Die spanische Klinge - Joseph Smith Fletcher - kostenlos E-Book

Die spanische Klinge E-Book

Joseph Smith Fletcher

4,7

  • Herausgeber: Heimdall
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Der berühmte Bühnenschaupieler John Riversley wird kurz vor der Abendvorstellung ermordet in seiner Garderobe aufgefunden. Wer hat einen solchen Hass auf Riversley, um ihn mit einem Dolch zu erstechen? Die Polizei ist zunächst ratlos und findet kein Motiv … Hinweise, in seiner Vergangenheit nachzuforschen, führen die Polizei auf neue Spuren – der Schauspieler soll einige Liebesaffären gehabt haben … kommt ein betrogener Ehemann in Frage? Da geschehen wieder Morde – zwei weitere Angestellte des Theaters werden mit Likör vergiftet … Eine spannende Mordgeschichte im England der 1930er Jahre.

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Seitenzahl: 237

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Hergestellt in Deutschland • 1. Auflage 2016

© Heimdall Verlag, Devesfeldstr. 85, 48431 Rheine,

www.heimdall-verlag.de

© Alle Rechte beim Verlag

Satz und Produktion: www.lettero.de

Gestaltung: © Matthias Branscheidt, 48431 Rheine

ISBN: 978-3-946537-00-7

Weitere Krimis der 20er, 30er und 40er Jahre

als E-Book, Print- und Hörbuch unter:

www.heimdall-verlag.de

www.meinaudiobuch.de

Über das Buch

Der berühmte Bühnenschaupieler John Riversley wird kurz vor der Abendvorstellung ermordet in seiner Garderobe aufgefunden. Wer hat einen solchen Hass auf Riversley, um ihn mit einem Dolch zu erstechen? Die Polizei ist zunächst ratlos und findet kein Motiv … Hinweise, in seiner Vergangenheit nachzuforschen, führen die Polizei auf neue Spuren – der Schauspieler soll einige Liebesaffären gehabt haben … kommt ein betrogener Ehemann in Frage? Da geschehen wieder Morde – zwei weitere Angestellte des Theaters werden mit Likör vergiftet …

Eine spannende Mordgeschichte im England der 1930er Jahre.

1

An einem Novemberabend saßen drei Herren um einen runden Tisch im Speisezimmer des Hyacinth-Clubs. Sie rauchten behaglich eine Zigarre, während Kaffee und Likör vor ihnen standen. Der eine war Mr. Marston, der Polizeidirektor von Hatherford, eine stattliche, große Erscheinung; der zweite, Polizeiarzt Dr. Grayle, lugte mit scharfem Blick hinter seinen Brillengläsern hervor, und der dritte, Stadtrat Wardle, führte die Verwaltungsgeschäfte der Polizei.

Seit langem waren die drei Junggesellen gute Freunde und speisten gewöhnlich fünfmal in der Woche im Hyacinth-Club miteinander zu Abend. Sie kannten alle Polizeigeheimnisse der Stadt. Wardle, der älteste von ihnen, war in Hatherford geboren. Die beiden anderen waren verhältnismäßig spät zugezogen, aber immerhin wohnte Marston schon neun und Grayle schon sieben Jahre an dem Platz. Im Klub unterhielten sie sich jedoch niemals über amtliche Dinge; dazu hatten sie reichlich genug Gelegenheit während der Sitzungen im Rathaus.

»Haben Sie heute Abend etwas vor?«, fragte Wardle, als er seine Tasse ausgetrunken hatte.

Marston nickte über den Tisch hinüber dem Polizeiarzt zu.

»Ja. Grayle und ich wollten ins Theater gehen. Keiner von uns hatte bisher Gelegenheit, den berühmten Sir John Riversley zu sehen – auf der Bühne meine ich. Gesehen haben wir ihn ja heute Mittag bei dem Festessen im Rathaus, das der Bürgermeister ihm zu Ehren gab. Er spielt heute Abend den Hamlet, und man sagt, dass das seine beste Rolle ist.«

Wardle steckte eine neue Zigarre an. »Merkwürdig, dass Sir John vorher noch nie hier aufgetreten ist. Er gehört doch zu den vier berühmtesten Schauspielern, die wir in den letzten zwölf Jahren hatten, und erst heute kommt er einmal nach Hatherford, obwohl es seine Vaterstadt ist!«

»Ach, er ist hier geboren?«, erwiderte Grayle. »Das wusste ich noch gar nicht.«

»Ja. Ich kenne sein Geburtshaus und die ganze Geschichte seiner Familie. Mit seinen Eltern war ich persönlich bekannt. Der Vater …«

Ein Klubdiener trat zu dem Polizeidirektor und unterbrach ihr Gespräch.

