Die sieben Leben des Arthur Bowman - Antonin Varenne - E-Book
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Die sieben Leben des Arthur Bowman E-Book

Antonin Varenne

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Beschreibung

Ein großer historischer Thriller und Abenteuerroman

1852: Arthur Bowman, einer der härtesten Söldner der Ostindienkompanie in Birma, hat eine gefährliche Expedition tief in indigenes Gebiet geführt; ein Himmelfahrtskommando, das mit der Gefangensetzung der zehn Überlebenden endet. Sechs Jahre später ist er ein gebrochener Mann im viktorianischen London während der Jahrhunderthitze. Alkohol- und opiumsüchtig verdingt er sich als Polizist. Da wird in der Kanalisation eine verstümmelte Leiche entdeckt – und Bowman des Mordes verdächtigt. Denn der Tote trägt Narben wie er – Folge der Folter in Birma. Also bricht er auf, die neun Mitinhaftierten zu finden. Die Suche führt ihn in den Wilden Westen, wo weitere bestialische Morde geschehen. Bis er den Mörder findet, hat er sich durch seine Erlebnisse und die Liebe einer Frau zu einem geläuterten Menschen gewandelt …

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ANTONIN VARENNE

DIE SIEBEN LEBENDES ARTHUR BOWMAN

Roman

Aus dem Französischen vonAnne Spielmann

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Trois mille chevaux vapeur« bei Éditions Albin Michel, Paris.

1. Auflage© 2015 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: buxdesign, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-14831-7www.cbertelsmann.de

Im Jahr 1600 gewährt Königin Elizabeth I. einer Gruppe englischer Kaufleute und Investoren das Handelsmonopol im Indischen Ozean. So entsteht die erste Ostindien-Kompanie, und die Aktionäre in London und ihre europäischen Konkurrenten übernehmen die Kontrolle über den Welthandel.

1776 präsentiert die vermögende politische Elite der dreizehn nordamerikanischen Kolonien der britischen Krone ihre Unabhängigkeitserklärung. Befreit von Steuern und von der Bevormundung durch das Mutterland, wachsen die Vereinigten Staaten rasch zu einer neuen ökonomischen Macht heran. Nach der Unabhängigkeit stürzt sich die junge amerikanische Nation immer wieder in militärische Auseinandersetzungen zur Durchsetzung ihrer Handelsinteressen: in Sumatra, der Elfenbeinküste, Mexiko, Argentinien, Japan, China, Nicaragua, den Philippinen, Hawaii, Kuba, Angola, Kolumbien und Haiti.

1850 unterhält die Ostindien-Kompanie – ihre Aktionäre nennen sie die »mächtigste Handelsgesellschaft des Universums« – eine Privatarmee von dreihunderttausend Mann, und sie zwingt das Gesetz ihres Handels einem Fünftel der Weltbevölkerung auf, das heißt dreihundert Millionen Menschen.

Auf diese Weise konnte ein amerikanischer oder englischer Soldat des 19. Jahrhunderts bei Feldzügen von Land zu Land ziehen und die ganze Welt bereisen.

I1852BIRMA

1

»Rooney! Du elender irischer Faulenzer! Los, beweg dich!«

Rooney erhob sich von der Bank, überquerte schlurfend den Hof und stand stramm.

»Sie kann nicht mehr, Sir. Keiner von den Gäulen hält sich mehr aufrecht.«

»Willst du dir Ärger einhandeln? Aufsitzen!«

Mit vor Müdigkeit durchhängendem Rücken, den Kopf halb untergetaucht, soff die Stute geräuschvoll Wasser aus dem Trog. Rooney griff nach dem Halfter, zog das Maul aus dem Wasser und verzog das Gesicht, als er den Fuß in den Steigbügel setzte. Die halbe Nacht war er von einer Kaserne zur anderen galoppiert, der Hintern tat ihm weh, er hatte Sand zwischen den Zähnen und in der Nase, und die Sonne brannte ihm auf dem Schädel.

Fünfzehn Meilen waren es bis zum Kontor von Pulicat.

Das Pferd schüttelte den Kopf, wehrte sich gegen das Zaumzeug. Rooney zog an den Zügeln, die Stute bäumte sich auf, und er musste sich am Sattelknauf festhalten, um nicht abgeworfen zu werden. Der Corporal lachte. Rooney zog seinem Reittier die Peitsche über die Ohren und schrie: »Vorwärts! Hü!«

Die Stute galoppierte über den gepflasterten Hof. Ohne anzuhalten, passierte Rooney das nördliche Portal des Forts St. George und peitschte eine Meile lang auf das Pferd ein. Die Maulbeerplantagen zogen an ihm vorbei, Baumwollfelder, auf denen, über ihre Hacken gebeugt, einige Bauern arbeiteten. Überall entlang des Weges waren Kolonnen von Sepoys in ihren roten Uniformen mit ihren Tornistern und geschulterten Gewehren zu sehen.

Die militärischen Verbände und Einheiten bewegten sich in Richtung Fort und Hafen. Die Dorfbewohner waren unruhig geworden und hatten ihre Türen und Fenster verschlossen, um sich vor dem von den Stiefeln aufgewirbelten Staub zu schützen. Die Armee von Madras marschierte, und außer den Soldaten war kaum noch jemand unterwegs.

Lord Dalhousie, Generalgouverneur von Britisch-Indien, hatte dem König der Birmanen den Krieg erklärt.

General Godwin war am Vortag mit zehn Schiffen aus Bombay gekommen. Er mobilisierte alle Regimenter.

Zwölf Stunden lang ritt Rooney jetzt in alle Winkel der Region, um die Schriftstücke zuzustellen.

Pulicat. Noch acht Meilen. Die letzte Adresse.

Vielleicht würde er sich dort heute Nacht ausruhen können, vielleicht konnte er zu den Chinesen gehen und sich ein Mädchen kaufen. Sie waren sauber, und der Gin war nicht so teuer wie in St. George. Der Gedanke, dass er die Nacht im Dorf der Weber verbringen würde, verlieh ihm Flügel, aber die Stute lief nicht schneller und keuchte wie eine Schwindsüchtige.

Rooneys Beine waren feucht von ihrem Schweiß. Er gab ihr eine weitere Tracht Prügel. Es war Krieg, man hatte das Recht, ein Pferd zu töten.

Er überholte Kinder, die auf Eseln ritten, und zerlumpte Bauern, erblickte die ersten Häuser von Pulicat und bog, ohne anzuhalten, in die Hauptstraße ein, wo sich Frauen mit Babys auf dem Rücken eilends vor ihm in Sicherheit brachten.

»Vorwärts!«

Am Ausgang des Dorfes wandte er sich nach links, in Richtung der Lagerhallen. Er würde den Laden des Chinesen ganz für sich haben. Und im Fort wäre es nicht anders. Niemand da, keine verdammten Pflichten mehr, wochenlang. Während alle Welt sich auf den Weg nach Rangun machte, würde er es sich gut gehen lassen. Der König von St. George!

»Schneller! Hü!«

Die Stute schüttelte den Kopf, sie geriet aus dem Takt und schwankte, als ob die Beine unter ihrem Gewicht nachgäben. Rooney hielt sich krampfhaft fest, aber das Pferd fing sich und wurde wieder schneller, obwohl es nicht einmal die Sporen gespürt hatte. Es war halb wahnsinnig vor Austrocknung und Erschöpfung. In der Mitte der Gebäude, in einem von Speichergebäuden umgrenzten Hof, sah Rooney die Fahne der Kompanie, die im Wind flatterte.

Er passierte den ersten Schuppen. Der Kopf der Stute streckte sich vorwärts und verschwand. Er hörte, wie ihre Beine brachen – ein unerhörtes Geräusch von sich bei hoher Geschwindigkeit pulverisierenden Knochen –, und flog zwei Meter durch die Luft. Er streckte die Arme aus und spürte nichts von dem Aufprall, nichts von den splitternden Knochen seiner Handgelenke und Unterarme. Sein Kopf schlug auf dem Boden auf, er überschlug sich, und sein Rücken brach auf der gusseisernen Wasserpumpe in der Mitte des Hofs.

