Die Spiegelstadt - Justin Cronin - E-Book
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Die Spiegelstadt E-Book

Justin Cronin

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Beschreibung

Die Zwölf – Wesen der Dunkelheit, Todfeinde der Menschen – sind vernichtet, ihre hundertjährige Schreckensherrschaft über die Welt ist vorüber. Nach und nach wagen sich die Überlebenden aus ihrer eng ummauerten Zuflucht, Hoffnung keimt auf. Auf den Ruinen der einstigen Zivilisation wollen sie eine neue, eine bessere Gesellschaft aufbauen: der älteste Traum der Menschheit.

Doch in einer fernen, verlassenen Stadt lauert der Eine: Zero. Der Erste. Der Vater der Zwölf, der den Ursprung des Virus in sich trägt. Einst ein hochbegabter Wissenschaftler, der, seit er seine große Liebe verlor, nur noch von Rachedurst und Wut erfüllt ist. Sein Ziel ist es, die Menschheit endgültig auszulöschen. Seine Truppen sind bereit. Und der Zeitpunkt ist gekommen.

Nur Amy vermag ihn jetzt noch aufzuhalten, das Mädchen aus dem Nirgendwo, die einzige Hoffnung der Menschheit. Und so treten sie und ihre Freunde an zum letzten großen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit ...

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Seitenzahl: 1314

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Buch

Und so begab es sich, dass die Zwölf vom Antlitz der Erde getilgt wurden, und alle Menschen waren frei.

Die hundertjährige Schreckensherrschaft der Zwölf – einstige Schwerstkriminelle, die durch ein Virus zu unsterblichen Wesen mutierten – ist endlich vorüber, und die Überlebenden wähnen sich in Sicherheit. Denn mit den Zwölf starben auch deren Armeen aus infizierten Virals. Und so strömen die Menschen aus und wagen sich an den Wiederaufbau.

Ein folgenschwerer Fehler: Im fernen New York lauert Zero, der erste Mensch, der einst im Dschungel infiziert wurde. Seit er die Liebe seines Lebens auf tragische Weise verlor, dürstet er nach Rache. Als er seine Truppen zu einem letzten großen Angriff versammelt, sind die Menschen nicht nur hoffnungslos in der Unterzahl, sie haben den bis ins Detail durchdachten Plänen des brillanten Wissenschaftlers auch nur wenig entgegenzusetzen.

Und so ist die einzige Chance der Menschheit das Mädchen, das einst aus dem Nirgendwo kam: Amy. Denn nur sie ist Zero wirklich ebenbürtig ...

Weitere Informationen zu Justin Cronin und lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Justin Cronin

Die Spiegelstadt

Roman

Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »City of Mirrors«

bei Ballantine Books, a division of Random House Inc., New York.

S. 797: aus: T. S. Eliot, »J. Alfred Prufrocks Liebesgesang«, in: ders., Werke in vier Bänden, Band 4: Gesammelte Gedichte 1909–1962. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Eva Hesse, © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1972/1988.

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Justin Cronin

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Trevillion Images/Charlotte Grimm

Karten und Illustrationen: © 2016 by David Lindroth, Inc.

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20256-9V005

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Familie

Was fang ich an, wenn Gott und Menschenkind

Doch immerzu verteufelt ratlos sind,

Ich, ein Fremder und kein Held,

In nicht von mir geschaff’ner Welt?

A. E. Housman, Last Poems

Inhalt

Prolog

I Die Tochter

IIDer Liebende

IIIDer Sohn

IVDer Raub

V Die Liste

VIDie Stunde Zero

VIIDas Erwachen

VIIIDie Belagerung

IXDie Falle

X Exodus

XIDie Spiegelstadt

XIIDas wilde Jenseits

XIIIDer Berg und die Sterne

XIVDer Garten am Meer

Epilog: Der Millennialist

Dramatis Personae

Danksagung

PROLOG

Aus den Schriften des Ersten Chronisten (»Das Buch der Zwölfe«)

Vorgelegt auf der Dritten Internationalen Tagung zur Nordamerikanischen Quarantäne-Periode

Zentrum zur Erforschung menschlicher Kulturen und Konflikte

University of New South Wales, Indo-Australische Republik

16.–21. April 1003 n. V.

Fünftes Kapitel

1. So begab es sich, dass Amy und ihre Gefährten zurückkehrten nach Kerrville im Lande Texas.

2. Dort aber sollten sie erfahren, dass drei aus ihrer Zahl verloren waren. Und diese drei waren Theo und Mausami, seine Frau, und Sara, genannt Sara die Heilerin, Frau des Hollis.

3. Denn der Ort Roswell, da sie Zuflucht genommen, ward belagert von einer großen Heerschar von Virals, die da töteten alles, was lebte. Und nur zwei aus ihrer Zahl blieben am Leben. Diese waren Hollis der Starke, Ehemann der Sara, und Caleb, der Sohn Theos und Mausamis.

4. Und eine große Traurigkeit befiel sie alle wegen der Freunde, die sie verloren.

5. Und an dem Ort Kerrville lebte Amy unter den Schwestern, die da waren die Frauen GOTTES, und desgleichen tat Caleb und lebte unter Amys Obhut.

6. Und es geschah zu derselben Zeit, dass Alicia, genannt Alicia Blades »von den Messern«, und Peter, der Mann der Tage, zu den Waffen griffen und sich zugesellten den Expeditionstruppen, die Soldaten waren von Texas, und sich aufmachten, die Zwölf zu suchen, da sie wussten, dass sie, töteten sie einen der Zwölf, auch töteten seine Vielen und ihre Seelen sandten zu dem HERRN.

7. So ward manche Schlacht geschlagen und manches Leben verloren. Doch sie konnten die Zwölf nicht töten noch die Orte finden, da sie hausten, denn es war nicht der Wille GOTTES.

8. So gingen die Jahre dahin, fünfe an der Zahl.

9. Und am Ende dieser Zeit empfing Amy ein Zeichen, und dieses Zeichen war ein Traum. Und in diesem Traum kam Wolgast zu ihr und hatte die Gestalt eines Mannes. Und Wolgast sprach:

10. »Mein Meister wartet, und der Ort, da er wartet, ist ein großes Schiff, in welchem er haust. Denn ein Wandel geht über das Land. Bald werde ich kommen und dich holen, um dir den Weg zu weisen.«

11. Dieser aber war Carter, der Zwölfte der Zwölf, den man sollte heißen Carter den Traurigen, ein rechtschaffener Mann in seiner Generation und geliebt von GOTT.

12. Und so harrte Amy der Wiederkehr Wolgasts.

Sechstes Kapitel

1. Zu jener Zeit aber gab es noch eine weitere Stadt der Menschheit, nämlich im Lande Iowa, und sie trug den Namen Homeland.

2. In dieser Stadt lebte ein Volk von Menschen, die hatten getrunken vom Blut eines Virals, auf dass sie lebten und herrschten über viele Generationen. Diese aber nannte man Rotaugen. Der Größte unter ihnen war Guilder, der Direktor, ein Mann aus der Zeit Davor.

3. Und der Viral, von dem sie sich nährten, war Grey, genannt die Quelle. Denn in seinem Blute war die Saat des Zero, der war der Vater der Zwölf. Und Grey schmachtete in Ketten und litt große Qualen.

4. An diesem Ort lebten die Menschen als Gefangene der Rotaugen. Sie mussten ihnen dienen und tun nach ihrem Begehr. Es zählte aber zu diesen Gefangenen Sara, die Heilerin, entführt von dem Ort Roswell, und ihre Freunde wussten nicht, dass sie noch lebte.

5. Und Sara hatte eine Tochter namens Kate, doch das Kind ward ihr genommen. Und die Rotaugen sagten Sara, ihre Tochter sei nicht am Leben geblieben, und trugen damit großes Weh in ihr Herz.

6. Es begab sich aber, dass dieses Kind einer Frau unter den Rotaugen gegeben ward, und die Frau war Lila, Wolgasts Weib.

7. Denn Lilas Tochter war gestorben in der Zeit Davor, und obgleich viele Jahre vergangen waren, brannte die Wunde noch heiß in ihrem Herzen, und sie fand Trost in Kate und sah in ihr das Kind, das sie verloren.

8. Und es begab sich weiter, dass etliche Menschen in Homeland sich erhoben wider ihre Unterdrücker, und diese hieß man die Rebellen. Und Sara wurde eine von diesen, und sie ward gesandt zu Lila, ihr zu dienen in der Kuppel, jenem Ort, an dem die Rotaugen wohnten, auf dass sie lerne, wie sie lebten. So gewahrte sie, dass ihre Tochter noch lebte.

9. Und zu derselben Zeit entdeckten Alicia und Peter das Nest des Martínez, der war der Zehnte der Zwölf, an dem Ort Carlsbad, und sie kämpften dort mit seinen Vielen. Doch fanden sie Martínez nicht, er hatte jenen Ort längst verlassen.

