Die Spur  − Er wird dich finden - Jan Beck - E-Book
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Die Spur − Er wird dich finden E-Book

Jan Beck

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Beschreibung

Spannend bis zur letzten Seite: Mit seinen rasanten Pageturnern schafft es Bestsellerautor Jan Beck, selbst eingefleischte Thriller-Fans zu überraschen.

3 Städte. 3 Opfer. Und nur 48 Stunden, um den nächsten Mord zu verhindern.


Mitten in Lissabon wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Der Anblick ist grotesk: Das Opfer wurde wie eine Statue drapiert. Wenige Tage später folgt ein weiterer grausamer Fund – diesmal am Kapitelplatz in Salzburg, und wieder trägt der Mord dieselbe Handschrift. Über zweitausend Kilometer liegen zwischen den beiden Städten, und doch scheinen die Opfer miteinander verbunden. Europols Topermittler Inga Björk und Christian Brand folgen der Spur des Killers, der noch lange nicht genug hat. Bald wird klar, dass die Taten mit einer einflussreichen Elite aus jungen Talenten zusammenhängen, die mitten in Europa agieren und deren Geheimnisse tödlich sind …

Entdecken Sie die Serie mit Suchtpotenzial! Eine fulminante Thrillerreihe, deren Bände Sie alle unabhängig voneinander lesen können.

Das Spiel – Es geht um dein Leben
Die Nacht – Wirst du morgen noch leben?
Die Spur – Er wird dich finden
Das Ende – Dein letzter Tag ist gekommen

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Seitenzahl: 447

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JAN BECK, 1975 geboren, ist das Pseudonym eines erfolgreichen deutschsprachigen Autors. Bevor er sich dem Schreiben widmete, arbeitete Jan Beck als Jurist. Seine Thriller Das Spiel und Die Nacht – die seine Leser tief in die Abgründe der menschlichen Seele blicken lassen – standen wochenlang auf der Bestsellerliste. Wenn Jan Beck nicht gerade schreibt, verbringt er seine Zeit in der Natur, besonders gerne im Wald.

Außerdem von Jan Beck lieferbar:

Das Spiel. Es geht um dein Leben. Thriller.

Die Nacht. Wirst du morgen noch leben? Thriller.

Jan Beck

Die Spur

Er wird dich finden

Thriller

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Copyright © 2022 by Penguin Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack

Redaktion: Verena Zankl

Covergestaltung: bürosüd

Covermotiv: www.gettyimages.de /Daniel Hernanz Ramos/www.buerosued.de

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28631-6V004

www.penguin-verlag.de

1Salzburg

Die Stadt lag unter einer bleiernen Decke aus Wolken gefangen. Feiner Regen drang unablässig aus dem Himmel und tünchte jedes Gebäude, jede Straße, jeden Menschen und jede Freude in eine dunklere Version ihrer selbst.

Die wenigsten Touristen wussten, dass dieser Regen einen eigenen Namen besaß. Salzburger Schnürlregen. Endlose, feine Schnüre aus Wasser, die mehr feucht als nass zu Boden fielen, unterstrichen die Melancholie, die abseits der Festspiele und des Tourismus oft in der Mozartstadt zu spüren war. Der Grund für die häufigen Niederschläge war weniger poetisch: Salzburg lag in einer Nordstaulage, in der sich Wolken länger hielten als anderswo, und so regnete es hier übers Jahr gerechnet doppelt so viel wie in der Bundeshauptstadt Wien.

Für die amerikanische Touristenfamilie, die sich früh am Morgen die Zeit bis zum Einchecken im Hotel vertreiben musste, war das Wetter einfach nur schlecht. Das Kind quengelte und wollte bespaßt werden, während die Eltern gegen ihre Müdigkeit ankämpften wie auch gegen die Desillusionierung, die sich bei der Ankunft an lange herbeigesehnten Reisezielen oft breitmachte. Man kannte das ja: Stand man erst einmal vor den weltberühmten Fotomotiven – dem Eiffelturm, den Pyramiden, der Akropolis oder an beschaulicheren Orten wie hier –, knipste man brav seine Bilder, während man insgeheim dachte: Und das soll alles sein? Salzburg war klein, überschaubar und wenig spektakulär, und der Regen verschlimmerte diesen Eindruck noch einmal.

Darüber hinaus zeigte sich die Stadt ihren Neuankömmlingen gegenüber nicht gerade von der freundlichsten Seite. Vor wenigen Minuten, als die Familie ihre Handgepäcktrolleys über den Residenzplatz schob, hatte eine Frau aus dem Fenster ihrer Wohnung nach unten krakeelt, sie sollten gefälligst mit dem Gepolter aufhören. Sie hatte sich angehört, als hätte sie Stimmbänder aus Stacheldraht. Leiser spazierten die drei unter ihren Regenschirmen weiter über den berühmten Domplatz zum Kapitelplatz, wo eine riesige goldene Kugel mit Männerfigur obendrauf – die Sphaera – ihre Aufmerksamkeit erregte.

Der kleine Sohn rannte aufgeregt darauf zu. Längst war er patschnass, weil er den Schirm mehr zum Spielen verwendete als zum Abhalten des Regens, aber das schien ihm nichts auszumachen. Er stellte sich zur Kugel und sah erwartungsvoll zu den anderen zurück.

Der Vater holte sein Handy heraus und machte ein Foto vom Sohn mit Goldkugel, aber auch von dem verwitterten Freiluftschach direkt daneben, wo ein einsamer Straßenkünstler dem Regen trotzte. Er mimte die Spielfigur des Königs und schimmerte von Kopf bis Fuß golden, genau wie die riesige Kugel schräg über ihm. Nur an den Augen sah man, dass es ein echter Mensch war und kein Teil eines Gesamtkunstwerks. Er verharrte still auf seinem Podest, umgeben von anderen kniehohen Spielfiguren, die sich in der Grundaufstellung befanden. Der Schachkönig sah aus, als wollte er jeden Moment das Spiel eröffnen.

Das Kind beschäftigte sich noch ein wenig länger mit der wesentlich spektakuläreren Goldkugel, bis der Vater es drängte, sich auch mal auf das Schachbrett zu stellen. Anfangs zierte sich der Kleine noch. Dann, unter sanftem Zureden der Mutter, spazierte er unter seinem Schirmchen zum Schachbrett hin, aber nicht zum goldenen König, sondern auf die gegnerische Seite mit den weißen Spielfiguren.

Der Vater lief um das Schachbrett herum und legte seinen Schirm weg, um mit beiden Händen filmen zu können. Ein altes Pärchen, das die frühmorgendliche Ruhe und den Regen für einen Spaziergang nutzte, blieb stehen und sah ihnen zu. Der Kleine, sichtlich motiviert von der plötzlichen Aufmerksamkeit, hob einen weißen Bauern hoch und stellte ihn zwei Felder weiter ab. Direkt neben seiner Spielfigur blieb er stehen und wartete darauf, dass der König den nächsten Zug machte. Als dieser nichts tat, sah er unsicher zu seinem Vater zurück, der den Daumen hochreckte und ihn mit einer kreisenden Handbewegung zum Weitermachen animierte. Die Alten lachten und sagten etwas zum Vater, das dieser nur mit höflichem Nicken quittieren konnte.

