Mord vierten Grades - Joseph Smith Fletcher - E-Book

Mord vierten Grades E-Book

Joseph Smith Fletcher

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Beschreibung

Über unserm Büro lagen ein paar Zimmer, die ich für mich als Junggesellenwohnung einrichtete. Ich wohnte also sozusagen über dem ›Laden‹ und war wie ein Arzt Tag und Nacht verfügbar. Chaney, der verheiratet war, wohnte außerhalb. Obwohl ich also stets zur Stelle war, kann ich mich nicht erinnern, daß man mich jemals außerhalb der Bürostunden gerufen hätte; erst Anfang Februar 1921 wurde ich eines Morgens um halb sieben von jemandem angeläutet, der sich als Mr. Watson Paley, Privatsekretär Lord Cheverdales, vorstellte. Er wollte wissen, ob er mich in einer höchst dringlichen Geschäftsangelegenheit um dreiviertel acht aufsuchen könne. Ich antwortete, daß ich zu seiner Verfügung stehe. Vom Zweck seines Besuches erwähnte er nichts, ich hielt es aber für das beste, meinen Sozius hinzuzuziehen; da Chaney gerade noch anrief, bat ich ihn, sofort ins Büro zu kommen. Er erschien um halb acht, und eine Viertelstunde später öffnete ich Mr. Watson Paley die Tür. Wenn ich jetzt zurückdenke, wird mir klar, daß ich vom ersten Augenblick an gegen diesen Mann eine schwer erklärbare Abneigung fühlte. Genau so ging es auch Chaney ...

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Joseph Smith Fletcher

Mord vierten Grades

Kriminalroman

Titel des englischen Originals: Murder in four Degrees

idb

ISBN 9783963751325

1

Im November 1920 tat ich mich mit Ex-Inspektor William Chaney (früher Kriminalabteilung Scotland Yard) zusammen, bald nachdem wir beide unsere nichtamtliche Untersuchung in der Mordsache Wrides Park erfolgreich abgeschlossen hatten. Unser Geschäft sollte unter der Firma Camberwell und Chaney als Privat-Auskunftei laufen. Wir mieteten Büroräume in Conduit Street, ein paar Häuser entfernt von New Bond Street; es waren zwei sehr große Räume, dazu kam noch ein dritter für unsern Angestellten, einen gerissenen jungen Londoner, namens Chippendale. Bevor er in unsere Dienste trat, war Chippendale bei einem Anwalt so eine Art besserer Laufbursche gewesen und hatte dort eine Menge höchst brauchbarer Kenntnisse aufgeschnappt, besonders auch von den Schattenseiten des Rechts. Über unserm Büro lagen ein paar Zimmer, die ich für mich als Junggesellenwohnung einrichtete. Ich wohnte also sozusagen über dem ›Laden‹ und war wie ein Arzt Tag und Nacht verfügbar. Chaney, der verheiratet war, wohnte außerhalb. Obwohl ich also stets zur Stelle war, kann ich mich nicht erinnern, daß man mich jemals außerhalb der Bürostunden gerufen hätte; erst Anfang Februar 1921 wurde ich eines Morgens um halb sieben von jemandem angeläutet, der sich als Mr. Watson Paley, Privatsekretär Lord Cheverdales, vorstellte. Er wollte wissen, ob er mich in einer höchst dringlichen Geschäftsangelegenheit um dreiviertel acht aufsuchen könne. Ich antwortete, daß ich zu seiner Verfügung stehe. Vom Zweck seines Besuches erwähnte er nichts, ich hielt es aber für das beste, meinen Sozius hinzuzuziehen; da Chaney gerade noch anrief, bat ich ihn, sofort ins Büro zu kommen. Er erschien um halb acht, und eine Viertelstunde später öffnete ich Mr. Watson Paley die Tür. Wenn ich jetzt zurückdenke, wird mir klar, daß ich vom ersten Augenblick an gegen diesen Mann eine schwer erklärbare Abneigung fühlte. Genau so ging es auch Chaney, wie er mir später bestätigte. Wie sah der Mann aus, der einen solchen Eindruck auf uns machte? Mr. Paley war ein zart gebauter, mittelgroßer Mann von dreißig bis fünfunddreißig Jahren. Selbst zu so früher Morgenstunde war er peinlich korrekt gekleidet. Sein schwarzes Jackett, seine Weste, seine gestreiften Hosen sahen aus, als wären sie gestern vom besten Schneider aus der Savile Row geliefert worden. Seine Wäsche war tadellos, Krawatte und Schuhwerk waren streng vorschriftsmäßig, ebenso sein Zylinder und sein Schirm. Die elegant behandschuhten Hände waren klein wie seine Füße: ein Gentleman wie aus dem Ei gepellt, was Anzug und Zubehör antraf – und doch ging etwas Bedrückendes von ihm aus, ohne daß man eigentlich sagen konnte, warum. Jedenfalls gefiel mir Mr. Paleys Gesicht weit weniger als sein Anzug, sein Wesen weit weniger als sein Gesicht. Er hatte eine blasse Gesichtsfarbe, seine Augen erinnerten an die eines Schafes. Seine ziemlich lange Nase war scharf geschnitten, Bart und Schnurrbart waren schütter und von einem undefinierbaren Hellbraun. Ein Zug um seine Lippen ließ deutlich erkennen, daß er sich zwar nicht offen über alle Menschen lustig mache, sich aber doch gewöhnlichen Sterblichen überlegen fühle. Mich überkam in seiner Nähe ein seltsames Frösteln.

