durchreise. Er braucht für ein paar Tage eine Unterkunft, und er zahlt wirklich gut, Mom.« Als ich bemerkte, wie sie zum Protest ansetzte, fügte ich hastig hinzu: »Er ist ganz harmlos, keine Sorge.«

Das Wort harmlos traf es nicht einmal annähernd. Der Kerl war alles andere, aber ganz sicher nicht harmlos. Doch warum auch immer, bei ihm hatte ich zu keiner Zeit das Gefühl gehabt, ich könne ihm nicht trauen. Er machte auf mich zwar einen gefährlichen Eindruck, das ließ sich allein schon aufgrund seiner beeindruckenden Statur nicht abstreiten, allerdings wirkte er auf mich nicht so, als würde er hilflose Frauen angreifen. Zumindest hoffte ich das.

Mom versuchte sich aufzurichten. Ich half ihr und schüttelte das Kissen auf, damit sie bequem sitzen konnte.

»Es tut mir so leid«, murmelte sie sichtlich ergriffen. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«

»Du könntest damit anfangen, indem du etwas isst«, versuchte ich sie ein wenig aufzumuntern.

Sie lächelte kaum wahrnehmbar. »Was gibt es denn?«

Ich erwiderte ihr Lächeln. »Wie wäre es mit Spaghetti Bolognese?«

»Klingt gut«, meinte sie und faltete die Hände im Schoß. Dann wanderten ihre Augen über meine Arme. »Du hast schon wieder vergessen, dich einzucremen«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton.

Ich folgte ihrem Blick und betrachtete die roten Stellen auf meinem rechten Unterarm. Ganz egal, mit wie viel Sunblocker ich mich einschmierte, früher oder später wurde ich dennoch wieder knallrot, meine Haut war einfach viel zu empfindlich.

»Wir hätten lieber nach England gehen sollen«, versuchte Mom zu scherzen. »Italien ist nicht gut für dich.«

Dafür war es leider zu spät, wie ich fand, denn in Anbetracht ihrer gesundheitlichen Verfassung würden wir in absehbarer Zeit nirgendwohin gehen, so viel stand fest.

»Ruh dich ein bisschen aus, bis das Essen fertig ist.« Ich erhob mich, und Mom schloss die Augen.

»Richte unserem Gast liebe Grüße aus«, murmelte sie schlaftrunken.

Ich nickte betreten. Mom war so schwach, sie wirkte so zerbrechlich, selbst diese wenigen Worte schienen sie unheimlich anzustrengen.

In Gedanken versunken durchquerte ich den oberen kleinen Flur, der direkt in mein Zimmer führte und von mir in einem kräftigen Sonnengelb gestrichen worden war. Möbel standen in diesem Flur keine, dafür war er viel zu schmal. Doch Bilder gab es dafür reichlich an den Wänden, tolle Landschaften, die Mom gemalt hatte. Früher einmal hatte sie es geliebt, zu malen. Neben dem Restaurieren alter Möbel war das eine ihrer absoluten Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Doch dafür fehlte ihr inzwischen die Kraft.

Direkt neben meiner Zimmertür hing ein besonders schönes Bild, welches mir von allen am besten gefiel: eine weitläufige, üppig begrünte Landschaft mit einem Wasserfall, umrahmt von unzähligen Bäumen, deren massige Stämme mit Moos bewachsen waren. Eine herrliche Landschaft voll unberührter Natur. Im Vorbeigehen warf ich einen flüchtigen Blick auf das Bild und fragte mich, so wie immer, wenn mein Blick das Gemälde traf, wann Mom wohl diese Landschaft mit eigenen Augen gesehen haben mochte. Lange vor meiner Geburt, das wusste ich aus ihren Erzählungen. Vielleicht würde ich eines Tages dorthin reisen und diese atemberaubend schöne Landschaft selbst sehen.

Ich stieß die Tür auf und betrat mein Zimmer. Der alte weiße Holzboden hatte auch schon bessere Tage erlebt. Er knarrte unter meinen Schritten, als ich zum Schrank ging, um mir frische Sachen zu holen.