10. Denn Zero hatte Guilder, dem Direktor, befohlen, eine mächtige Festung zu erbauen, in der die Zwölf sollten Wohnung nehmen und sich nähren vom Blute der Tiere und auch vom Blute der Homelander. Ihre Vielen hatten fast jedes Lebewesen auf der Erde verschlungen und sie so zum Ödland gemacht, das weder für Mensch noch Viral oder irgendein Tier taugte.

11. Und dieser Absicht gemäß befahlen die Zwölf ihren Vielen, zu verlassen ihre Orte der Dunkelheit, um zu sterben. Dieses aber hieß man die Abstoßung.

12. Und die Zwölf begaben sich auf die Reise nach Homeland, das viele Meilen weit entfernt war, auf dass sie herrschen mögen über die Erde.

Siebtes Kapitel

1. Doch gab es einen, der der Worte Zeros nicht achtete, und das war Carter der Traurige, Zwölfter der Zwölf. Er hieß den Wolgast, Amy zu führen an den Ort, da er hauste, auf dass sie beide sich verbünden könnten wider seine Gefährten.

2. Und Amy gehorchte seinem Befehl und ging vom Ort Kerrville nach der Stadt Houston, und es begleitete sie Lucius der Getreue. Er stand ihr zur Seite und war ein rechtschaffener Mann in den Augen GOTTES.

3. Und in der Stadt Houston fand Amy das Schiff, welches hieß Chevron Mariner, darin Carter seine Wohnung genommen. Vielerlei begab sich zwischen ihnen, und als Amy hervorkam, war ihr Körper nicht länger der eines Kindes, sondern der einer Frau, und gemeinsam mit Lucius machte sie sich auf den Weg nach Homeland, um dort zu kämpfen mit den Zwölf.

4. Zu der Zeit aber reisten auch Peter, der Mann der Tage, und Michael, genannt der Clevere, sowie Hollis, der Ehemann der Sara, nach Homeland, um zu sehen, was dort geschah. Denn sie ahnten, dass Sara gefangen war an jenem Ort, und viele andere mit ihr.

5. Und bei ihnen waren noch zwei Gefährten. Die eine war Lore, genannt Lore die Pilotin, und der zweite war ein Verbrecher, Tifty der Gangster geheißen.

6. Und wiederum zur selben Zeit begab Alicia sich auf die Reise nach Iowa und folgte Martínez, dem Zehnten der Zwölf, da sie gelobt hatte, ihn zu töten. Martínez nämlich war der Ruchloseste unter diesen Dämonen, ein Mörder vieler Frauen und eine Geißel der Erde.

7. Alicia aber geriet in Gefangenschaft im Homeland und ertrug mancherlei Drangsal von der Hand der Rotaugen und ihrer Gehilfen, die Kols genannt wurden. Und der Schlimmste der Kols hieß Sod. Doch Alicia war stark und beugte sich nicht.

8. Und als Sod eines Nachts wieder in ihre Zelle kam, um sie gefügig zu machen nach seiner finsteren Art, sprach Alicia zu ihm: »Löse doch meine Ketten, auf dass du deine Wollust desto leichter befriedigen kannst.« Und sie schlang ihm die Ketten um den Hals und tötete ihn auf diese Weise. Und sie entfloh und tötete dabei noch viele.

9. Und in der Wildnis hinter den Mauern von Homeland erschien ihr Amy, und Alicia sah, dass sie nun eine Frau war an Körper und Geist. Und Amy tröstete sie, denn sie waren Schwestern im Blute.

10. Alicia aber hatte ein Geheimnis, und das war der Blutdurst. Denn die Saat der Zwölf in ihr wurde stark und machte aus ihr einen Viral. Darob aber ward ihr das Herz sehr schwer, denn sie liebte ihre Gefährten innig und wollte nicht von ihnen getrennt sein.

11. Und zu derselben Zeit ward Sara entdeckt von den Rotaugen und geriet in Gefangenschaft, wo sie mancherlei Misshandlung erlitt. Denn Guilder, der Direktor, verlangte, dass alle, die sich erhoben hatten wider ihn, das ganze Ausmaß seines Zorns spüren sollten.

12. Doch die Stunde der Abrechnung war nah, denn Amy und Alicia hatten sich zu den Rebellen gesellt, um sich wider die Rotaugen zu erheben. Und gemeinsam ersannen sie einen Weg, die Menschen von Homeland zu befreien und die Zwölf zu vernichten und zugleich Sara zu erretten.

Achtes Kapitel

1. Und es begab sich, dass Peter und seine Gefährten eintrafen im Lande Iowa, sodass sie nun alle zugegen waren und eine starke Heerschar bildeten. Aber die Größte unter ihnen war Amy.

2. Denn sie hatte sich den Rotaugen ergeben und also zu ihnen gesprochen: »Ich bin die Anführerin der Rebellen. Tut mit mir, wie ihr wollt.« Denn es war ihr Trachten, dass Guilder in seiner Wut die Zwölf entfessele, auf dass sie sie töteten.

3. Und alles geschah so, wie Amy es vorausgesehen hatte, und die Stunde ihrer Hinrichtung ward festgesetzt. Die aber sollte vollzogen werden im Stadion, einem großen Amphitheater aus der Zeit Davor, sodass die Bewohner von Homeland zu Zeugen würden.

4. Und Alicia und die anderen verbargen sich an jenem Ort, auf dass sie, sollten die Zwölf offenbar werden, ihre Waffen könnten richten auf sie und auch auf die Rotaugen.

5. Und Amy ward vor die Menge geführt, in Ketten gelegt und an ein Gerüst aus Metall gehängt. Und Guilder fand großes Entzücken an ihrem Leiden und ermunterte die Menge, es ihm gleichzutun.

6. Aber Amy gab ihm keine Genugtuung, und Guilder befahl den Zwölfen, sie zu verschlingen, auf dass alle, die zugegen waren, seine Macht erfahren und sich verbeugen sollten vor ihm.

7. Amy aber sah, dass sie nicht allein war, denn unter den Zwölfen war Wolgast, welcher Carters Platz eingenommen hatte, auf dass er sie beschütze. Und Amy sprach zu den Zwölfen:

8. »Meine Brüder, hallo. Ich bin Amy, eure Schwester.« Und weiter sprach sie kein Wort.

9. Denn sie begann zu zittern, und ihr Körper ward zu einem hellen Licht, das die Dunkelheit zerschmetterte, und mit wütendem Gebrüll verwandelte Amy sich in eine von ihnen und nahm an die Gestalt eines Virals, furchtbar anzusehen. Dies aber war das Loslassen. Einer, der es sah, war Peter, eine andere Alicia, ein Dritter war Lucius, und alle anderen sahen es auch.

10. Und die Ketten zerrissen, eine mächtige Schlacht begann, und ein großer Sieg ward errungen, doch viele verloren ihr Leben. Einer von ihnen war Wolgast, der sich opferte, um Amy zu retten, denn er liebte sie wie ein Vater sein Kind.

11. Und so begab es sich, dass die Zwölf vom Antlitz der Erde getilgt wurden, und alle Menschen waren frei.

12. Von Amys Schicksal jedoch wussten ihre Freunde nichts, denn sie war nirgends zu finden.

I

Die Tochter

98–101 n. V.

Es gibt eine andere Welt, doch es ist diese.

Paul Éluard

1

Central PennsylvaniaAugust 98 n. V.Acht Monate nach der Befreiung Homelands

Der Boden unter ihrer Klinge war nachgiebig und setzte den schwarzen Geruch von Erde frei. Die Luft war heiß und feucht, und in den Bäumen sangen Vögel. Sie kauerte auf Händen und Knien, stach in die Erde und stocherte sie auf. Handvoll für Handvoll schaufelte sie sie beiseite. Die Schwäche hatte nachgelassen, aber sie war nicht weg. Ihr Körper fühlte sich wacklig an, desorganisiert, ausgelaugt. Da war Schmerz, und da war die Erinnerung an Schmerz. Drei Tage waren vergangen, oder waren es vier? Schweißperlen glänzten auf ihrem Gesicht, und als sie sich die Lippen leckte, schmeckte sie Salz. Sie grub und grub. Der Schweiß lief in Rinnsalen an ihr herab und tropfte auf die Erde. Alles geht dorthin, dachte Alicia. Am Ende. Alles geht in die Erde.

Der Haufen neben ihr wuchs. Wie tief war tief genug? Nach knapp einem Meter begann sich die Erde zu verändern. Sie wurde kälter und roch nach Ton. Es war wie ein Zeichen. Sie wippte auf den Stiefelfersen zurück und trank in tiefen Zügen aus ihrer Flasche. Ihre Hände waren wund; ein großes Stück Haut am Daumenballen hatte sich abgeschält. Sie nahm das Stück zwischen Daumen und Zeigefinger in den Mund, trennte den Hautlappen mit den Zähnen ab und spuckte ihn auf den Boden.