Aber Mr. Paley kam ja als Kunde oder im Auftrag eines Kunden; ich hoffe also, daß ich es nicht an der gebührenden Höflichkeit fehlen ließ. Er nahm den angebotenen Stuhl, zog seine Handschuhe aus und setzte sich in Positur wie ein Lehrer, der eine Klasse von Neulingen zu unterrichten hat.

»Ich nannte Ihnen schon am Telefon meinen Namen, Mr. Camberwell«, begann er ruhig und gleichmütig, » Watson Paley, Privatsekretär von Lord Cheverdale. Sie sind natürlich über Lord Cheverdale unterrichtet?«

»Ich kenne Lord Cheverdales Namen«, antwortete ich; »weiter aber nichts.«

»Aber ich weiß über Lord Cheverdale ziemlich genau Bescheid«, sagte Chaney.

Paley wandte sich an meinen Sozius.

»Dann wissen Sie also, Mr. Chaney, daß Lord Cheverdale, wenn er in der Stadt ist, in Cheverdale-Haus, Regent's Park, wohnt«, sagte er.

»Ich weiß es«, antwortete Chaney.

»Sie wissen also auch, daß Lord Cheverdale Besitzer der ›Morning Sentinel‹ ist?«

»Auch das weiß ich.«

»Dann ist Ihnen vielleicht auch bekannt, daß die ›Morning Sentinel‹, seit sie Lord Cheverdale vor einigen Jahren gründete, von Mr. Thomas Hannington redigiert wird?«

»Das ist mir gleichfalls bekannt.«

Paley zog seine Handschuhe durch die Finger und sah mit einem merkwürdigen Ausdruck seiner matten Augen von Chaney zu mir, von mir zu Chaney.

»Also«, meinte er in seiner ruhigen, eintönigen Art, »Mr. Hannington wurde vergangene Nacht auf Lord Cheverdales Grundstück tot aufgefunden, besser gesagt, heute morgen zu früher Stunde. Die genaue Zeit steht nicht fest, etwa um Mitternacht.«

»Tot?« fragte Chaney.

»Wie festgestellt wurde, ermordet«, antwortete Paley. »Darüber besteht nicht der mindeste Zweifel. Getötet durch Schläge mit einer stumpfen Waffe auf den Kopf.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Chaney und ich sahen uns an; Paley fuhr fort, seine Handschuhe durch die Finger zu ziehen. Jetzt nahm ich das Wort: »Warum sind Sie zu uns gekommen, Mr. Paley?«

Er sah mit einem stillen, zynischen Lächeln von einem zum andern.

»Warum?« antwortete er. »Lord Cheverdale gehört zu den Leuten, die in allem nach ihrem eigenen Kopf handeln. Natürlich wurde die Polizei geholt, als man Hanningtons Leiche fand, und sie ist bereits in Cheverdale-Haus. Wahrscheinlich«, fuhr er spöttisch fort, »sind Sie über die Methoden der Polizei besser unterrichtet als ich. Lord Cheverdale überläßt zwar alles der Polizei, besteht aber auf einer weiteren, davon völlig unabhängigen Untersuchung. Er hat von Ihnen gehört und wünscht, daß Sie diese Nachforschungen übernehmen. Es wird Ihnen in Cheverdale-Haus jede gewünschte Erleichterung gewährt werden und ebenso in den Büros der ›Morning Sentinel‹. Was Ihre Auslagen betrifft ... Sie wissen ja wohl, daß Lord Cheverdale einer der reichsten Männer Englands ist. Sie brauchen also keine Ausgabe zu scheuen, buchstäblich genommen. Das Geheimnis, das über dieser Angelegenheit liegt, wünscht Lord Cheverdale unter allen Umständen aufgedeckt zu sehen. Darf ich jetzt wieder gehen und Lord Cheverdale sagen, daß Sie den Auftrag übernehmen?«

»Jawohl, und sagen Sie Lord Cheverdale, daß wir unser möglichstes tun werden«, antwortete ich. »Wir kommen nach Cheverdale-Haus, sobald wir unseren Tee getrunken haben. Aber sagen Sie uns, bitte, hat man irgendeinen Anhaltspunkt? – Wissen Sie irgend etwas?«

Paley stand auf, zog langsam seine Handschuhe an und ging zur Tür.

»Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, wir wissen nichts«, antwortete er.

2

Wir tranken schnell unseren Tee und waren ein Viertel nach acht Uhr schon im Auto auf dem Weg nach Cheverdale-Haus. Ich wußte also nichts oder so gut wie nichts über Lord Cheverdale, die »Morning Sentinel« und Mr. Thomas Hannington, Chaney dagegen augenscheinlich eine ganze Menge. Er fing an, mir zu berichten, als wir rasch durch die erwachende Stadt fuhren, die noch trübe im Dunst des Februarmorgens lag.

»Also Lord Cheverdale«, sagte Chaney. »Ja, seine Geschichte ist ein richtiger Roman – sie ist übrigens sehr bekannt. Er hieß früher einfach John Chever. Ich habe erzählen hören, er sei ursprünglich ein kleiner Gewürz- und Delikatessenhändler in irgendeiner Stadt der Midlands gewesen. Nun, eines Tages bekam er Witterung, daß mit Tee viel Geld zu verdienen sei. Es gelangen ihm glückliche Spekulationen mit Teeaktien. Dann machte er hier in London ein riesiges Teegeschäft auf – haben Sie nie von Chevers Tee gehört?«

»Ich kenne weder Namen noch Firmen von Teesorten«, antwortete ich. »Ich weiß nur zu unterscheiden, was guter und was schlechter Tee ist.«

