Die Stadt der toten Klingen - Robert Jackson Bennett - E-Book

Die Stadt der toten Klingen E-Book

Robert Jackson Bennett

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Beschreibung

Als Saypur die Welt eroberte, tötete es die Götter der unterworfenen Völker. Alles Göttliche wurde verboten. Doch die Stadt Voortyashtan ist noch heute eine Brutstätte sektiererischer Ideen und blutiger Rebellion.

Als dort eine Geheimagentin spurlos verschwindet, gibt es nur eine Person, der die Premierministerin von Saypur genug vertraut, um die Sache zu untersuchen: Generalin a. D. Turyin Mulagesh. Die kriegsmüde Soldatin zweifelt daran, dass sie noch das Zeug zur Heldin hat, doch ihr Mut und ihr Kampfgeist werden bald auf eine harte Probe gestellt. Denn in Voortyashtan stößt sie auf ein Geheimnis, das die Welt für immer zerstören könnte ...


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Seitenzahl: 894

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

1. Gib ihm Bedeutung

2. Ein zuverlässiger alter Gaul

3. Fortschritt

4. Das schwarze Zimmer

5. Einzelteile

6. Riten und Rituale

7. Aus großer Tiefe

8. Sie, die Sie die Welt spaltete

9. Eine Explosion der Stille

10. Die Spreu zahlloser Kriege

11. Ein angemessener Tod

12. Der Zahn

13. Die Stadt der Klingen

14. Ein bindender Vertrag

15. Der Schatten des Vergessens

16. Die Königin des Leids

17. Trotzige Liebe

Danksagung

Über das Buch

Einst war die Stadt Voortyashtan der Sitz von Voortya, der Göttin des Krieges und Todes. Heute ist die Göttin tot, die alte Stadt im Meer versunken, auf ihren Ruinen wurde eine neue erbaut. Als dort eine Geheimagentin spurlos verschwindet, wird Turyin Mulagesh, Generalin a. D., ausgesandt, die heikle Angelegenheit zu untersuchen. Die kriegsmüde Soldatin zweifelt daran, dass sie noch das Zeug zur Heldin hat, doch sie hat keine Wahl. Denn sie stößt auf ein Geheimnis, das die Welt für immer zerstören könnte …

Über den Autor

Robert Jackson Bennett wurde 1984 in Baton Rouge, Louisiana, geboren, wuchs aber in Texas auf. Studiert hat er an der University of Texas in Austin. Dort lebt er auch heute noch mit seiner Frau und seinem Sohn. Für seine Romane hat er bereits zahlreiche Preise gewonnen, darunter auch zweimal den begehrten SHIRLEY JACKSON AWARDS für Bester Roman sowie eine PHILIP K DICK AWARD CITATION OF EXCELLENCE.

ROBERT JACKSON BENNETT

DIE STADT DER TOTEN KLINGEN

Roman

Aus dem Amerikanischen von Winfried Czech

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:Copyright © 2016 by Robert Jackson BennettPublished by Arrangement with Robert Jackson BennettTitel der amerikanischen Originalausgabe: »City of Blades«Originalverlag: Broadway Books, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Random House LLC, a Penguin Random House Company, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Michelle Gyo, Limburg an der LahnTitelillustration: © Katarzyna OleskaUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3981-9

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Sir Terry, der mir Worte ins Herz schrieb, und für Nana, die eine unerschöpfliche Bücherquelle war

Er aber sprach zu ihnen:

»Leben ist Tod, und Tod ist Leben.

Blut zu vergießen bedeutet, dieser heiligsten Wandlung gewahr zu werden, des ineinander verwobenen Maschengeflechts der Welt,

des fließenden Überganges von schreiendem Leben zu Verwesung und Asche.

Denn diejenigen, die Ihre Kriege führen, die zu Ihrem Schwert werden,

wird Sie als rein und als Heiligste aller Heiligen betrachten,

und ihr werdet für alle Zeiten an Ihrer Seite in der Stadt der Klingen wohnen.«

Und er sang:

»Kommet her über die Wasser, Kinder,

zu den weißesten Stränden und stillen Pilgerstätten,

lange Dunkelheit erwartet euch

in Voortyas Schatten.«

AUSZUG AUS »DIE GROSSE MUTTER VOORTYAAUF DEN ZÄHNEN DER WELT«; CA. 556

1. Gib ihm Bedeutung

Irgendwann nach drei Meilen des Weges kommt Pitry Suturashni zu dem Schluss, dass er die Sonne von Javrati nicht als »warm und angenehm« beschreiben würde, wie es in allen Reisebroschüren zu lesen ist. Ebenso wenig wäre er bereit, die hier vorherrschenden schwachen Winde als »kühle Liebkosung des Halses« zu bezeichnen. Und mit Sicherheit würde er die Wälder nicht »duftend und exotisch« nennen. Während er sich zum zwanzigsten Mal erfolglos den Schweiß von der Stirn wischt, gelangt er stattdessen zu der Überzeugung, dass die Umschreibungen »höllisches Inferno« für die Sonne, »absolut nicht existent« für die Winde und »bevölkert von Kreaturen mit viel zu vielen Zähnen und dem großen Verlangen, diese in Menschenkörper zu versenken« weitaus zutreffender sind.

Als er die kleine Taverne auf der Kuppe des Hügels erblickt, stößt er beinahe einen Ruf der Erleichterung aus. Er packt seine Aktentasche und stolpert zu dem schäbigen Gebäude hinüber. Es überrascht ihn nicht, die Taverne fast verlassen vorzufinden, abgesehen von dem Wirt und zwei seiner Freunde, denn hier auf der Ferieninsel Javrat plätschert das Leben ruhig und gemächlich dahin.

Er bittet um ein Glas Wasser, und der Wirt bringt es ihm langsam und mit spürbarer Verachtung. Pitry gibt ihm ein paar Drekel, was die Verachtung des Mannes irgendwie sogar noch steigert.

»Ich habe mich gefragt, ob Sie mir helfen könnten«, sagt er.

»Das habe ich bereits getan«, erwidert der Wirt und deutet dabei auf das Wasser.

»Gut, ja, das haben Sie, und ich danke Ihnen dafür. Aber ich suche jemanden. Eine Freundin.«

Der Besitzer der Taverne und dessen zwei Freunde mustern ihn mit ausdruckslosen, wie versteinert wirkenden Mienen.

»Ich suche meine Tante«, erklärt Pitry. »Sie ist nach einem Unfall in Ghaladesh hierhergezogen, und ich bin gekommen, um ihr die Entschädigungszahlung der hiesigen Niederlassung zu überbringen, deren Bewilligung einige Zeit gedauert hat.«

Einer der Freunde des Wirtes, ein junger Mann mit eindrucksvollen, zu einem einzigen Strich zusammengewachsenen Brauen, wirft einen Blick auf Pitrys Aktentasche. »Sie schleppen Geld mit sich herum?«

»Äh, nein«, erwidert Pitry, redlich darum bemüht, sich weitere Einzelheiten zu seiner frei erfundenen Legende auszudenken. Nach allem, was Shara mich gelehrt hat, überlegt er, warum konnte sie mir nie beibringen, wie man überzeugend lügt? »Nur Kontoauszüge und Anweisungen für die Abwicklung der Entschädigungszahlung.«

»Also das, was nötig ist, um an das Geld zu kommen«, stellt der andere Freund fest, dessen Mund hinter einem schlecht gepflegten, wild wuchernden Bart verborgen ist.

»Wie auch immer, meine Tante«, sagt Pitry, »ist ungefähr so groß« – er hebt einen Arm – »etwa 50 Jahre alt und von sehr … wie soll ich sagen … kompakter Statur.«

»Fett?«, fragt der Wirt.

»Nein, nein! Nein, nein, nein, nicht wirklich. Sie ist …« Pitry hebt einen Arm, um einen mächtigen Bizeps anzudeuten, den er selbst nicht besitzt, »… kompakt, eben. Außerdem hat sie, äh, nur eine Hand.«

»Aaah!«, stoßen alle drei Männer wie aus einem Mund aus und sehen sich an, als wollten sie sagen: Ach, die!

»Wie mir scheint, kennen Sie sie«, sagt Pitry.

Die Stimmung der drei Männer verfinstert sich derart, dass es beinahe scheint, als würde Nebel im Schankraum aufziehen.

»Soweit ich weiß, könnte sie hier in der Nähe Besitz erworben haben«, fährt Pitry fort.