Sergeant Bowman griff nach seinem Gewehr, das an einer Wurzel des großen Banyanbaums lehnte, und erhob sich von seinem Liegestuhl im Schatten. Die Staubwolke, die beim Sturz des Pferdes und seines Reiters entstanden war, hob sich langsam. Die Stute wieherte erbärmlich und strampelte mit den Hufen. Der bewusstlose Kurier rührte sich nicht. Der Sergeant legte sich die Enfield quer über die Beine und ging neben dem Gestürzten in die Hocke.

Gekrümmt lag er unter der Pumpe. Er öffnete die Augen.

»Was ist … Was ist passiert?«

Sein Kopf fiel auf die Brust, Blut sickerte ihm aus dem Mundwinkel. Seine Hüfte war gebrochen, die Beine waren wie Stofffetzen ineinander verknäult. Seine Augäpfel rollten hin und her in dem vergeblichen Bemühen, den Ort zu erkennen, an dem er sich befand. Der Hof, die Lagerhallen mit den Seidenstoffen, dieser Sergeant, der ihn betrachtete. Seine geschwollene Zunge leckte Staub, als wäre es Wasser.

»Ich fühle … nichts …«

Seine Augen wanderten über den verrenkten Körper. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer panischen Grimasse.

»Teufel noch mal … Was ist … Was ist mit mir?«

Der Sergeant gab keine Antwort.

»Helfen Sie mir … Zum Teufel … Helfen Sie mir.«

Rooney sah sich um. Außer dem Sergeant war weit und breit niemand zu sehen. Die Stute wieherte und schlug aus, der Sergeant rührte sich nicht. Rooney versuchte, um Hilfe zu rufen, aber er verschluckte sich und spuckte Blut. Sergeant Bowman trat einen Schritt zurück, um nichts abzubekommen.

»Um Gottes willen … Helfen … Sie … mir.«

Der Sergeant senkte den Kopf.

Das von Panik gezeichnete Gesicht des Soldaten erstarrte, seine aufgerissenen Augen blieben auf Bowman gerichtet. Eine Blutblase erschien zwischen seinen Lippen und platzte.

Der Verwalter kam aus seinem Büro gelaufen.

Sergeant Bowman erhob sich und ging zu dem Pferd, das noch immer auf dem Rücken lag. Er lud sein Gewehr, setzte seinen Fuß auf die Kehle des Tieres und schoss ihm eine Kugel in den Kopf.

Der Verwalter bekreuzigte sich, bevor er vor dem Kadaver in die Knie ging und die Satteltasche öffnete. Er zog ein versiegeltes Schreiben heraus, das an ihn adressiert war.

»Wie sinnlos. Zu sterben mit der Kriegsmeldung in der Tasche.«

Sergeant Bowman kreuzte die Hände über dem noch heißen Lauf seines Gewehrs. Sepoys liefen herbei und bildeten einen Kreis um den Toten. Der Verwalter durchsuchte den Soldaten und fand seinen Ausweis in der Jackentasche.

»Sean Rooney. Fort St. George … Na, jedenfalls musste er nicht in Birma sterben.«

Er wandte sich an Bowman.

»Sergeant, Sie rücken sofort ab. Man erwartet Sie mit Ihren Männern in Madras.«

Bowman schulterte sein Gewehr und ging zu seiner Hütte im Schatten des Banyanbaums. Der Verwalter schrie:

»Sergeant! Sie werden die Leiche des Soldaten Rooney nach Madras mitnehmen.«

Bowman ging ungerührt weiter.

»Das Pferd können Sie auch haben.«

Eine Kolonne von zwanzig Sepoys wartete in der Sonne. Ein Ochse war vor einen Karren gespannt worden. Man hatte Rooneys Leichnam hineingeworfen, er lag hingestreckt über dem Marschgepäck der Soldaten.

Bowman trabte an den in Habtachtstellung wartenden Männern vorbei, sprang vor der Tür des Verwalters von seinem Pferd und klopfte.

»Fünf Mann bleiben hier und warten, bis Madras eine weitere Abordnung schickt.«

»Sehr gut. Ich führe keinen Krieg, Sergeant, ich bin Kaufmann. Ich gehe hier kein Risiko ein. Sie abziehen zu sehen, Bowman, macht mich nicht unglücklich, aber meine Pflicht als Christ ist es, Ihnen allen das Beste zu wünschen. Gott sei mit Ihnen, wo auch immer Sie hingehen.«

Bowman schwang sich wieder in den Sattel und lenkte sein Pferd zu der toten Stute. Es berührte den Kadaver mit den Nüstern, schnaubte dann kräftig, wie um einen schlechten Geruch loszuwerden, und hob den Kopf. Die Sepoys verfielen in Trab, der Karren folgte. Bowman passte sich ihrer Laufgeschwindigkeit an und beschloss den Zug.

Nach der Ankunft im Fort St. George sorgte Bowman dafür, dass die Sepoys sich von dem Marsch erholen konnten, dann erkundigte er sich bei einem der Wachposten nach dem Offizier, der für den Kurierdienst verantwortlich war.

»Wegen Rooney? Da müssen Sie zum Corporal. Er ist im Stall. Was ist los?«

Bowman fand die Ställe. Der Corporal saß im Kreis seiner schmutzigen und erschöpften Kuriere um einen Tisch. Es stank nach Mist.

»Was für ein Dummkopf! Ein Pferd zuschanden zu reiten und selbst dabei draufzugehen! Hatte immer Flausen im Kopf, dieser Rooney. Und diese verdammten Iren wollen um keinen Preis hier begraben werden! Was machen wir jetzt mit ihm?«

»Meine Affen bringen Ihnen die Leiche. Ich lasse Ihnen auch mein Pferd. Ich brauche es nicht mehr.«

Beim Kommandanten des Forts erhielt Bowman neue Befehle.

Alle Kais waren vollgestellt mit Handelswaren, Kisten voller Waffen und Munition. Berge von Fässern stapelten sich über Dutzende von Metern. Wasser, Wein, Rum, Essig, Käfige mit Hühnern und Kaninchen, grunzende Schweine. Kulis entluden Tonnen von Lebensmitteln und Waffen, während Schaluppen zwischen den siebzehn Schiffen der Flotte von Madras hin und her segelten. Die Sonne senkte sich über dem Ozean, die riesigen Fahnen der Kompanie, die über dem Wasser wehten, glänzten in ihrem goldenen Licht.

In einem nicht enden wollenden Strom trafen Kolonnen von Sepoys und britischen Soldaten ein. Auf den Schaluppen, die Menschen und Waren transportierten, hörte man Männer im Takt der Ruderschläge singen.

Siebzehn erstklassige Schiffe, tausend Kanonen und fünfzehntausend Mann unter Deck, drei Viertel davon Sepoys, die dreimal weniger kosteten als die englischen Soldaten. Die Armee der Kompanie war viel größer als die der Krone; hauptsächlich durch die Zahl der einheimischen Rekruten, auf die man aus Sparsamkeitsgründen zurückgriff.

Die Aktionäre der Leadenhall Street wollten den Golf von Bengalen für sich allein. Wenn diese Armada nicht ausreichte, würden noch dreißigtausend Mann mehr gesandt werden. Pagan Min musste fallen, bevor der Monsun kam, sonst musste die Kompanie weitere vier Monate darauf warten, dass die Flüsse wieder befahrbar wurden. Die Offiziere wussten das, und die Unteroffiziere brüllten, so laut sie konnten, damit die Männer gehorchten, die Waren verladen wurden, die Matrosen unablässig ruderten.

Bowmans kleiner Trupp wurde vom Wirbelsturm des Hafens eingesogen.