Die Wände hatte ich lavendelfarben gestrichen und weiße, bodenlange Gardinen am Fenster angebracht. Mein weißes Himmelbett war aus Metall und eigentlich viel zu groß für eine einzelne Person. Mom hatte es auf einem Flohmarkt entdeckt, in alle Einzelteile zerlegt und den Händler mit einem hübschen Lächeln sogar dazu überredet, es anzuliefern und aufzubauen. Auf dem nächsten Flohmarkt waren uns die herrlichen weißen Vorhänge in die Hände gefallen, die seitdem mein Bett zierten.

Der zweitürige Kleiderschrank, an dem schon die weiße Farbe abblätterte, wurde nur noch durch ein paar Schrauben zusammengehalten, weil Mom es nicht mehr geschafft hatte, ihn herzurichten, als sie krank geworden war. Weil ich jeden Tag damit rechnete, dass der Schrank zusammenbrechen könnte, ließ ich stets beide Türen offen, damit diese unabwendbare Tatsache durch das stetige Öffnen und Schließen der Türen nicht unnötig beschleunigt wurde.

Ohne groß darüber nachzudenken, schnappte ich mir eine kurze Jeans und ein grünes Top, frische Unterwäsche und ein sauberes Handtuch. Nun, da es draußen langsam etwas kühler wurde, war es an der Zeit, das Fenster zu öffnen. Ich schob die Vorhänge zur Seite, öffnete das Fenster sperrangelweit und atmete tief die klare Luft ein. Begleitet von einem tiefen Seufzer machte ich mich auf den Weg ins Badezimmer.

Eigentlich war Italien ein ganz wundervoller Ort zum Leben, und wären die Umstände anders gewesen, hätten Mom und ich hier sicher wieder glücklich werden können. Doch so fühlte ich mich einsamer als jemals zuvor, trotz Patrizia und all meinen anderen Freunden. Inzwischen fühlte ich mich leer und ausgelaugt, müde, als würde mein Körper seit Monaten nur noch auf Reserve laufen. Eine Besserung war leider nicht in Sicht.

Nachdem ich fertig geduscht war und meine Haare mit dem Handtuch trocken gerubbelt und sie gekämmt hatte, schlüpfte ich in meine frischen Sachen und schlug barfuß den Weg zur Küche ein.

Mickal stand mit dem Rücken zu mir gewandt im Wohnzimmer und telefonierte. Er drehte sich blitzschnell herum, als er mich bemerkte, nickte mir zu und beendete das Gespräch augenblicklich.

Ich schenkte ihm keinerlei Beachtung, sondern band meine Haare zusammen und machte mich daran, das Abendessen vorzubereiten.

Während ich die Zutaten für die Soße schnippelte, wurde mir bewusst, dass er mich die ganze Zeit über anstarrte. Ich reckte das Kinn und begegnete seinem durchdringenden Blick. Es war ihm anzusehen, was ihm durch den Kopf ging.

»Ja, ich kann kochen, stell dir das vor«, sagte ich schnippisch. »Oder hast du etwa gedacht, ich lebe den ganzen Tag nur von Kaviar und Champagner?«

»Ich war mir nicht sicher«, entgegnete er trocken und zuckte mit den Schultern.

Angesäuert legte ich das Messer zur Seite. Ich war kurz davor gewesen, es nach ihm zu werfen. »Der erste Eindruck kann manchmal täuschen«, sagte ich so beherrscht wie möglich.

Am liebsten wäre ich diesem arroganten Typen an die Kehle gesprungen. Es war offensichtlich, dass er mich für eine Tussi hielt.

»Doch meistens ist der erste Eindruck der richtige«, entgegnete er unbeeindruckt.

Das war zu viel für mich. Ich wusste nicht, warum ich plötzlich das Bedürfnis verspürte, mich verteidigen zu müssen, denn normalerweise ging es mir am Arsch vorbei, was andere über mich dachten. Diesmal jedoch konnte und wollte ich das nicht auf sich beruhen lassen.

Zuerst warf ich alle Zutaten in den Topf und stellte ihn auf den Herd, dann holte ich einen zweiten Topf für die Nudeln aus dem Schrank, füllte ihn mit Wasser, gab einige Tropfen Öl samt einer Prise Salz hinzu und schob ihn für später auf die Anrichte. Dabei musste ich mich schwer zusammenreißen, so wütend war ich auf ihn.