»Also Chevers Tee ist in der ganzen Welt bekannt«, fuhr Chaney fort. »Riesige Geschäftshäuser, Büros und dergleichen mehr. John Chever machte sich mit Tee ein Vermögen. Dann wurde er ehrgeizig – der normale Verlauf! Er kam ins Parlament, wurde geadelt, weil er Spenden für Krankenhäuser gemacht hatte, und wurde Baron, weil er Spenden für Sanatorien gemacht hatte. Dann kam der große Krieg – Chever leistete auf allen möglichen Gebieten Hervorragendes. Und nach zwei weiteren Jahren war der nette, einfache John Chever verwandelt in John, den ersten Baron Cheverdale. Aber vorher hatte er noch die ›Morning Sentinel ‹ gegründet – um dem britischen Publikum seine Ansichten vor Augen halten zu können. Er ist etwas verdreht, ein Schwärmer, sehr einfach und bescheiden – kein Alkohol, keine Wetten. Der Mann, den er sich als Redakteur genommen hat, Hannington, der nun ermordet sein soll, war ganz nach seinem Herzen. Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet, als ich noch in Scotland Yard war; er war noch mehr Idealist als sein Arbeitgeber. Irgendeine Schrulle hatte er immer im Kopf. Immer war er begeistert für dies oder jenes. Seltsam, daß er gerade auf Lord Cheverdales Grund und Boden umgebracht wurde ...«

»Und kein Anhaltspunkt!« warf ich ein.

»So sagt Paley«, erwiderte Chaney mit einem Räuspern. »Aber ich gebe wenig auf das, was Paley sagt. Unsere Aufgabe ist es, einen Anhaltspunkt zu finden. Da fällt mir schon etwas ein, bevor ich noch die Einzelheiten dieses Falles kenne.«

»Wirklich?« fragte ich.

»Hannington«, fuhr Chaney fort, »war ursprünglich Reporter und dann zweiter Redakteur beim ›Milthwaite Observer‹. Er gehörte zu den Leuten, die sich Feinde machten – das Los von Sonderlingen und Schwärmern. Er zog gegen eine Reihe von Dingen zu Felde und geißelte als Mißbrauch, was andere Leute ›gute Kapitalsanlage‹ nannten. Er war ein fanatisches Mitglied von Mäßigkeitsvereinen. Während der letzten Kriegsjahre machte er sich sehr unbeliebt. Er griff auch den Friedensvertrag an; und neulich – wenn Sie die ›Morning Sentinel‹ lesen, werden Sie bemerkt haben ...«

»Ich lese sie nicht«, unterbrach ich ihn, »ich kenne sie nur vom Hörensagen.«

»Na, es ist zwar ein schrecklich sittenreines und braves Blättchen«, meinte Chaney. »Aber eines ist nicht zu leugnen:

Hannington hatte dort neuerdings die bolschewistische Regierung mit aller Schärfe angegriffen. Er kannte nun einmal keine Kompromisse. Natürlich deckte ihn Lord Cheverdale, der seine Ansichten teilte. Es sollte mich also nicht wundern, wenn es sich hier um einen politischen Mord handelt! Aber da sind wir ja schon bei Cheverdale-Haus.«

Man erreicht Cheverdale-Haus vom Inner-Circle des Regents Park. Ein weitläufiges Herrenhaus im Georgianischen Stil, eingebettet zwischen mächtigen Bäumen, umgeben von ausgedehnten Rasenflächen, die mit kleineren Bäumen und Gesträuch so dicht bepflanzt waren, daß man das Haus erst sehen konnte, wenn man davorstand. Zu dem Haus gelangte man auf einem Fahrweg, der sich durch die Parkflächen und Rasenplätze wand. Von dem Hauptweg zweigten nach verschiedenen Richtungen andere Wege ab. Wir ließen unseren Schofför im Inner-Circle auf uns warten und gingen auf dem Hauptfahrweg zum Haus; im Vorbeigehen bemerkte ich zwischen dem Gesträuch auf der rechten Seite den Helm eines Polizisten und machte Chaney darauf aufmerksam.

»Zweifellos die Mordstelle«, meinte er. »Man hat sie wohl schon abgesperrt und eine Wache davorgestellt. Aber darüber werden wir ja gleich hören.«

Paley erwartete uns an der Haustür; als er uns erblickte, drehte er sich um und winkte jemanden aus der Halle herbei. Ein jung aussehender Diener trat heraus.

»Das ist der Mann«, sagte Paley, als wir herankamen, »der die Leiche von Mr. Hannington gefunden hat, – Harris, einer unserer Diener. Wollen Sie ihn zuerst befragen, oder wollen Sie erst die Stelle besichtigen, an der die Leiche gefunden wurde?«

»Wir wollen uns zuerst diesen Ort ansehen, Mr. Paley, und dann mit Harris sprechen«, antwortete Chaney.

Paley wandte sich an den Diener: »Zeigen Sie Mr. Chaney und Mr. Camberwell, wo Sie Mr. Hanningtons Leiche fanden, und berichten Sie alles Nähere darüber«, sagte er. »Ich kann mich Ihnen leider nicht widmen«, fügte er hinzu. »Lord Cheverdale ist von dem Vorfall so angegriffen, daß er heute morgen nicht arbeiten kann, darum habe ich an seiner Stelle einiges zu erledigen. Aber ich soll Ihnen die Wünsche Seiner Lordschaft mitteilen. Sie möchten hier nachforschen, wo und bei wem Sie wollen; wenn Sie hier fertig sind, wünscht Lord Cheverdale, daß Sie das Büro der ›Morning Sentinel‹ aufsuchen, um dort Nachforschungen anzustellen. Er ist überzeugt, daß dort und nicht hier bedeutsame Feststellungen gemacht werden können. Hier sind ein paar Visitenkarten Lord Cheverdales; wenn Sie diese vorzeigen, wird Ihnen in den Büros jede Erleichterung gewährt werden. Später am Tag, wenn Lord Cheverdale sich besser fühlt, würde er gerne von Ihnen und von den Beamten von Scotland Yard hören, wie Sie die ganze Angelegenheit beurteilen. Das wäre im Augenblick alles.«