Alle warteten auf eine Regung. Der Kleine tappte ungeduldig mit dem rechten Fuß in eine Pfütze und gestikulierte theatralisch. »It’s your turn!«, rief er dem König zu. Der Vater lachte, verwackelte kurz das Bild und suchte den Blickkontakt zu seiner Frau, die ebenso entzückt zu sein schien wie er, bevor er sich wieder auf die Aufnahme konzentrierte.

Schließlich wurde es dem Knaben zu bunt. Er verließ seine Position und trat an den goldenen König heran, ohne sich um das Spielfeld oder die anderen Figuren zu kümmern. Er hob seine Hand und zupfte am Mantel des Königs, zuerst leicht, dann fester, doch der Mann wollte sich immer noch nicht rühren.

Der Kleine ließ nicht locker. Er legte den Schirm weg, sah durch den Regen nach oben und zerrte nun mit beiden Händen am Schachkönig – bis seine Mutter plötzlich rief, er solle damit aufhören. Spätestens an ihrem Tonfall konnte man erahnen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

Der Straßenkünstler wankte. Das amerikanische Touristenkind blieb stehen. Der Vater filmte weiter, während die Mutter ihren Schirm fallen ließ und losrannte, aber zu weit entfernt war, um noch rechtzeitig eingreifen zu können.

Der goldene Schachkönig kippte, stürzte von seinem Sockel und begrub das Kind unter sich.

2Paris

Liv Persson, Banque Parisienne

Sie war jetzt die heißeste Aktie der Stadt. Sie wusste es und erkannte es zugleich in den Blicken der anderen. In der Bewunderung. Der Unterwürfigkeit.

Dem Neid.

Binnen weniger Monate hatte sie geschafft, was ihre vorwiegend männlichen Kollegen in ihrer gesamten Karriere nicht erlebten. Was die erlebten, waren graue Haare, Scheidungen und Herzinfarkte.

Liv hingegen war jung, gesund, attraktiv und das größte Talent, das der Pariser Finanzplatz je gesehen hatte. Obwohl sie erst seit einem knappen Jahr in der Banque Parisienne arbeitete, standen ihr nun alle Türen offen. Morgen früh würde sie eine Gehaltserhöhung fordern, die ihren Vorgesetzten garantiert Schweißausbrüche bescherte. Aber das kümmerte sie nicht. Bei dem Gewinn, den die Bank dank ihrer Arbeit absahnte, war selbst das Dreifache ihres bisherigen Gehalts ein Schnäppchen.

Liv schluckte den Champagner und verbarg das Grinsen, das sie kaum noch loswurde, seit sie es ihren Konkurrenten in Frankfurt so richtig gezeigt hatte, vor ein paar Stunden erst. Mehrere internationale Bankhäuser hatten sich im Wettrennen um einen Riesendeal gegenseitig überboten, bis am Ende nur noch sie und die Frankfurter übrig gewesen waren. Doch Liv hatte dank ihres brandneuen Berechnungssystems den Fisch an Land gezogen, der die Banque Parisienne – und mit ihr den ganzen Finanzplatz Paris – auf ein völlig neues Level hob.

Dabei erinnerte sie sich noch gut an die Enttäuschung, als der Brexit sie vor wenigen Jahren nicht in die Mainmetropole, sondern an die Seine geführt hatte. Genauer gesagt, nach La Défense, jenem ultramodernen Hochhausviertel, in dem auch die Banque Parisienne ihren verspiegelten Elfenbeinturm hochgezogen hatte. Paris war eines der großen europäischen Finanzzentren, reichte aber lange nicht an Frankfurt oder London heran. Paris war eine B-Adresse und die Karriere schnell auf dem Abstellgleis. Man musste mit Leistung auf sich aufmerksam machen.

So wie Liv. Sie wettete, dass man die Erschütterungen ihres Erfolgs noch an der Wall Street in New York spüren konnte. Und sie wusste, dass sich nun alles lohnen würde. Die Jahre in Bologna. Der Eintritt in die internationale Bankenwelt, gegen den Protest ihres Vaters, der die Finanzindustrie verabscheute. Die harte Arbeit.

Und, niemals zu vergessen, der unerwartete Rückenwind.

Die anonymen Briefe …

»Je vous félicite«, sagte ein Mann mit schütterem Haar, der plötzlich neben ihr auftauchte. Er stieß seine Sektflöte aufdringlich an ihre, stellte sich als Antoine Irgendwas aus dem Private Banking vor und überflutete sie mit seinem Französisch. Liv hatte ihn noch nie gesehen. In seinen Augen erkannte sie Bewunderung und Neid, und ganz bestimmt träumte er gerade von einem heißen Tête-à-Tête mit jener Frau, die soeben drei Schritte auf der Karriereleiter auf einmal genommen hatte. Sie zwang sich zu einem Lächeln, beeilte sich dann aber, ihn wieder loszuwerden, indem sie zwei Vorstandsmitglieder ansteuerte.

Eine knappe Stunde später saß sie im Taxi nach Hause. Draußen vor der Banque Parisienne hatte sich der viele Champagner bemerkbar gemacht, wie meistens an der frischen Luft. Zum Glück hatte niemand gesehen, wie sie einen Moment lang um ihr Gleichgewicht kämpfen musste. Keiner außer diesem aufdringlichen Antoine. Er hatte ihr aufgelauert, als sie das Gebäude verlassen wollte. Mit Dutzenden Glückwünschen und vollmundigen Versprechungen im Gepäck, hatte sie gar nicht mehr an den aufdringlichen Franzosen gedacht, der sie plötzlich am Arm gepackt hatte, um sie zu stützen. Beinahe hätte sie ihm mit der Polizei gedroht. Aber dann war zum Glück das Taxi gekommen.

Liv sehnte sich nach einer heißen Dusche. Auf der A86 waren es nur wenige Minuten bis zu ihrem kleinen Haus in La Celle-Saint-Cloud. Sie hatte noch nie in einer Wohnung gelebt und schätzte es, wenn die eigenen vier Wände wirkliche Wände und nicht bloß dünne Raumtrenner waren, weshalb sie sich gegen das Pariser Stadtzentrum und für den Vorort hier entschieden hatte. Außerdem liebte sie die Natur und wollte zumindest die Idee von Weite um sich herum haben.

Natürlich war auch das Geld ein Grund gewesen, weswegen sie hier im Vorort lebte. Selbst als Spitzenmathematikerin einer französischen Großbank verdiente man nicht annähernd genug, um sich das Leben in Nobelvierteln wie Saint-Germain-des-Prés oder Marais leisten zu können. Jedenfalls nicht so, wie man sich ein Leben in Paris vorstellte.

Vorbei, rief sie sich in Erinnerung, und eine Welle des Glücks wogte durch ihren Körper. Bald konnte sie sich alles leisten. Ein ganzes Loft. Oder besser noch, eine Villa mit ausreichend Grün drumherum. Eine Landwirtschaft brauchte sie nicht mehr – davon hatte sie als Kind mehr als genug gehabt. Vor allem vom Stallgeruch, den sie für immer hinter sich lassen wollte.