»Sie werden am Telefon verlangt, Mr. Marston. Es ist sehr dringend!«

Der Beamte entschuldigte sich und ging in die Halle zur Telefonzelle. »Hallo?«, meldete er sich.

»Ist Polizeidirektor Marston am Apparat?«, fragte eine erregte Stimme.

»Jawohl!«

»Hier ist Gresford, Direktor des Stadttheaters. Können Sie sofort hierherkommen?«

»Ist denn etwas passiert?«

»Ja, etwas Entsetzliches. Wir haben Sir John Riversley tot in seiner Garderobe aufgefunden. Ich fürchte, er ist ermordet worden. Wollen Sie kommen?«

»Ja. Ich bin sofort bei Ihnen. Ist schon ein Arzt zugegen?«

»Ja. Dr. Feversham ist hier.«

»Gut, in fünf Minuten bin ich dort.«

Er eilte aus der Telefonzelle und winkte einem Pagen. »Besorgen Sie mir schnell ein Taxi!«

Als er wieder im Speisezimmer erschien, sahen seine Freunde an seinem Gesichtsausdruck sofort, dass etwas Ungewöhnliches geschehen sein musste.

»Was ist denn los?«, fragte Wardle betroffen.

»Vorsicht«, mahnte Marston. »Gresford war am Apparat. Sie kennen ihn doch. Sir John Riversley wurde tot in seiner Garderobe aufgefunden. Gresford glaubt, dass der Mann ermordet wurde. Kommen Sie schnell mit, das Taxi wird schon warten.«

Die beiden folgten ihm schweigend. Schnell nahmen sie ihre Mäntel und Hüte und stiegen in den Wagen.

»Stadttheater – Bühneneingang – so schnell Sie fahren können!«, sagte Marston zu dem Chauffeur.

Das Auto fuhr an. Wardle holte tief Atem.

»Ein eigentümlicher Zufall«, meinte er. »Wir hatten doch gerade von ihm gesprochen!«

Marston lehnte sich vor und berührte ihn leicht am Arm.

»Im Fall eines Mordes ist es wesentlich, dass die Tat in seiner Vaterstadt verübt wurde. Sie sagten, Sie hätten ihn von frühester Jugend an gekannt. Erzählen Sie mir doch bitte, was Sie wissen.«

»Ja, ja, ich verstehe, wie Sie es meinen. Ich kenne ihn sehr gut … bis zu einem gewissen Grad natürlich nur. Sein Vater hatte ein kleines Geschäft hier in der Stadt, eine Agentur für Wollwaren, die der Junge einmal übernehmen sollte. Es ging auch alles ganz gut, bis John ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt war. Schon als Kind liebte er das Theaterspiel über alles und war ein eifriges Mitglied der hiesigen dramatischen Gesellschaft. Schließlich entschied er sich endgültig für die Bühne. Wahrscheinlich hat er sich in der ersten Zeit schwer durchkämpfen müssen; darüber weiß ich nichts Näheres. Aber dann hatte er plötzlich Erfolg und seit etwa zwölf Jahren ist er eine anerkannte Größe. Er wurde so berühmt, dass man ihm den Adel verlieh. Mehr weiß ich allerdings nicht.«

»Wie alt ist er jetzt?«, fragte Marston.