»Sie hat die Strandhütte auf der anderen Seite des Hügels gekauft«, erwidert der Wirt.

»Oh, wie schön«, sagt Pitry.

»Und jetzt erlaubt sie uns nicht mehr, auf ihrem Grundstück zu jagen«, fügt der Bärtige hinzu.

»Oh, wie traurig«, murmelt Pitry.

»Sie erlaubt uns auch nicht mehr, an den Klippen dort Möweneier zu sammeln. Sie erlaubt uns nicht mehr, Wildschweine zu schießen. Sie benimmt sich so, als würde ihr das Land gehören.«

»Aber es klingt tatsächlich ein bisschen so, als ob es das tut«, stellt Pitry fest. »Wenn sie das Land gekauft hat und so …«

»Das ist nicht der springende Punkt«, widerspricht der bärtige Mann. »Es hat einmal meinem Onkel Ramesh gehört, lange bevor sie es gekauft hat.«

»Also, ich … ich werde mich mit ihr darüber unterhalten müssen«, sagt Pitry. »Und zwar am besten jetzt, denke ich. Gleich jetzt. Ich glaube, Sie haben gesagt, sie wohnt auf der anderen Seite des Hügels, äh, in diese Richtung …?« Er deutet ungefähr nach Westen. Die Männer nicken zwar nicht, aber er meint, ein schwaches Flackern in ihren finsteren Blicken zu bemerken, das er als Bestätigung interpretiert.

»Ich danke Ihnen«, murmelt er. »Vielen Dank, nochmals.« Er zieht sich mit einem nervösen Lächeln langsam zurück. Die Männer starren ihn weiter an, aber er bemerkt, dass der Blick des Mannes mit den zusammengewachsenen Augenbrauen regelrecht an seiner Aktentasche klebt. »Da-danke«, murmelt er ein letztes Mal, während er sich zur Tür hinausschiebt.

*

Pitry bedauert, sich mit so einer vagen Beschreibung wie ›die andere Seite des Hügels‹ zufriedengegeben zu haben. Während er dem Wanderweg folgt, gewinnt er zunehmend den Eindruck, als würde dieser Hügel aus dem Nichts heraus immer neue Seiten vor ihm ausbilden, von denen keine auch nur das geringste Anzeichen von Zivilisation aufweist.

Irgendwann vernimmt er das dumpfe Rauschen des Ozeans und erblickt ein baufälliges, kleines weißes Häuschen, das sich an die Klippen am Ufer schmiegt. »Endlich«, seufzt er und trottet darauf zu.

Der Wald zwingt ihn, immer weiter bergab zu steigen, bis er einem schmalen Pfad folgen muss, auf dessen linker Seite dicht an dicht Bäume wachsen, während auf der rechten Seite ein bedrohlich steiler Abhang zum Meer hinabfällt. Nach einigen Schritten vernimmt er ein Rascheln aus dem Wald, dass das Meeresrauschen übertönt.

Der Mann mit den über der Nase zusammengewachsenen Augenbrauen aus der Taverne tritt etwa zwanzig Meter vor ihm auf den Pfad. Er hält eine Mistgabel in den Händen, deren Zinken er auf Pitry richtet.

»Oh, ah … hallo, nochmals«, sagt Pitry.

Hinter ihm raschelt es erneut im Unterholz. Er dreht sich um und sieht, dass sich der bärtige Mann zwanzig Meter hinter ihm mit einer Axt in den Händen aus dem Wald geschoben hat.

»Oh … also …«, stottert Pitry. Er wirft einen Blick die Böschung zu seiner Rechten hinab, an deren Fuß sich eine ziemlich gefährlich aussehende Brandung bricht. »Also, da wären wir ja wieder alle zusammen. Ähm …«

»Das Geld«, sagt Einbraue.

»Das was?«

»Das Geld!«, bellt Einbraue. »Gib uns das Geld!«

»Sicher.« Pitry nickt, zieht sein Portemonnaie hervor und entnimmt ihm ungefähr siebzig Drekel. »Sicher. Ich weiß schon, wie das läuft. Hie-hier, nehmen Sie.«

»Nein!«, faucht Einbraue.

»Nein?«

»Nein! Gib uns das richtige Geld!«

»Die Tasche«, sagt der Bärtige. »Die Tasche!«

»Gib uns die Tasche!«

»Ja, gib uns die Tasche mit dem Geld!«, schreit der Bärtige.

Pitrys Blick pendelt zwischen den beiden Männern hin und her; er kommt sich fast vor wie in einer Echokammer gefangen. »A-a-aber, da drinnen ist kein Geld«, erwidert er und lächelt dabei wie wahnsinnig. »Seht her! Seht!« Er öffnet die Tasche, um den Männern zu zeigen, dass sie nur Akten enthält.

»Aber du weißt, wie man an das Geld rankommt«, stellt Einbraue fest.

»Wirklich?«

»Du kennst das Konto«, erklärt Einbraue. »Und die Kontonummer. Und das Konto ist voller Geld.«

»Voller Geld!«, schreit der Bärtige.

Jetzt bereut Pitry aufrichtig, dass er sich ohne weiteres Nachdenken eine derart wacklige Lügengeschichte hat einfallen lassen. »Nun ja, ihr … ich kann nicht … ich habe nicht …«

»Du weißt, wie man …«

Plötzlich verstummt der Mann mit den zusammengewachsenen Brauen und stößt gleich darauf einen schrillen, ohrenbetäubend lauten und so seltsam klingenden Laut aus, dass sich Pitry einen Moment lang fragt, ob es vielleicht der Schrei irgendeines Vogels war.

»Ich weiß, wie man … was?«, erkundigt er sich verwirrt.

Einbraue bricht zusammen, wobei er immer noch dieses merkwürdige Geräusch hervorbringt, und jetzt entdeckt Pitry etwas rot Glitzerndes direkt oberhalb seines Knies, das zweifellos vorher nicht da gewesen ist, die Spitze eines Bolzens. Als sich der Mann auf dem Boden krümmt, sieht Pitry den Schaft des Bolzens knapp über der Kniekehle von Einbraue herausragen.

Ein paar Dutzend Schritte hinter dem kreischenden Mann steht eine Frau auf dem Pfad. Pitry blickt in ein zusammengekniffenes dunkles Auge, das ihn über das Visier eines außerordentlich kompakten Bolzenschnellers hinweg mustert, der direkt auf seine Brust zielt. Das Haar der Frau ist dunkelgrau, an den Schläfern silbern, und ihre braunen, von Narben gefurchten Schultern glänzen in der Sonne. Die linke Hand, mit der sie die Waffe abstützt, ist eine Prothese aus dunklem Eichenholz, die bis zur Mitte ihres Unterarms reicht.

»Pitry«, zischt sie, »runter mit Ihnen, verdammte Scheiße!«

»Sicher, sicher«, erwidert Pitry beschwichtigend und legt sich flach auf den Boden.

»Es tut weh!«, heult Einbraue. »Oh, bei den Meeren, tut das weh!«

»Schmerzen sind ein gutes Zeichen, wirklich«, erklärt die Frau gelassen. »Denn sie beweisen, dass du zumindest noch so was wie ein Gehirn im Kopf hast, das fühlen kann. Du kannst dich also glücklich schätzen, Ranjesha.«

Augenbraue antwortet mit einem weiteren Heulen. Das Gesicht des bärtigen Mannes schimmert jetzt vor Schweiß. Sein Blick wandert von der Frau zu Pitry und richtet sich kurz auf den Wald zu seiner Linken.

»Nein«, sagt die Frau. »Lass die Axt fallen, Gurudas.«

Die Axt landet mit einem dumpfen Aufprall auf der Erde. Die Frau tritt ein paar Schritte vor, wobei der Lauf des Bolzenschnellers kaum um ein paar Zentimeter schwankt. »Das ist schon eine ziemlich ungemütliche Situation, was, Gurudas?«, fragt sie. »Ich habe euch zwei gewarnt, dass ich eure Eingeweide der frischen Seeluft aussetzen würde, sollte ich noch einmal einen von euch auf meinem Eigentum erwischen. Und ich hasse es, ein Versprechen zu brechen. Denn schließlich gründet sich doch die gesamte zivilisierte Gesellschaft auf dem Einhalten von Versprechen, nicht wahr?«

»Ich … ich …«, stammelt der Bärtige.