Soldier wartete am Rand der Lichtung, und seine Kiefer arbeiteten geräuschvoll an einem Büschel des hüfthohen Grases. Die anmutige Hinterhand, die volle Mähne und das Blue-Roan-Fell, die prachtvollen Hufe und Zähne, die Augen, glänzend wie große schwarze Murmeln – eine glorreiche Aura umgab ihn. Wenn er wollte, konnte er absolut ruhig sein, und im nächsten Moment vollbrachte er bemerkenswerte Leistungen. Er hob das kluge Gesicht, als er sie kommen hörte. Ich verstehe. Wir sind bereit. Er wendete in einem langsamen Kreisbogen, den Kopf gesenkt, und folgte ihr unter die Bäume zu der Stelle, wo sie ihre Plane aufgespannt hatte. Auf dem Boden neben Alicias blutigem Schlafsack lag das kleine Bündel, in eine fleckige Decke gewickelt. Ihre Tochter hatte weniger als eine Stunde gelebt, aber in dieser Stunde war Alicia zur Mutter geworden.

Soldier beobachtete sie, als sie wieder hervorkam. Das Gesicht des Babys war bedeckt. Alicia schlug das Tuch zurück, und Soldier senkte den Kopf zu dem Kind herunter, blähte die Nüstern, atmete seinen Duft ein. Winzig, die Nase und die Augen und der Rosenknospenmund, verblüffend in ihrer ganzen Menschlichkeit. Der Kopf war mit weichem roten Haar bedeckt. Aber da war kein Leben, kein Atem. Alicia hatte sich gefragt, ob sie in der Lage sein würde, sie zu lieben – dieses Kind, empfangen inmitten von Entsetzen und Schmerz, gezeugt von einem Ungeheuer. Von einem Mann, der sie geschlagen, vergewaltigt, beschimpft hatte. Wie töricht sie gewesen war.

Sie kehrte zurück auf die Lichtung. Die Sonne stand senkrecht über ihr; Insekten summten im Gras, rhythmisch pulsierend. Soldier stand neben ihr, als sie ihre Tochter ins Grab legte. Als die Wehen einsetzten, hatte Alicia angefangen zu beten. Mach, dass ihr nichts fehlt. Als eine Stunde der Qual in der nächsten zerfloss, hatte sie die kalte Gegenwart des Todes in sich gefühlt. Das Hämmern des Schmerzes dröhnte in ihr, ein Wind aus Stahl, und hallte in ihren Zellen wider wie Donner. Etwas stimmte nicht. Bitte, Gott, beschütze sie, beschütze uns. Aber ihre Gebete blieben ungehört.

Die erste Handvoll Erde war die schwerste. Wie tat man das? Alicia hatte schon viele Menschen begraben. Manche hatte sie gekannt, andere nicht. Nur einen hatte sie geliebt. Den Jungen, Hightop. So lustig, so lebendig – und dann fort. Sie ließ die Erde durch die Finger rieseln. Mit einem leisen Prasseln traf sie auf das Tuch, wie die ersten Regentropfen auf dem Laub. Stück für Stück verschwand ihre Tochter. Leb wohl, dachte sie, leb wohl, meine Liebste, meine Einzige.

Sie kehrte zu ihrem Zelt zurück. Es war, als sei ihre Seele zerschmettert. Eine Million Glassplitter füllten ihre Brust, und ihre Knochen schienen aus Blei zu sein. Sie brauchte Wasser und etwas zu essen, denn ihre Vorräte waren erschöpft. Aber Jagen kam nicht in Frage, und der Bach, fünf Minuten weiter unten am Berg, kam ihr meilenweit entfernt vor. Die Bedürfnisse des Körpers – was bedeuteten sie schon? Nichts war mehr wichtig. Sie legte sich auf ihren Schlafsack und schloss die Augen, und bald war sie eingeschlafen.

Sie träumte von einem Fluss. Es war ein breiter, dunkler Fluss, und darüber schien der Mond. Sein Licht schimmerte auf dem Wasser wie eine goldene Straße. Was vor ihr lag, wusste Alicia nicht; sie wusste nur, dass sie diesen Fluss überqueren musste. Sie tat den ersten, vorsichtigen Schritt auf die glänzende Oberfläche, innerlich im Zwiespalt: Einerseits staunte sie über diese unwahrscheinliche Art des Vorankommens, andererseits überhaupt nicht. Als der Mond das andere Ufer berührte, erkannte sie, dass sie getäuscht worden war. Der glänzende Weg löste sich auf. Sie fing an zu laufen und versuchte verzweifelt, das andere Ufer zu erreichen, bevor der Fluss sie verschlang. Aber der Weg war zu weit, und mit jedem Schritt, den sie tat, sprang der Horizont ein Stück weiter zurück. Das Wasser schwappte um ihre Knöchel, ihre Knie, ihre Hüften. Sie hatte nicht die Kraft, gegen den Sog anzukämpfen. Komm zu mir, Alicia. Komm zu mir, komm zu mir, komm zu mir. Sie versank, der Fluss holte sie, sie stürzte ins Dunkel …

Sie erwachte in einem gedämpften orangegelben Licht. Der Tag war fast vorüber. Bewegungslos blieb sie liegen und sammelte ihre Gedanken. Sie hatte sich an diese Alpträume gewöhnt. Die Bestandteile veränderten sich, aber das Gefühl nie – die Vergeblichkeit, die Angst. Aber diesmal war doch etwas anders gewesen. Ein Aspekt des Traums war in ihr Leben vorgedrungen. Ihr Hemd war nass. Sie schaute hinunter und sah wachsende Flecke. Ihr Milchfluss hatte begonnen.

Zu bleiben war keine bewusste Entscheidung. Der Wille zum Weitergehen war einfach nicht da. Ihre Kraft kehrte zurück, mit kleinen Schritten zunächst, und dann war sie plötzlich da, wie ein lange erwarteter Gast. Sie baute sich eine Hütte aus Ästen und Ranken und benutzte die Zeltplane als Dach. Der Wald wimmelte von Leben: Es gab Eichhörnchen und Kaninchen, Wachteln und Tauben und Rehe. Manches war zu flink für sie, aber nicht alles. Sie stellte Fallen auf und wartete auf Beute, oder sie benutzte die Armbrust: ein Schuss, ein sauberer Tod, und dann ein Abendessen, roh und warm. Wenn am Ende des Tages das Licht schwand, badete sie im Bach. Das Wasser war klar, und die Kälte war jedes Mal ein Schock. Einmal sah sie dabei die Bären. Ein Rascheln, zehn Meter weit stromaufwärts, etwas Schweres, das sich im Gebüsch bewegte, und dann erschienen sie am Ufer, eine Bärenmutter mit zwei Jungen. Alicia hatte solche Tiere noch nie leibhaftig gesehen, nur in Büchern. Sie stöberten zusammen im seichten Wasser und wühlten mit den Schnauzen im Schlamm. Ihre Anatomie wirkte irgendwie unverbunden und halb fertig, als wären die Muskeln unter dem dicken, von Zweigen durchflochtenen Pelz nicht fest mit der Haut vernäht. Eine Wolke von Insekten umgab sie, funkelnd im letzten Tageslicht. Die Bären bemerkten sie anscheinend nicht, und wenn doch, hielten sie sie nicht für wichtig.

Der Sommer verging. Gerade befand sie sich noch in einer Welt aus dicken grünen Blättern und dichtem Schatten, und dann explodierte der Wald in einem Tumult aus Farben. Morgens knirschte der Waldboden von Reif. Winterkälte senkte sich auf das Land und brachte ein Gefühl der Reinheit mit. Schnee lag schwer auf der Erde. Die schwarzen Reihen der Bäume, die kleinen Fußspuren der Vögel, der weiße Himmel, aus dem jede Farbe herausgewaschen war – alles war auf das Wesentliche reduziert. Welcher Monat war es? Welcher Tag? Mit der Zeit wurde die Nahrung zu einem Problem. Stundenlang, ja, über ganze Tage hinweg bewegte sie sich kaum und sparte ihre Kräfte. Seit fast einem Jahr hatte sie mit keiner Menschenseele mehr gesprochen, und nach und nach merkte sie, dass sie nicht mehr in Worten dachte, als wäre sie ein Geschöpf des Waldes geworden. Sie fragte sich, ob sie dabei war, den Verstand zu verlieren. Sie fing an, mit Soldier zu reden, als wäre er eine Person. Soldier, sagte sie, was wollen wir heute Abend essen? Soldier, meinst du nicht, es wird Zeit, Feuerholz zu sammeln? Soldier, sieht der Himmel nach Schnee aus?