Ihre Eltern zu Hause in Schweden würden ihren Erfolg weder verstehen noch einzuordnen wissen. Aber das machte nichts. Sie waren einfache Leute mit einfachen Problemen – gerade, ehrlich und zu stolz, um fremde Hilfe anzunehmen, selbst damals, als der Hof nach einem Brand vor dem Ruin gestanden hatte.

Liv seufzte, wenn sie daran dachte, dass sie solche Dinge bald mit einem Fingerschnipp regeln konnte. Sie sah in die leeren Straßen hinaus, in den schwarzen Himmel ohne Sterne, in die Welt, die nun ihre sein sollte.

Was würde sie weiter erwarten? Wo würde sie wohnen, wen lieben und wie das Leben auskosten, das ihr jetzt offenstand? Sie hätte es zu gerne gewusst.

Wenig später ließ das Taxi sie im Dunkel der kleinen Seitenstraße zurück, in der ihr Häuschen lag. Sie war zweihundert Meter früher ausgestiegen, um sich noch etwas die Beine zu vertreten. Wie üblich schlief die Gegend hier schon tief und fest, weshalb sie ihre Pumps auszog und barfuß ging.

Der Straßenbelag war kühl. Irgendwo raschelte etwas, und Grillen zirpten, doch im Großen und Ganzen war die Umgebung wie tot. Liv packte die Schuhe in ihre Tasche, holte die Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Weil ihr plötzlich danach war. Sie hatte eigentlich aufgehört und die Packung bloß noch bei sich, weil der Entwöhnungsratgeber sie dazu angehalten hatte. Jetzt, mit der brennenden Kippe zwischen den Lippen und dem beißenden Rauch in ihrer Lunge, kam ihr das Abgewöhnen dämlich vor. Sie war jetzt eine Gewinnerin, und Gewinnerinnen taten, wonach ihnen war …

Plötzlich sah sie ihren eigenen Schatten vor sich auf der Fahrbahn. Ein Motor startete. Dann rollte ein Fahrzeug an, das sie vor Kurzem passiert hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemanden darin gesehen zu haben. Auch hatte sie keine Autotür gehört. Oder hatte sie bloß nicht darauf geachtet? Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie schon fast lief.

Der Fahrer schaltete in den zweiten Gang und gab viel zu viel Gas für die verschlafene Gegend. Liv suchte nach Fluchtwegen und fand keine. So ländlich die Gegend auch sein mochte, die Zäune und Mauern waren massiv und die Hecken zu dicht, als dass sie hätte hindurchschlüpfen können.

Das Fahrzeug war fast da. Nun lief sie wirklich. Sie warf die Zigarette weg und packte die Tasche mit beiden Händen, um schneller vorwärtszukommen. Sie sah ihr Haus, doch sie würde es nicht schaffen. Sie wollte schreien und konnte es nicht. Im letzten Moment sprang sie hinter einen alten, hölzernen Leitungsmast, der viel zu schwach wirkte, um einen Wagen stoppen zu können, presste ihren Rücken an eine Steinmauer, zwängte die Lider zusammen und erwartete den Einschlag …

… der nicht kam.

Das Auto raste an ihr vorbei und beschleunigte weiter, und ehe sie sich das Kennzeichen oder Fabrikat hätte merken können, war es schon fort. Zurück blieben nur Stille, zu wenig Luft und ein Herz, das viel zu schnell trommelte.

Dummkopf, dachte sie, während sie die letzten paar Meter zu ihrem Haus ging und sich plötzlich wieder völlig nüchtern fühlte.

Sie hatte zu viele Krimis gesehen. Schnellen Autos lief man nicht davon, man wich ihnen aus. Weil in der Wirklichkeit keine Mörder darin saßen, sondern dumme Jungs mit zu viel Testosteron in ihrem Blut. Unvermittelt fühlte sie sich wieder wie das schüchterne schwedische Bauernmädchen, das sie mal gewesen war, bevor das Internat und später die Briefe ihr gesamtes Leben umgekrempelt und ganz neue Türen aufgestoßen hatten.

Liv schloss ihre Haustür auf und stellte die Tasche am Eingang ab. Ohne Licht anzumachen, ging sie ins Badezimmer, das zwei Türen weiter lag, drehte, immer noch im Dunkeln, den Heißwasserhahn auf und hörte dem Rauschen zu, bis ihr Puls wieder auf einer normalen Frequenz war. Dann streifte sie ihren Rock ab und die Strumpfhose, zog die Bluse aus, den BH und den Slip und löste die Haarklammer, bevor sie sich unter den Wasserstrahl stellte, der so heiß war, dass er andere in die Flucht getrieben hätte. Ihr hingegen konnte es kaum jemals zu heiß sein. Sie ließ mit geschlossenen Augen das Wasser auf sich prasseln, bis auch der letzte Rest von Anspannung fortgespült war.

Sie drehte den Hahn ab und spürte den Dampf, der sie umgab wie in der türkischen Sauna. Bleierne Schwere erfasste sie. Sie wollte sofort ins Bett, ohne Föhnen, ohne Zähneputzen, ohne Nachthemd.

Als sie ihre Augen öffnete, erstarrte sie.

Weil sie etwas sah.

Etwas, das in ihrem Badezimmer stand. Ohne hierherzugehören. Sie sah es bloß, weil eine fahle Straßenlaterne durchs Fenster leuchtete und seine Umrisse zu erkennen gab. Das Ding war mannshoch und rührte sich nicht. Livs Verstand suchte nach einer harmlosen Erklärung. Sie dachte an etwas, worüber sie unachtsam ihre Kleidung gehängt hatte. Etwas, das sie vor Kurzem hier abgestellt hatte und jetzt in der Dunkelheit ganz anders aussah. Doch da war nichts.

Außer einem Menschen.

Aber niemand gehörte in diese Wohnung. Nur sie.

Liv rührte sich nicht. Atmete nicht einmal. Sie war das Beutetier, das sich tot stellte und hoffte, dass man es nicht fand.

Doch diese Hoffnung war absurd. Jemand stand in ihrem Badezimmer, sie war nackt und schutzlos, und zwischen ihnen lag nur eine Scheibe aus dünnem Glas.

»Was wollen Sie?«, sagte sie mit brüchiger Stimme und klang ganz wie das Opfer aus einem billigen Horrorfilm. Hätte Panik nicht längst ihr Bewusstsein geflutet, hätte sie sich dafür geschämt.

»Qu’est-ce que vous voulez?«, stieß sie aggressiver aus, während sie darüber nachdachte, ob ihr nicht doch jemand einfiel. Aber da war niemand. Kein Freund, kein Ex-Freund, kein Angehöriger, der einen Schlüssel gehabt hätte, und auch keine Nachbarn. Das hier war ihr Platz. Ihrer allein.

Der Weg an die Spitze ist einsam, fiel ihr eine passende Weisheit ein, unmittelbar gefolgt von der nächsten. Sie war das Letzte, woran Liv dachte, bevor die fremde Gestalt sich regte.

Alles hat seinen Preis.