Er entließ uns mit einer Handbewegung; Harris forderte uns höflich auf, ihm zu folgen, und wir entfernten uns schweigend, etwas eingeschüchtert durch die diktatorische Art des Privatsekretärs. Der Diener führte uns von dem Fahrweg auf einen schmalen, asphaltierten Seitenweg, der sich in Windungen durch das Strauchwerk zog, und trafen auf einen Schutzmann, der müßig einen etwa zwei Quadratmeter großen, eingefriedeten Fleck vor sich betrachtete. Hier blieb der Diener stehen.

»Das ist die Stelle«, sagte er und zeigte auf die Einfriedigung. »Hier lag er.«

Natürlich war nichts zu sehen als die zwei Quadratmeter Asphaltfläche. Chaney sah nach dem Polizisten, der uns prüfend betrachtete.

»Wozu ist das hier mit Stricken abgesperrt?« fragte Chaney den Polizisten.

Der Mann schüttelte seinen behelmten Kopf, »Befehl«, sagte er. »Wollen es wohl nach Fußspuren untersuchen.«

»Sehr wahrscheinlich, ausgerechnet auf Asphalt Fußspuren zu finden«, meinte Chaney ironisch. »Ebensogut könnte man erwarten, Fußspuren von einer Biene oder Fliege zu finden – Also Sie fanden ihn?« wandte er sich zum Diener.

»Jawohl, Sir.«

»Berichten Sie uns, bei welcher Gelegenheit Sie ihn fanden.«

»Das kam so: Ich hatte letzten Abend Ausgang und bin im Theater gewesen. Ich ging dann zu Fuß nach Hause. Ich kam diesen Weg entlang ...«

»Einen Moment!« unterbrach Chaney. »Diesen Weg, sagen Sie? Wie kommt man auf diesen Weg? Ich meine, wenn man von draußen kommt?«

»Vom Inner-Circle her; dort ist nämlich eine kleine Tür in der Hecke. Der Weg ist eine Abkürzung vom Inner-Circle zum Haus.«

»Viel benutzt?«

»Die meisten Leute, die zu Fuß kommen, benutzen ihn.«

»Ob Mr. Hannington ihn wohl kannte?«

»O ja, Sir, Mr. Hannington kannte ihn ganz genau.«

»Schön, erzählen Sie weiter!« sagte Chaney.

»Ich ging also diesen Weg entlang«, wiederholte Harris. »Wie ich hierher kam, sah ich vor mir einen Menschen liegen; er lag mit dem Gesicht nach unten. Ich befühlte ihn sofort – er war noch nicht ganz kalt. Ja – und dann – dann lief ich ins Haus, Sir, und weckte sie.«

»Weckte wen?« fragte Chaney.

»Mr. Paley war der einzige, der noch auf war. Er las in der Bibliothek. Ich berichtete ihm. Er sagte mir, ich solle Walker, den Kammerdiener, und Smittson, den zweiten Diener, wecken. Als sie dann herunterkamen, gingen wir zusammen hierher zurück. Ich wußte noch nicht, wer der Tote war, und erst als wir zurückkamen, sah ich, daß es Mr. Hannington war.«

»Schön; und was geschah dann?« fragte Chaney.

»Mr. Paley telefonierte nach der Polizei, Sir. Die ließ nicht lange auf sich warten, und als sie kam, nahm sie sogleich alles in die Hand.«

Chaney sah nach dem Polizisten, der ruhig zuhörte.

»Waren Sie einer von den telefonisch hergerufenen Polizisten?« fragte er.

»Nein, Sir, ich hatte erst seit heute morgen hier Dienst«, erwiderte der Polizist. »Als ich hier postiert wurde, war nichts mehr zu sehen als dies da!« Er zeigte auf die Seile und Pfähle.

Chaney wandte sich nochmals an Harris: »Um welche Zeit fanden Sie die Leiche?« fragte er.

»Kurz nach zwölf, Sir. Jedenfalls zwischen zwölf und zwölf Uhr zehn.«

»Wissen Sie, ob Mr. Hannington Lord Cheverdale besucht hatte?«

»Ja, Sir, das weiß ich. Er hat ihn nicht besucht. Mr. Walker, der Kammerdiener, machte eine Bemerkung darüber. Er sagte, Mr. Hannington wäre nicht hier gewesen, aber wohl auf dem Weg hierher, als er überfallen wurde.«

»Waren Sie zugegen, als die Polizei kam, Harris? So, Sie waren dabei? Hörten Sie, wie jemand über das Vorgefallene sprach?«

»Ja, Sir, ich hörte, wie einer – ein Inspektor, glaube ich sagte, daß es kein Raubmord sei, denn Mr. Hannington hatte noch Uhr und Kette sowie einen wertvollen Ring, den ihm Lord Cheverdale geschenkt hatte, und eine beträchtliche Summe bares Geld bei sich. Dagegen fanden sich keinerlei Papiere in seinen Taschen, und ich hörte, wie Mr. Paley zur Polizei sagte, daß das höchst verdächtig sei, denn Mr. Hannington hatte stets seine Taschen mit Papieren vollgestopft.«

»Hat einer von Ihnen etwas Verdächtiges gehört?« fragte Chaney.