Kaum war ich damit fertig, wirbelte ich herum, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn böse an. Ich war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, was bei mir äußerst selten vorkam. »Jetzt pass mal auf, du oberflächlicher, arroganter Vollidiot«, zischte ich. »Meine Mutter ist schwer krank, und ich musste ich einen zweiten Job annehmen, weil in diesem heruntergekommenen Loch ständig etwas kaputtgeht, aber ich habe nicht genug Geld, um einen Handwerker zu bezahlen. Ich habe nicht einmal genug Geld, um mir ein zweites Kostüm zu kaufen. Weil Signore Russo, mein Chef, sehr viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres legt, wenn ich potenziellen Kunden die Häuser zeige, bin ich gezwungen, bei dieser Affenhitze in einem Businesskostüm herumzulaufen, das ich jeden Abend waschen muss, damit ich es am nächsten Tag wieder anziehen kann. Ich hasse hohe Schuhe, am liebsten laufe ich den ganzen Tag über barfuß, aber ich muss diese Schuhe tragen, weil sie zum Kostüm passen und weil es nun einmal professioneller aussieht als mit Turnschuhen.« Ich atmete ein paar Mal tief durch, um mich zu beruhigen. »Vielleicht solltest du die Menschen nicht nur nach ihrem Äußeren beurteilen«, schlug ich mit strenger Miene vor und wirbelte herum, um mich wieder dem Essen zu widmen.

Nach meiner Standpauke würde er sicherlich seine sieben Sachen packen und verschwinden, ging es mir durch den Kopf. Sollte er doch. Auf die Kohle konnte ich verzichten. Mit solch einem Menschen wollte ich sowieso nicht unter einem Dach leben, nicht einmal für eine Woche und nicht für alles Geld der Welt.

Während das Essen auf dem Herd vor sich hin köchelte, holte ich das Besteck und zwei Teller aus dem Schrank und deckte schweigend den Tisch. Sollte er verschwinden, konnte ich den zweiten Teller immer noch zurück in den Schrank stellen.

Der Typ stand weiterhin an derselben Stelle, als wäre er im Wohnzimmer am Holzboden festgewachsen. Doch seine Augen folgten jeder meiner Bewegungen, was mich nervös machte, weil ich es nicht sonderlich mochte, wenn ich beobachtet wurde.

»Was muss alles repariert werden?«, fragte er plötzlich.

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, aus dem Typen schlau zu werden. »Im Bad flackert das Licht«, setzte ich an. »Der Wasserhahn in der Küche tropft. Im Flur gibt es zwei Steckdosen, die nicht funktionieren, und wenn es regnet, lässt sich die Haustür nicht mehr schließen.«

Früher hatte Dad sich um solche Sachen gekümmert, zusammen mit Tony. Ich war den beiden oft zur Hand gegangen, wenn im Haus etwas repariert werden musste. Mit Hammer und Bohrmaschine konnte ich umgehen, das war kein Problem, doch manchmal gab es Situationen, da musste ich passen. Vor allem, was mit Strom zu tun hatte, wie die defekten Steckdosen beispielsweise, hatte ich eine Menge Respekt.

»In Ordnung«, nickte er und holte mich damit aus meinen Gedanken. »Solange ich bei euch wohne, kann ich mich etwas nützlich machen.« Mit wenigen Handgriffen zog er die schwarze schmale Tasche von seinem Rücken, beugte sich vor und legte sie behutsam auf unserem Sofa ab.

»Spielst du Golf?«, wollte ich mit einem Blick auf die Tasche wissen.

Hier in der Nähe gab es einen Golfplatz, das wusste ich, da mir Patrizia unlängst davon erzählt hatte. Ihr Vater war ein begeisterter Spieler.

»Eigentlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Da sind nur ein paar Klamotten drin und …« Seine Augen wurden ein wenig schmaler. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte er, ohne den vorherigen Satz zu beenden.

Entschlossen, ihm noch eine Chance zu geben, weil er sich reumütig gab, reichte ich ihm die Servietten. »Das Essen ist gleich fertig«, erklärte ich und zog den Topf mit den Nudeln vom Herd, um das Wasser abzugießen. Die erste Portion war für Mom.