3Den Haag

Inga Björk, Europol

Björk staunte nicht schlecht, als sie Christian Brands Adresse in der Stille Veerkade fand, die in unmittelbarer Nähe des kunstvollen Eintrittstors nach Chinatown lag. Das Wohnhaus überragte seine Nachbarn gleich um mehrere Geschosse. Es wirkte, als sei es – vornehm ausgedrückt – organisch gewachsen. Als hätten sich Architekten unterschiedlicher Herkunft, Epochen und Preisklassen aneinander abgearbeitet und am Ende doch die Chinesen gewonnen.

Dass Brand sich ausgerechnet hier eingemietet hatte und auf die angebotene Dienstwohnung in einem nobleren Stadtteil verzichtete, war typisch für ihn. Die Kunst ließ ihn nicht los. Es war fast, als wollte er Gott und der Welt zeigen, dass die Kunst seine wahre Berufung war, während er als Polizist bloß seine Brötchen verdiente.

Björk trat an die Klingeltafel heran, an der vorwiegend chinesische Namen geschrieben standen. Brands Knopf suchte sie vergebens. Und selbst wenn sie ihn gefunden hätte, wäre sie nicht schlau geworden, wie sie in das Gebäude hineinkommen sollte. Die einzige Tür, die es gab, führte direkt in einen Salon für Fußpflege, der sonntags geschlossen war.

»Brand«, grummelte sie und legte den Kopf in den Nacken, wobei sie eine Frau entdeckte, die gerade ein Tuch aus dem Fenster hielt und ausschüttelte. Als sich ihre Blicke trafen, schien diese kurz zu erschrecken. Sie machte eine entschuldigende Geste, gefolgt von einer weiteren, die bestimmt bedeuten sollte, den Klingelknopf zu drücken und hineinzugehen.

Björk nahm ihre Sonnenbrille ab und zuckte mit den Schultern, worauf die Frau etwas auf Chinesisch herunterrief und Björk bloß den Kopf schütteln konnte.

»Brand?«, rief sie aus einem spontanen Impuls heraus. »Christian Brand?«

Die Frau überlegte. Dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf, und sie deutete aufgeregt nach oben, was vermutlich hieß, dass Brand über ihr wohnte. Womit immer noch nicht geklärt war, welchen Knopf Björk drücken und wie sie hineinkommen sollte. Die Frau verschwand in ihrer Wohnung.

Als Björk schon kehrtmachen wollte – der Überraschungsbesuch war ihr mittlerweile zu ulkig geworden –, summte die Tür. Björk zog sie auf und betrat den Pediküresalon, in dessen hinterer rechter Ecke die Attrappe einer Überwachungskamera hing. Sie schritt zwischen Hochstühlen, Waschbecken und jeder Menge Dekoration hindurch, immer noch unsicher, wie es denn nun weiterging – als sie im hinteren Bereich des Salons das muffige Treppenhaus entdeckte.

Backstein und billige Fliesen, großteils gesprungen oder scharfkantig abgesplittert, entsprachen Björks erstem Eindruck vom Gebäude. Sie stieg hinauf und hörte ein Radio mit Chinapop. Ein Bewohner schnatterte etwas, ein anderer schnatterte zurück. Alle Türen waren geschlossen, an keiner stand Brands Name, und niemand ließ sich im Treppenhaus blicken. Auch an der letzten Tür stand kein Name.

Björk reichte es. Sie hatte sich extra die Zeit genommen und sogar noch etwas für Brand besorgt. »Kommen Sie mal vorbei«, hatte er gesagt, und es hatte nicht wie die übliche Floskel geklungen, die man so dahinsagte und wo man gleichzeitig wusste, dass es nie passieren würde. Doch hätte er es wirklich ernst gemeint, hätte er ihr wohl irgendeinen Hinweis gegeben, wie sie denn bei ihm vorbeikommen sollte.

Es war der Geruch frischer Farbe, der sie vor der obersten Wohnungstür innehalten ließ. Renovierungsarbeiten hielt sie für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher war, dass Brand gerade malte, sie also tatsächlich vor seiner Wohnungstür stand.

Sie hob ihre Hand und wollte klopfen, als sie sich im letzten Moment zurückhielt und mit ihrer Hand den Messingknauf der Tür umschloss. Eine kleine Revanche musste sein. Sie drehte den Knauf und drückte leicht.

Offen.

Sie machte die Tür nur so weit auf, dass sie mit ihrem Einstandsgeschenk hindurchschlüpfen konnte, und schloss sie wieder. Bestimmt hatte er nichts gehört.

Dafür hörte sie etwas. Pinselstriche auf Leinwand, irgendwo in der Wohnung. Vom Gang gingen mehrere Räume ab, deren Türen alle offen standen. Überall lehnten Bilder, und der Geruch nach Farbe war jetzt beißend.

Björk trug Sneakers, mit denen sie geräuschlos vorwärtskam. Dennoch zwang sie sich, langsam zu machen. Man konnte schließlich immer einen Punkt erwischen, an dem eine Holzdiele knarzte.

Sie betrachtete die Bilder bloß aus dem Augenwinkel, den Blick starr nach vorne gerichtet, auf das Geräusch der Pinselstriche zu. Brands Malereien waren immer noch düster. Als Kunstbanausin konnte Björk sie keiner bestimmten Stilrichtung zuordnen. Immerhin erkannte sie, dass Brand ausschließlich Acrylfarben verwendete und diese auch mal dick auftrug. Genau wie auf jenem Bild, das er von ihr gemalt hatte, nackt, mit ihrem riesigen Baumtattoo, das er so gut getroffen hatte, obwohl er es in der lebensgefährlichen Situation ein paar Tage zuvor nur kurz gesehen haben konnte … Sie verbot sich jeden weiteren Gedanken daran. Was war, das war. Außerdem existierte das Bild nicht mehr. Aber wenn Malen Brand half, seine Dämonen loszuwerden, dann war es eben so.

Seit er ebenfalls in Den Haag lebte und arbeitete, hatten sie sich erst ein paarmal gesehen. Meist nur kurz, in einem der Gänge oder vor der Zentrale von Europol, und immer war es bei Small Talk geblieben. Weitere gemeinsame Einsätze hatte es bisher nicht gegeben. Strukturierte Serienverbrechen waren rar, weshalb Brand und sie ihre Dienstzeit kleineren Fischen widmeten, nach denen sie getrennt voneinander angelten.

Eine Zeit lang war Björk nicht unglücklich darüber gewesen. Ihr letzter Fall hatte viel größere Kreise gezogen, als ihr lieb gewesen war. Mehrere große Printmedien hatten Brand und sie ungefragt zur großen Story gemacht und sie als das knallharte Europol-Erfolgsduo hochstilisiert, mit Fotos aus Pressekonferenzen und anderen Schnappschüssen bebildert. Natürlich hatten sie auch Björks optische Auffälligkeit erwähnt, die sie nicht zuletzt ihren Tattoos zu verdanken hatte. Zwar hatten Brand und sie Interviews und Fotoshootings abgelehnt, weil es selten ratsam war, als Ermittler ins Rampenlicht zu treten, aber gegen Berichterstattung im öffentlichen Interesse war kein Kraut gewachsen und gegen kreative Journalisten auch nicht. Erst in den letzten Wochen hatte sie gespürt, dass sie den Nervenkitzel zu vermissen begann, was möglicherweise auch dazu geführt hatte, dass sie hier und heute in Brands Wohnung war.