Zwei Stunden verbrachten sie im Gedränge an den Kais, während sie darauf warteten, an Bord einer Schaluppe gehen zu können. Die Sonne berührte schon den Horizont, als der Sergeant und seine Männer endlich die Strickleiter zum Deck der Healing Joy emporkletterten, dem Admiralsschiff der Flotte.

Die Sepoys stiegen ins letzte Deck hinunter, das unterhalb der Wasserlinie lag, und Sergeant Bowman stieß zum britischen Kontingent im Oberdeck. Vierhundert Männer, die im Halbdunkel ihren Platz suchten und ihre Hängematten entrollten, in denen sie zwei Wochen verbringen würden.

Wenn der Wind günstig war.

Mehrere Stunden vergingen, bevor ein Kanonenschuss über ihren Köpfen abgefeuert wurde und die Flotte sich in Bewegung setzte. An Deck hörte man Pfiffe und Befehle, die Stimmen der Matrosen und das Knacken der Masten, deren Vibrationen sich bis in den Schiffsbauch fortsetzten.

Es war Mitternacht, und die Hitze war unerträglich.

Mitten in dieser allgemeinen Erregung, während die Joy sich langsam von der indischen Küste entfernte und die ersten Soldaten seekrank wurden, streckte sich Sergeant Bowman in seiner Hängematte aus und schloss die Augen. Seine Hand umschloss den Griff des afghanischen Dolchs in seinem Gürtel. Drei Jahre wartete er jetzt schon.

2

Eine Luke öffnete sich.

Bowman, die Ellbogen auf die Reling gestützt, beugte sich weiter nach vorn.

Ein Körper kippte kopfüber ins Meer, ein weißes Hemd über den Kopf gezogen. Der Körper prallte auf dem Wasser auf, tauchte unter, kam wieder hoch und trieb an der Oberfläche weiter. Ein zweiter folgte ihm; langsam trieb er am Schiffsrumpf entlang. Ein erster undeutlicher grauer Umriss ließ sich sehen, der die Leichen umkreiste. Als ein dritter Körper aus der Luke fiel, begann das eben noch spiegelglatte Meer zu brodeln.

Dutzende Schwanzflossen peitschten das Wasser, kleine schwarze Augen erschienen im schäumenden Gewühl, und die Kiefer der Haie schlossen sich um Arme und Beine. Das Wasser rötete sich, und das Rot wurde immer tiefer, je mehr Soldaten aus der Ladeluke ins Meer fielen.

An diesem Morgen zählte Bowman acht.

Rosarote Fontänen bespritzten das Schiff, Rümpfe ohne Kopf schwammen zwischen zerfetzten Kleidungsstücken im aufgewühlten Wasser. Haie, die von ihren gierigen Artgenossen verletzt worden waren, kämpften um ein Stück Schulter, während andere, von blindwütigen Zähnen getötet, mit den Bäuchen nach oben mitten im Getümmel dahintrieben.

Bowman hob den Kopf. Nur einen Steinwurf vom Admiralsschiff entfernt war im Umkreis der anderen Schiffe das Meer genauso aufgewühlt, und an der Reling sah man die Silhouetten der Zuschauer, die wie er selbst das Spektakel beobachteten. Er rieb ein Zündholz am Geländer, schützte die Flamme mit der Hand und setzte seine Pfeife wieder in Gang.

An Bord der siebzehn Schiffe waren in dieser Nacht wieder ungefähr hundert Männer gestorben.

Nach beendeter Mahlzeit entfernten sich die Haie, und die Möwen stürzten sich auf das Fleisch, das sie übrig gelassen hatten. Das Meer war rot, so rot wie der Laterit an der Mündung eines afrikanischen Flusses. Die Strömung befreite die Flotte von ihren Hinterlassenschaften; die rote Lache wurde immer blasser und verzog sich immer mehr in Richtung Küste. Die Morgensonne kletterte über den dunklen Rand des Kontinents, und die runden, mit Regen gefüllten Bäuche der Wolken hingen über dem niedrigen Horizont.

Bowman spuckte ins Wasser, klopfte seine Pfeife aus und ging wieder unter Deck.

Nach drei Wochen Fahrt und drei Tagen im Hafen stank die Healing Joy wie ein Raubtierkäfig. Im Golf war der Wind schwach gewesen, und die Schiffe hatten mit starkem Seegang zu kämpfen gehabt.

Bowman hob das Laken, das seine Hängematte von den anderen trennte, und streckte sich auf seinem schwankenden Lager aus.

Die Spione von Pagan Min operierten an Land. Sie kümmerten sich nicht um diese Armada, die nicht vorwärtskam, und sahen auch nicht mehr in Erwartung des Monsuns zum Himmel hinauf. Als die Schiffe vor Anker lagen, hatten sich die Männer gelangweilt, nun wurden sie schwermütig, und es gab immer mehr Kranke. Das Fieber, die langsame Bewegung der Schiffe, die Stille und die Hitze setzten ihnen zu. Tag und Nacht lagen sie in ihren Hängematten, umgeben von unaufhörlichem Stöhnen, Murren, Husten. Unterhalb der Wasserlinie gab es wenig Luft, und die Sepoys starben wie die Fliegen. Sechs der Toten, die an diesem Morgen ins Wasser geworfen worden waren, waren Inder gewesen. Fäkalien überschwemmten die hölzernen Stege, die Luft war faulig, und General Godwin hatte den Männern verboten, ihr Deck zu verlassen. Je mehr sich der Zustand der Truppe verschlechterte, desto wichtiger war es, ihn vor den Spionen Mins zu verbergen.

Zum zweiten Mal zog die Kompanie gegen die Birmanen in den Krieg. Beim ersten Mal, 1826, hatte Campbell an der Spitze der britischen Truppen Handelsplätze an der gesamten Küste gewonnen, bis zum Königreich Siam. Auch er war zu spät gekommen. Der Regen und das Fieber hatten zweitausend Mann hinweggerafft, gerade als er versuchte, Ava von der Landseite her einzunehmen. Dennoch hatte sich seine Aktion ausgezahlt. Mit seinem halben Sieg war das Recht einhergegangen, in den Häfen Handel zu treiben. Seither hatten die Min wieder Oberwasser bekommen, hatten die Vereinbarungen von 26 infrage gestellt und den Verwaltern der Niederlassungen das Leben schwergemacht. Außerdem bedrohten sie den Handelsverkehr im Golf und auf dem Weg nach China. Dalhousie hatte Anfang des Jahres Commodore Lambert in Dienst genommen, in diplomatischer Mission. Aber Lambert war kein Diplomat. Die Situation hatte sich zugespitzt, und die letzte Möglichkeit, die jetzt noch blieb, war der Krieg. Diesmal um die Sache ein für alle Mal zu beenden und das Land einzunehmen.

Doch der Wind blies nicht, und die Flotte, die den Angriff erwartete, kam nicht vorwärts. Die Männer starben, bevor ein einziger Schuss aus Kanonen oder Gewehren abgefeuert worden war.

Bowman holte ein Tuch aus seinem Beutel und legte es über seinen Bauch. Langsam, bedächtig aß er das letzte Stück Trockenfleisch, das er aus Pulicat mitgenommen hatte. Dann rieb er sich Zähne und Zahnfleisch mit einem Stück Zitronenschale ein, das er aufgehoben hatte, und aß die Schale ebenfalls.

Allmählich gingen ihnen die Lebensmittel aus. Sie hatten zu wenig mitgenommen; nun waren die Rationen gekürzt worden, das Süßwasser stank faulig, und man musste es mit Essig strecken.

Er ließ sich in seine Hängematte sinken und verfluchte die Aktionäre aus London, die Kriege erklärten, ohne zu wissen, wie man sie führte, die Offiziere, die in ihren Palästen fett wurden, die Sepoys aus Bengalen, die aus den feinen Kasten stammten und sich geweigert hatten, nach Birma zu fahren. Bombay und Madras hatten die Männer liefern müssen; so war die Kompanie zu spät eingetroffen.