»Aber mir sind auch Gerüchte zu Ohren gekommen«, fährt die Frau fort und tritt einen weiteren Schritt vor, »dass du und dein Freund dort schon früher die Angewohnheit hattet, Touristen nach hier draußen zu locken, um sie dann auszurauben. Und bei eurer recht freizügigen Auslegung des Begriffs Eigentum wundert es mich gar nicht, dass ihr geglaubt habt, eure Masche auch weiterhin auf dem Land durchziehen zu können, das jetzt mir gehört. Aber ich bringe es nun mal nicht über mich, eine solch beschissene Einstellung zu tolerieren. Also, muss ich dir jetzt auch einen Bolzen in den Leib jagen, Gurudas? Würde dir das die Botschaft verdeutlichen, die du begreifen musst?«

Der Bärtige starrt sie stumm an.

»Ich habe dir eine verdammte Frage gestellt!«, faucht die Frau. »Wohin muss ich bei dir schießen, um dir die Zunge zu lockern, Sohn?«

»N-nein!«, stößt der Mann hervor. »Nein, ich will nicht … ich will nicht angeschossen werden.«

»Na, dann hast du aber eine komische Art, dir diesen Wunsch zu erfüllen«, sagt die Frau, »denn in dem Moment, in dem du einen Fuß auf meinen Grund und Boden setzt, wird höchstwahrscheinlich genau das Gegenteil geschehen.«

Eine Weile herrscht Schweigen. Einbraue wimmert erneut.

»Pitry«, sagt die Frau.

»Ja?«, erwidert Pitry. Da er immer noch mit dem Gesicht auf dem Boden liegt, steigt dabei eine Staubwolke um seinen Kopf herum auf.

»Glauben Sie, Sie schaffen es, aufzustehen und über diesen Idioten dort hinwegzusteigen, der meinen Weg mit seinem Blut besudelt?«

Pitry richtet sich auf, klopft sich den Staub von der Kleidung, tritt behutsam über den Mann mit den zusammengewachsenen Augenbrauen hinweg und zögert einen Moment lang, um zu flüstern: »Entschuldigung.«

»Gurudas?«, fragt die Frau.

»J-ja?«, antwortet der Bärtige.

»Bist du in der Lage hierherzukommen, deinen Freund aufzusammeln und seinen jämmerlichen Arsch zurück in das Scheißhaus von einer Taverne deines Bruders zu verfrachten?«

Der Bärtige denkt über ihre Worte nach. »Ja.«

»Gut. Dann tu das. Sofort! Und sollte ich noch einmal einen von euch hier sehen, werde ich das Ziel für meine Bolzen nicht mehr so nachsichtig wählen.«

Gurudas nähert sich langsam seinem Freund, wobei er sorgfältig darauf achtet, dass seine Hände stets sichtbar bleiben, und hilft ihm auf. Sie humpeln gemeinsam den Weg entlang. Als sie etwa fünfzig Schritte zurückgelegt haben, dreht Einbraue den Kopf und brüllt: »Fick dich, Mulaghesh! Fick dich und dein Geld …«

Er schreit auf, als ein Armbrustbolzen nicht weit von seinen Füßen entfernt über die Felsen schrammt, und vollführt vor Schreck einen Luftsprung, was angesichts des Bolzens über seinem Knie ziemlich schmerzhaft sein muss. Die Frau lädt ihre Waffe nach und hält sie weiter auf beide Männer gerichtet, bis der Bärtige seinen jammernden Freund außer Sichtweite geschleppt hat.

»Gener…«, beginnt Pitry.

»Halten Sie den Mund«, fällt sie ihm ins Wort.

Sie wartet noch eine Weile regungslos ab. Nach etwa zwei Minuten entspannt sie sich, überprüft ihren Bolzenschneller und seufzt. Dann dreht sie sich zu Pitry um und betrachtet ihn von Kopf bis Fuß.

»Verdammt, Pitry …«, knurrt General Turyin Mulaghesh. »Was bei allen Höllen tun Sie hier?«

*

Pitry hatte nicht gewusst, was er von Turyin Mulagheshs Domizil erwartete, doch er hat kaum mit der Halde leerer Weinflaschen und schmutziger Teller gerechnet, die er erblickt, als er über die Türschwelle tritt. Des Weiteren entdeckt er ein ganzes Arsenal bedrohlich aussehender Gegenstände: Schussbolzen, Bolzenschneller, Schwerter, Messer und in einer Ecke eine kompakte Feuerwaffe – ein Gewehr mit gezogenem Lauf. Es ist eine neuartige Konstruktion, die dank der in letzter Zeit wachsenden Schießpulverproduktion gerade erst in größeren Stückzahlen auch für die Allgemeinheit erhältlich geworden ist. Das Militär verfügt über weitaus bessere Modelle, wie Pitry weiß.

Das Schlimmste aber ist der Gestank. Es riecht, als hätte General Turyin Mulaghesh angefangen zu angeln, aber noch nicht herausgefunden, wie man die Überreste der Fische ordentlich entsorgt.

»Ja, der Geruch«, sagt sie. »Ich weiß, wie es hier riecht. Ich fange gerade an, mich daran zu gewöhnen. Zwischen dem Meer und dem Haus riecht es überall so.«

Dem widerspricht Pitry im Geist vehement, ist aber klug genug, den Mund zu halten. »Danke, dass Sie mich gerettet haben.«

»Nicht der Rede wert. Es ist so was wie eine symbiotische Beziehung. Diese beiden Trottel lieben es, die Idioten zu spielen, ich liebe es, auf Idioten zu schießen. So kriegt jeder, was er will.«

»Woher wussten Sie, dass Sie aufpassen mussten?«

»Ich habe davon gehört, dass sich irgendein Ghaladeshi an der Küste herumtreibt, der sich nach mir erkundigt und behauptet, eine Menge Geld dabeizuhaben. Ein Händler auf dem Markt, der mich mag, hat mir Bescheid gesagt.« Sie schüttelt den Kopf und stellt eine Flasche Wein auf den Küchentresen. »Geld, Pitry! Warum haben Sie sich nicht gleich ein Schild mit der Aufschrift: ›Ich bin ein Tölpel, bitte, raubt mich aus‹ auf die Stirn geklebt?«

»Ja, mir ist mittlerweile klar geworden, dass das nicht … klug war.«

»Ich dachte, ich sollte besser die Augen offen halten, und habe gesehen, wie Sie den Hügel zu Haques Bar hinaufgestiegen sind. Dann sind Sie wieder gegangen, und Gurudas und sein Freund sind Ihnen gefolgt. Ich musste nicht lange darüber nachdenken, was wohl als Nächstes passieren würde. Aber ich bin Ihnen trotzdem dankbar. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr.« Sie kramt eine Flasche mit Tee und eine mit einem leichten Wein hervor und macht sich zu Pitrys Belustigung daran, ein Getränketablett herzurichten; ein traditionelles Willkommensritual in Saypur, das eine subtile Botschaft enthält: Die Wahl des Tees ist ein Zeichen für einen geschäftlichen Anlass und soziale Distanz zwischen Gast und Gastgeber, die des Weins für Vertrautheit und Entspannung. Pitry beobachtet die Frau. Sie hat Übung darin gewonnen, alles mehr oder weniger einhändig zu tun.

Sie stellt das Tablett vor Pitry ab. Er verbeugt sich leicht und wählt die offene Teeflasche. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagt er. »Obwohl ich äußerst dankbar für etwas Wein wäre, General, bin ich bedauerlicherweise offiziell im Auftrag der Premierministerin hier.«

»Ja«, erwidert Mulaghesh, während sie selbst nach dem Wein greift. »Das habe ich mir gedacht. Es kann nur einen Grund geben, der Pitry Suturashni in meinem Hinterhof auftauchen lässt, und das ist ein Auftrag von Shara Komayd. Also, was wünscht die Premierministerin? Möchte sie mich zurück in den Militärrat zerren? Ich habe meinen Abschied so lautstark wie nur möglich gestaltet. Ich dachte eigentlich, dass die Geschichte damit endgültig erledigt sein müsste.«

»Das ist wahr«, bestätigt Pitry. »Der Klang Ihrer Rücktrittsrede hallt noch immer in den Straßen Ghaladeshs wider.«

»Scheiße, Pitry. Das haben Sie geradezu poetisch formuliert.«

»Danke. Ich habe den Satz von Shara entlehnt.«

»Aber natürlich.«

»Ich bin allerdings nicht gekommen, um Sie zu überreden, in den Militärrat zurückzukehren. Man hat bereits einen Ersatz für Ihre Position gefunden.«

»Mhm«, macht Mulaghesh. »Gwali?«

Pitry nickt.