Immer noch sah sie ihn nicht. Dann räusperte er sich, hustete. Björks Mundwinkel gingen unwillkürlich nach oben. Sie holte tief Luft für eine lockere Begrüßung, als sie erneut innehielt.

Er war nicht allein.

Mit Björks letzten Schritten offenbarte sich eine Frau. Asiatisch anmutend und splitterfasernackt, mit seidigem, pechschwarzem Haar. Ihre Haut war hell und makellos. Alles an ihr war makellos. Sie stand ihm Modell und saß dazu auf einem drehbaren Schemel, den Blick seitlich nach unten gerichtet, die Arme locker in den Schoß gelegt. Sie wirkte wie eine Schaufensterpuppe und schien doch vor Leben zu strotzen. Die Sonne, die durchs Dachfenster schräg einfiel, ließ ihren Körper erstrahlen wie den einer Göttin.

Brand stand mit dem Rücken zu Björk, wodurch sie seine Arbeit betrachten konnte. Er malte schnell und intensiv, wobei Motiv und Umsetzung nicht viel miteinander zu tun hatten.

Erneut wollte Björk auf sich aufmerksam machen – erneut tat sie es nicht. Weil die junge Frau sie plötzlich unverhohlen anstarrte. Einen Moment lang schien ihr Blick Björk durchbohren zu wollen, bevor er an ihr hinabwanderte, an ihr und ihren Tattoos, die sich nie ganz von der Kleidung verdecken ließen. Dann lächelte sie, und fast wirkte es triumphierend, bevor sie wieder entrückt in die Ferne sah. Brand schien nichts davon mitzubekommen.

Mehrere Minuten lang ging alles so weiter. Brand malte, das Aktmodell saß still, und Björk beobachtete die beiden ohne Scham. Sie wollte warten, bis Brand eingefangen hatte, was er einzufangen suchte. Sie hatte keine Eile. Wenn die Frau weg war, hatten sie alle Zeit der Welt.

Da räkelte sich das Modell plötzlich und gähnte.

»Brauchst du eine Pause, Mailin?«, fragte Brand. Seine Stimme klang sanfter, als Björk sie in Erinnerung hatte.

»Nein«, sagte Mailin langgezogen, erhob sich dennoch und ging zu ihm hin. Björk bewunderte ihre geschmeidigen Bewegungen. Mailin legte die flache Hand an Brands Seite. »Ich brauche dich«, säuselte sie ihm ins Ohr. Kurz sah sie noch einmal zu Björk zurück – wieder mit diesem Ausdruck, in dem Triumph geschrieben stand, der Sieg des Makellosen über das Gezeichnete, das Björk repräsentierte.

Als Mailin ihren Kopf drehte und die Nase an Brands Wange legte, ihr nackter Körper nur Zentimeter von seinem, zog Björk sich lautlos zurück und ging.

Erst unten vor dem Haus fiel ihr auf, dass sie ihr Einstandsgeschenk immer noch in Händen hielt. Sie drückte es dem nächstbesten Menschen in die Hand, der so aussah, als könnte er es gebrauchen.

4Unbekannter Ort

Liv Persson, Banque Parisienne

Sie war wach und doch wieder nicht. Ihr war kalt. Ihr Kopf fühlte sich an, als wollte er jeden Moment explodieren. Ihr rechter Fuß schmerzte. Sie hustete und hatte Mühe, anschließend genug Luft in ihre Lunge zu bringen.

Sie erinnerte sich sofort wieder, was geschehen war. Der Triumph. Die Feier in der Bank. Das Taxi und das Auto, vor dem sie davongelaufen war.

Die Gestalt in ihrem Badezimmer.

Die Gestalt, die sie gepackt und aus der Duschkabine gerissen hatte. Sie hatte noch versucht, sich zu wehren, doch all die Selbstverteidigungskurse, die sie auf Situationen wie diese hätten vorbereiten sollen, erwiesen sich schnell als nutzlos.

Sie hatte sein Gesicht erwischen wollen, die Nase, dann seine Weichteile, doch ihre Schläge waren wieder und wieder ins Leere gegangen, bevor der Mann sie einhändig wie eine Puppe umklammert und ihr mit der anderen Hand etwas aufs Gesicht gedrückt hatte, bei dem sie sofort an Chloroform denken musste. Instinktiv hatte sie den Atem angehalten und sich weiter gewehrt. Sie hatte mit den Fersen nach hinten getreten und bloß die scharfkantige Ecke der Badewanne getroffen. Sie hatte geschrien und sich aufgebäumt, die Wirbelsäule gekrümmt und sie wieder gestreckt, doch nichts half gegen die Urgewalt ihres Angreifers. Sie hatte gewusst, dass das Betäubungsmittel früher oder später seine Wirkung entfalten würde. Weil man nicht einfach so zu atmen aufhören konnte. Reflexe waren stärker als jeder Wille. Sie hatte noch versucht, sich betäubt zu stellen. Es hatte nicht geklappt.

Sie wollte ihren Kopf heben, aber die Schmerzen ließen es nicht zu. Außerdem war etwas um ihren Hals gebunden, das sie sofort würgte. Sie versuchte hinzugreifen, um es zu lockern. Doch sie konnte die Hände nicht frei bewegen – auch sie waren fixiert.

Liv lag auf einer harten, schmalen Fläche, die gegen ihre Wirbelsäule drückte. Sie überlegte, kam aber auf keinen Gegenstand in ihrem Haus oder rundum, keine Mauer und keinen Tisch, der dazu gepasst hätte.

Sie öffnete die Augen und kniff die Lider gleich wieder zusammen, weil es viel zu hell war.

»Hallo?«, krächzte sie.

Keine Antwort.

Seitlich zischte etwas. Liv drehte ihren Kopf nach links und spähte zur Quelle des Geräuschs. Zuerst sah sie nichts. Dann, langsam, wurde das Bild schärfer. Sie erkannte einen großen, dunklen Topf. Darunter standen gleich mehrere Gasbrenner.

Sie drehte den Kopf auf die andere Seite und bemerkte, dass ihre rechte Hand nach oben gestreckt an ein Gestell gebunden war. Sie versuchte, ihre Beine anzuheben, und wusste, dass es aussichtslos war.

Sie war gefesselt. An ein Metallgestell.

»Nein!«, schrie sie mit aller Kraft. Ihre Stimme klang so schrecklich, wie ihr Hals sich anfühlte.

»Sch, sch, sch!«, kam es von irgendwoher. Es musste der Angreifer sein. Sie suchte nach ihm, doch sah ihn nirgendwo.

»Hallo? Bitte … Was wollen Sie von mir?«, krächzte sie, und das Gleiche noch mal auf Französisch.

Keine Antwort.

»Mir ist kalt!«

Da polterte es links von ihr.

Sie riss den Kopf herum und sah den schwarzen Topf, der sich langsam in ihre Richtung bewegte, begleitet vom Rasseln einer Kette und Abrollgeräuschen. Das Gefäß musste an der Decke aufgehängt sein. Direkt über ihrem Gesicht blieb es stehen.

Dann kippte es. Langsam.