Unter dem gewöhnlichen Gejammer und den anderen Geräuschen um ihn herum gab es Stimmen, die ihn aufmerksam werden ließen. Zuerst waren es laute Worte, dann Beschimpfungen. Gelächter, Aufregung. Er stand auf und sah nach.

Etwa zwanzig Soldaten standen im Kreis um zwei Männer, die einander mit Fäusten traktierten. Ein massiger Blonder mit Stiernacken und ein großer Dunkelhaariger, der zehn oder fünfzehn Kilo leichter war. Die Zuschauer lachten, und als der Schmächtige versuchte zu fliehen und nicht weiterkämpfen wollte, hielten sie ihn auf und schoben ihn in den Ring zurück. Der Blonde schleuderte ihn an die Wand; sein Kopf stieß gegen ein Stück Eisen, und man sah Blut an seiner Stirn herabrinnen. Die Männer ringsum lachten noch lauter. Der Stier stürzte nach vorn, der Magere wich aus, und sein Gegner prallte gegen einen Balken. Halb betäubt und voller Wut zog dieser nun ein Messer aus dem Ärmel seiner Uniform. Die Zuschauer lachten nicht mehr; jeder nahm sich vor der Waffe in Acht. Der Magere hob die Hände.

»Hör auf. Das führt doch zu nichts. Ich will mich nicht mehr mit dir streiten.«

Der Mann mit dem Messer hörte ihm nicht zu. Der Magere musste sich verteidigen; er zog seine Uniformjacke aus und wickelte sie sich um den Arm, machte dabei ein paar Schritte in Richtung der Hängematten, ohne die Klinge aus den Augen zu lassen.

Der Stier machte einen Sprung, der Magere wich erneut aus, stolperte, rollte über den Boden und erhob sich wieder.

Bowman lehnte an einem Pfosten und sah zu, wie die anderen. Bald waren nicht mehr viele da.

Beim nächsten Angriff versuchte der Magere, die Hand mit der Waffe zu treffen. Er verfehlte sein Ziel, das Messer beschrieb einen Halbkreis von oben nach unten und durchschnitt sein Hemd. Er fiel auf die Knie und rollte sich wie eine Schlange um die Wunde zusammen. Der Blonde machte Anstalten, erneut zuzustechen, doch zwei Hände umfassten seinen Hals, hoben ihn vom Boden auf und schleuderten ihn von dem Mageren weg. Wütend kam er wieder auf die Beine, erkannte dann Sergeant Bowman, blinzelte mit offenem Mund, zog scharf die Luft ein und ließ sein Messer fallen.

Bowman beugte sich über den Verletzten. Die Wunde war lang, aber nicht sehr tief. Er befahl, den Arzt zu holen.

»Warum haben Sie ihn nicht früher aufgehalten, Sergeant?«

Bowman erhob sich.

»Legt ihn in seine Hängematte.«

Der Arzt kam nach ein paar Minuten. Er habe genug andere Kranke, wetterte er, und jetzt schlitzten sich die Leute auch noch gegenseitig die Bäuche auf. Nachdem er die Wunde versorgt hatte, setzte er sich neben Bowmans Hängematte.

»Haben Sie noch etwas zu berichten, Sergeant? Die Männer sind furchtbar angespannt, aber so etwas darf sich nicht wiederholen.«

»Ich kümmere mich darum. Es kommt nicht wieder vor. Wie geht es dem Verletzten?«

»Es ist nicht sehr schlimm, ich musste nicht nähen.«

Der Arzt sah schlecht aus, die Augen waren vom Fieber gerötet. Er blieb brütend sitzen, und Bowman wartete darauf, dass er anfing zu sprechen.

»Wenn wir noch lange hier bleiben, werde ich nichts mehr tun können. Ich habe fast keine Medikamente mehr, die Hälfte der Inder ist krank. Sie halten es auf dem Meer nicht aus.«

Er senkte den Kopf.

»Passen Sie gut auf die Leute auf, Sergeant. Der verletzte Soldat ist ein guter Christ, es sind alles gute Christen.«

Das nervöse Lächeln des Arztes zeugte von tiefster Niedergeschlagenheit. Er wartete noch auf etwas. Bowman räusperte sich.

»Ich kümmere mich um sie, Sir. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Der Arzt verschwand zwischen den Hängematten.

Sie wurden noch alle verrückt, weil sie glaubten, der Krieg hätte noch nicht angefangen, obwohl die erste Schlacht, länger, tödlicher als alle anderen, auf den Schiffen bereits in vollem Gange war: das Warten. Bowman wusste, dass man zuerst die Armee überleben musste, bevor man auf dem Schlachtfeld überleben konnte. Er befand sich bereits an der Front.

Er nahm sein Buch und öffnete es an der Stelle, die er immer las, bevor ein Kampf begann.

Hinter seinem Vorhang las er, fuhr mit dem Finger langsam die Buchstaben entlang und sprach stumm die Worte mit.

Aber alles Silber und Gold samt dem ehernen Geräte soll dem Herrn geheiligt sein, dass es zu des Herrn Schatz komme.

Da machte das Volk ein Feldgeschrei, und man blies die Posaunen. Und die Mauern von Jericho fielen um, und das Volk erstieg die Stadt, ein jeglicher da, wo er gerade stand. Also gewannen sie die Stadt und verbannten alles, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts: Mann und Weib, Jung und Alt, Ochsen, Schafe und Esel.

Die Bibel war das einzige Buch, das er je besessen hatte. Bowman konnte sich nicht einmal vorstellen, dass es andere Bücher gab, die so viele Geschichten enthielten. Er schloss die Augen und fragte sich, warum Gott, der seinen Feinden Regen schickte, Mauern umfallen ließ und Flüsse austrocknete, um den Seinen zu helfen, die Kompanie im Stich ließ. Er fragte sich auch, warum er die Prügelei nicht früher unterbunden hatte und ob ihm der verletzte Soldat, wenn es ihm gelungen wäre, seinen Gegner zu entwaffnen oder ihm sogar selbst ein Messer in den Bauch zu rammen, diese Frage auch gestellt hätte.

Es sind alles gute Christen.

Bowman lächelte. Die Prügelei hatte ihn gut unterhalten, und die Männer waren, mochte der Arzt sagen, was er wollte, immer noch in der Lage zu kämpfen. Sie warteten nur darauf.

*

Der Geruch nach Essig stieg vom frisch geschrubbten Deck auf und mischte sich mit der muffigen Feuchtigkeit des warmen Meerwassers und dem Fäulnisgestank der Joy. Bowman strich am Buchdeckel ein Zündholz an, und die Flamme erleuchtete einen Moment lang seine Hände und sein Gesicht. Er nahm einen Zug aus seiner Pfeife und leerte dann mit einem langen Ausatmen seine Lungen.

Im Osten, entlang der unsichtbaren Küste, glitzerten die Lichter Ranguns wie weit entfernte Sterne. Unter seinen Füßen wälzten sich die Männer in ihren Hängematten und hofften, dass es am nächsten Tag endlich Wind gebe, dass das Schiff nicht mehr dümpelte und der Essig sich in Wein verwandelte. An Deck patrouillierten Wachen mit geschultertem Gewehr, und ein paar Offiziere schlenderten im Mondlicht umher.

Bowman hatte einige von ihnen erkannt. Sechs oder sieben von den zweihundert an Bord der Joy. Offiziere, unter deren Befehl er im Punjab gekämpft hatte, im Regiment von Cavendish, und andere, denen er in den Garnisonen der Handelsniederlassungen begegnet war, wo er in den letzten drei Jahren Dienst getan hatte.