»Das habe ich mir gedacht. Bei den Meeren, diese Frau kriecht in so viele Ärsche, dass es ein Wunder ist, wie sie noch genug Luft zum Atmen findet. Ich werde nie begreifen, wie bei allen Höllen sie es überhaupt zum General gebracht hat.«

»Ein guter Punkt«, sagt Pitry. »Doch der eigentliche Grund meines Besuchs besteht darin, Ihnen ein paar Informationen zu Ihrer … Pension zukommen zu lassen.«

Mulaghesh verschluckt sich an ihrem Wein, krümmt sich zusammen und hustet. »Meine was?« Sie richtet sich wieder auf. »Meine Pension?«

Pitry nickt und windet sich unbehaglich.

»Was bei allen Hölle stimmt nicht damit?«, erkundigt sich Mulaghesh.

»Nun ja … Sie haben doch bestimmt schon einmal von dem sogenannten ›Dienstzeitverhältnis‹ gehört, nicht wahr?«

»Klingt irgendwie vertraut …«

»Der springende Punkt dabei ist, dass ein Offizier des saypurischen Militärs nach jeder Beförderung automatisch ein höheres Gehalt erhält«, führt Pitry aus, während er in seiner Aktentasche zu kramen beginnt, »er aber einen bestimmten Mindestzeitraum in diesem Rang gedient haben muss, bevor er Anspruch auf eine Pension erhält, deren Höhe diesem Rang entspricht. Diese Regelung wurde eingeführt, da es vor zwanzig Jahren oder so vorgekommen ist, dass einige Offiziere nach der Beförderung in einen höheren Rang sofort den Dienst quittierten, um anschließend ihre entsprechend höhere Pension zu genießen.«

»Augenblick. Ja, das alles ist mir bekannt. Der Rang eines Generals erfordert eine Mindestdienstzeit von vier Jahren, um Anrecht auf die entsprechenden Ruhebezüge zu erwerben, richtig? Ich war mir fast sicher, diesen Zeitraum mehr als überschritten zu haben …«

»Sie haben mehr als vier Jahre als General gedient«, bestätigt Pitry, »aber die Zeitdauer Ihres Dienstverhältnisses wird von dem Moment an berechnet, an dem Ihre Akten bearbeitet werden. Und da Sie zur Zeit Ihrer Beförderung in Bulikov stationiert waren, hätten Ihre Akten dort bearbeitet werden müssen … wäre damals nicht ein beträchtlicher Teil Bulikovs zerstört worden, wie … ähm … Sie nur zu gut wissen. Was bedeutet, dass die Behörden mit der Bearbeitung von so ziemlich allen Akten, nun ja, in großen Verzug geraten sind.«

»In Ordnung. Also, wie lange hat Bulikov für die Bearbeitung meiner Akten gebraucht?«

»Es kam zu einer Verzögerung von knapp zwei Monaten.«

»Was bedeutet, dass die Dauer meiner Dienstzeit wie lange gedauert hat?«

Pitry zieht ein Blatt Papier hervor und fährt mit dem Finger auf der Suche nach der Stelle mit dem genauen Zeitraum darauf entlang. »Drei Jahre, zehn Monate und 17 Tage.«

»Scheiße.«

»Ja.«

»Scheiße!«

»Ja. Da Ihre minimale Dienstzeitdauer zum Ende des Fiskaljahres nicht erreicht war, wird Ihre Pension auf Ihren vorherigen Dienstrang zurückgestuft – den eines Obersts.«

»Und wie hoch ist die?«

Pitry legt das Blatt Papier auf den Tisch, schiebt es zu Mulaghesh hinüber und deutet auf eine Zahl.

»Scheiße!«

»Ja.«

»Verdammt … Ich wollte mir gerade ein Boot kaufen.« Mulaghesh schüttelt den Kopf. »Jetzt bin ich mir nicht mal sicher, ob ich mir überhaupt das alles hier leisten kann!« Sie vollführt eine weit ausholende Handbewegung, die das kleine Haus umfasst.

Pitrys Blick gleitet flüchtig über das dunkle, baufällige Häuschen, in dem hier und da dichte Fliegenschwärme umherschwirren. »Äh, ja. Was für eine Schande.«

»Und jetzt? Sind Sie nur gekommen, um mir mitzuteilen, dass man mir so einfach den Boden unter den Füßen wegzieht? Das war’s dann, danke und auf Wiedersehen? Gibt es keine Alternative, für die ich mich, sagen wir, entscheiden könnte?«

»Also, das hier ist eigentlich ein ganz normaler Vorgang. Einige Offiziere sind gezwungen, aufgrund von gesundheitlichen, familiären oder anderen Umständen frühzeitig aus dem aktiven Dienst auszuscheiden. In diesen Fällen hat der Militärrat die Möglichkeit, die fehlende Dienstzeit der betroffenen Offiziere zu ignorieren und Ihnen die höhere Pension trotzdem zu gewähren. Da Sie Ihren Abschied aber … äh, nicht unter den einvernehmlichsten Umständen genommen haben, hat er sich nicht dazu entschieden.«

»Diese Arschlöcher«, knurrt Mulaghesh.

»Ja. Aber uns bleibt natürlich noch eine Option. Von solchen Pensionskürzungen betroffene Offiziere, die sich durch außerordentliche Leistungen für Saypur verdient gemacht haben, werden häufig auf etwas geschickt, das man vollmundig – glaube ich – als die Ochsentour bezeichnet.«

»Ah, bei allen Höllen. Ich erinnere mich. Ich soll den fehlenden Rest meiner Dienstzeit ableisten, indem ich über den Kontinent tingle und ›Festungsanlagen begutachte‹. Ist das der Ausweg, den man mir anbietet?«

»Genau«, bestätigt Pitry. »Rein administrative Pflichten. Keinerlei aktive Kampfeinsätze. Die Premierministerin hat dafür gesorgt, dass auch Ihnen diese Möglichkeit offensteht.«

Mulaghesh klopft mit ihrer Holzhand nachdenklich auf die Tischplatte. Während sie mit ihren Gedanken woanders ist, wirft Pitry einen schnellen Blick auf ihre Armprothese, die in einem künstlichen Gelenk steckt, das mit Bändern an ihrem immer noch kräftigen Bizeps festgeschnallt ist. Der Oberarm steckt wiederum in einer Baumwollmanschette, die vermutlich verhindern soll, dass die Bänder ihre Haut wund scheuern, und Pitry kann einen Teil von etwas sehen, dass ihren Oberkörper wie eine Rüstung umhüllt. Es ist unverkennbar ein ziemlich komplizierter Mechanismus, wahrscheinlich nicht besonders bequem und garantiert nicht dazu angetan, das cholerische Temperament, für das General Mulaghesh allgemein berüchtigt ist, zu besänftigen.

»Glotzen Sie nicht, Pitry«, sagt sie ruhig. »Oder ist es schon so lange her, dass Sie eine Frau aus der Nähe gesehen haben?«

Pitry starrt erschrocken wieder auf das Blatt Papier auf dem Tisch vor sich.

Mulaghesh schweigt längere Zeit. »Pitry, kann ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Ist Ihnen bewusst, dass ich gerade erst auf einen Mann geschossen habe?«

»Das … ist mir bewusst.«

»Und ist Ihnen bewusst, dass ich das getan habe, weil er sich ohne meine Einladung auf meinem Grund und Boden befunden und sich wie ein Idiot aufgeführt hat?«

»Ich glaube, Sie haben sich so ausgedrückt, ja.«

»Warum sollte ich, nun ja, nicht genauso mit Ihnen verfahren?«

»Ich … ich verstehe ni…«

»Pitry, Sie sind ein Mitglied des persönlichen Stabes der Premierministerin«, schneidet ihm Mulaghesh das Wort ab. »Sie sind zwar nicht ihr Stabschef oder so etwas, aber auch nicht nur irgendein unbedeutender verdammter Bürohengst. Und Shara Komayd würde nie irgendjemanden aus ihrem verdammten persönlichen Stab bis nach Javrat schicken, nur um mir ausrichten zu lassen, dass meine Pension neu berechnet werden muss. Für solche Dinge hat man die Post erfunden. Also, warum hören Sie nicht damit auf, um den heißen Brei herumzureden, und erzählen mir, worum es hier wirklich geht?«

Pitry atmet langsam durch und nickt. »Es wäre durchaus möglich, dass … sollten Sie bereit sein, diese Ochsentour anzutreten, sie als hervorragende Tarnung für eine andere Operation dienen könnte.«

»Ah, ich verstehe.« Mulaghesh zieht die Lippen zurück und saugt vernehmlich die Luft durch die Zähne ein. »Und wer würde diese Operation durchführen?«

Pitry starrt sehr angestrengt auf das Blatt Papier vor sich, als könnten irgendwo zwischen den Zahlen Informationen verborgen sein, die ihm verraten, wie er dieser unangenehmen Situation entgehen kann.