Eines Nachts wachte sie in der Hütte auf und begriff, dass sie schon seit einer Weile Donner hörte. Ein nasser Frühlingswind wehte in richtungslosen Böen und wirbelte in den Baumwipfeln herum. Mit einem Gefühl, als betreffe es sie nicht, hörte Alicia, wie das Unwetter heraufzog, und dann war es plötzlich da. Ein Blitz zuckte über den Himmel und brannte das Bild der Umgebung in ihre Augen. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte. Sie ließ Soldier in die Hütte, als die Schleusen des Himmels sich öffneten und Regentropfen ausspien, so schwer wie Gewehrkugeln. Das Pferd zitterte vor Entsetzen, und Alicia musste es beruhigen: Nur eine panische Bewegung in dem engen Raum, und der mächtige Körper würde die Hütte zertrümmern. Du bist mein braver Junge, sagte sie und streichelte seine Flanke. Mit der freien Hand schlang sie ihm den Strick um den Hals. Mein braver, braver Junge. Was meinst du? Leistest du einem Mädel in einerRegennacht Gesellschaft? Sein Körper war angespannt, eine Mauer aus harten Muskeln, aber als sie Kraft aufwandte, um ihn herunterzuziehen, ließ er es zu. Vor den Wänden der Hütte erstrahlten die Blitze, und der Himmel schien zu schwanken. Mit machtvollem Seufzen ließ er sich auf die Knie fallen und drehte sich neben ihrem Schlafsack auf die Seite, und so schliefen sie beide, während der Regen die ganze Nacht herunterprasselte und den Winter wegwusch.

Zwei Jahre blieb sie an diesem Ort. Das Fortgehen fiel nicht leicht; der Wald war ein Trost für sie. Sie hatte seinen Rhythmus übernommen. Aber als der dritte Sommer begann, regte sich ein neues Gefühl in ihr. Es wurde Zeit weiterzuziehen. Zu vollenden, was sie begonnen hatte.

Den Rest des Sommers verbrachte sie mit Vorbereitungen. Dazu gehörte der Bau einer Waffe. Zu Fuß zog sie los und besuchte die kleinen Städte am Fluss, und als sie nach drei Tagen zurückkam, schleppte sie einen klirrenden Sack. Sie kannte die Grundlagen dessen, was sie vorhatte, denn sie hatte den Vorgang schon viele Male mitangesehen, und die Details würden sich durch systematisches Ausprobieren ergeben. Ein flacher Steinblock am Bach sollte ihr als Amboss dienen. Am Rand des Wassers entfachte sie ein Feuer und sah zu, wie es zu Kohle herunterbrannte. Es kam darauf an, die richtige Temperatur zu halten. Als sie das Gefühl hatte, dass alles stimmte, nahm sie das erste Teil aus dem Sack: eine Stange O1-Stahl, fünf Zentimeter breit, einen knappen Meter lang, einen Zentimeter dick. Als Nächstes holte sie einen Hammer heraus, eine Eisenzange und ein Paar dicke Handschuhe. Sie schob das Ende der Stahlstange in die Glut und sah zu, wie die Farbe sich veränderte, als das Metall heiß wurde. Dann machte sie sich an die Arbeit.

Sie musste noch dreimal stromabwärts wandern und Material holen, und das Resultat war plump, aber am Ende war sie zufrieden. Sie umwickelte das glatte Metall am Griff mit groben, faserigen Ranken, sodass sie es fest mit der Faust umschließen konnte. Das Gewicht lag angenehm in der Hand, und die polierte Spitze glänzte in der Sonne. Aber die eigentliche Prüfung wäre der erste Schnitt. Bei ihrem letzten Ausflug stromabwärts war sie an einem Feld mit menschenkopfgroßen Melonen vorbeigekommen. Sie wuchsen dort dicht an dicht in einem Gewirr von Ranken und Blättern, geformt wie greifende Hände. Sie hatte eine ausgesucht und sie im Sack nach Hause genommen. Jetzt legte sie sie vorsichtig auf einen umgestürzten Baumstamm, zielte und ließ das Schwert in einem senkrechten Bogen niederfahren. Die beiden getrennten Hälften rollten träge voneinander weg, als wären sie betäubt, und klatschten auf den Boden.

Jetzt hielt sie nichts mehr an diesem Ort. Am Abend vor ihrem Abschied besuchte Alicia das Grab ihrer Tochter. Sie wollte es nicht in letzter Sekunde tun. Ihr Abschied sollte sauber sein. Die Stätte war zwei Jahre lang unmarkiert geblieben. Nichts war ihr würdig genug erschienen. Aber sie unbezeichnet zu verlassen kam ihr falsch vor. Aus dem Stahl, den sie noch hatte, formte sie ein Kreuz, schlug es mit dem Hammer in den Boden und kniete davor nieder. Der Leichnam würde inzwischen nicht mehr da sein. Vielleicht noch ein paar Knochen, oder der Abdruck von Knochen. Ihre Tochter war in die Erde übergegangen, in die Bäume, die Steine, ja, sogar in den Himmel und die Tiere. Sie war an einem Ort jenseits allen Wissens. Ihre nie erprobte Stimme war im Gesang der Vögel, die rote Haube ihres Haars im flammenden Laub des Herbstes. An das alles dachte Alicia und berührte mit einer Hand die weiche Erde. Aber sie hatte keine Gebete mehr in sich. Ein Herz, das einmal gebrochen war, blieb gebrochen.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

Ein wenig bemerkenswerter Morgen dämmerte herauf: windstill, grau, die Luft kompakt von Nebel. Das Schwert in seiner Scheide aus Hirschleder hing schräg über ihrem Rücken, und die Messer klemmten unter den Patronengurten x-förmig vor ihrer Brust. Eine Schutzbrille mit dunklen Gläsern und ledernen Abschirmungen an den Schläfen verbarg ihre Augen. Sie befestigte die Satteltasche an ihrem Platz und schwang sich auf Soldiers Rücken. Seit Tagen schweifte er rastlos umher; er spürte, dass sie bald aufbrechen würden. Werden wir tun, was ich vermute? Mir gefällt es hier eigentlich ganz gut, weißt du… Sie hatte vor, ostwärts am Bach entlangzureiten und seinem Lauf durch die Berge zu folgen. Mit etwas Glück würde sie New York erreichen, bevor die ersten Blätter fielen.

Sie schloss die Augen und wartete, bis ihr Kopf ganz leer war. Erst wenn alles frei wäre, würde die Stimme kommen. Sie kam von dort, wo auch die Träume herkamen, und wisperte in ihr Ohr wie der Wind aus einer Höhle.

Alicia, du bist nicht allein. Ich kenne deine Trauer, denn es ist meine eigene. Ich warte auf dich, Lish. Komm zu mir. Komm nach Hause.

Sie stieß Soldier die Fersen in die Flanken.

2

Der Tag neigte sich dem Ende zu, als Peter zum Haus zurückkehrte. Über ihm dehnte sich der endlose Himmel Utahs, zerklüftet von langen Farbstreifen vor einem dunkler werdenden Blau. Ein Abend im Frühherbst – die Nächte waren kalt, die Tage immer noch schön. Er wanderte am Ufer des murmelnden Flusses entlang heimwärts, die Rute über die Schulter gelegt, und der Hund schlenderte neben ihm her. In seiner Tasche waren zwei fette Forellen, in goldene Blätter gewickelt.

Als er sich der Farm näherte, hörte er Musik, die aus dem Haus kam. Auf der Veranda streifte er die schlammverschmierten Stiefel ab, legte die Tasche hin und trat behutsam durch die Tür. Amy saß vor dem alten Klavier mit dem Rücken zur Tür. Leise trat er hinter sie. Sie war so konzentriert, dass sie ihn nicht bemerkte. Bewegungslos stand er da und hörte ihr zu, fast ohne zu atmen. Amys Körper wiegte sich leicht im Takt der Musik. Ihre Finger bewegten sich flink über die Tasten und riefen die Töne eher hervor, als dass sie sie spielten. Das Stück war die klangliche Verkörperung reiner Gefühle, und in den Tönen lag tiefes Herzweh, aber dieses Gefühl war mit solcher Zartheit ausgedrückt, dass es nicht traurig wirkte. Es erinnerte ihn daran, wie die Zeit sich anfühlte, wenn sie unausweichlich in der Vergangenheit versank und zur Erinnerung wurde.

»Du bist zu Hause.«

Das Stück war zu Ende gegangen, ohne dass er es bemerkt hatte. Als er ihr die Hände auf die Schultern legte, drehte sie sich auf der Bank um und hob das Gesicht.

»Komm her«, sagte sie.

Er beugte sich herunter und nahm ihren Kuss entgegen. Ihre Schönheit war erstaunlich, und jedes Mal, wenn er sie ansah, entdeckte er sie neu. Er deutete mit dem Kopf auf die Tasten. »Ich weiß immer noch nicht, wie du das machst«, sagte er.