»Nein, Sir, keiner hat etwas gehört. Von hier bis zum Haus ist es ja auch ein hübsches Stück Weg.«

Wir wandten uns automatisch dem Haus zu, das man gerade durch die Bäume sehen konnte. Als wir uns umdrehten, sahen wir eine Dame mit drei Hunden langsam auf uns zukommen. Wir traten etwas zurück, und ich konnte sie mir genauer ansehen. Eine große Frau mit eckigen Bewegungen, ungefähr fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt, mit einem nicht gerade geistvollen Gesicht. Besonders auffallend waren ihre unschöne Nase, die vorstehenden Zähne und ihre starren, hellblauen Augen. Sie trug ein Schneiderkostüm mit sehr großen Karos nach Herrenschnitt, dazu eine Sportkrawatte; in der Hand hatte sie eine Hundepeitsche. Sie sah mehr für einen Ausflug aufs Land ausgerüstet aus als für einen Spaziergang im Regents Park. Als sie herankam, starrte sie uns einen nach dem andern an und wandte sich dann an den Polizisten.

»Gibt es etwas Neues?« fragte sie hastig.

»Nein, Miß, nichts Neues«, antwortete der Polizist.

»Merkwürdig ... höchst merkwürdig!«

Dann ging sie weiter.

Chaney aber wandte sich an Harris: »Lord Cheverdales Tochter, nicht wahr? Miß Chever?«

»Jawohl, Sir«, antwortete der Diener. »Seiner Gnaden einziges Kind.«

Chaney stellte keine weiteren Fragen. Wir gingen langsam den asphaltierten Weg zurück, bis wir auf den Fahrweg unmittelbar vor dem Haus kamen. Hier wandte er sich zu mir: »Ich denke, wir fahren jetzt zum Büro der ›Morning Sentinel‹. Hier ist nichts mehr zu besichtigen ... im Augenblick wenigstens. Vielen Dank, Harris.«

Als wir uns vom Haus entfernten, wurde dort ein Fenster aufgerissen. Paley lehnte sich heraus.

»Mr. Chamberwell, Mr. Chaney!« rief er. »Ich vergaß ganz, Ihnen zu sagen – wenn Sie ins Büro der ›Morning Sentinel‹ kommen, fragen Sie doch nach Miß Hetherley – zuerst nach Miß Hetherley.«

3

Als wir wieder in unserem Auto saßen, lehnte sich Chaney mit einem Seufzer der Befriedigung in die Ecke des Wagens.

»Also Miß Hetherley«, bemerkte er. »Ausgezeichnet! Tüchtige Geschäftsfrau – wir werden mit ihr gut auskommen.«

»Wer ist Miß Hetherley?« fragte ich.

»Hanningtons Privatsekretärin«, antwortete er. »Seine rechte Hand. Ich bin ihr öfter begegnet.«

»Sie wissen anscheinend eine ganze Menge von diesen Leuten, Chaney«, sagte ich. »Wie kommt das?«

»Einfach daher«, erwiderte er, »weil mein Schwager Abteilungsleiter in Chevers Teestuben ist; so höre ich allerhand. Ja, ich weiß eine Menge von Lord Cheverdale und seinen Geschäften ... und höre so manches, wie Sie sich vorstellen können. Sie haben doch eben Miß Chever, oder um ihr den ihr gebührenden Titel zu geben: die Honourable Miß Chever gesehen. Was halten Sie denn nach dieser flüchtigen Begegnung von ihr?«

»Ich glaube, sie hat nicht den Verstand, den man ihrem Vater nachrühmt«, antwortete ich.

»Da fehlt's allerdings ein bißchen, nicht viel, aber eben ein bißchen«, sagte er. »Also die Honourable Miß Chever verheiratet sich demnächst. Die Anzeige erschien vor kurzem in der ›Times‹ und in der ›Morning Post‹. Ganz feine Sache. Der Mann, den sie heiratet, Mr. Francis Craye, gilt wirklich soviel wie Chever selbst, wenigstens in der Teebranche. Der alte Herr überläßt alles Geschäftliche Crayes Händen, wie mir mein Schwager erzählte. War ein paar Jahre dort im. Geschäft, dieser Craye – kam als Abteilungsleiter und wurde bald der allmächtige Chef. Jetzt heiratet er Lord Cheverdales einziges Kind – sie bekommt ja einmal das ganze Geld des alten Herrn; kann froh sein, der Bursche, aber mein Schwager meint, das habe noch seine besonderen Gründe. Ich möchte das auch annehmen. Bestimmt!«

»Was denn für Gründe?« fragte ich.

»Das ist doch klar«, antwortete er. »Nicht jeder heiratet eine Frau, die ein bißchen schwach im Kopf ist, die obendrein nicht von Schönheit geplagt und schon beinahe vierzig ist. Aber Craye wird sie heiraten, Lord Cheverdale vertraut ihm seine Tochter und sein Riesenvermögen an. Verstehen Sie jetzt?«

»Ich verstehe – stillschweigendes Übereinkommen!«

»So ist es! Man sagt, Craye sei ein Finanzgenie er wird Cheverdales Millionen schon gut verwalten. Die Frau ist der Preis. Ihre einzige Liebhaberei ist, wie ich höre, die Hundezucht – na, das ist ja eine harmlose Sache.«

Wir ließen dies Thema wieder fallen und kamen auf den Mord zurück.

»Schon eine Vermutung, Chaney?« fragte ich.