Von den Männern, die er gegrüßt hatte, hatte keiner das Wort an ihn gerichtet. Vielleicht mied man ihn, oder er hatte sich seit seiner Zeit im Punjab verändert, oder nicht jeder besaß ein so gutes Gedächtnis für Gesichter wie er selbst. Er spuckte ins Meer, als fürchtete er, sich mit einer Krankheit angesteckt zu haben.

»Sergeant Bowman?«

Er salutierte nachlässig, mit der Pfeife an der Schläfe.

»Major Cavendish will Sie sprechen, ich soll Sie zu ihm bringen.«

»Cavendish?«

»Unverzüglich, Sergeant.«

Bowman knöpfte seine stinkende Jacke zu.

Cavendish. Vizekommandant der Flotte. Stammhalter des Herzogtums von Devonshire. Seine Familie gehörte zu den größten Aktionären der Kompanie. Bowman hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen, nach der Eroberung des Palasts von Amritsar, bei einer Beförderungszeremonie. Corporal Bowman war damals Sergeant geworden. Cavendish hatte eine Rede gehalten. Die Offiziere seien die »Speerspitze der Kompanie«, hatte er gesagt. Dieser Ausdruck hatte dem frisch gebackenen Sergeanten sehr gut gefallen.

Cavendish war an Bord der Joy und wollte ihn sehen, ihn, Arthur Bowman.

Vielleicht würde der Angriff bald stattfinden, und Godwin sammelte seine Offiziere um sich, um ihnen seine Befehle zu übermitteln. Aber Bowman war nur Sergeant. Er hatte nichts mit dem Generalstab zu tun; wenn es nicht gerade um ein gravierendes Problem ging, kam ein Mann wie er mit den hochrangigen Offizieren niemals in Kontakt.

Er folgte dem Deckoffizier, passierte die Wachposten, durchquerte Gänge mit lackierten Wänden, auf denen sich das Licht der Öllampen spiegelte. Sein Führer klopfte an eine Tür, eine Stimme rief: »Herein!« Der Deckoffizier öffnete die Tür, trat zur Seite und schloss die Tür wieder.

Bowman begriff nicht, wo er war. Es war nicht der Kommandoraum, sondern nur eine kleine Kabine mit einem einzigen Fenster, einem einfachen Bett, einem Kartentisch, zwei Sesseln und einer Hängelampe. Auf einem der mit farbigem Stoff bezogenen Sessel hinter dem Tisch saß Major Cavendish, der noch so aussah, wie Bowman ihn in Erinnerung hatte. Am Fenster stand ein Captain, mit einer brennenden Zigarre in der Hand. Bowman erkannte ihn, obwohl Wright damals nur Lieutenant gewesen war. Eine Sekunde lang rührte sich Bowman nicht, dann salutierte er, schlug die Hacken seiner abgetretenen Stiefel zusammen und drehte den Offizieren und dem Tisch den Rücken zu.

»Sergeant Bowman, zu Ihren Diensten, Sir!«

Hinter ihm wurde leise gelacht.

»Sie können sich umdrehen, Sergeant.«

»Sir! Sie haben die Karte nicht verdeckt, Sir!«

Bowman wartete. Es gab kein Rascheln von Papier, keine Bewegung. Vor einem Angriff hatten Unteroffiziere auf einem Kriegsschiff ebenso wenig wie gemeine Soldaten das Recht, militärische Karten zu sehen. Ein einziger, selbst unabsichtlicher Blick konnte zum Galgen führen – oder direkt ins Maul eines Hais.

Cavendish wandte sich an den Captain: »Wright, ich habe den Eindruck, dieses Mal haben Sie eine gute Wahl getroffen.«

Wright gab keine Antwort. Cavendish fuhr in entschlossenerem Ton fort: »Drehen Sie sich um, Sergeant.«

Bowman wirbelte herum, den Blick geradeaus gerichtet.

»Sergeant, Sie werden jetzt diese Karte betrachten, die Sie so erschreckt, und mir sagen, was darauf zu sehen ist.«

Bowman kniff die Augen zusammen. »Sir! Ich habe keine Angst vor der Karte. Ich wusste nur nicht, ob es mir erlaubt ist, sie zu betrachten, Sir.«

»Es ist Ihnen erlaubt. Sagen Sie mir, was Sie darauf sehen.«

Bowman schaute erst zu Captain Wright, dann zu Cavendish und richtete den Blick dann auf die Karte.

Da er sie verkehrt herum sah, konnte er die Namen darauf nicht lesen, aber er sah ein Meer, eine Küste, einen großen grünen Fleck und in der Mitte das blaue, mäandernde Band eines Flusses. Er versuchte noch einmal, die Namen zu lesen, aber die Buchstaben waren zu klein.

»Sir, ich weiß nicht. Aber ich würde sagen, es handelt sich um das Königreich Ava.«

»Das trifft zu, Sergeant. Und der Fluss?«

Bowman hob den Kopf zur Decke. »Sir, ich bin nicht sicher, aber ich würde sagen, es ist der Irrawaddy.«

»Wieder richtig. Was können Sie mir über diesen Fluss sagen, Sergeant?«

Bowman schluckte. »Ich … ich verstehe nicht, Sir.«

»Was wissen Sie über diesen Fluss?«

»Sir! Das ist der Verkehrsweg von Ava, Sir.«

Cavendish lächelte. »Noch etwas?«

»Sir! Ich weiß nicht … Der Verkehrsweg von Ava … Und der Monsun kommt.«

»Der Monsun … Was soll das heißen, der Monsun kommt, Sergeant?«

Wieder trat Stille ein, während Bowman spürte, wie seine Knie weich wurden.

»Sir! Der große Regen, das heißt, dass die Flotte den Fluss nicht hinauffahren kann.«

Cavendish betrachtete einen Moment lang besorgt die Karte, dann erhob er sich.

»Sergeant, als Captain Wright erfuhr, dass Sie sich an Bord befinden, hat er mir empfohlen, Sie kennenzulernen. Er hat mir gesagt, Sie seien ein außerordentlich tapferer Kämpfer, fast … Wie haben Sie sich ausgedrückt, Wright? Ach ja: kühn. Der Captain meinte, Sie hätten sich unter seinem Kommando wie ein Löwe geschlagen, beim Angriff auf den Palast von Amritsar. Was sagen Sie dazu, Sergeant?«

»Sir, ich bitte um Entschuldigung, Sir.«

»Sind Sie einverstanden mit dem, was Captain Wright über Sie sagt?«

»Sir! Das war ein Angriff, der es in sich hatte, wir kämpften mit Säbel und Bajonett – aber ich habe nur meinen Befehlen gehorcht, Sir!«

»Ah! Das ist es, was ich von Ihnen hören wollte, Sergeant. Sie haben Ihren Befehlen gehorcht. Und sind mit gezogenem Bajonett losgestürmt! Wunderbar! Folglich sind Sie ein guter Soldat, und Sie sind tapfer.«

Cavendish ging ein paarmal hin und her, die Arme auf dem Rücken gekreuzt, und blieb schließlich direkt unter der Lampe stehen, um seine Hände auf die Karte zu legen.

»Sergeant, ich habe nachgedacht. Und ich werde Sie mit dieser Mission beauftragen. Captain Wright wird die Sache mit Ihnen abmachen.«

Cavendish verließ die Kabine ohne ein weiteres Wort und ohne Gruß, er schlug die Tür hinter sich zu und ließ Captain Wright mit Bowman allein.

Wright zog ein letztes Mal an seiner Zigarre und warf sie dann aus dem Fenster.

»Sie haben das Glück gehabt, Bowman, an Bord dieses Schiffes zu sein.«

»Sir, Glück ist etwas, was selten kommt, wenn man es am meisten braucht.«

Wright drehte sich um. »Was meinen Sie damit, Sergeant?«

»Sir! Das war nur so dahingesagt, nichts Besonderes.«

Der Captain beobachtete Bowman einen Moment lang.