»Hat es dir gefallen?« Sie lächelte. »Ich habe den ganzen Tag geübt.«

Ja, sagte er, es sei wunderschön. Es erinnere ihn an so vieles, sagte er. Aber es sei schwer in Worte zu fassen.

»Wie war’s am Fluss? Du warst eine ganze Weile weg.«

»Wirklich?« Der Tag war wie so viele andere in einem Dunst der Zufriedenheit vergangen. »Es ist dort so schön um diese Jahreszeit. Ich glaube, ich habe einfach die Zeit vergessen.« Er küsste sie auf den Scheitel. Ihr Haar war frisch gewaschen und duftete nach den Kräutern, die sie benutzte, um die harte Lauge weicher zu machen. »Spiel doch weiter. Ich mache uns Abendessen.«

Er ging durch die Küche zur Hintertür und in den Garten hinaus. Der Garten welkte; bald würde er unter dem Schnee schlummern, und die letzten Reste seiner Fülle würden für den Winter eingelagert werden. Der Hund war allein losgezogen. Er bewegte sich in weitem Radius, aber Peter war nie beunruhigt, denn er fand immer nach Hause zurück, bevor es dunkel wurde. An der Pumpe ließ Peter den Bottich volllaufen, und dann zog er sich das Hemd aus, spritzte Wasser auf Gesicht und Brust und wusch sich. Die Berghänge warfen die letzten Sonnenstrahlen zurück, und lange Schatten streckten sich über den Boden. Diese Tageszeit war ihm die liebste, das Gefühl, dass die Dinge ineinander verschmolzen und alles in der Schwebe war. Als es dunkler wurde, tauchten die Sterne auf, erst einer, dann noch einer und noch einer. In dieser Stunde wohnte das gleiche Gefühl wie in Amys Musik: Erinnerung und Sehnsucht, Glück und Trauer, Anfang und Ende in einem.

Er machte Feuer, putzte seinen Fang und legte das weiche, weiße Fleisch mit einem Klecks Fett in die Pfanne. Amy kam heraus und setzte sich zu ihm, und sie schauten zu, wie das Essen garte. Sie aßen bei Kerzenschein in der Küche: die Forellen, in Scheiben geschnittene Tomaten und eine in der Glut gebackene Kartoffel. Danach teilten sie sich einen Apfel. Sie zündeten im Wohnzimmer ein Feuer an und machten es sich unter einer Wolldecke auf der Couch bequem. Der Hund ließ sich auf seinem gewohnten Platz zu ihren Füßen nieder. Sie schauten in die Flammen, ohne zu reden. Worte waren unnötig; alles zwischen ihnen war gesagt, sie hatten einander alles anvertraut und wussten es. Nach einiger Zeit stand Amy auf und streckte die Hand aus.

»Komm ins Bett.«

Mit Kerzen in den Händen gingen sie die Treppe hinauf. In der winzigen Schlafkammer unter dem Dach zogen sie sich aus, krochen unter die Steppdecken und rollten sich umeinander, um sich zu wärmen. Unten vor dem Fußende ließ der Hund sich mit einem Seufzen, das klang wie der Wind, zu Boden sinken. Ein guter alter Hund, loyal wie ein Löwe: Er würde bis zum Morgen dort bleiben und die beiden bewachen. Die Nähe ihrer warmen Körper, der gemeinsame Rhythmus ihres Atmens – es war nicht Glück, was Peter empfand, sondern etwas Tieferes, Volleres. Sein Leben lang hatte er sich gewünscht, von einem einzigen Menschen gekannt zu werden. Das war Liebe, entschied er. Wenn jemand dich kannte.

»Peter? Was ist?«

Einige Zeit war vergangen. Sein Geist, schwebend im unermesslichen Raum zwischen Schlafen und Wachen, war alten Erinnerungen nachgehangen.

»Ich dachte an Theo und Maus. An die Nacht in der Scheune, als der Viral angriff.« Ein Gedanke wehte vorbei, knapp außer Reichweite. »Mein Bruder hat nie herausbekommen, was den Viral getötet hat.«

Amy schwieg einen Moment lang. »Na, das warst du, Peter. Du warst es, der sie gerettet hat. Das habe ich dir gesagt – weißt du es nicht mehr?«

Hatte sie? Und was konnte sie damit meinen? Zum Zeitpunkt des Angriffs war er in Colorado gewesen, viele Meilen und Tage weit entfernt. Wie sollte er derjenige gewesen sein?

»Ich habe dir erklärt, wie es geht. Die Farm ist etwas Besonderes. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind dort eins. Du warst in der Scheune, eben weil du dort sein musstest.«

»Aber ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Weil es noch nicht passiert ist. Nicht für dich. Aber die Zeit wird kommen, da es passiert. Du wirst dort sein, um sie zu retten. Um Caleb zu retten.«

Caleb, sein Junge. Jähe Trauer überwältigte ihn, eine intensive, sehnsuchtsvolle Liebe. Ein Kloß stieg ihm in die Kehle. So viele Jahre. So viele Jahre, die vergangen waren.

»Aber jetzt sind wir hier«, sagte er, »du und ich, in diesem Bett. Das ist real.«

»So real wie nichts anderes auf der Welt.« Sie schmiegte sich an ihn. »Wir wollen uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Du bist müde, das merke ich.«

Das war er. So müde, sehr müde. Er fühlte die Jahre in den Knochen. Eine Erinnerung tauchte in seinem Kopf auf: Er sah sein Gesicht im Fluss. Wann war das gewesen? Heute? Gestern? Vor einer Woche, einem Monat, einem Jahr? Die Sonne stand hoch am Himmel und verwandelte die Wasserfläche in einen funkelnden Spiegel. Sein Bild bebte in der Strömung. Tiefe Falten und schlaffe Wangen, Hautsäcke unter den Augen, die mit der Zeit stumpf geworden waren, und das, was von seinem Haar noch übrig war, saß weiß wie eine Mütze aus Schnee auf seinem Kopf. Es war das Gesicht eines alten Mannes.

»War ich … tot?«

Amy antwortete nicht. Und da verstand Peter, was sie ihm sagen wollte. Nicht nur, dass er sterben würde, wie jedermann sterben musste, sondern dass der Tod nicht das Ende war. Er würde hierbleiben, ein wachsamer Geist, außerhalb der Mauern der Zeit. Das war der Schlüssel zu allem; er öffnete eine Tür, hinter der die Antwort auf alle Geheimnisse des Lebens wartete. Er dachte an den Tag, an dem er auf die Farm gekommen war, vor so langer Zeit. Alles war so unerklärlich unversehrt – die volle Speisekammer, die Gardinen an den Fenstern, das Geschirr auf dem Tisch, als habe es sie erwartet. Das war es. Sein einziges wahres Zuhause auf der Welt.

Als er so im Dunkeln lag, schwoll ihm die Brust vor lauter Zufriedenheit. Es gab Dinge, die er verloren hatte, Leute, die nicht mehr da waren. Alles musste vergehen. Sogar die Erde selbst, der Himmel und der Fluss und die Sterne, die er liebte, würden eines Tages das Ende ihres Daseins erreichen. Aber davor musste man sich nicht fürchten. Es war die bittersüße Schönheit des Lebens. Er malte sich den Augenblick seines Todes aus. So stark war die Vision, dass es war wie eine Erinnerung, nicht wie eine Vorstellung. Er würde hier in diesem Bett liegen, an einem Nachmittag im Sommer, und Amy würde ihn im Arm halten. Sie würde aussehen wie jetzt, stark und schön und voller Leben. Das Bett steht dem Fenster gegenüber, und die Gardinen leuchten in diffusem Licht. Da ist kein Schmerz, nur das Gefühl der Auflösung. Es ist gut, Peter, würde Amy sagen. Es ist alles gut. Ich werde bald da sein. Das Licht würde wachsen, immer größer werden, erst sein Gesichtsfeld, dann sein Bewusstsein ausfüllen, und so würde er fortgehen: auf Wellen von Licht.

»Ich liebe dich so sehr«, sagte er.

»Ich liebe dich auch.«

»Es war ein wunderbarer Tag, nicht wahr?«

Er spürte, wie sie nickte. »Und wir werden noch viele haben. Ein Meer von Tagen.«

Er zog sie fest an sich. Die Nacht draußen war kalt und still. »Das war ein schönes Lied«, sagte er. »Ich bin froh, dass wir das Klavier gefunden haben.«

Und damit, zusammengerollt in ihrem großen weichen Bett unter dem Dach, schliefen sie beide ein.

Ich bin froh, dass wir das Klavier gefunden haben.

Das Klavier.

Das Klavier.