Ein einzelner, silbrig glänzender Tropfen kroch an der Außenseite des Topfs herunter, verharrte, wurde größer und löste sich, beschleunigte im freien Fall, traf schwer auf Livs Wange und brannte sich zischend in ihre Haut. Die Schmerzen nahmen ihr den Atem.

Liv versuchte zu schreien. Aber es ging nicht mehr.

Das Letzte, was sie in ihrem Leben sah, war ein Schwall brodelnden Zinns.

Erster Tag der Ermittlungen

5

Christian Brand, Europol

Brand fuhr mit der Straßenbahn zum Europol-Hauptgebäude in der Eisenhowerlaan 73, wo er nun schon seit einem guten halben Jahr arbeitete. Er nahm die Tram nur an Regentagen wie heute, während er sonst mit dem klapprigen Drahtesel unterwegs war, der in der Miete seiner Wohnung in Chinatown inkludiert war. Per Fahrrad kam er genauso schnell in die Arbeit wie mit dem Auto, das er nicht besaß, und war um einiges schneller als mit den Öffis. Holland war ein Fahrradparadies. Aber nicht nur deshalb kam ihm das Leben hier angenehmer vor als in Österreich. Mit etwas Aufgeschlossenheit und frei von den Schatten seiner Vergangenheit fand er es geradezu leicht.

Und es beflügelte seine Kreativität. Nie zuvor hatte Brand so viele Bilder in so kurzer Zeit gemalt, nie zuvor hatte er so viele davon behalten, statt sie gleich wieder zu übermalen oder in die Tonne zu kippen. Schon in wenigen Tagen würde er hier in Den Haag seine allererste Ausstellung haben. Brand war deswegen seit Wochen nervös. Er arbeitete in jeder freien Minute, verzichtete oft aufs Essen und zweifelte an sich selbst – besonders wenn er an die alten Meisterwerke dachte, von denen er hier in Holland geradezu umzingelt war. Er hoffte bloß, das Vertrauen nicht zu enttäuschen, das ein lokaler Kunstliebhaber in ihn setzte, indem er die Ausstellung ermöglichte.

Dabei war Brand froh, etwas zu haben, was ihn forderte. Die Arbeit bei Europol tat es nämlich nicht. Verbindungsbeamter für taktische Unterstützung in den Partnerländern war die Stelle betitelt, die man extra für ihn geschaffen hatte. Tatsächlich ließen sich Brands Einsätze pro Monat an einer Hand abzählen. Manchmal sprang er kurzfristig als Personenschützer ein, wenn die holländischen Polizeikräfte ausgelastet waren. Hin und wieder wollte man jemanden von Europol bei europäischen Behördentreffen dabeihaben – und wenn es nicht gerade wichtig war, schickte man Brand, der über die Ineffizienz mancher Einrichtungen staunte und langsam glaubte, dass die opulenten Buffets der eigentliche Grund waren, weshalb man sich traf.

Für diesen Tag stand überhaupt nichts auf Brands beruflicher To-do-Liste. Er würde wohl den Schulungskatalog durchgehen, aus dem er passende Fortbildungen aussuchen sollte. Drei Viertel davon hätte er jederzeit selbst abhalten können. Um den Rest, der sich um Verhandlungstaktik, Krisenintervention und ähnlichen Kram drehte, machte er lieber einen großen Bogen. Schon als Einsatzbeamter der österreichischen Spezialeinheit Cobra war er ein Mann fürs Grobe gewesen, und er hatte nicht die Absicht, sich zum Feinmotoriker umschulen zu lassen.

»Statenplein«, schepperte die automatische Ansage aus den Lautsprechern der Tram. Brand drückte den Halteknopf, trat in den strömenden Regen hinaus und lief die letzten dreihundert Meter zu Fuß zur Arbeit.

Anderthalb Stunden später hätte sein Tag nicht unterschiedlicher aussehen können. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, fünftausend Meter über Deutschland, im kleinen Privatjet von Europol, der vor wenigen Minuten in Rotterdam gestartet war. Brand blickte auf die geschlossene Wolkendecke unter sich und fragte sich, was er hier machte.

»Also?«, sagte er und schloss die Sonnenblende seines Fensters.

Inga Björk, die ihn ungeduldig am Flughafen erwartet hatte, wirkte angespannt und genervt. Genau wie in den ersten beiden Einsätzen an ihrer Seite. Wie damals übertrug sich die Stimmung sofort auf ihn selbst.

»Hallo? … Björk?«

»Wir könnten längst in Salzburg sein«, sagte sie, ganz in ihren Laptop vertieft.

»Salzburg? Wozu?«

Bisher wusste er nur, dass es einen neuen Einsatz in Österreich gab, für den er angefordert wurde. Salzburg war neu. Die Stadt lag nur eine gute Stunde Fahrtzeit vom Hallstätter See entfernt, wo Brand aufgewachsen war und wo nach wie vor seine gesamte Verwandtschaft lebte. Was prompt sein schlechtes Gewissen weckte. Seit der Hochzeit seiner Schwester war er nicht mehr dort gewesen. Wenn er noch mehr Zeit vergehen ließ, würde seine Mutter eines Tages bei ihm in Den Haag auf der Matte stehen und eine Erklärung verlangen, die er ihr nicht geben konnte.

»Wozu Salzburg? … Björk, hallo?«, bestand er auf eine Reaktion.

Sie antwortete nicht, sondern starrte bloß in ihren Computer, der zu ihr gehörte wie die blonde Stehfrisur und die helle hochgeschlossene Kleidung, unter der sich das riesige pechschwarze Baumtattoo verbarg, das ihren ganzen Körper überzog.

Brand hatte sich die Zusammenarbeit mit ihr ganz anders vorgestellt. Wie so vieles, als er sich für Den Haag entschieden hatte. Zwar war von Beginn an klar gewesen, dass Björk und er in unterschiedlichen Abteilungen arbeiten und nur bei Bedarf zusammengespannt würden. Aber dass dieser Bedarf monatelang auf sich warten lassen würde und Björk es obendrein nicht mal der Mühe wert fand, sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen – nach allem, was er für sie riskiert hatte –, hätte er nicht erwartet. Er hatte sie schon mehrmals zu sich eingeladen und sich auch sonst bemüht, den Kontakt nicht abbrechen zu lassen, doch bisher war es stets vergebens gewesen.

»Soll der ganze Mist jetzt wieder von vorne losgehen?«, provozierte er sie weiter. Er hatte keine Lust auf den nächsten dienstlichen Blindflug, der mit Riesenkrach und Medienzirkus endete, in seinem Fall sogar mit Krankenhaus. Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten, wie er es in der Therapie bestimmt zehntausendmal gemacht hatte, und streckte die Finger wieder aus.

Endlich sah sie von ihrem Laptop auf. »Wir könnten längst in Salzburg sein, wenn Sie Ihr Diensttelefon eingeschaltet hätten.«

»Verzeihung, dass ich ein Privatleben habe.«

»Ziemlich viel davon, wie mir scheint«, sagte sie.