»Er wird wohl fünfundvierzig sein.«

»Sicher erinnern sich noch viele Leute hier in der Stadt an ihn?«

»Natürlich! Aber soweit ich mich besinnen kann, ist er seit dreiundzwanzig Jahren nicht mehr in Hatherford gewesen. Jedenfalls ist er niemals im Theater aufgetreten.«

»Hat er noch Verwandte hier?«

»Das kann ich nicht bestimmt sagen. Seine Eltern sind tot, und er war das einzige Kind. Er mag noch andere Verwandte haben, aber die kenne ich nicht.«

»Die Nachricht ist bereits bekannt«, sagte Grayle, als das Auto um eine Ecke bog. »Sehen Sie nur hin!«

Die Straße, in der das Stadttheater lag, wimmelte von Menschen. Sie verhielten sich jedoch still und ruhig.

Auch am Bühneneingang hatten sich schon Neugierige gesammelt, als Marston und seine Freunde ausstiegen und zur Tür eilten.

Gresford empfing sie und führte sie in einen leeren Raum. Er sah bleich aus, und seine Hände zitterten.

»Nun?«, fragte Marston.

»Es ist zweifellos Mord«, entgegnete Gresford. »Dr. Feversham ist derselben Ansicht wie ich. Sir John kam eine Stunde vor Beginn der Vorstellung und ging direkt in seine Garderobe. Die Räumlichkeiten hatte er sich schon im Lauf des Tages angesehen. Sein Kammerdiener Pratt kam etwas spät, erst zwanzig Minuten nach ihm. Als er in die Garderobe trat, lag Sir John tot über dem Toilettentisch … von hinten erstochen. Die Waffe ging direkt durchs Herz. Feversham sagt, der Tod müsste sofort eingetreten sein.«

»Erstochen?«, wiederholte Marston.

Gresford nickte und zeigte den Weg den Gang entlang.

»Sie können es selbst sehen, wir haben nichts angerührt. Feversham sagte, dass wir warten müssten, bis die Polizei käme.«

Die drei folgten ihm den Korridor entlang zur Garderobe. Vor der Tür standen ein Polizist, Dr. Feversham und der Kammerdiener, ein kleiner Mann, der ein Taschentuch an die Lippen presste. Der Polizist öffnete die Tür, und mit Ausnahme Pratts traten alle ein.

Marston überschaute den Raum mit einem Blick. Sir John Riversley saß noch auf dem Stuhl vor seinem Toilettentisch. Der Oberkörper war nach vorne gesunken, die Arme waren über dem Tisch ausgestreckt. In der einen Hand hielt er noch ein Stück Schminke. Der Tote war nur mit Hemd und Hose bekleidet. Ein roter Flecken auf der Rückseite des Oberhemdes und eine Blutlache auf dem weißen Tischtuch zeigten deutlich an, wo die Stichwunde saß. Auf dem Boden lag ein Stoßdegen.

Marston sah sich um und wandte sich dann an Gresford.

»Wohin führt diese Tür?«

»Zur Bühne.«

»Und die dort?«

»In einen Gang, der zu den vorderen Räumen des Theaters führt.«

»Gibt es sonst noch einen Eingang in dieses Zimmer?«

»Nur noch den, den wir eben benützten, und vor Pratts Ankunft ist niemand durch diese Tür gegangen.«

Wieder schaute sich Marston um; er suchte nach einem Versteck. Aber dann schüttelte er den Kopf.

»Nein, hier konnte sich niemand verbergen. Der Mörder muss durch eine der drei Türen gekommen sein.« Er wandte sich an die beiden Ärzte. »Nun müssen Sie Ihres Amtes walten. Sie wissen ja, was in solchen Fällen zu geschehen hat. Bitte veranlassen Sie alles Nötige über den Abtransport und so weiter, wenn die Untersuchung beendet ist. Ich will inzwischen einmal mit dem Portier vom Bühneneingang und dem Kammerdiener sprechen, Mr. Gresford. Kommen Sie, Wardle, hier können wir doch weiter nichts tun.«

Gresford führte sie in das Zimmer zurück, in dem sie sich zuerst aufgehalten hatten, und rief den Portier. Marston besuchte das Theater regelmäßig und kannte den Mann als einen zuverlässigen Angestellten.

»Haben Sie Sir John hereinkommen sehen, Jenkinson?«, fragte er.