Das Klavier…

Peter kam zu sich und merkte, dass er nackt war, eingewickelt in schweißfeuchte Laken. Einen Moment lang blieb er bewegungslos liegen. Hatte er nicht eben noch …? Und war er nicht …? Er hatte einen Geschmack im Mund, als habe er Sand gegessen, und seine Blase war schwer wie ein Stein. Hinter den Augäpfeln machten sich die ersten Stiche eines Katers bemerkbar, der sich auf einen längeren Aufenthalt einstellte.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Lieutenant.«

Lore lag neben ihm. Weniger neben ihm, als vielmehr um ihn herum, ihre Körper waren ineinander verknotet und glitschig von Schweiß, wo sie einander berührten. Die Hütte – zwei Zimmer mit einem Abort hinten im Freien – hatten sie schon öfter benutzt, aber wem sie gehörte, war ihm nicht klar. Das kleine Fenster vor dem Fußende des Bettes war ein graues Viereck im Licht des sommerlichen Morgengrauens.

»Du musst mich mit jemandem verwechseln.«

»Oh, glaub mir«, sagte sie und legte einen Finger mitten auf seine Brust, »dich kann man nicht verwechseln. Wie fühlt man sich mit dreißig?«

»Wie neunundzwanzig mit Kopfschmerzen.«

Sie lächelte verführerisch. »Na, ich hoffe, dein Geschenk hat dir gefallen. Tut mir leid, dass ich die Karte vergessen habe.«

Sie wand sich los, drehte sich zur Bettkante und angelte ihr Hemd vom Boden herauf. Ihr Haar war inzwischen so lang, dass sie es hinten zusammenbinden musste, und ihre Schultern waren breit und kräftig. Sie zwängte sich in eine schmutzige Hose, schob die Füße in ihre Stiefel und drehte ihren Oberkörper, um ihn anzusehen.

»Entschuldige die Eile, mi amigo, aber ich habe Tanker zu bewegen. Ich würde dir Frühstück machen, aber ich bezweifle ernsthaft, dass hier etwas im Haus ist.« Sie beugte sich herunter und küsste ihn. »Alles Liebe für Caleb, okay?«

Der Junge war über Nacht bei Sara und Hollis. Die beiden fragten Peter nie, wohin er ging, aber sie konnten sich sicher denken, worum es ging. »Ich werd’s ihm ausrichten.«

»Und wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin, sehen wir uns wieder?« Als Peter nicht antwortete, legte sie den Kopf schräg und sah ihn an. »Oder … vielleicht auch nicht.«

Er wusste im Grunde keine Antwort darauf. Was sie miteinander verband, war nicht Liebe – dieses Thema war überhaupt nie angesprochen worden –, aber es war doch mehr als körperliches Verlangen. Es lag irgendwo in dem grauen Zwischenraum zwischen beidem, war weder das eine noch das andere, und genau darin bestand das Problem. Mit Lore zusammen zu sein erinnerte ihn an das, was er nicht haben konnte.

Sie machte ein langes Gesicht. »Na, scheiße. Und dabei hatte ich dich so verdammt gern, Lieutenant.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Sie seufzte und schaute weg. »Es ist ja nicht so, als wäre es für die Ewigkeit gewesen. Ich wünschte nur, ich hätte daran gedacht, dich zuerst abzuservieren.«

»Es tut mir leid. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen.«

»Glaub mir, es geht vorbei.« Sie hob das Gesicht zur Decke, atmete tief durch und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Scheiße, Peter. Siehst du, was du mit mir gemacht hast?«

Ihm war schrecklich zumute. Er hatte nichts von alldem geplant; noch vor einer Minute hatte er geglaubt, sie würden sich von dem, was immer zwischen ihnen sein mochte, weitertreiben lassen, bis sie das Interesse verloren oder neue Leute ins Spiel kamen.

»Es ist nicht wegen Michael, oder?«, fragte Lore. »Denn ich hab dir gesagt, das ist vorbei.«

»Ich weiß nicht.« Er zögerte und zuckte die Achseln. »Okay, ein bisschen vielleicht. Er wird es herausfinden, wenn wir so weitermachen.«

»Dann findet er es heraus. Na und?«

»Er ist mein Freund.«

Sie wischte sich über die Augen und lachte leise und verbittert. »Deine Loyalität ist bewundernswert, aber glaub mir, ich bin das Letzte, woran Michael denkt. Wahrscheinlich würde er dir sogar dankbar sein, weil du ihn von mir befreist.«

»Das ist nicht wahr.«

Sie zuckte die Achseln. »Das sagst du nur, weil du nett bist. Vielleicht mag ich dich deshalb so sehr. Aber du brauchst nicht zu lügen. Wir wissen beide, was wir tun. Ich sage mir ständig, ich werde schon über ihn hinwegkommen, aber natürlich gelingt mir das nie. Und weißt du, was mich am meisten fertigmacht? Dass er mir nicht mal die Wahrheit sagen kann. Diese verdammte Rothaarige. Was ist mit der?«

Einen Moment lang war Peter ratlos. »Redest du von … Lish?«

Lore warf ihm einen scharfen Blick zu. »Peter, sei nicht so schwer von Begriff. Was glaubst du, was er da draußen macht in seinem blöden Boot? Drei Jahre, seit sie weg ist, und er kann sie immer noch nicht vergessen. Wenn sie noch da wäre, hätte ich vielleicht eine Chance. Aber mit einem Geist kann man nicht konkurrieren.«

Peter brauchte noch einmal einen Augenblick, um das zu verarbeiten. Noch vor einer knappen Minute hätte er behauptet, Michael könne Alicia nicht mal leiden. Die beiden waren gewesen wie Hund und Katze. Aber innerlich, das wusste Peter, waren sie einander nicht so unähnlich. Sie besaßen den gleichen harten Kern, die gleiche Entschlossenheit, die gleiche Sturheit, die sie kein Nein akzeptieren ließ, wenn sie sich in eine Idee verbissen hatten. Und da gab es natürlich eine lange gemeinsame Vergangenheit. Ging es darum bei Michaels Boot? War es seine Art, den Verlust zu betrauern? Sie alle hatten es getan, jeder auf seine Weise. Peter war eine Zeitlang wütend auf sie gewesen. Sie hatte sie verlassen, ohne eine Erklärung, ja, sogar ohne ein Wort des Abschieds. Aber vieles hatte sich geändert. Die Welt hatte sich geändert. Was er jetzt hauptsächlich empfand, war der reine Schmerz der Einsamkeit. In seinem Herzen war eine kalte, leere Stelle, wo Alicia einst gewesen war.

»Was dich angeht«, sagte Lore und rieb sich die Augen mit dem Handrücken, »ich weiß nicht, wer sie ist, aber sie ist ein Glückspilz.«

Leugnen hatte keinen Sinn. »Es tut mir wirklich leid.«

»Hast du bereits gesagt.« Lore lächelte schmerzlich und schlug sich mit den flachen Händen auf die Knie. »Na, ich hab mein Öl. Was kann sich ein Mädel sonst noch wünschen? Tu mir nur einen Gefallen und fühl dich beschissen, okay? Du brauchst es nicht in die Länge zu ziehen. Eine oder zwei Wochen reichen.«

»Ich fühle mich jetzt schon beschissen.«

»Gut.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen eindringlichen Kuss, der nach Tränen schmeckte, bevor sie abrupt zurückwich. »Noch einen für unterwegs. Man sieht sich, Lieutenant.«

Die Sonne ging auf, als Peter die Treppe auf den Damm hinaufstieg. Der Kater hatte sich festgesetzt und würde nicht besser werden, wenn er den Tag auf einem glühend heißen Dach verbrachte und den Hammer schwang. Er hätte noch ein Stündchen Schlaf gebrauchen können, aber nach dem Gespräch mit Lore wollte er einen klaren Kopf bekommen, bevor er sich zur Arbeit meldete.

Oben erwartete ihn der anbrechende Tag, gedämpft von einer tiefhängenden Wolkenschicht, die innerhalb der nächsten Stunde verdunsten würde. Seit Peter die Expeditionstruppe verlassen hatte, hatte der Damm in seinen Gedanken eine totemhafte Bedeutung angenommen. In den Tagen vor seiner schicksalhaften Abreise ins Homeland war er mit seinem Neffen hergekommen. Dabei hatte sich nichts besonders Bemerkenswertes ereignet. Sie hatten die Aussicht genossen und sich unterhalten, über Peters Reisen mit der Expeditionstruppe und über Calebs Eltern, Theo und Maus, und dann waren sie zum Staubecken hinuntergestiegen, um zu schwimmen, was Caleb noch nie zuvor getan hatte. Ein ganz gewöhnlicher Ausflug, aber am Ende dieses Tages war etwas verändert gewesen. In Peters Herzen hatte sich eine Tür geöffnet. Da hatte er es noch nicht begriffen, aber auf der anderen Seite dieser Tür lag ein neues Leben, in dem er die Verantwortung als Vater des Jungen übernehmen würde.