Brand musste kurz überlegen, wie sie das meinte, und vermutete dann, dass sie auf die Reste von Farbe anspielte, die sich an seinen Händen befanden. Trotz aller Bemühungen bekam er sie während intensiver Malphasen nie sauber. Dafür hätte es wohl Haut aus Teflon und Finger ohne Fingernägel gebraucht.

»Was ist in Salzburg? Wozu brauchen Sie mich? Kommen Sie, Björk«, drängte er.

»Vielleicht hat sich die Direktion daran erinnert, dass Sie aus der Gegend kommen … und dass Sie dringend eine Aufgabe brauchen«, antwortete sie und wirkte, als wäre sie lieber allein geflogen.

»Ich wurde Ihnen aufs Auge gedrückt?«

Sie zeigte wieder keine Reaktion. Fast schien es so, als wolle sie ihn für irgendwas bestrafen, aber ihm fiel beim besten Willen nicht ein, wofür. Björk nahm einen Schluck Energy Drink und tauchte erneut in ihren Laptop ab.

Brand blies geräuschvoll die Luft aus, schob die Sonnenblende hoch und starrte auf die Wolken hinunter, die sich kaum lichten würden. Ganz Mitteleuropa lag unter einem Tiefdruckgebiet, und für die nächsten Tage wurden sogar Überschwemmungen befürchtet.

Salzburg also. Brand erinnerte sich, gestern oder vorgestern etwas in den Nachrichten gesehen zu haben. Ein Straßenkünstler war von seinem Sockel gefallen, direkt auf ein amerikanisches Touristenkind, das eine schwere Gehirnerschütterung samt Schock davontrug. Der Künstler verstarb noch an Ort und Stelle, hatten die Medien berichtet. Doch so schlimm die Sache auch war, der Einsatz hatte bestimmt nichts mit diesem Todesfall zu tun.

»Sehen Sie«, sagte Björk, die ihren Laptop nun zu ihm hindrehte.

Brands Augen brauchten ein paar Momente, um sich von den grellen Wolken draußen auf den Inhalt des Bildschirms umzustellen. Es waren die gleichen Aufnahmen von diesem Straßenkünstler, die er schon aus den TV-Nachrichten kannte. Der Mann stand auf dem Freiluftschachbrett neben der goldenen Kugel, einem tonnenschweren Kunstwerk von mehreren Metern Durchmesser, von dem Brand bloß wusste, dass es die Salzburger liebevoll Mozartkugel nannten.

In den Nachrichten wurde die Wiedergabe des Videos unterbrochen, sobald die goldene Schachfigur nach vorne kippte. Auf Björks Laptop ging die Aufnahme weiter. Brand sah, wie der König den Kleinen unter sich begrub. Eine Frau – die Mutter des Kinds, wie Brand vermutete – war keine Sekunde später dort und rollte die Statue weg. Dann wackelte das Motiv aus dem Bild, bevor die Aufnahme wieder von vorne losging.

»Das war gar kein Unfall?«, staunte Brand und starrte Björk an.

Sie schüttelte den Kopf. Brand fand einen anderen Ausdruck in ihrem Gesicht. Einen, den er schon kannte. Plötzlich wirkte sie wieder wie die Jägerin, die niemals ein Gesicht vergaß. Wie die Super Recogniserin und Spezialermittlerin, an deren Seite er schon zweimal gewesen war, wenn auch unter völlig anderen Voraussetzungen.

»Aber es hieß doch, die Schachfigur sei …« Brand hielt inne und dachte nach, weshalb die Sache nicht längst schon große Kreise gezogen hatte. Er kam von selbst auf die Erklärung. »Die Medien haben keine Ahnung, was wirklich geschehen ist?«

Björk nickte.

»Aber was haben wir damit zu tun?«, stellte er die nächste Frage. Ein Mord in Österreich ging Europol nichts an. Es sei denn …

»Er war nicht der erste«, vervollständigte Björk seinen Gedanken. »Sieht so aus, als hätten wir eine neue Serie.«

7Salzburg

Christian Brand, Europol

Angesichts des Wetters verlief der restliche Flug nach Salzburg erstaunlich sanft, sodass Björk von ihrer Übelkeit verschont blieb und bis zuletzt an ihrem Laptop weiterarbeiten konnte. Während der Europoljet auf der Landebahn ausrollte, sah Brand zur linken Seite in die Gischt hinaus und erkannte darin den Hangar-7, vor dem die restaurierte DC-6 der Flying Bulls parkte und wirkte, als wollte sie das Mistwetter und den Zahn der Zeit mit Verachtung strafen. Vor Jahren war Brand mal im Hangar-7 gewesen und hatte sich die alte Technik, aber auch die Formel-1-Boliden angesehen. Alles Schnelle faszinierte ihn. Was bestimmt auch daran lag, dass er aus einem Ort stammte, den man mit dem genauen Gegenteil verband.

Brand spürte eine Nervosität in sich, die nicht vom neuen Fall herrührte – als wollte ihn eine besondere Form der Schwerkraft in seine alte Heimat ziehen, die stärker wurde, je näher er dem Hallstätter See kam. Er wusste, dass er sich zu Hause sehen lassen musste. Er wusste aber auch, dass das nicht ohne Emotionen abgehen würde. Seine Mutter wünschte sich, dass er eines Tages an den See zurückkehrte, das Erbe seines Vaters antrat und Dorfpolizist in Hallstatt wurde – ein weiterer Inspektor Brand in einer Reihe von Vorfahren, die zwar angesehen, aber letztlich chronisch unterfordert waren. Weil es bis auf Raufereien, Nachbarschaftskram und touristische Kleindiebstähle nichts gab, was besondere Fähigkeiten erfordert hätte.

Brand hatte dieses vorgezeichnete Leben hinter sich gelassen, so schnell es ging. Er erinnerte sich nur zu gut an die ersten Jahre danach. Den Schichtdienst in Salzburg. Die Beförderung nach einer mit besonderer Tapferkeit erreichten Lebensrettung. Das Auswahlverfahren, die Spezialausbildung. Den Dienst im Einsatzkommando Cobra, Wien. Die fünf Menschen, die er als Cobrabeamter getötet hatte. Weil er hatte handeln müssen, bevor noch mehr passierte. Fünf Menschen, die durch sein Handeln nicht mehr lebten. Einst waren sie ihm am falschen Ort zur falschen Zeit begegnet. Jetzt lagen sie irgendwo begraben. Und immer noch spukten sie weiter in seinen Albträumen und den Bildern …

»Wir sind da«, sagte Björk und sah zu ihm herüber.

Brand hatte gar nicht bemerkt, dass der Jet bereits ans General-Aviation-Terminal herangerollt war und still stand. Schnell schnallte er sich ab, sammelte seine Sachen zusammen und sprang Björk hinterher. Der Copilot öffnete die Tür und wich vorm Regen zurück, der hereinwehte.

»Einen Schirm?«, rief Brand nach vorne.

»Nicht nötig«, antwortete Björk.

Draußen wurden sie bereits erwartet. Ein Mann im Anzug nahm Björk in Empfang, besser gesagt, in die Arme, und hielt dabei einen großen Schirm über sie. Die beiden küssten sich auf die Wangen wie alte Freunde. Einen Moment später erkannte Brand, wer der Mann war.

»Mathias?«, rief er erstaunt und ignorierte den Regen, der ihm übers Gesicht rann.