»Jawohl.«

»Wann war das ?«

»Punkt halb sieben, Mr. Marston.«

»War noch jemand bei ihm?«

»Nein.«

»Und später hat auch niemand nach ihm gefragt?«

»Nein.«

»Wann kam Pratt?«

»Zwanzig Minuten nach Sir John. Er hätte natürlich vor ihm hier sein müssen. Er war etwas aufgeregt und erzählte mir, dass er durch ein Straßenbahnunglück aufgehalten worden sei.«

»Ging er direkt in Sir Johns Zimmer?«

»Ja, er hatte es sehr eilig. Aber im nächsten Moment kam er schon wieder zurück und brachte die schreckliche Nachricht.«

Marston wandte sich an Gresford. »Bitte, rufen Sie jetzt Pratt herein. Er wird uns allerdings wohl auch nicht viel Neues erzählen können. Also, mein lieber Pratt«, fuhr er fort, als der Mann erschienen war, »Sie kamen heute Abend etwas spät, nicht wahr? Und als Sie dann in Sir Johns Garderobe traten, fanden Sie ihn so – wie wir ihn eben alle gesehen haben?«

Pratt gab sich Mühe, ein Schluchzen zu unterdrücken.

»Ja, so war es. Ein Straßenbahnunglück war schuld, dass ich zu spät kam. Ich wohne ziemlich weit draußen in der Vorstadt.«

»War niemand im Zimmer, als Sie ankamen?«

»Nein, nur Sir John.«

»Stand eine der Türen auf?«

»Nein, sie waren alle geschlossen.«

»Was taten Sie denn darauf?«

»Ich lief zuerst zu Jenkinson, und dann benachrichtigten wir Mr. Gresford.«

»Sir John wohnt doch im Midland-Hotel?«

»Ja, dort hat er mehrere Zimmer belegt.«

»Ich weiß nichts über Sir Johns Privatleben … war er verheiratet?«

»Nein, er war Junggeselle.«

»Haben Sie ihn im Hotel gesehen, seitdem er nach Hatherford kam? Heute haben wir Montag. Er ist doch gestern bereits angekommen?«

»Ja, wir kamen gestern von Sheffield. Gestern Abend sah ich ihn für ein paar Minuten im Hotel, ebenso heute früh.«

»War er allein?«

»Gestern Abend ja, aber heute morgen hatte er zwei Herren zu Besuch. Ich glaube, der eine war der Bürgermeister. Wer der andere war, weiß ich nicht. Sie tranken ein Glas Wein mit ihm.«

»Und tagsüber haben Sie ihn dann nicht mehr gesehen?«

»Nein … erst jetzt …«

Marston nahm Gresford beiseite.

»Rufen Sie mir bitte jetzt den Geschäftsführer Sir Johns.«

2

Als Gresford das Zimmer verließ, steckte Jenkinson den Kopf zur Tür herein und sah den Polizeidirektor an.

»Detektivsergeant Stell ist draußen. Er lässt fragen, ob er hereinkommen soll.«

Marston und Wardle wechselten einen kurzen Blick. Der Stadtrat nickte. »Das ist der Mann, den wir brauchen«, sagte er.

Marston gab dem Portier einen Wink, und gleich darauf trat ruhig und selbstbewusst ein junger, unaufdringlich gekleideter Mann herein.

»Ich ging eben vorbei und hörte, was vorgefallen ist. Ich erfuhr auch, dass Sie hier sind, und deshalb ließ ich anfragen, ob ich vielleicht behilflich sein kann.«

»Das war ganz richtig, Stell. Sie wissen es also schon?«

Der Detektiv nickte. »Einzelheiten kenne ich allerdings noch nicht.«

Marston erklärte kurz, was er festgestellt hatte. »Gresford holt eben den Geschäftsführer Sir Johns«, sagte er dann. »Bleiben Sie hier und hören Sie zu, was der Mann zu sagen hat.«

Im nächsten Augenblick erschien der Theaterdirektor mit einem großen, gutaussehenden Herrn, der sehr verstört aussah.

»Mr. Carroll«, stellte Gresford vor.

Marston verschwendete keine Zeit mit Höflichkeitsphrasen, sondern kam sofort zur Sache.

»Mr. Carroll, können Sie uns über diese Angelegenheit – ich meine über diesen Mord – etwas erzählen?«

Carroll schüttelte den Kopf und machte eine verzweifelte Geste.