»Morgen Vormittag wird eine Schaluppe der Kompanie uns hier an Bord der Joy abholen. Sie werden unter meinem Befehl stehen, als Vizekommandant der Expedition. Dreißig Mann, von denen zwanzig morgen von einer Schaluppe gebracht werden, und zehn weitere vertrauenswürdige Leute, die Sie unter den Männern der Joy auswählen werden. Seien Sie morgen früh an Deck, mit Gepäck, ohne Waffen. Sie werden nicht an Bord zurückkehren.«

Wright drehte sich zum Fenster.

»Sie gehören zu den brutalsten Männern, die ich je befehligt habe, Bowman. Sie gehorchen und verschaffen sich Gehorsam. Deshalb habe ich Sie Major Cavendish empfohlen, deshalb hat er sich für Sie entschieden. Ich hoffe, Sie werden sich des in Sie gesetzten Vertrauens würdig erweisen. Kein Wort zu niemandem. Wegtreten, Sergeant.«

Bowman spürte die Nägel an seinen Stiefelsohlen. Die Kabine drehte sich vor seinen Augen. Er hob mit Mühe die Beine, ging zur Tür, fand sich im Gang und dann auf Deck wieder. Unter dem schwarzen Mond atmete er mit offenem Mund in langen Zügen. Die Luft war warm und feucht, zu stickig, um ihm gutzutun. Ihm war immer noch schwindlig.

Er wusste nicht, warum und wie es eigentlich geschehen war, aber man hatte ihn gerade zum Tode verurteilt. Es war nicht auf einem Schlachtfeld passiert, beim Angriff auf einen Feind, sondern vor einer Karte und vor einem Herzog, der sich nicht einmal die Zeit ließ, seine Sätze zu beenden, und einem Captain, der Zigarre rauchte. Und statt eines Urteils hatte er einen Befehl erhalten.

Er ging zur Reling, umklammerte sie und betrachtete die fernen Lichter von Rangun. Eine Stunde lang blieb er dort stehen und atmete die Moderluft ein, bevor er wieder unter Deck ging und sich unter die Söldner der Kompanie mischte, die in ihren Hängematten lagen und mit großen, starren Augen zur Decke blickten wie Geckos.

Zehn Männer.

3

Er hatte kein Auge zugetan. Unter seinen Füßen hatten die Sepoys, die vom Fieber irre geworden waren, die ganze Nacht lang geschrien. Er hob behutsam seinen Vorhang.

Durch die halb geöffneten Luken sickerte das Licht des frühen Morgens, und die Männer begannen sich in der letzten Stunde des Schlafs unruhig hin und her zu bewegen. Aus der Kombüse kamen Männer, die die Reissuppe und die tägliche Ration Branntwein brachten: die erste Mahlzeit des Tages. Die Soldaten, Blechnapf und Tasse in der Hand, stellten sich in Reihen auf. Wenn das Essgeschirr gefüllt war, verschlangen sie widerwillig die fade Suppe und tranken in kleinen Schlucken den Alkohol dazu, dem man nachsagte, dass er vor Fieber und ungesunden Ausdünstungen schützen konnte.

Bowman rührte sich nicht und betrachtete die Soldaten, die während des langwierigen Suppenrituals an ihm vorbeizogen. Er kannte keinen von ihnen und wusste nicht, für welche Art von Mission er sie brauchen würde.

Wright hatte ihn ausgesucht, weil er hart war.

Vielleicht sollte er nach Männern suchen, die ihm ähnlich waren.

Und was war unter einem Mann zu verstehen, dem man vertrauen konnte? Wright vertraute ihm nicht. Und er vertraute Wright nicht. Bowman hatte nie einem anderen als sich selbst vertraut, und der Gedanke, von zehn Leuten umgeben zu sein, die ihm glichen, beunruhigte ihn ungemein.

Inder kamen nicht infrage, das hatte er von vornherein beschlossen. Man wusste nie, warum die Einheimischen gehorchten und ob sie irgendwann nicht mehr gehorchen würden. Für ihn galt ein Befehl so viel wie eine Entscheidung, die er selbst traf.

Zehn Männer, freie Wahl.

Bowman erkannte den Mageren, der nach der Prügelei vom Arzt zusammengeflickt worden war. Er stand in der Schlange, den Blechnapf in der Hand, mit zerrissenem und blutverkrustetem Hemd. Er hatte die Nacht überstanden, ohne sich das Fieber zuzuziehen.

»Du – komm her.«

Der Soldat folgte dem Sergeant in einen stillen Winkel.

»Weißt du, warum ich eure Prügelei nicht früher unterbunden habe?«

Der Magere sah ihn unverwandt an. »Warum nicht, Sergeant?«

»Weil eine Prügelei wie ein Krieg ist: Man muss den Sieger kennen, um zu erfahren, wer recht hatte, als der Kampf anfing. Und weil manchmal der gewinnt, der nicht kämpfen wollte. Dann ist er es, der recht hatte.«

Der Soldat lächelte Bowman zu. »Gott vergibt mir meine Schuld, wenn ich mich weigere, an ungerechten und sinnlosen Kämpfen teilzunehmen. Ich hätte diesen Mann überwältigen können, ohne zu kämpfen und ohne Ihr Eingreifen, Sergeant.«

»Was soll die Predigt, bist du Pfaffe, oder was?«

»Nur ein Schaf in der Herde, Sergeant.«

»Ein Schaf, das sich trotz einer dreißig Zentimeter langen Wunde aufrecht hält, ist gutes Schlachtfleisch.«

Bowman sah sich um. »Gibt es jemanden auf diesem Schiff, dem du vertraust?«

Der Soldat war verblüfft. »Was wollen Sie damit sagen? Jemanden, den ich kenne?«

»Ja, dem du vertrauen kannst.«

Der Soldat betrachtete die Männer um sie herum. Sie standen oder saßen, aßen, waren krank, unterhielten sich oder schwiegen. Er zeigte auf einen, der in seiner Hängematte saß und ruhig seine kärgliche Ration Suppe aß.

»Machst du dich über mich lustig?«

Der Soldat schüttelte den Kopf. Auf Bowmans Gesicht zeigte sich ein halbes Grinsen. »Der da? Bist du sicher?«

Der große Magere nickte. »Ja.«

Bowman ging zu dem blonden Mann, der dem Schaf aus der göttlichen Herde am Vortag an die Gurgel gegangen war. »Du da.«

Der Soldat sprang aus seiner Hängematte und salutierte.

»Sergeant!«

»Komm her.«

Als der blonde Stier sich dem verletzten Soldaten gegenübersah, erstarrte er. »Es war eine Dummheit, Sergeant, ich war einfach wütend, aus keinem besonderen Grund. Ich schwöre Ihnen, es wird nicht wieder vorkommen.«

»Halt den Mund. Du, Prediger, erklär’s ihm. Er soll dasselbe tun. Wenn ihr zu zehnt seid, packt ihr eure Sachen und sammelt euch an Deck. Auf Befehl von Sergeant Bowman wird man euch passieren lassen. Verstanden?«

Der Soldat Gottes bejahte, der andere nickte mechanisch.

»Wie heißt ihr?«

Der Prediger hieß Peevish, der Mann, dem er vergeben hatte, Bufford.

Bowman ging eilig in seine Ecke, ließ sich vor seinem Seesack auf den Knien nieder und leerte ihn aus.

Er faltete eine Uniformjacke auseinander, die sich in kaum besserem Zustand befand als die, die er trug. Dann legte er sein Pulverhorn aus Perlmutt, die fast leere Rumflasche, die Militärpapiere in der kleinen Tasche aus gewachstem Leder, seine Bibel und seinen Tabakvorrat darauf und wickelte alles in die Jacke ein. Zuunterst in den Seesack stopfte er ein Paar neue Stiefel und einen Satz Wäsche zum Wechseln, darauf kam die zusammengewickelte Jacke. Er zog den Dolch aus seinem Gürtel und legte ihn auf die Sachen.