Das war das eine Leben, das Leben, von dem die Leute wussten. Peter Jaxon, Offizier der Expeditionsstreitmacht im Ruhestand und jetzt Zimmermann und Vater, Bürger von Kerrville, Texas. Es war ein Leben wie jedes andere, mit Erfolgserlebnissen, Mühsal, Höhen und Tiefen, tagein, tagaus, und er führte es gern. Caleb war gerade zehn geworden, und anders als Peter, der in diesem Alter schon als Läufer der Wache gedient hatte, erlebte der Junge eine Kindheit. Er ging zur Schule, er spielte mit seinen Freunden, er erledigte seine Aufgaben, ohne dass man ihn lange drängen musste und nur gelegentlich mit Gemecker, und jeden Abend, wenn Peter ihn zugedeckt hatte, träumte er in der wohligen Gewissheit, dass der nächste Tag genauso werden würde wie der vorige. Er war groß für sein Alter, wie ein Jaxon, und die weichen Züge des kleinen Jungen verschwanden allmählich aus seinem Gesicht. Jeden Tag bekam er ein bisschen mehr Ähnlichkeit mit seinem Vater, Theo. Aber über seine Eltern wurde nicht mehr gesprochen. Nicht dass Peter es vermied – der Junge fragte einfach nicht. Eines Abends, Peter und Caleb lebten seit sechs Monaten allein zusammen, saßen die beiden beim Schach, als der Junge, während er eine Figur für den nächsten Zug über dem Brett schweben ließ, ganz schlicht und so entspannt, als erkundige er sich nach dem Wetter, fragte: Wäre es okay, wenn ich Dad zu dir sage? Peter war verblüfft: Das hatte er nicht kommen sehen. Möchtest du das denn?, fragte er, und der Junge nickte. M-hm. Ich glaube, das wäre gut.

Was sein anderes Leben anging, so konnte Peter nicht genau sagen, wie es aussah – nur, dass es existierte und dass es sich nachts abspielte. Seine Träume von der Farm umfassten eine Vielzahl von Tagen und Ereignissen, aber die Stimmung war immer die gleiche: Er fühlte sich zugehörig und daheim. So lebhaft waren diese Träume, dass es beim Aufwachen so war, als sei er tatsächlich in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort gewesen, als seien die Stunden des Wachseins und die des Schlafens zwei verschiedene Seiten derselben Medaille, die eine nicht weniger real als die andere.

Was für Träume waren das? Woher kamen sie? Entstammten sie seinem eigenen Hirn, oder war es möglich, dass sie aus einer Quelle außerhalb von ihm kamen – vielleicht gar von Amy selbst? Peter hatte niemandem von der ersten Nacht der Evakuierung aus Iowa erzählt, als Amy zu ihm gekommen war. Dafür gab es viele Gründe, aber vor allem konnte er nicht sicher sein, dass das Ganze wirklich passiert war. Er war in diesem Augenblick aus einem tiefen Schlaf erwacht. Saras und Hollis’ Tochter hatte auf seinem Schoß geschlafen, mit ihm zusammen warm eingepackt zum Schutz vor der Kälte von Iowa unter einem Himmel, der so trunken war von Sternen, dass er das Gefühl hatte, zwischen ihnen zu schweben. Und da war sie gewesen. Sie hatten nicht gesprochen, aber das war auch nicht nötig gewesen. Die Berührung ihrer Hände hatte genügt. Der Augenblick hatte ewig gedauert und war blitzartig vorbei gewesen. Ehe Peter sichs versah, war Amy fort.

Hatte er auch das geträumt? Allem Anschein nach ja. Alle glaubten, Amy sei im Stadion gestorben, getötet von der Explosion, die für die Zwölf das Ende bedeutet hatte. Man hatte keine Spur von ihr gefunden. Dennoch, der Augenblick war so real gewesen. Manchmal war er überzeugt davon, dass Amy irgendwo da draußen war, aber dann beschlichen ihn Zweifel. Am Ende behielt er seine Fragen für sich.

Eine Zeitlang blieb er stehen und sah zu, wie die Sonne ihr Licht über die texanischen Hügel ausbreitete. Die Oberfläche des Staubeckens unter ihm war still und blank wie ein Spiegel. Er wäre gern ein bisschen geschwommen, um den Kater loszuwerden, aber er musste Caleb holen und in die Schule bringen, bevor er sich zur Arbeit meldete. Er war kein großer Zimmermann – eigentlich hatte er nur einen Beruf gelernt, nämlich den des Soldaten –, aber die Arbeit war regelmäßig und nicht weit weg von zu Hause, und da so viel gebaut werden musste, benötigte die Wohnungsbehörde jeden, den sie bekommen konnte.

Kerrville platzte aus den Nähten. Fünfzigtausend Seelen hatten die Reise von Iowa hierher gemacht, und in nur zwei Jahren war die Bevölkerung auf mehr als das Doppelte gewachsen. So viele aufzunehmen war nicht leicht gewesen, und es war noch immer nicht leicht. Kerrville existierte unter der Voraussetzung, dass das Bevölkerungswachstum bei null blieb. Ehepaare, die mehr als zwei Kinder bekamen, mussten ein empfindliches Bußgeld zahlen; wenn ein Kind starb, durften sie ein drittes haben, aber nur, wenn das verstorbene Kind noch keine zehn Jahre alt geworden war.

Dieses Konzept war nicht mehr zu halten gewesen, als die Menschen aus Iowa gekommen waren. Die Lebensmittel waren knapp geworden, es hatte einen Run auf Benzin und Medikamente und Probleme mit dem Abwasser gegeben – all die Probleme, die daher rührten, dass zu viele Menschen auf zu kleinem Raum zusammengepfercht waren, und Ressentiments gab es auf beiden Seiten mehr als genug. Eine hastig aufgebaute Zeltstadt hatte die ersten paar Wellen aufgenommen, aber als der Zustrom nicht aufhörte, war dieses provisorische Lager bald zu einem Elendsviertel verkommen. Zwar hatten sich viele der Iowaner nach lebenslanger Zwangsarbeit bemüht, sich in einem Dasein zurechtzufinden, in dem ihnen nicht jede Entscheidung abgenommen wurde – eine verbreitete Redewendung war »faul wie ein Homelander« –, aber andere hatten den entgegengesetzten Weg eingeschlagen: Sie verstießen gegen die Sperrstunde, frequentierten Dunks Bordelle und Spielcasinos, tranken, stahlen, prügelten sich und liefen in jeder Hinsicht Amok. Die Einzigen, die darüber glücklich zu sein schienen, waren die Händler, die das Geld nur so scheffelten: Auf dem Schwarzmarkt bekam man alles, von Lebensmitteln über Verbandmaterial bis zu Hämmern.

Die Leute sprachen inzwischen offen darüber, sich außerhalb der Mauer anzusiedeln. Peter nahm an, es war nur noch eine Frage der Zeit. Seit drei Jahren war kein einziger Viral mehr gesichtet worden, weder Drac noch Dopey, und die Zivilverwaltung stand unter einem wachsenden Druck, das Tor zu öffnen. Die Ereignisse im Stadion waren unter den Einwohnern zu eintausend verschiedenen Legenden geworden, von denen nicht zwei genau gleich waren. Aber selbst die hartgesottensten Zweifler freundeten sich allmählich mit dem Gedanken an, dass die Gefahr wirklich vorbei war. Peter sollte eigentlich von allen der Erste sein, der hier zustimmte.

Er drehte sich um und schaute über die Stadt. Fast hunderttausend Seelen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte ihn diese Zahl umgeworfen. Er war in einer Stadt – einer Welt – mit weniger als hundert Menschen aufgewachsen. Am Tor sammelten sich die Transporter, die die Arbeiter in den landwirtschaftlichen Komplex bringen würden, und pufften Dieselqualm in die Morgenluft. Von überall her kamen die Geräusche und Gerüche des Lebens, während die Stadt sich erhob und ihre Glieder streckte. Die Probleme waren real, aber klein, wenn man sie mit den Verheißungen dieser Szene verglich. Das Zeitalter der Virals war vorbei, und mit der Menschheit ging es endlich wieder bergauf. Da war ein Kontinent, den man nur zu nehmen brauchte, und Kerrville war der Ort, an dem das Neue Zeitalter seinen Anfang nehmen würde. Warum also kam es ihm so dürftig vor, so schwächlich? Warum bebte er hier auf dem Damm an einem so vielversprechenden Morgen innerlich von dunklen Vorahnungen?

Na, dachte Peter, von mir aus. Wenn man als Vater etwas lernte, dann dies: Man kann sich Sorgen machen, solange man will, es wird nichts ändern. Er musste einen Lunch einpacken und sagen: »Sei brav«, und dann musste er einen Tag voll einfacher, ehrlicher Arbeit zu Boden ringen, und in vierundzwanzig Stunden von jetzt an würde alles wieder von vorn anfangen. Dreißig, dachte er nachdenklich, heute werde ich dreißig Jahre alt. Wenn jemand ihm vor zehn Jahren gesagt hätte, dass er diesen Tag erleben oder gar einen Sohn großziehen würde, hätte er ihn für verrückt erklärt. Vielleicht also war das wirklich alles, was zählte. Einfach am Leben zu sein, zu lieben und wiedergeliebt zu werden – vielleicht war das genug.