»Bis jetzt noch nicht«, antwortete er. »Ich reime es mir aber so zusammen, daß Hannington trotz der späten Stunde noch Lord Cheverdale aufsuchen wollte und daß man ihm folgte oder ihm auflauerte. Wichtig wäre es nun, gerade hierüber Klarheit zu bekommen. Wenn man ihm auflauerte, mußte jemand wissen, daß er hierher kam; und wenn man ihm folgte – aber es ist müßig, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir müssen zu allererst wissen: wo war Hannington gestern nacht? Wir beginnen mit unseren Nachforschungen natürlich im Büro der ›Morning Sentinel‹. Wir sind ja gleich da. Der Mann soll an der Ecke halten – wir können das Stückchen hinunter zu Fuß gehen.«

Wir waren jetzt in Fleet Street und stiegen aus. Chaney bog in eine Seitenstraße ein und ging auf die Neubauten zu, die in den letzten Jahren zwischen der Ostecke von Temple Gardens und Blackfriars entstanden waren. Wenige Augenblicke später standen wir vor einem Beamten an der Tür der ›Morning Sentinel‹-Büros. Wir schickten unsere Ausweiskarten hinein, außerdem eine Visitenkarte von Lord Cheverdale. Sofort kam ein Boy und fuhr uns im Lift in den ersten Stock; hier führte er uns in ein vornehm ausgestattetes Zimmer, in dem uns gleich das große Porträt eines feierlich aussehenden Herrn auffiel, der finster und mißbilligend in die Welt blickte.

Chaney zeigte auf das Bild: »Lord Cheverdale«, sagte er. »Es war vor zwei oder drei Jahren in der Akademie. Vergnügt aussehender Bursche, nicht? Und das ist Hannington.« Er zeigte auf ein Foto an der Wand gegenüber.

Ich ging hin und sah es mir interessiert an. Ein Blick genügte um festzustellen, daß Hannington genau so war, wie Chaney ihn geschildert hatte: verschroben, schwärmerisch, ein Enthusiast! Die Augen schienen in die Ferne zu blicken. Der ganze Ausdruck verriet aber, daß der Mann auch fanatisch sein konnte.

Jetzt öffnete sich eine Tür, und eine Dame trat ein. Ich betrachtete sie mit noch größerem Interesse als vorher die Bilder; sie war eine äußerst lebhafte, hübsche, elegant angezogene Frau von ungefähr fünfunddreißig, die einen munteren und gewandten Eindruck machte. Sie hielt unsere und Lord Cheverdales Karten in der Hand und wies auf zwei Stühle, die zu beiden Seiten des großen Schreibtisches standen.

»Guten Morgen, Mr. Chaney'«, sagte sie mit frischer Stimme. »Wir haben uns ja schon früher getroffen. Und das ist Ihr Kompagnon, nicht wahr? Guten Tag, Mr. Camberwell. Sie waren also schon im Haus Cheverdale? Paley telefonierte mir, daß Lord Cheverdale außer der Polizei auch Ihre Dienste in Anspruch nimmt. Eben erst bin ich zwei Leute von Scotland Yard losgeworden; sie haben mich dreiviertel Stunden lang ausgefragt, und nun muß ich wohl die ganze Sache noch einmal mit Ihnen durchsprechen. Was möchten Sie denn von mir wissen?«

Sie setzte sich an den Schreibtisch und sah uns, als wir Platz genommen hatten. fragend an. Wie üblich, ließ ich Chaney reden.

»Eine ganze Menge, Miß Hetherley«, sagte Chaney. »Bis jetzt wissen wir nur, daß Mr. Hannington in der vergangenen Nacht, etwa um Mitternacht, auf Lord Cheverdales Grundstück überfallen und durch Hiebe auf den Kopf getötet wurde und daß keinerlei Spur von dem Mörder oder den Mördern zu finden ist. Ich möchte wissen, was vorhergegangen ist. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir sagen könnten, wo ich am besten anfangen soll. Wie waren Mr. Hanningtons regelmäßige Bürostunden hier?«

Miß Hetherley antwortete sofort: »Von zwei Uhr nachmittags bis zwei Uhr morgens.«

»Blieb er die ganze Zeit hier?«

»In der Regel, ja; manchmal ging er zum Essen aus. Aber das kam nur selten vor. Nach der streng eingehaltenen Regel wurde ihm das Essen um halb acht Uhr gebracht.«

»Was für Bürostunden hatten Sie als seine Sekretärin?«

»Von zwei Uhr nachmittags bis neun Uhr abends.«

»Und gestern abend ...?«

»Gestern abend wich er von der Regel ab, er ging schon um neun Uhr, zugleich mit mir.«

»Aus irgendeinem besonderen Grund?«

»Nicht, daß ich wüßte! Es sei denn, daß er wegen eines Vorfalles früher ging, der sich gestern hier ereignete.«

»Was war denn das?« fragte Chaney.

»Vielleicht hat das große Wichtigkeit«, antwortete Miß Hetherley. »Ich habe schon den Scotland-Yard-Leuten davon erzählt, und jetzt muß ich es Ihnen wohl auch berichten. Am besten, ich erzähle es mit allen Einzelheiten. Dieses Zimmer hier dient Lord Cheverdale als Privatbüro, sooft er hierher kommt. Die Tür dort führt ins Zimmer des Redakteurs, zu Mr. Hannington. Dahinter ist ein kleinerer Raum, mein Büro. Kein Besucher konnte zu Mr. Hannington, außer durch mein Zimmer. Ist das klar?«

»Verstehe«, sagte Chaney.