»Pitry?«

»Sie, General«, antwortet er schließlich. »Diese Operation würde von Ihnen geleitet werden.«

»Na klar«, sagt Mulaghesh. »Scheiße.«

*

»Also, verdammt noch mal, Pitry«, faucht Mulaghesh. Ihre Holzhand klappert laut, als sie beide Hände auf die Tischplatte fallen lässt. »Es ist ein schmutziger Trick, die Pension eines Offiziers in Geiselhaft zu nehmen, um ihn dazu zu zwingen, sich erneut der Gefahr auszusetzen, erschossen zu werden.«

»Ich kann Ihre Gefühle durchaus nachempfinden, General, aber die Natur der fraglichen Ope…«

»Ich bin zurückgetreten, verdammt noch mal! Ich habe gekündigt! Ich habe gesagt, ich wäre fertig, ich hatte getan, was ich tun musste, danke, behelligt mich jetzt nie wieder. Kann man mich nicht einfach nur in Frieden lassen? Hm? Ist das vielleicht zu viel verlangt?«

»Nun, die Premierministerin meinte«, sagt Pitry langsam, »dass diese Mission genau das sein könnte, was Sie brauchen.«

»Was ich brauche? Was zur Hölle weiß Shara darüber, was ich brauche? Warum sollte ich denn irgendwas brauchen?«

Wieder deutet sie mit einer weit ausholenden Geste auf ihr Häuschen, und wieder lässt Pitry den Blick kurz durch Mulagheshs stinkendes, schmutziges Zuhause mit den an den Fensterscheiben festgeklebten Tapeten, dem Küchenschrank mit der schief in den Angeln hängenden Tür und den mit Weinflaschen, Fischgräten und zerknüllten dreckigen Kleidungsstücken übersäten Tischen wandern, bevor er zu Mulaghesh zurückkehrt.

Alles, was ihm dazu einfällt, ist: General Turyin Mulaghesh sieht beschissen aus. Für eine Frau ihres Alters ist sie offensichtlich immer noch in hervorragender körperlicher Verfassung, aber seit ihrem letzten Bad muss jede Menge Zeit vergangen sein, sie hat dunkle Ringe unter den Augen und ihre Kleidung bedarf dringend einer gründlichen Reinigung. Sie ist meilenweit von der Offizierin entfernt, an die er sich erinnert, deren Uniform stets so steif gestärkt war, dass man mit den Manschetten Holz hätte schnitzen können, der Frau, deren Blick so durchdringend und stechend gewesen war, dass man geradezu das Bedürfnis verspürte, sich auf Verletzungen zu untersuchen, nachdem man von ihr gemustert worden war.

Pitry hat schon einmal jemanden in einem solchen Zustand gesehen, einen seiner Freunde nach dem Ende eines schmutzigen Scheidungsprozesses. Allerdings kann er sich nicht vorstellen, von wem Mulaghesh sich hätte scheiden lassen können, außer natürlich vom saypurischen Militär.

Doch obwohl das einiges von dem erklärt, was er hier sieht, verwirrt ihn Mulagheshs totale Verwahrlosung noch immer, denn niemand – weder die Presse, noch der Militärrat oder das Parlament selbst – hat die leiseste Ahnung, warum Mulaghesh überhaupt ihren Abschied genommen hat. Heute vor fast einem Jahr hatte sie dem Continental Herald ein 15 Wörter umfassendes Telegramm geschickt: »Ich, General Turyin Mulaghesh, trete mit sofortiger Wirkung von meinem Posten im saypurischen Militärrat zurück.« Unmittelbar danach waren auch schon ihre Pensionsunterlagen ausgestellt worden, und sie war verschwunden. Wie so vieles von dem, was Mulaghesh während ihrer Dienstzeit getan hatte, war ihr Schritt für jeden ehrgeizigen und motivierten Saypuri unbegreiflich: Wie konnte irgendjemand seine Position als Stellvertretender Vorsitzender des saypurischen Militärrats einfach so aufgeben? Der Stellvertretende Vorsitzende des Rates wird anschließend praktisch immer zum Oberkommandanten der bewaffneten Streitkräfte befördert und damit nach dem Premierminister zur zweitmächtigsten Person auf der Welt. Die Öffentlichkeit nahm alle ihrer Aktivitäten in den letzten Wochen vor ihrem Rücktritt gründlich unter die Lupe, aber niemand konnte irgendeinen Hinweis darauf finden, was sie zu diesem wahnsinnigen Schritt veranlasst haben könnte.

»Das ist also aus Shara geworden?«, fragt Mulaghesh. »Eine Erpresserin? Sie zwingt mich durch Erpressung zu dieser Sache?«

»Ganz und gar nicht. Sie haben die freie Wahl, sich entweder auf die Ochsentour zu begeben, ohne an der eigentlichen Operation teilzunehmen, oder aber das Angebot abzulehnen und sich mit der Pension eines Obersts zu begnügen.«

»Und worum genau geht es bei dieser Operation?«

»Wie mir gesagt wurde, müssen diese Informationen so lange unter Verschluss bleiben, bis Sie unwiderruflich eingewilligt haben.«

Mulaghesh lacht laut auf. »Ich kann also nicht erfahren, worauf ich mich einlasse, bevor ich es getan habe. Großartig. Warum bei allen Höllen sollte ich dazu bereit sein?«

»Nun … ich denke, die Premierministerin hat gehofft, ihre persönliche Bitte könnte ausreichen …«

Mulaghesh bedenkt Pitry mit einem ausdruckslosen und kalten Blick.

»Aber für den Fall, dass dem nicht so ist, hat sie mich gebeten, Ihnen das hier zu übergeben.« Er zieht einen Umschlag aus seiner Aktentasche und hält ihn ihr entgegen.

Mulaghesh starrt ihn an. »Was ist das?«

»Ich habe keine Ahnung. Die Premierministerin hat das Schreiben persönlich verfasst und versiegelt.«

Mulaghesh nimmt Pitry den Umschlag aus der Hand, öffnet ihn und liest den Brief. Pitry sieht undeutlich eine Schrift durch das Papier. Er kann zwar nicht lesen, was dort geschrieben steht, aber es scheinen nicht mehr als drei Wörter zu sein.

Die Frau starrt das Schreiben mit weit aufgerissenen Augen und wie betäubt an, dann beginnt ihre Hand zu zittern. Schließlich knüllt sie es zusammen und stiert ins Leere.

»Verdammt«, sagt sie leise. »Woher bei allen Höllen wusste sie das?«

Pitry beobachtet sie. Eine Fliege landet auf ihrer Schulter, eine zweite auf ihrem Hals. Sie merkt nichts davon.

»Du hättest mir das nicht geschickt, wenn du es nicht ernst meinen würdest«, murmelt sie. Sie seufzt und schüttelt den Kopf. »Verdammt.«

»Ich vermute«, bemerkt Pitry, »Sie erwägen, den Auftrag anzunehmen?«

Mulaghesh mustert ihn finster.

»War nur eine Frage«, sagt er.