Er hatte Sara gesagt, er wolle keine Party, aber natürlich würde die Frau irgendetwas veranstalten. Nach allem, was wir durchgemacht haben, bedeutet die Dreißig etwas. Komm nach der Arbeit bei uns vorbei. Außer uns fünfen wird niemand da sein. Ich verspreche dir, es wird keine große Sache. Er holte Caleb von der Schule ab und ging nach Hause, um sich zu waschen, und kurz nach 18:00 Uhr erreichten sie Saras und Hollis’ Apartment und traten durch die Tür und waren auf der Party, die Peter nicht hatte haben wollen. Dutzende von Leuten drängten sich in den beiden kleinen, luftlosen Zimmern – Nachbarn und Kollegen, die Eltern von Calebs Freunden, Männer, mit denen er bei der Armee gedient hatte, sogar Schwester Peg, die trotz ihrer strengen grauen Kutte lachte und plauderte wie alle andern. Sara umarmte ihn in der Tür und gratulierte ihm zum Geburtstag, und Hollis drückte ihm ein Glas in die Hand und klopfte ihm auf den Rücken. Caleb und Kate kicherten so sehr, dass sie sich kaum noch halten konnten. Peter sah Caleb an. »Hast du davon gewusst? Und du, Kate?«

»Natürlich haben wir es gewusst!«, schrie der Junge. »Du solltest dein Gesicht sehen, Dad!«

»Na, das gibt noch großen Ärger«, sagte Peter im Ton eines erbosten Vaters, aber auch er musste lachen.

Es gab zu essen und zu trinken, Kuchen, sogar Geschenke, Dinge, die man selbst machen oder irgendwo abstauben konnte, und manches war als Scherz gedacht: Socken, Seife, ein Taschenmesser, ein Kartenspiel, ein großer Strohhut, den Peter aufsetzte, damit alle etwas zu lachen hatten. Von Sara und Hollis bekam er einen Taschenkompass als Erinnerung an ihre gemeinsamen Reisen, aber Hollis drückte ihm auch eine kleine Stahlflasche in die Hand. »Dunks Neuester. Was Spezielles«, sagte er augenzwinkernd. »Und frag mich nicht, woher ich das habe. Ich habe immer noch Freunde in der Unterwelt.«

Als das letzte Geschenk ausgepackt war, überreichte Schwester Peg ihm einen großen Bogen Papier, zu einem Rohr zusammengerollt. Herzlichen Glückwunsch unserem Helden, stand darauf, als er ihn auseinanderrollte, und darunter drängten sich, teils lesbar, teils nicht, die Unterschriften aller Kinder aus dem Waisenhaus. Ein Kloß stieg ihm in die Kehle, und er umarmte die alte Frau, worüber sie beide überrascht waren. »Ich danke euch allen«, sagte er dann. »Allen, die ihr da seid.«

Es war kurz vor Mitternacht, als die Party zu Ende ging. Caleb und Kate waren auf Saras und Hollis’ Bett eingeschlafen, kreuzweise übereinander wie zwei junge Hunde. Peter und Sara setzten sich an den Tisch, während Hollis aufräumte.

»Was von Michael gehört?«, fragte Peter sie.

»Keinen Piep.«

»Machst du dir Sorgen?«

Sie runzelte jäh die Stirn und zuckte dann die Schultern. »Michael ist Michael. Die Sache mit dem Boot verstehe ich nicht, aber er wird tun, was er will. Irgendwie dachte ich, Lore würde ihn bändigen, aber damit ist es wohl aus.«

Peter hatte Gewissensbisse. Noch vor zwölf Stunden war er mit der Frau im Bett gewesen.

»Wie geht’s im Krankenhaus?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.

»Das ist ein Irrenhaus. Sie lassen mich Babys entbinden. Jede Menge Babys. Jenny ist meine Assistentin.«

Sara sprach von Gunnar Apgars Schwester, die sie im Homeland gefunden hatten. Mit dem ersten Evakuierungstransport war Jenny schwanger nach Kerrville gekommen und gerade rechtzeitig zur Entbindung eingetroffen. Vor einem Jahr hatte sie einen anderen Iowaner geheiratet, aber Peter wusste nicht, ob der Mann auch der Kindsvater war. Nicht selten wurde improvisiert.

»Es tut ihr leid, dass sie nicht kommen konnte«, sagte Sara. »Du bist irgendwie wichtig für sie.«

»Wirklich?«

»Für viele Leute, offen gestanden. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft man mich fragt, ob ich dich kenne.«

»Du machst Witze.«

»Entschuldige, aber hast du das Plakat nicht gelesen?«

Er zuckte verlegen die Achseln, aber insgeheim freute er sich. »Ich bin nur ein Zimmermann. Nicht mal ein besonders guter, wenn du die Wahrheit wissen willst.«

Sara lachte. »Wie du meinst.«

Die Sperrstunde war längst vorbei, aber Peter wusste, wie man der Streife aus dem Weg ging. Caleb öffnete kaum die Augen, als er ihn auf den Rücken nahm und sich auf den Heimweg machte. Er hatte den Jungen gerade ins Bett gebracht, als es an der Tür klopfte.

»Peter Jaxon?«

Der Mann, der vor der Tür stand, war ein Offizier mit den Epauletten der Expeditionstruppe.

»Es ist spät. Mein Sohn schläft. Was kann ich für Sie tun, Captain?«

Der Mann reichte ihm ein versiegeltes Blatt Papier. »Eine gute Nacht, Mr Jaxon.«

Peter schloss leise die Tür, schnitt das Wachssiegel mit seinem neuen Taschenmesser auf und faltete das Blatt auseinander.

Mr Jaxon,

darf ich Sie bitten, mich am Mittwoch um 08:00 Uhr in meinem Büro aufzusuchen? Mit Ihrem Vorarbeiter wurde vereinbart, dass Sie mit Verspätung an Ihrem Arbeitsplatz erscheinen werden.

Hochachtungsvoll,

Victoria Sanchez

Präsidentin, Republik Texas

»Dad, was wollte der Soldat an der Tür?«

Caleb war ins Zimmer gekommen und rieb sich die Augen mit den Fäusten. Peter las den Brief noch einmal. Was konnte Sanchez von ihm wollen?

»Nichts weiter«, sagte er.

»Bist du wieder in der Army?«

Er sah den Jungen an. Zehn Jahre alt. Er wuchs so schnell.

»Natürlich nicht.« Er legte den Brief zur Seite. »Und jetzt bringen wir dich wieder ins Bett.«

3

ROTE ZONEZehn Meilen westlich von Kerrville, TexasJuli 101 n. V.

Lucius Greer, der Mann des Glaubens, bezog seinen Posten auf der Plattform in der Stunde vor dem Morgengrauen. Seine Waffe: ein Repetiergewehr Kaliber .308 mit Kammerverschluss mit poliertem Holzschaft und einer optischen Zielvorrichtung, deren Linsen mit der Zeit milchig geworden, aber immer noch brauchbar waren. Er hatte nur noch vier Patronen; bald würde er nach Kerrville zurückkehren müssen, um neue zu kaufen. Aber jetzt, an diesem Morgen des achtundfünfzigsten Tages, zerbrach er sich darüber nicht den Kopf. Einen einzigen Schuss, mehr würde er nicht brauchen.

Ein zarter Nebel hatte sich in der Nacht über die Lichtung gelegt. Sein Köder – ein Eimer mit zerdrückten Äpfeln – stand ungefähr hundert Meter weit windwärts im hohen Gras. Lucius saß bewegungslos im Schneidersitz, das Gewehr auf dem Schoß, und wartete. Er hatte keinen Zweifel daran, dass seine Jagdbeute auftauchen würde. Der Duft von frischen Äpfeln war unwiderstehlich.

Um sich die Zeit zu vertreiben, sprach er ein schlichtes Gebet: Gott, du Herr des Universums, sei mir Hirte und Trost und gib mir Kraft und Weisheit, damit ich in kommenden Tagen deinen Willen tun kann, damit ich weiß, was du von mir verlangst, und damit ich des Auftrags würdig bin, den du in meine Hände gelegt hast. Amen.

Denn etwas stand bevor, das fühlte Lucius. Er fühlte es, wie er seinen eigenen Herzschlag fühlte, den Windhauch des Atems in seiner Brust, das Gerüst seiner Knochen. Der weite Bogen der menschlichen Geschichte näherte sich der letzten Prüfung. Wann die Stunde kommen würde, konnte man nicht wissen, aber sie würde kommen, und es wäre die Stunde der Krieger. Der Männer wie Lucius Greer.