»Schön. Nun hören Sie weiter. Gestern nachmittag, etwa um fünf Uhr, brachte mir ein Bote einen Brief, der an Thomas Hannington adressiert und links oben in der Ecke mit dem Vermerk ›Privat‹ versehen war. Die Handschrift war die einer Frau. Ich brachte den Brief zu Mr. Hannington hinein und wartete, bis er ihn las. Als er ihn geöffnet hatte, sah er zuerst nach der Unterschrift. Es fiel mir auf, daß die Unterschrift ihn überraschte. Hastig überflog er den Brief, und ich bemerkte, wie er dabei die Stirn runzelte. Er steckte dann Brief und Umschlag in die Tasche und wandte sich zu mir: ›Führen Sie die Dame herein, Miß Hetherley‹, sagte er, ›und sorgen Sie, daß wir ungestört bleiben.‹ Ich ging in mein Büro zurück, wo der Bote wartete, und schickte ihn hinunter, die Dame zu holen. In ein paar Minuten kam er mit ihr zurück.«

»Können Sie sie beschreiben?« fragte Chaney.

»Ja, bis auf ihr Gesicht«, antwortete Miß Hetherley ruhig. »Das kann ich weder Ihnen noch sonst jemandem beschreiben, denn sie war dicht verschleiert – so dicht, daß ich nicht einmal sagen könnte, ob sie blond oder brünett war, ob sie dunkle oder helle Augen hatte. Aber nach ihrem Gang und ihrer Figur – einer sehr guten Figur – würde ich sie für eine Frau von dreißig oder zweiunddreißig Jahren halten. Eins aber weiß ich ganz genau: ihre Kleider waren nicht aus England!«

»Woher denn?« fragte Chaney.

»Aus Paris! Ich kenne Pariser Kleider – alles war offensichtlich aus Paris. Sie war angezogen, wie sich nur eine Französin anzieht, oder wie Frauen von einem französischen Schneider angezogen werden. Ich hielt sie sofort für eine Französin.«

»Hörten Sie sie sprechen?« fragte Chaney.

»Ich hörte sie nicht sprechen, nicht ein Wort; weder beim Kommen noch beim Gehen. Sofort, als der Bote sie in mein Zimmer brachte, führte ich sie zu Mr. Hannington. Und jetzt achten Sie, bitte, auf folgende zwei Momente: Erstens war es ganz außergewöhnlich für Mr. Hannington, jemanden um diese Nachmittagsstunde zu empfangen; und zweitens war es noch viel ungewöhnlicher, daß er irgend jemandem erlaubte, seine Zeit länger als ein paar Minuten in Anspruch zu nehmen. Diese geheimnisvolle Frau aber blieb bis fast sechs Uhr, also beinahe eine Stunde, bei ihm!«

»Betraten Sie das Zimmer um diese Zeit?« fragte Chaney.

»Nicht ein einziges Mal. Wenn Mr. Hannington sagte: ›Sehen Sie zu, daß wir nicht gestört werden‹ oder ›Lassen Sie uns ungestört‹, so war das für mich Befehl. Nein, ich ging nicht hinein. Und ich sorgte dafür, daß Mr. Hannington nicht gestört wurde, solange sie bei ihm war.«

»Aber schließlich ging sie doch«, sagte Chaney.

»Um sechs Uhr öffnete Mr. Hannington seine Tür und kam mit ihr heraus; er führte sie durch mein Zimmer und öffnete ihr dann die Tür zum Korridor. Ich hörte sie kein Wort miteinander wechseln. Er nickte ihr zu, lächelnd, als ob sie sich sehr gut verständen, und sie grüßte mit einem Neigen des Kopfes, was mich wieder auf den Gedanken brachte, daß sie Französin sei, denn das war nicht der Gruß einer Engländerin. Aber in meiner Gegenwart wechselten sie nicht ein einziges Wort. Sie werden mir jetzt wohl glauben, daß ich ganz gut beobachten kann?«

»Ich glaube, Sie können es, Miß Hetherley«, antwortete Chaney und schmunzelte. »Der Anfang ist sogar vielversprechend!«

»Ich bemerkte noch etwas, das von Interesse und vielleicht von Wichtigkeit sein könnte«, fuhr Miß Hetherley lachend fort. »Als nämlich die verschleierte Dame durch mein Zimmer zu Mr. Hannington hineinging, trug sie in ihrer rechten, nebenbei bemerkt, höchst elegant behandschuhten Hand ein Päckchen Papiere, das mit einem grünen Band zusammengebunden war. Als Mr. Hannington sie hinausgeleitete, hatte er das Päckchen mit dem grünen Bändchen in der Hand; und als er dann durch mein Zimmer in sein Büro zurückging, sah ich, wie er das Päckchen in die innere Brusttasche seines Rockes steckte. Ist das von irgendeiner Bedeutung?«

»Das will ich meinen!« rief Chaney. »Gut! Alles, was Sie uns berichten, ist höchst wertvoll, Miß Hetherley. Können Sie uns noch mehr sagen?«

»Da ist nicht mehr viel zu sagen«, antwortete Miß Hetherley. »Als die Frau weg war, nahm der Tag wieder seinen gewöhnlichen Verlauf.«

»Machte Mr. Hannington irgendeine Bemerkung über seinen Besuch?« fragte Chaney.