»Also, was können Sie mir über diese Operation verraten?«

»Nur sehr wenig. Ich weiß, dass sie auf dem Kontinent stattfindet. Und ich weiß, dass es dabei um etwas geht, das die Aufmerksamkeit vieler Menschen erregt, darunter einige sehr mächtige Leute in Ghaladesh, von denen manche nicht besonders gut auf die Politik der Premierministerin zu sprechen sind.«

»Daher diese Alibigeschichte, von der Sie gesprochen haben. Ich erinnere mich an eine Zeit, als wir derartige Täuschungsmanöver veranstaltet haben, um andere Nationen auszutricksen, nicht unsere eigene. Die Zeiten ändern sich, schätze ich.«

»Die Lage in Ghaladesh spitzt sich tatsächlich kontinuierlich weiter zu«, räumt Pitry ein. »Die Presse findet Gefallen daran, Sharas Position als ›unter Beschuss‹ zu beschreiben. Wir leiden immer noch unter den Nachwirkungen der letzten Wahlen. Ihre Anstrengungen zur Wiederherstellung des Kontinents sind in Saypur nach wie vor äußerst unpopulär.«

»Sieh mal einer an«, sagt Mulaghesh. »Ich kann mich noch gut an die Partys nach ihrer Wahl zur Premierministerin erinnern. Alle haben geglaubt, unser Goldenes Zeitalter würde gerade anbrechen.«

»An der Wankelmütigkeit der Wählerschaft hat sich nichts geändert. Und einigen Leuten fällt es leicht zu vergessen, dass seit der Schlacht von Bulikov gerade einmal fünf Jahre vergangen sind.«

Mulaghesh zieht ihre Armprothese enger an den Oberkörper, als bereitete sie ihr Schmerzen. Pitry hat das Gefühl, als wäre die Temperatur im Raum gerade um zehn Grad gefallen. Plötzlich erinnert ihn die Frau sehr viel stärker an die Kommandantin an jenem Tag, als die Gottheit vom Himmel herab gesprochen hatte, die Gebäude in Flammen aufgegangen waren und Mulaghesh ihre Soldaten angeherrscht hatte, ihre Stellungen in der Festung zu bemannen.

»Ich habe nicht vergessen«, sagt sie kalt.

»Ah, nein.« Pitry hüstelt. »Das habe ich auch nicht angenommen.«

Mulaghesh starrt gedankenverloren einige Sekunden länger ins Leere. »In Ordnung«, sagt sie schließlich in einem nervenzermürbend ruhigen Tonfall. »Ich mache es.«

»Wirklich?«

»Sicher. Warum nicht?« Sie legt die zusammengeknüllte Notiz auf die Tischplatte und lächelt Pitry an. Er fühlt, wie seine Haut kribbelt. Es ist dieses geistig nicht ganz gesund wirkende Lächeln, das er früher in den Gesichtern von Soldaten gesehen hat, die schon in jeder Menge Schlachten gefochten haben. »Was ist das Schlimmste, das mir passieren könnte?«

»Ich … ich bin mir sicher, die Premierministerin wird erfreut sein«, weicht Pitry einer Antwort aus.

»Also, worum geht es bei dieser Operation?«

»Nun, wie schon gesagt, Sie werden es erst erfahren, nachdem Sie den Auftrag offiziell angenommen haben …«

»Ich habe gerade Ja gesagt, verdammt noch mal!«

»… und Ihre Zustimmung gilt erst dann als bindend, wenn Sie das Boot bestiegen haben.«

Mulaghesh schließt die Augen. »Oh, bei der Liebe von …«

Pitry zieht eine Akte aus seiner Tasche und reicht sie ihr. »Hier finden Sie alle Instruktionen zu Ihrem Transport. Bitte beachten Sie Zeit und Datum. Ich denke, dass ich zumindest für einen Teil der Reise wieder zu Ihnen stoßen werde, weshalb ich damit rechne, Sie in drei Wochen wiederzusehen.«

»Hurra.« Mulaghesh nimmt die Akte entgegen. Ihre Schultern sacken ein Stückchen herab. »Wenn das Alter die Menschen weise macht, warum treffe ich dann immer wieder so viele schlechte Entscheidungen, Pitry?«

»Ich … fühle mich nicht qualifiziert, diese Frage zu beantworten.«

»Schön, wenigstens sind Sie ehrlich.«

»Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten, Ma’am? Ich muss nach Ghaladesh zurückkehren, um einige abschließende Vorbereitungen zu treffen, aber angesichts der heutigen Ereignisse, hätte ich …« Sein Blick huscht über die diversen Waffen.

»… gern irgendetwas, um mich auf dem Rückweg zum Hafen verteidigen zu können?«, beendet Mulaghesh den Satz für ihn.

»Ich bin irrtümlich davon ausgegangen, Javrat wäre zivilisiert.«

Mulaghesh schnaubt. »Ich auch. Lassen Sie mich irgendwas hervorkramen, das gefährlich aussieht, ohne dass Sie sich damit versehentlich selbst verletzen können.«

»Mir wurde eine gewisse Grundkenntnis im Waffengebrauch vermittelt, bevor ich zur Botschaft in Bulikov gekommen bin.«

»Ich weiß«, entgegnet Mulaghesh. »Gerade deshalb habe ich ja Angst um Sie. Sie haben wahrscheinlich gerade genug gelernt, um Ihre verdammte Gesundheit mit eigenen Händen zu gefährden.«

Pitry senkt den Kopf, als sie in den rückwärtigen Bereich ihrer Behausung marschiert. Ihm wird bewusst, dass er sie nie normal hat gehen sehen. Es scheint, als wären ihre Füße nur zum Marschschritt fähig.

Nachdem sie verschwunden ist, greift er hastig nach dem zusammengeknüllten Blatt Papier auf dem Tisch. Das ist natürlich eine eklatante Überschreitung seiner Kompetenzen und darüber hinaus ein Verrat an dem Vertrauen, das Shara ihm entgegengebracht hat. Was bin ich nur für ein furchtbar schlechter Spion, denkt er, bevor ihm bewusst wird, dass er nicht wirklich ein Spion ist, worauf er sich gleich etwas weniger schuldig fühlt.

Er starrt die drei Wörter auf dem Zettel verwirrt an. »Häh?«, murmelt er.

»Was ist denn?«, tönt Mulaghesh Stimme aus dem Nebenzimmer.

»N…nichts!« Pitry knüllt den Zettel wieder zusammen und legt ihn zurück auf den Tisch.

Mulaghesh erscheint mit einer sehr langen Machete. »Ich habe keine Ahnung, wofür der ehemalige Besitzer das Ding hier benutzt hat«, sagt sie. »Vielleicht um Hartholz damit zu hacken. Aber es würde mich wundern, wenn man damit jetzt noch mehr als weiche Butter schneiden könnte.« Sie drückt Pitry die Machete in die Hand und führt ihn zur Tür. »Also, bis in drei Wochen, ja?«

»Das ist korrekt.«

»Dann bleiben mir also noch drei Wochen, um so viel anständiges Essen wie möglich in mich reinzustopfen«, stellt Mulaghesh fest. »Es sei denn, man hat auf dem Kontinent plötzlich gelernt, Klöße und Reis richtig zuzubereiten. Und, ah …« Sie presst sich eine Hand in die Magengrube. »Ich habe lange gehofft, meine Eingeweide müssten nie mehr Kohl verdauen …«

Pitry verabschiedet sich und steigt wieder den Hügel hinauf. Einmal wirft er einen Blick zurück auf das trostlose armselige Häuschen und den Sand rundherum, in dem leere Flaschen und Glasscherben glitzern. Obwohl er bisher noch nie an einer verdeckten Operation beteiligt gewesen ist – abgesehen von der Sache mit Bulikov, die seiner Meinung nach aber nicht zählt –, ist er doch etwas besorgt darüber, wie sich der Beginn dieses Unternehmens anlässt. Und er ist sich nicht sicher, warum ein Schreiben, das nur aus drei Worten besteht – »Gib ihm Bedeutung« – irgendeinen Einfluss darauf haben soll, dass die Operation überhaupt zustande kommt.

Ich habe Feuer und Tod durchschritten, um euch dies zu fragen: Können wir nicht Größeres leisten? Haben wir uns so zufrieden in unserem behaglichen Leben eingerichtet, dass wir nicht einmal mehr in der Lage sind, von Hoffnung, wahrer Hoffnung, auch nur zu träumen – nicht nur von Hoffnung für Saypur, sondern für die gesamte Menschheit?

Unsere Ahnen waren Legenden, die die Welt neu gestaltet haben. Sind wir wirklich willens, die kurze Zeit, die uns an diesen Küsten vergönnt ist, so kleingeistig zu verbringen?