»Nein«, entgegnete er niedergeschlagen. »Ich weiß gar nichts darüber!«

»Haben Sie Sir John gesehen, als er heute Abend ins Theater kam?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wann er kam?«

»Nach der Entdeckung des Mordes hörte ich von dem Portier, dass er um halb sieben kam. Das war auch sonst seine Gewohnheit. Er war immer genau eine Stunde vor Beginn der Vorstellung in seiner Garderobe.«

»Pratt hätte natürlich zu dieser Zeit auf ihn warten sollen?«

»Ja. Der Mann war heute zum ersten Mal unpünktlich.«

»Sir John hat also niemand vorgefunden, als er seine Garderobe betrat. Nach allem, was ich gehört habe, muss er fünfzehn bis zwanzig Minuten allein dort gewesen sein.«

»Ja, das wird wohl stimmen.«

»Haben Sie schon bei den Mitgliedern Ihrer Truppe nachgefragt, ob jemand Sir John nach seiner Ankunft hier gesehen hat? Wissen Sie vielleicht, ob einer von ihnen Sir John in seiner Garderobe aufgesucht hat?«

»Ich habe sie schon befragt. Sobald ich die schreckliche Nachricht hörte, rief ich sofort alle Leute zusammen. Aber niemand hat Sir John gesehen, nachdem er ins Theater kam, und es ist auch keiner in seiner Garderobe gewesen.«

»Hat jeder einzelne Ihnen das versichert?«

»Das kann ich gerade nicht behaupten. Sie standen alle um mich herum, und ich stellte eine allgemeine Frage – vielmehr zwei, und zwar dieselben, die Sie auch an mich gerichtet haben.«

»Wo waren Sie selbst in der fraglichen Zeit?«

»Vorne im Vestibül, in der Nähe der Kasse. Ich stand bei Mr. Gresford, als uns die Nachricht gebracht wurde.«

Marston schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich wieder an Carroll. »Zweifellos liegt hier ein Mord vor. Sir John ist von hinten mit einem Stoßdegen erstochen worden, den wir auf dem Boden fanden. Können Sie uns vielleicht etwas über die Waffe sagen?«

»Ja. Sie war das persönliche Eigentum Sir Johns. Er trug sie häufig. Es ist ein kostbarer Degen – eine echt spanische Klinge. Ein Verehrer schenkte sie ihm vor einigen Jahren. Ich habe ihn oft davor gewarnt, sie auf der Bühne zu verwenden; ein Theaterschwert hätte dieselben Dienste geleistet. Aber er hatte eine eigentümliche Vorliebe für die Waffe und nahm sie stets, wenn er eine entsprechende Rolle zu spielen hatte.«

»Dann lag sie also heute Abend auch in seiner Garderobe?«

»Ja, er hat sie sicher selbst aus seinem Koffer genommen. Ich habe das früher häufig beobachtet.«

»Nun komme ich zu einer sehr wichtigen Frage, Mr. Carroll. Wie waren die Beziehungen zwischen Sir John und den einzelnen Mitgliedern der Truppe?«

Carrolls Zögern verriet, wie unangenehm ihm diese Frage war.

»Im allgemeinen war das Verhältnis gut. Er stand in dem Ruf, dass er sehr streng war und auf straffe Disziplin hielt. Aber alle bewunderten ihn und waren stolz, mit ihm zusammen spielen zu dürfen. Die Schauspieler nannten ihn manchmal geizig; er war eben ein sehr tüchtiger Geschäftsmann und wusste den Wert des Geldes zu schätzen.«

»Sie sagten, im allgemeinen wäre das Verhältnis gut gewesen. Wollten Sie damit andeuten, dass es auch Ausnahmen gab?«

»Die lassen sich bekanntlich niemals vermeiden. Ich bin Sir Johns Geschäftsführer gewesen, seit er mit einer eigenen Truppe reist. Das sind jetzt etwa zehn Jahre. Wie gesagt, im allgemeinen waren die Beziehungen wirklich ausgezeichnet, aber es gab natürlich auch Ausnahmen.«

Marston wandte sich plötzlich scharf an Carroll.