Als er wieder an Deck war, hatte sich etwas verändert, aber er wusste nicht gleich, was es war.

Die siebzehn Schiffe der Flotte, die seit Tagen nicht vorangekommen waren, schwankten, und die Linien ihrer Takelage kreuzten sich vor dem Horizont. Ein Ventil klapperte. Das Meer erschien weiß, und alle Männer an Deck der Healing Joy wandten ihr Gesicht dem Wind zu, der sich erhoben hatte. Die Wolken am Himmel zogen nach Osten, in Richtung Rangun. Auf dem Offiziersdeck zog ein Matrose Flaggen auf und übermittelte so den anderen Schiffen Admiral Godwins Befehle.

Der Wind blies und fachte die Unternehmungen der Kompanie an. Es fiel noch kein Tropfen Regen.

Die Matrosen kletterten in die Masten, liefen vierzig Meter über dem Wasser Wanten und Mastbäume entlang. Godwin und sein Generalstab erschienen auf der Brücke, die Orden und goldenen Tressen der Uniformen glitzerten in der Sonne. Fernrohre richteten sich auf Rangun. Auch Major Cavendish war da und betrachtete die Küste durch sein Glas.

Die Soldaten nahmen Aufstellung zum Gefecht, die Matrosen machten sich bereit zum Manövrieren der Schiffe. Die Ankerketten tauchten aus dem Wasser auf, Glied um Glied, im Takt der Arme, die sie hochzogen. Die Segel entfalteten sich und blähten sich im Wind, die Geschützpforten öffneten sich, und die Kanonen im Schiffsinneren kamen zum Vorschein. Die zweiunddreißigpfündigen Karronaden, schwarz und stämmig, versteckt unter Segeltuch, tauchten auf den Decks auf. Von allen Schiffen, die im Wind schaukelten, ertönten die gleichen Geräusche, die von Waffen und fieberhaften Gefechtsvorbereitungen kündeten.

Mitten in dem allgemeinen Aufruhr an Deck kamen Bowmans zehn Männer durch die große Luke und blinzelten, ihre Augen mit den Händen beschattend, in das unerwartet helle Licht. Sie wandten sich einander zu, suchten nach dem Sergeant. Peevish, Bufford und acht weitere Soldaten, die Bowman nie gesehen hatte. Brav wie Bauern in der Kirche nahmen sie entlang der Reling Aufstellung, doch Bowman hatte nicht genug Zeit, sie sich genauer anzusehen.

Er bemerkte eine Schaluppe mit drei etwa dreißig Meter hohen Masten unter vollen Segeln, die zwischen den Schiffen der Flotte auf sie zukam; sie war weiß wie die Themseschiffe, auf denen sich die Adligen im Sommer vergnügten. Nur dass diese hier mit achtzehn zwanzigpfündigen Kanonen bestückt war und dass sich auf ihrem Deck außer den Matrosen zwei Dutzend Soldaten in Uniform aufhielten.

Auf der Nock erschien Captain Wright, mit einer doppelläufigen Pistole im Gürtel, einer Umhängetasche vor der Brust, gefolgt von einem Matrosen, der eine weitere Tasche trug. Die Schaluppe befand sich nun parallel zu ihrem Schiff, und Bowman konnte ihren Namen lesen, der mit goldenen Buchstaben am Rumpf prangte. Die SeaRunner reffte die Segel, die Matrosen der Healing Joy ließen die Fender hinab, warfen die Taue hinüber und klappten die Gangway für Offiziere aus. Wright ging als Erster hinüber, sprang an Bord der Runner und verschwand eilig im Steuerhaus. Bowman schrie seinen Männer zu: »Bereit zum Einschiffen!«

Sie liefen die Gangway entlang, der Sergeant trieb sie zur Eile, und sie sprangen an Bord.

Gleich darauf wurden die Taue eingezogen, die Schaluppe setzte wieder Segel und entfernte sich rasch und geschickt zwischen den anderen Schiffen der Flotte. Ein Kanonenschuss ertönte. Die Schiffe wurden schneller, nahmen Kurs auf Rangun und ließen die Schaluppe zurück.

Der Krieg begann ohne sie; es war, als ob Godwin und Gott nur gewartet hätten, bis Bowman und seine Männer von Bord gegangen waren, um endlich mit dem Kampf anzufangen.

Die Sea Runner segelte direkt nach Osten. Bowman sah Cavendishs Karte wieder vor sich, die Schlangenlinie des Flusses in der grünen Fläche. Sie hielten auf die Mündung des Irrawaddy zu und näherten sich der Küste.

Der feste Boden war nun nicht mehr als eine Meile entfernt. Man konnte die Einzelheiten des Urwalds ausmachen, die Strände, die Felsen, einzelne Bäume, die höher waren als andere, die Mangroven und die Kokospalmen, die sich übers Wasser neigten; der Duft von Erde lag in der Luft, und der von Gerüchen gesättigte Wind ließ ihr Schiff immer schneller werden. Als Bowman sich umdrehte, war die Flotte nur noch eine Reihe kleiner weißer Punkte am Horizont.

Den Männern, die von der Healing Joy kamen, erschien die Hitze dieses Erdteils wie ein Versprechen nach einem Monat in stickiger Schwüle unter Deck. Fast konnten sie die neue Welt berühren, denn die Masten der Schaluppe neigten sich ihr zu wie ausgestreckte Arme.

Doch die Soldaten, die schon an Deck gewesen waren, betrachteten die Küste mit weit geringerer Neugier. Sie hatten sie bereits bis zum Überdruss in sich aufgenommen und wussten, worum es sich wirklich handelte: Es war keineswegs das Gelobte Land, sondern nur der Anfang eines endlosen Dschungels, das ungeheuer ausgedehnte Territorium, in dem die Krieger des Königreichs Ava warteten.

Bowman setzte sich auf seinen Seesack, den er an die Wand des Steuerhauses gelegt hatte, und beobachtete die dreißig Soldaten an Deck.

Die zehn Männer der Joy standen auf dem Vorschiff und unterhielten sich miteinander. Jeder von ihnen kannte nur den Mann, der neben ihm stand. Es war eine Gemeinschaft des Zufalls. Peevish hielt sich abseits; es war Bufford, der die Gruppe am meisten geprägt hatte: Er war stark und muskulös und zweifellos recht dumm, und der Mann seines Vertrauens, den er ausgewählt hatte, und alle weiteren, die ihm folgten, ähnelten ihm. Es waren die Harten, vor denen sich Bowman in Acht genommen hätte, wenn er sie selbst – oder der Prediger mit seinem Schafsglauben – hätte auswählen müssen, es waren die Robusten, die Kämpfernaturen, die sich hier versammelt hatten.

Die Soldaten, die schon vorher an Bord gewesen waren, ähnelten ihnen ebenfalls. Jung, stark und gesund, die Uniformen mitgenommen, Tätowierungen auf den Armen, sahen sie wie Bufford aus, nur dass sie schweigsamer waren. Lustlos beobachteten sie das Festland oder das offene Meer. Zwei von ihnen, deren Blicke die Küste genauer absuchten als die der anderen, zogen Bowmans Aufmerksamkeit auf sich. Der eine hatte zerrissene Ärmel, und man sah an den Handgelenken Verletzungen, wie sie von einer eng sitzenden Eisenkette herrührten. Der andere war barfuß und hatte ähnliche Verletzungen an den Fesseln, wo das rohe Fleisch zum Vorschein kam. Bei anderen waren die Uniformen an den Schultern schadhaft, dort waren offenbar Tressen abgerissen worden.

Es handelte sich bei diesen Männern also um Gefangene der Flotte, Soldaten und Unteroffiziere, die die Disziplin verletzt hatten, sie waren degradiert worden und erwarteten ihr Urteil, womöglich den Strang.