REDE DER PREMIERMINISTERIN ASHARA KOMAYD VOR DEM PARLAMENT, 1721

2. Ein zuverlässiger alter Gaul

Sie erwacht mitten in der Nacht und bemüht sich, nicht zu schreien. Der unterdrückte Schrei lässt ihre Kehle beben, es ist, als würde sich eine heiße Luftblase tief in ihrem Inneren aufblähen, und sie schlägt um sich in dem Versuch, irgendetwas zu packen, knüllt die Bettlaken mit der rechten Hand zusammen, die Ballen ihrer nackten Füße gegen die Steinwand gepresst. Sie windet sich und kämpft, während ihr Verstand darauf besteht, sie befände sich immer noch in der Botschaft, noch immer fünf Jahre in der Vergangenheit, ihr Arm begraben unter herabgestürztem Geröll, der Himmel mit dichtem Qualm verhüllt, die gesamte Welt von einem Moment auf den anderen zerstört und verschwunden. In ihrer Erinnerung dreht sie sich noch immer auf der Straße herum, sieht noch immer den jungen Soldaten mit dem Gesicht auf dem Beton liegen, einen Blutstropfen im Ohr, der immer weiter anschwillt, bis er überquillt und ein rotes Rinnsal seine glatte Wange herabläuft, die Wange eines Jungen.

Mulaghesh lauscht auf das Geräusch der Wellen. Sie weiß, dass die Wellen da sind. Sie weiß, wo sie gerade ist. Sie muss nur irgendetwas finden, woran sie sich festklammern kann.

Endlich kann sie es hören, leise und gleichmäßig, das sanfte Steigen und Zurückweichen der Wellen, mit dem das Wasser den Sand am Strand aufwühlt, nur ein paar Hundert Fuß unterhalb ihres kleinen Häuschens.

Du bist in Javrat, schärft sie sich ein. Das weißt du. Du bist nicht in Bulikov. All das ist vor langer Zeit geschehen. Lausch einfach nur auf die Wellen …

Sie versucht, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie man entspannt, befiehlt jeder einzelnen Muskelpartie ihres Körpers nachzugeben, jetzt, sofort, und schließlich erschlafft sie. Erst da sickern die Schmerzen in ihr Bewusstsein, als alle Fasern ihrer Muskeln sich erinnern, dass sie sich bis zum Zerreißen angespannt hatten.

Sie atmet tief ein und bewegt Arme und Beine, um zu überprüfen, ob irgendwelche Muskelstränge gerissen oder Gelenke ausgekugelt sind. Alles tut ihr weh, aber sie scheint nicht verletzt zu sein.

Ihr Blick fällt auf den Wecker. Es ist noch nicht einmal Mitternacht. Aber sie weiß, dass sie keinen Schlaf mehr finden wird.

Na schön, denkt sie. Nur noch vier Stunden totschlagen. Sie freut sich nicht darauf, am Pier auf das Eintreffen des Schiffes zu warten. Ihr ist nicht danach zumute, andere Menschen zu sehen oder von ihnen gesehen zu werden.

Ihr Blick wandert zu dem Gegenstand rechts neben dem Wecker, einer menschlichen Hand aus dunklem Eichenholz, deren Finger halb gekrümmt sind, als seien sie im Moment des Zugreifens plötzlich erstarrt. Der Kunsthandwerker, der die Prothese angefertigt hat, erklärte, die Fingerstellung würde ihr helfen, Dinge festzuhalten, und obwohl das stimmt, hat der Anblick Turyin Mulaghesh immer ein wenig beunruhigt. Die gekrümmten Finger vermitteln irgendwie den Eindruck von Schmerzen, als hätte sich die Hand in dem Verlangen, etwas zu packen, derart verkrampft, dass sich die Finger kaum bewegen lassen.

Als ihre Bauchmuskeln protestieren, setzt sich Mulaghesh ächzend auf, ergreift die Kunsthand mit dem Gurtzeug, schiebt den verstümmelten Arm zwischen den abgewetzten Bändern hindurch und befestigt die Prothese behutsam auf dem Armstumpf, der ein Stück vor dem Handgelenk endet. Sie wickelt sich die weiche Baumwollmanschette um den Oberarm, schlingt dann die vier am Ende der Prothese befestigten Lederbänder um die Baumwollmanschette, fixiert sie und zurrt sie fest.

Danach bringt sie noch einige Zeit damit zu, die Gurte weiter zu straffen, wieder zu lockern und zu justieren. Es dauert immer eine Weile, bis alles richtig sitzt. Sie weiß, dass es nie perfekt sein wird.

In der Dunkelheit des Schlafzimmers versucht General Turyin Mulaghesh, ihren verkrüppelten Körper wieder zu vervollständigen.

*

Am nächsten Morgen sieht sie aus schmalen Augen zu, wie sich das Passagierschiff Kaypee langsam dem Dock nähert. Es dauert eine Weile, bis sie begreift, dass es sich nicht unglaublich langsam bewegt, sondern einfach nur unglaublich riesig ist – fast zweihundertfünfzig Meter lang. Ihr wird voller Verbitterung bewusst, dass ihr Land einen derartigen Aufwand früher ausschließlich für die Kriegsführung reserviert hat. Nun aber, im achten Jahrzehnt seiner Hegemonie, geruht Saypur offenbar, seine gewaltigen Ressourcen für solche dekadenten Projekte zu verschwenden.

Allerdings ist das Schiff wohl kaum der wahre Grund für ihren Zorn. Hier auf dem Kai ist sie von Familien mit plärrenden Babys und mürrisch dreinblickenden Halbwüchsigen umringt, von kuhäugigen Liebenden in endlosen innigen Umarmungen und älteren Ehepaaren, die mit geradezu glückselig und zufrieden wirkenden Gesichtern auf das Meer hinausschauen.

Mulaghesh scheint die einzige Person zu sein, die während ihrer Zeit auf Javrat keine neue Kraft getankt hat. Im Gegensatz zu allen anderen, die leichte und offene Tropenkleidung tragen, wirkt sie verschlossen; sie hat ihr ergrauendes Haar in einen Knoten im Nacken straff zurückgebunden, und ihr langer und schwerer, grauer Militärmantel verbirgt den größten Teil ihrer künstlichen Hand. Ihr einziges Zugeständnis an die tropische Umgebung ist eine blau getönte Sonnenbrille, deren Hauptzweck allerdings darin besteht, ihre verquollenen, verkaterten Augen zu verhüllen.

Durch die dunklen Gläser betrachtet sie die jungen Familien, die schlaksigen, langbeinigen Väter in ihren viel zu kurzen Shorts, die linkischen, mundfaul und fürchterlich verdrossen wirkenden Kinder, beobachtet neidisch, wie junge Liebespaare einander zärtlich liebkosen.

Wann hat sich mir jemals die Möglichkeit zu einem solchen Leben geboten?, denkt sie beim Anblick der glatten Gesichter, frei von Narben oder anderen Verunstaltungen, der unversehrten Schulterpartien, deren Haut unverkennbar nie vom Gewicht eines schweren Rucksacks gezeichnet worden ist. Sie schüttelt den linken Ärmel des Mantels, sodass er noch mehr von ihrer Handprothese verdeckt. Wann bin ich so alt geworden? Wann bin ich nur so beschissen alt geworden?

Ein scharfer Pfiff lässt sie zusammenzucken und ihr wird bewusst, dass sie die Ankunft des Schiffes verpasst hat, so tief ist sie in ihre Gedanken versunken gewesen. Sie ergreift ihren Seesack und bemüht sich nach Kräften, nicht an die Fahrt zurück zum Kontinent zu denken, zurück in das Land, in dem sie in ihrer Jugend in einem Krieg gekämpft, Jahrzehnte ihres Lebens im Dienst der Bürokratie vergeudet und eine Hand verloren hat, alles im Schatten der toten Gottheiten dieser Nation.

*

Die Kaypee verschwenderisch ausgestattet zu nennen, wäre eine maßlose Untertreibung, doch Mulaghesh hat keine Augen für die kunstvoll vertäfelten Decken oder die weitläufigen Decks. Stattdessen marschiert sie ohne Umweg direkt zu ihrer Kabine – beileibe keine der besseren Kategorie –, wo sie darauf wartet, dass es Abend wird. Sie verschläft das Ablegen des Schiffes, in den Stoff ihres dicken Mantels gehüllt. Sie hatte völlig vergessen, wie gemütlich das ist, und während ihre Schultern und Arme regelrecht mit dem Stoff verschmelzen, erinnert sie sich wieder an lange Aufenthalte draußen im Freien, bei Kälte und Regen in Schlamm und Morast, Erinnerungen, die den meisten Menschen unangenehm wären, die für Mulaghesh aber irgendwie einen rosigen Schimmer angenommen haben.

Wie traurig es doch ist, denkt sie, während sie vor sich hindöst, dass mich an Bord eines so luxuriösen Passagierschiffes ausgerechnet die Erinnerungen an ein entbehrungsreiches Soldatenleben aufmuntern können.