»Sind in letzter Zeit Unstimmigkeiten vorgekommen? Bitte, denken Sie genau nach.«

Carroll fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Sie bestehen darauf, dass ich diese Frage beantworte?«

»Unter den gegebenen Umständen – ja.«

»Nun gut. Als wir in der letzten Woche in Sheffield spielten, kam es zu Meinungsverschiedenheiten.«

»Zwischen Sir John und einem Mitglied seiner Truppe?«

»Ja.«

»Herr oder Dame?«

»Ein Herr.«

»Der Name?«

»Es ist mir furchtbar unangenehm … bin ich wirklich verpflichtet …?«

»Sie können es mir jetzt sagen, wozu Sie nicht verpflichtet sind, oder achtundvierzig Stunden später bei der Verhandlung der Totenschau. Dann müssen Sie es sagen. Und da es doch auf alle Fälle herauskommt, sagen Sie es besser gleich.«

»Also, es handelt sich um Mr. Macdermott. Er ist seit drei oder vier Jahren ein hervorragendes Mitglied unserer Gesellschaft; aber in der letzten Zeit herrschte ein gespanntes Verhältnis zwischen ihm und Sir John.«

»Aus welchem Grunde?«

»Wenn ich die Wahrheit sagen soll, weil sich Macdermott seit kurzem dem Trunk ergeben hat. Meiner Ansicht nach hat er irgendeinen persönlichen Kummer. Aber er ist ein stolzer, düsterer Mensch, der sich niemand anvertraut. In der letzten Zeit hat er es etwas toll getrieben, und in der vorigen Woche war er in Sheffield eines Abends nicht fähig, seine Rolle zu spielen. Am nächsten Tag ließ ihn Sir John zu sich rufen, und es gab eine heftige Szene. Von beiden Seiten fielen böse Worte, und ich glaube, dass Macdermott seitdem auf Sir John nicht mehr gut zu sprechen war. Nach dem Auftritt erhielt ich von Sir John den Auftrag, Macdermott zu kündigen.«

»Haben Sie das getan?«

»Es blieb mir nichts anderes übrig. Wenn Sir John einen Auftrag gab, musste er ausgeführt werden. Ich habe ja schon gesagt, dass er von uns allen größte Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit erwartete.«

»Haben Sie Macdermott heute Abend gesehen?«

»Ich sah ihn unter den anderen, als ich nach der Entdeckung des Mordes die Leute zusammenrief. Aber ich hatte schon vorher etwas über ihn gehört, und da sein Name nun gefallen ist, will ich lieber gleich alles erzählen.«

»Das ist sicher das beste. Halten Sie nichts zurück.«

»Kurz bevor wir die Nachricht erfuhren, sprach ich mit Mr. Gresford in der Nähe der Kasse. Ein anderes Mitglied unserer Truppe, Mr. Ridsdale, kam gerade aus den Garderoben und teilte mir mit, dass Macdermott noch nicht gekommen sei, obwohl es schon kurz vor sieben sei. Ridsdale hatte ihn mit verschiedenen Leuten aus der Stadt um halb sechs in einer Bar gesehen und nahm deshalb an, dass er überhaupt nicht erscheinen würde, besonders da Macdermott selbst ihm gegenüber eine solche Andeutung gemacht hatte. Ich wollte Sir John gerade davon verständigen, als wir die Nachricht von seiner Ermordung erhielten.«

»Aber Sie sagten doch eben, dass Macdermott tatsächlich kam, und dass Sie ihn sahen, als Sie die Leute zusammenriefen?«

»Ja, dann war er im Theater. Er muss offenbar kurz nach meiner Unterhaltung mit Ridsdale gekommen sein.«

»War er schon im Kostüm?«

»Nein, er trug noch seinen Straßenanzug.«

»Haben Sie mit ihm persönlich gesprochen?«

»Nein, ich wandte mich an alle.«

»Haben Sie ihn überhaupt angesehen?«

»Ja. Ich sah gleich, dass er getrunken hatte.«

»Zeigte er besondere Erregung, als er von dem Mord hörte?«

»Nein. Er war der einzige, der ruhig blieb. Die anderen waren bestürzt und außer sich, aber Macdermott starrte mich nur unverwandt an, während ich sprach, und kein Muskel in seinem Gesicht rührte sich. Als ich zu Ende war, setzte er den Hut auf und ging fort.«

»Ist er noch im Theater?«

»Das kann uns Jenkinson sagen«, erwiderte Gresford, »das heißt, wenn Macdermott wie gewöhnlich das Theater durch die Bühnentür verlassen hat.«

Er rief den Portier.