»Hallo, Christian. Lange nicht gesehen.«

Mathias Lackner. Er wirkte, als hätte er bereits gewusst, dass Brand im Flieger saß. Logisch wusste er es. Brand hätte sich gewünscht, einmal, ein einziges Mal über mehr Informationen zu verfügen als jene, die Björk sich aus der Nase ziehen ließ.

Als Brand zuletzt mit Lackner zu tun gehabt hatte, arbeitete dieser als Drogenfahnder am LKA Salzburg und war dabei meistens in Kleidung unterwegs, die man sonst eher Obdachlosen zuschrieb. Inzwischen hatte sich vieles geändert. Offensichtlich auch Lackners Stil.

Björk und Lackner stiegen in den Wagen, der am Vorfeld stand. Brand blieb nur die hintere Bank, auf die er sich warf und sich durch die Haare fuhr. Kalt lief das Wasser in den Ärmel seiner Jacke.

Lackner gab Gas und lenkte scharf linksherum. Brand hielt sich fest, sah nach vorne und versuchte, sich anhand der Fahrzeugausstattung einen Reim darauf zu machen, welcher Gruppe Lackner mittlerweile angehörte.

»Mordgruppe«, sagte dieser, als hätte er Brands Gedanken gelesen. Ihre Blicke trafen sich im Innenspiegel. Lackner wirkte amüsiert. »Seit drei Jahren. Tote Hose, verglichen mit dir in der Cobra … na ja. Du bist jetzt also fix bei Europol?«

Brand sagte nichts.

Dafür sprach Lackner gleich weiter: »Inga und ich hatten vor ein paar Jahren miteinander zu tun.« Er sah kurz zu ihr hinüber, dann wieder nach vorne.

»Habt ihr was Neues? Kamerabilder?«, fragte Björk.

»Stets im Dienst, Inga«, sagte der Fahrer und legte dann allen Ernstes seine rechte Hand auf ihren linken Oberschenkel.

Zu Brands noch größerem Erstaunen ließ sie es einen Moment lang zu, bevor sie seine Hand überdeutlich tätschelte und Lackner damit zum Rückzug brachte.

»Nichts Neues«, sagte Lackner dann. »Auch keine Bilder. Niemand hat gesehen, wie der Tote aufgestellt wurde. Einfach nichts.«

»Fahren wir zum Fundort?«, fragte Brand.

Lackner lachte. »Dort ist schon lange nichts mehr. Was glaubst du, wie schnell uns der Bürgermeister auf den Schlips steigt, wenn wir seinen Touris die Sicht auf die Mozartkugel verstellen?«

»Mozartkugel?«, fragte Björk.

»Die Goldkugel mit der Männerfigur drauf«, grummelte Brand erklärend. »Also, Mathias, im Ernst: Wohin geht’s jetzt? LKA?«

»Gerichtsmedizin. Wenn danach noch wer will, Mittagessen.« Lackner lachte, als hätte er den Witz des Jahrhunderts gerissen.

Brand erinnerte sich, mal viel von seinem Kollegen gehalten zu haben. Bevor dieser ein neunmalkluges, anzugtragendes Arschloch geworden war, das seine Hände nicht bei sich lassen konnte.

»Weißt du noch, wie wir mal zusammen den Gaisberg hochgerast sind?«, fragte Lackner ihn dann und zeigte hinauf.

Ja, Brand erinnerte sich, nickte aber nur. Ähnliches Wetter wie jetzt, Alarmfahndung nach einem Drogenkurier, der zwei Verkehrspolizisten über den Haufen gefahren hatte. Lackner und Brand als zufällige Fahrgemeinschaft, Brand am Steuer, Lackner als Navigator. Und ein Mann, der sich eine Panoramastraße als Fluchtweg ausgesucht hatte, an deren höchstem Punkt es zwar eine schöne Aussicht, aber keine Weiterfahrt mehr gab. Der Kurier hatte es dann vorgezogen, seinen Wagen um einen Baum zu wickeln, statt sich schnappen zu lassen. Brand konnte sich noch an den Anblick des Mannes erinnern, der hinter seinem Steuer eingeklemmt war. Keine zwei Euro hätte Brand damals auf sein Überleben gewettet. Aber Lackner und er hatten den Schwerstverletzten gemeinsam reanimiert, bis die Rettungskräfte eingetroffen waren. Am Ende hatte der Kurier überlebt – eine Leistung, die Lackner und Brand mal hatten begießen wollen, wozu es aber nie gekommen war.

»Was wissen wir über den Toten, abgesehen vom offiziellen Bericht?«, fragte Björk.

»Männlich«, antwortete Lackner und lachte wieder.

Brand zog eine Augenbraue hoch.

Björk schüttelte den Kopf. »Nichts weiter?«

»Sie waren dran, aber die Gerichtsmedizin wartet auf euch.«

»Was ist mit dem Toten?«, fragte Brand.

»Cast«, war Lackners kryptische Antwort.

»Jetzt komm«, drängte Brand, der einmal mehr der große Unwissende war. »Was wisst ihr und was wisst ihr nicht?« Er war nur einen winzigen Impuls davon entfernt, kräftig von hinten gegen den Fahrersitz zu stoßen, um seine Stimmung zu verdeutlichen.

Lackner lachte. »Mein Gott, Brand, wer hat dich nur so spaßbefreit? Ich habe dich ganz anders in Erinnerung.«

»Ich dich auch. Also?«

»Also – hör zu, es gibt echt nichts. Außer Cast, landläufig Kunststoffgips, außen aufwendig modelliert. Die Leiche wurde wie ein König dargestellt, mit allen möglichen Details und am Schluss noch vergoldet.«

Brand staunte. Er wusste, dass das Präparieren von Leichen nicht so einfach war, wie man es sich als Laie vorstellte. Selbst das Einbetonieren war längst nicht so endgültig, wie es sich anhörte. Ein Kunststoffgips war bestimmt ausreichend stabil, musste aber dick aufgelegt werden – was sie jetzt aber nicht weiterbrachte. »Irgendwas zur Identität?«, drängte er den Kollegen zum Weitererzählen.

»Da bin ich überfragt«, raunte Lackner. »Ich muss leider gleich weiter zu einem anderen Leichenfund.«

Brand horchte auf.

»Nichts, was euch betrifft«, wiegelte Lackner gleich ab. »Junge Kollegen, du verstehst?«

Brand nickte. Er wusste nur zu gut, wie schnell man als frisch ausgebildeter Polizist an Mord und Totschlag glaubte, sobald man an den Fundort einer Leiche gerufen wurde. In den meisten Fällen rief man das LKA umsonst hinzu und holte sich einen Rüffel von den erfahreneren Kollegen ab.

»Also, Mittagessen?«, fragte Lackner.

»Wir sehen uns im LKA«, sagte Björk.

»Dann Abendessen?« Allein der Tonfall in Lackners Stimme verriet Brand, dass der Vorschlag nur an Björk gerichtet war.

Björk, die schon am Aussteigen war, sah noch einmal zu Lackner zurück. Wieder wirkte sie viel weniger spröde, als Brand sie kannte, und sagte dann: »Vielleicht.«