Bowman schloss die Augen und genoss den frischen Wind auf dem Gesicht, den Geruch der Erde in der Nase.

Die Sea Runner segelte vier Stunden lang in Richtung Osten. Nach der ersten Aufregung hatten Bowmans Männer die gelassenen Gewohnheiten der Soldaten wiederaufgenommen, die durch die Welt transportiert werden, ohne dass man ihnen mitteilt, wohin es geht und zu welchem Einsatz. Die zwei Männer, die Ketten getragen hatten, hatten sich in einen Winkel verzogen und wohl ihre Fluchtträume auf später verschoben.

Bowman döste, ohne die Bewegungen an Bord aus den Augen zu verlieren.

Die Matrosen beobachteten diesen wilden, fremden, schweigsamen Haufen. Der Kapitän der Schaluppe, ein alter Marineoffizier, stand, eingerahmt von zwei Bewaffneten der Kompanie, an der Ruderpinne. Die Kanonen waren kampfbereit, die Stückpforten geöffnet, und Bowman erriet, dass sich unter Deck noch weitere Soldaten in Alarmbereitschaft befanden.

Die Schaluppe wendete; die Takelage krachte, und der Lärm der Segel und der Mastbäume, die sich über ihren Köpfen drehten, schreckte die schläfrigen Männer auf. Die Runner nahm nun direkten Kurs auf die Küste. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, das Licht schwächte sich ab und kündete schon die Nacht an. Der Wechsel zwischen Tag und Nacht vollzog sich in diesen Breiten so rasch, wie sich bei einem Menschen zuweilen die Stimmung ändert.

Bowman sah einen grauen Strand vor sich, eine halbkreisförmige Linie, begrenzt von zwei Felsspitzen. Als sich die Schaluppe langsam näherte, entdeckte er ein Dorf und einen dunklen Fleck, den er zunächst nicht identifizieren konnte. Dann sah er, dass es eine große Dschunke war, die dort vor Anker lag, mit ockerfarbenen Segeln. In der Mitte des Strandes war ein Steg, der ins Wasser führte; Auslegerkanus waren auf den Sand gezogen, und etwa ein Dutzend Gebäude standen rund um den bogenförmigen Strand am Rand des Waldes. Holzhütten mit Palmdächern. Über Bambusgerüsten waren Fischernetze aufgespannt. Zwischen den Hütten und dem Strand die roten Punkte der Uniformen der Kompanie: Zu zweit patrouillierten Soldaten dort, etwa dreißig insgesamt. Zehn befanden sich vor dem größten Gebäude, das zu sehen war, einem Tempel oder einem Gemeindehaus direkt dem Steg gegenüber, auf der zentralen Achse des Dorfes. Die Soldaten reihten sich unter einer weitläufigen überdachten Terrasse auf, sie bewachten eine große geschlossene Tür. Um sie herum Fischkörbe, rauchende Herdfeuer, Hühner, Hunde und kleine schwarze Schweine in den Gassen des Dorfes, das abgesehen von den Soldaten offenbar verwaist war.

Auf einen Befehl des Kapitäns hin refften die Seeleute die Segel. Die Schaluppe glitt über ruhiges Wasser in der Stille dieses natürlichen Schutzes, bis sie die Dschunke erreichte. Birmanische Matrosen warfen den Briten Taue zu, und die Sea Runner machte entlang des bauchigen Rumpfes des fremden Schiffes fest. Die rot-schwarzen gemalten Augen an seinem Bug beäugten die Briten argwöhnisch.

Als die Schaluppe vertäut war, trat Wright aus dem Steuerhaus.

»Die Männer werden ihre persönlichen Sachen und ihre Militärpapiere hier zurücklassen. Auch ihre Uniformen bleiben hier. Sie werden an Bord der Dschunke gehen.«

Bowman wiederholte: »Sie lassen ihre Uniformen zurück?«

»Sie ziehen sich aus. Uniformen, Stiefel und persönliche Dinge bleiben auf der Sea Runner. Sagen Sie ihnen, dass sie sie nach der Rückkehr wiederbekommen. Das Gleiche gilt auch für Sie, Bowman.«

Eine Strickleiter fiel von der Dschunke herab. Wright ergriff sie und kletterte an Bord des birmanischen Schiffes.

Bowman rief: »Aufstellung nehmen, mit den Seesäcken!«

Die Männer ordneten sich zu einer Reihe.

»Eure Sachen bleiben an Bord! Ihr zieht euch aus, steckt eure Sachen in den Seesack und geht an Bord der Dschunke! Vorwärts!«

Es waren achtundzwanzig Männer. Sie grinsten ein wenig, während sie einander ansahen. Bowman kreuzte die Hände auf dem Rücken und wartete. Sein Schweigen überzeugte sie, und das Grinsen hörte auf. Er ging von einem zum anderen, beobachtete die Gesichter und blieb vor Bufford stehen, der seinen Kameraden einen verwirrten Blick zuwarf, bevor er begann, seine Jacke aufzuknöpfen. Langsam, einer nach dem anderen, folgten die Übrigen seinem Beispiel.

In Unterwäsche oder nur mit einem Hemd um die Taille geknotet, stopften sie ihre Sachen in die Seesäcke. Sie gingen mit Vorsicht zu Werke. Hinter den Bäumen ging die Sonne unter; an Land patrouillierten die Soldaten der Kompanie mit Fackeln zwischen den Hütten.

Die Männer der Runner drängten sich aneinander, ihre weiße Haut leuchtete, und die schwarzen Linien der Tätowierungen schienen sich von einem Körper zum anderen fortzusetzen. Bowman hatte gesehen und zugelassen, dass einige Dinge in den Falten von Unterhosen und Hemden verschwanden. Eine Bibel, ein goldenes Kreuz mit einer Kette, ein kleiner Vorrat an Tabak, eine Pfeife. Er sah zwei Messer verschwinden und merkte sich die dazugehörigen Gesichter.

»Vorwärts!«

Sie kletterten an Bord der Dschunke, ungeschickt und eifrig, zeigten ihren weißen Hintern und ihre Beine denjenigen, die ihnen folgten, und lachten, bis die Reihe an sie kam. Bowman, der letzte Mann des Trupps an Bord der Schaluppe, zog seine Stiefel und seine Uniform aus. Unter den Stoff seiner langen Unterhose schob er seinen afghanischen Dolch, seinen Tabak und seine Pfeife; das Perlmutthorn hielt er noch in der Hand.

Er hatte es in Bombay anfertigen lassen, nachdem sein Regiment siegreich aus dem Punjab zurückgekehrt war. Da es innen mit Kautschuk überzogen und mit einem wasserdichten Deckel versehen war, konnte man das Horn sogar ins Wasser werfen, ohne dass das Pulver nass wurde. Bowman hatte den Sold von vier Monaten für die wunderbare Arbeit aus Silber und Perlmutt geopfert. Es war seine Belohnung gewesen, nach zwölf Jahren im Dienst der Kompanie. Damit er auch im Regen kämpfen konnte.

Er zog Jacke und Stiefel wieder an, ging über das Deck der Sea Runner bis zum Ruderhaus und salutierte vor dem Kapitän. Der alte Offizier starrte den Sergeant ohne Hosen an.

»Sergeant, die Schaluppe muss unverzüglich ablegen, was wollen Sie?«

»Sir, Sergeant Bowman, erste Kompanie, Armee von Madras.«

»Ihr Rang ist mir egal, Sergeant. Gehen Sie sofort an Bord dieser Dschunke!«

Bowman richtete sich auf.

»Sir, ich möchte Ihnen das hier geben. Es ist etwas … Ich hänge daran, Captain. Ich übergebe es Ihnen, damit es nicht verloren geht wie die anderen Sachen in den Seesäcken.«

Bowman hielt ihm das Pulverhorn hin.

»Was sagen Sie da? Verlassen Sie dieses Schiff! Das ist ein Befehl!«

ENDE DER LESEPROBE