»Jenkinson, Sie kennen doch Mr. Macdermott? Haben Sie ihn fortgehen sehen?«

»Ja. Er ging, kurz bevor Mr. Marston und die anderen Herren kamen.«

»Wo wohnt er?«, fragte der Polizeidirektor.

»Jenkinson hat alle Adressen der Schauspieler notiert«, entgegnete Gresford. »Wo wohnt Mr. Macdermott?«

»Bei Mrs. Smith, Thomholme Street Nr. 35. Mr. Macdermott hat dort schon öfter logiert. Er tritt ja nicht zum ersten Mal hier auf, wie Sie wissen. Nur war er früher noch nicht Mitglied der Truppe von Sir John Riversley.«

Marston wandte sich an Gresford, als der Portier wieder gegangen war. »Daraus geht hervor, dass Macdermott dieses Theater sehr gut kennt. Wie alt ist er eigentlich?«

»Ungefähr fünfundvierzig.«

Marston winkte Stell zu sich, der schweigend Zeuge des Verhörs gewesen war.

»Kommen Sie mit. Wir wollen einmal einen Besuch in der Thornholme Street machen. Wardle, tun Sie mir bitte inzwischen einen Gefallen. Fahren Sie schnell in einem Taxi zur Polizeistation und sagen Sie dem diensttuenden Sergeanten, dass er sofort ein paar zuverlässige Kriminalbeamte in die Thornholme Street schicken muss. Sie sollen an der Straßenecke warten, bis ich sie anspreche.«

Er winkte dem Detektiv und verließ mit ihm das Zimmer. Vor dem Theater drängte sich noch immer eine Menschenmenge.

»Die Thornholme Street ist doch die zweite Querstraße rechts?«, fragte Marston.

»Ja. Dort wohnen gewöhnlich die Schauspieler. Fast in jedem Haus sind möblierte Zimmer an sie vermietet. Die Lage ist so günstig für das Theater.«

»Ich bin gespannt, ob wir Macdermott zu Hause antreffen. Vor allem will ich ihn fragen, wo er in der Zeit von sechs Uhr dreißig bis sechs Uhr fünfundvierzig war. Darauf kann er ja eine klare Antwort geben … wenn er will. Aha, hier sind wir schon – Nr. 35.«

Gleich darauf traten die beiden Beamten in das Wohnzimmer der Wirtin. An den Wänden hingen viele Photographien mit den Unterschriften berühmter Schauspieler und Schauspielerinnen.

Macdermott saß vor dem Kaminfeuer. Er hatte eine Shagpfeife im Mund, eine Flasche und ein Glas standen neben ihm auf dem Tisch. Obwohl sich die zerstörende Wirkung zu reichlichen Alkoholgenusses bereits in seinen Zügen zeigte, sah er noch leidlich gut aus. Er legte das Buch beiseite, in dem er gelesen hatte, erhob sich und sah seine Besucher fragend an, ohne ein Wort zu sprechen.

»Mr. Macdermott, ich bin der Polizeidirektor dieser Stadt. Wir kommen eben vom Theater, wo Sir John Riversley ermordet wurde, wie Sie ja schon wissen. Ich habe Verschiedenes in Erfahrung gebracht, was Sie betrifft, und möchte deshalb einige Fragen an Sie richten. Wenn Sie mir offen und ehrlich Antwort geben, sparen Sie mir und sich viel Mühe und Unannehmlichkeiten. Wo waren Sie heute Abend zwischen sechs Uhr dreißig und sechs Uhr fünfundvierzig? Wollen Sie mir das bitte sagen?«

Macdermott richtete sich auf und sah Mr. Marston fest an.

»Nein, das werde ich Ihnen nicht sagen!«