»Nein, mit keinem Wort. Andere Dinge nahmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch ...«

»Was machte er dann noch am Abend?« fragte Chaney. »Sie sagten, daß die Frau um sechs Uhr ging und Mr. Hannington um neun Uhr. Nahm er sein Essen noch hier ein?«

»Ja, aber etwas früher als gewöhnlich.«

»Und Sie sagen, er ging um neun?«

»Ja, ich weiß das aus dem einfachen Grund, weil er mit mir im Lift hinunterfuhr. Ich hatte gerade den Lift erreicht, als er eilends den Korridor entlang kam und mit einstieg. Wir fuhren zusammen hinunter, gingen quer durch die Eingangshalle und traten zusammen auf die Straße. Ich wandte mich der Fleet Street zu, um meinen Omnibus nach Hause zu bekommen. Mr. Hannington aber ging zum Embankment hinüber. Und jetzt«, fuhr Miß Hetherley fort und verriet zum erstenmal ein leichtes Zögern, eine kleine Unsicherheit im Sprechen und Benehmen, »jetzt kommt etwas, worüber ich eigentlich nicht gerne sprechen möchte, denn es könnte ja nur Einbildung von mir oder Zufall gewesen sein ...«

»Macht nichts, lassen Sie hören, was es ist«, sagte Chaney. »Und lassen Sie nichts aus; Sie ahnen nicht, wie wichtig jede Kleinigkeit ist.«

»Schön, es handelt sich also um folgendes«, antwortete Miß Hetherley. »Als Mr. Hannington und ich aus der Haustür traten, lungerte ein Mann – nach seinem Aussehen ein Ausländer – auf der gegenüberliegenden Straßenseite umher; ich dachte, er beobachte die Tür. Als ich ein paar hundert Meter die Straße hinaufgegangen war, sah ich mich um; der Mann, von dem ich sprach, folgte Mr. Hannington. Jedenfalls ging er unmittelbar hinter Mr. Hannington die Straße zum Embankment hinunter.«

»Das ist ja eine hochwichtige Nachricht!« bemerkte Chaney. »Könnten Sie den Mann wiedererkennen?«

»Ich bezweifle es«, antwortete Miß Hetherley. »Ich sah ihn nur im Licht der Straßenlampen. Ich hatte den Eindruck, daß er ein Ausländer war, denn er trug eine Art Umhang, statt des hierzulande üblichen Überrockes, und einen großen Schlapphut. Er stand der Tür des Büros gerade gegenüber.«

»Machten Sie Mr. Hannington auf ihn aufmerksam?«

»Nein, Mr. Hannington würde ihn gar nicht beachtet haben, selbst wenn ich es getan hätte.«

»Sie kannten Hannington gut, Miß Hetherley?«

»Ich war seine Privatsekretärin, seine rechte Hand, Mr. Chaney, seitdem diese Zeitung vor sechs oder sieben Jahren gegründet wurde.«

»Was ist Ihre Ansicht über ihn?«

»Er war ein vortrefflicher Mensch, ein tadelloser Charakter, aber exzentrisch; wenn jemand mit einem wirklichen Kummer zu ihm kam, nahm er sich der Sache an, als ob sein eigenes Leben davon abhinge. Aber Sie wissen ja, was die ›Morning Sentinel‹ für einen Ruf hat ...«

»Wissen Sie, ob Hannington Feinde hatte?«

Miß Hetherley schüttelte den Kopf. »Ach«, sagte sie, »ich glaube nicht, daß er als Mensch auch nur einen Feind auf der Welt hatte. Aber als Machtfaktor, als politischer und sozialer Machtfaktor, hatte er sicher eine ganze Menge schlimmer Feinde – daran zweifle ich nicht.«

Hier schaltete ich mich in die Folge von Frage und Antwort ein: »Für wen engagierte sich denn Mr. Hannington in letzter Zeit besonders?«

Miß Hetherley wandte sich mit einem Lächeln zu mir. »Man sieht, daß Sie die ›Morning Sentinel‹ nicht lesen, Mr. Camberwell«, sagte sie. »Sonst müßten Sie wissen, daß Mr. Hannington in letzter Zeit die bekannten Verhältnisse in Rußland stark kritisierte. Obwohl er als Redakteur des Blattes und Lord Cheverdale als sein Besitzer Radikale vom reinsten Wasser sind – von der alten Manchester-Schule – Sie wissen schon – und mit den Demokraten sympathisierten, glauben sie nicht an die heutige Bewegung in Rußland und Mr. Hannington schrieb darüber ein paar sehr scharfe Artikel.«

»Sah der Mann, den Sie gestern auf der Straße bemerkten, wie ein Russe aus?« fragte ich.

»Ich weiß nur, daß er mir den Eindruck eines Ausländers machte.«

Ich nahm eine andere Fährte auf. »Wie ist's mit dem Brief, den die Frau, die wie eine Französin aussah, an Mr. Hannington schickte?« fragte ich. »Hat er ihn zufällig liegen lassen?«

»Nein«, antwortete sie. »Das haben mich schon die Scotland-Yard-Leute gefragt. Er steckte ihn in die Tasche, als er ihn gelesen hatte, und behielt ihn dort wohl mit den Papieren, die mit dem grünen Band zusammengebunden waren. Sie sind doch in Haus Cheverdale gewesen, nicht? Ist es denn wahr, daß die Polizei gar kein Papier, kein Dokument bei der Leiche gefunden hat?«

»So wurde uns berichtet.«

»Sehen Sie, für jeden, der ihn gut kannte, ist das außerordentlich merkwürdig und bedeutungsvoll, ja verdächtig. Mr. Hannington war darin wirklich schrecklich. Immer trug er alle möglichen Papiere mit sich herum. Gewöhnlich waren alle seine Taschen mit Papieren vollgestopft. Das Merkwürdige war, daß er trotz all dieser Unordnung jedes Papierchen, jedes Dokument, jeden Zeitungsausschnitt innerhalb einer Sekunde herausfand. Ist es wahr, daß seine Wertsachen unberührt waren?«

»Ja, auch das hat man uns gesagt.«