Als sie erwacht, überzieht ein purpurroter Dunstschleier den Himmel hinter dem Bullauge. Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr, sieht, dass es 1600 Uhr ist, steht auf und steigt die Gänge zur Tohmay-Rezeption hinunter.

Ein Bediensteter am Eingang erkundigt sich höflich, auf welcher Firmenliste sie geführt wird. »Thivani Industries«, sagt sie. Der Mann überprüft die Liste, nickt und öffnet ihr lächelnd die Tür. Sie tritt ein und durchquert einen langen schmalen Gang, bis sie schließlich den letzten Raum erreicht. Wie der Rest des Schiffes ist auch er geradezu grotesk luxuriös gestaltet – wie viel haben die nur für mein verdammtes Ticket verpulvert? –, auch wenn die Bar zu ihrem Bedauern verwaist ist. Die einzige andere anwesende Person sitzt an einem Tisch vor einer Reihe von Glastüren, die auf die weite dunkle See hinausblicken.

Als Pitry Suturashni sie kommen hört, erhebt er sich und lächelt. Sein Gesicht hat einen blassgrünen Farbton angenommen, und er riecht penetrant nach Erbrochenem. »Willkommen, General! Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten.«

*

»Ich darf wohl annehmen«, sagt Mulaghesh, »dass ich mich nur deshalb auf diesem Schiff befinde, weil so schnell kein anderes verfügbar war.«

»Obwohl Sie sehr wertvoll für uns sind, vermuten Sie zu Recht, dass wir normalerweise keine derartige Beförderung gewählt hätten.« Pitry stößt auf und hält sich den Handrücken vor den Mund.

»Soll ich Ihnen vielleicht einen Eimer besorgen?«, erkundigt sich Mulaghesh.

Pitry schüttelt den Kopf, obwohl er jeden Grund hat, das Angebot zu erwägen. »Wie … unpatriotisch es für einen Saypuri auch sein mag, muss ich leider zugeben, dass meine seemännischen Anlagen nicht besonders ausgeprägt sind.«

»Auch Shara hat einen fürchterlich empfindlichen Magen, soweit ich mich erinnere«, sagt Mulaghesh und setzt sich. »Es reicht schon, dem Mädchen nur ein Bild von einem Boot zu zeigen, damit sie die Wände mit ihrer letzten Mahlzeit verziert.« Pitrys Gesichtsfarbe wird daraufhin noch unansehnlicher. »Wie ich sehe, fährt dieses Schiff nach Ahanashtan. Findet die geheimnisvolle Operation dort statt?«

»Nein. Sie werden von Ahanashtan aus ein weiteres Schiff besteigen, das Sie zu Ihrem endgültigen Ziel bringt. Shara hat mich jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie Sie lieber persönlich über alles Weitere unterrichten würde.«

»Persönlich?« Mulaghesh sieht sich um. »Ist sie etwa … hier?«

Pitry bückt sich nach einer ledernen Aktentasche, die neben seinem Stuhl steht. Er entnimmt ihr ein kleines Holzkästchen und stellt es zwischen sich und Mulaghesh auf den Tisch.

»Was, steckt Shara etwa da drin?«, erkundigt sich Mulaghesh ironisch.

»Gewissermaßen«, erwidert Pitry. Er schiebt eine Abdeckung an der Seite des Kastens zurück, worauf ein Messingrohr zum Vorschein kommt, das er so dreht, dass es auf Mulaghesh zeigt. Dann klappt er den Deckel hoch, und Mulaghesh erblickt eine kleine, ölig glänzende, schwarze Scheibe in der Mitte des Kästchens. Seitlich davon befindet sich eine kleine Kurbel, die Pitry etwa zwanzig Sekunden lang dreht. Schließlich drückt er auf eine Taste, und das Kästchen beginnt zu zischen.

»Oh, was bei allen Höllen ist das?«, fragt Mulaghesh. »Noch so eine technische Neuheit?«

»Eins der neuen interessanten Projekte aus dem Ministerium für Wiederaufbau«, sagt Pitry in leicht verletztem Tonfall.

»Die Leute vom MfW haben noch nie ein vernünftig funktionierendes Gerät gefunden, das sie nicht völlig verpfuschen konnten«, bemerkt Mulaghesh. »Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was dabei herauskäme, wenn sie versuchen würden, die Toilette neu zu erfinden.«

Pitry seufzt wieder, zieht eine Akte aus der Tasche und reicht sie Mulaghesh. Sie ist mit einem großen roten Wachssiegel verschlossen. Mulaghesh bemerkt, dass das Siegel keinerlei Schriftzeichen oder Symbole aufweist. Also stammt das, was auch immer das Ding enthält, mit Sicherheit von keiner der normalen Behörden, denkt sie.

»Brechen Sie das Siegel erst auf, wenn sie Sie dazu auffordert«, sagt Pitry.

»Sie?«

Plötzlich mischt sich eine Stimme in das Zischen, leise und irgendwie traurig, und sie erscheint Mulaghesh viel, viel älter als bei ihrer letzten Begegnung. »Hallo, Turyin.«

»Verdammt!«, stößt sie überrascht hervor. »Shara?«

»Sie kann Sie nicht hören«, erklärt Pitry. »Es ist lediglich eine Aufzeichnung. Dieses Gerät speichert Geräusche auf die gleiche Weise, wie Telefone Geräusche transportieren.«

Mulaghesh betrachtet das Kästchen aus schmalen Augen. »Wo speichert es sie?«

»Also, sie sind … Die Geräusche sind dort eingraviert, nehme ich an, in dieses kleine schwarze Scheiben-Ding. Zumindest glaube ich das. Die Techniker haben mit jeder Menge Diagrammen versucht, es mir zu erklären. Wie auch immer, ich überlasse Sie jetzt der Aufzeichnung.«

»Pitry«, sagt Sharas kratzige, geisterhafte Stimme. »Sollten Sie immer noch da sein, lassen Sie uns jetzt allein.«

»Sehen Sie, was ich meine?«, fragt Pitry. Er lächelt schwach, schiebt sich durch die Tür auf den Balkon und lässt Mulaghesh allein mit dem Kästchen und der Akte zurück.

*

»Ich hoffe, es geht Ihnen gut«, sagt Sharas Stimme. »Und ich hoffe, Ihre Zeit in Javrat war angenehm. Ich entschuldige mich dafür, mit dieser Aufgabe an Sie heranzutreten, aber … alles würde sich einfach viel zu gut für mich fügen, als dass ich es mir leisten könnte, Sie nicht damit zu behelligen. Es sind jetzt zehn Monate seit Ihrem Abschied vergangen, und Sie sind immer noch eine geachtete Offizierin im Generalsrang, die aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden ist. Außerdem gibt es einen gut nachvollziehbaren Grund für Ihren erneuten Aufenthalt auf dem Kontinent, dafür, praktisch jeden Ort aufzusuchen, den Sie besuchen wollen, und alle werden glauben, es ginge dabei lediglich darum, Ihnen den Anspruch auf den Bezug Ihrer vollen Pension zu ermöglichen … darum, dass Ihr Land Ihnen einen Gefallen tun möchte, bevor es – wie sollen wir es nennen? – einen verlässlichen alten Gaul auf die grüne Weide entlässt.«

»Scheiße«, murmelt Mulaghesh. »Erspar mir deine Spielchen …«

»Es ist natürlich schon ungewöhnlich, einen General von Ihrem Ruf mit einer derartigen Mission zu betrauen«, fährt Sharas Stimme fort, »aber aus noch mehr als den von mir bisher aufgeführten Gründen glaube ich, dass Sie persönlich sich besonders gut für diese Aufgabe eignen, und zwar aus folgenden Gründen, die, wie ich hoffe, gleich ersichtlich werden dürften. Warum das so ist, werde ich Ihnen jetzt erklären. Diese Nachricht kann nicht wiederholt werden, also hören Sie bitte genau zu.«

Mulaghesh beugt sich vor, bis ihr Ohr beinahe das Ende des Messingrohrs berührt.

»Vor zwei Jahren wurde auf dem Kontinent eine Entdeckung gemacht. Eins unserer Unternehmen stolperte in der gebirgigen Westküste über ein seltsames pulvriges Erz. Die Substanz wurde anfangs nicht weiter beachtet, bis ein Forscherteam eines Regionalgouverneurs im Rahmen eines Experiments versuchte, elektrischen Strom durch sie hindurch zu leiten.

Die Forscher entdeckten dabei, dass diese Substanz in der Lage ist, elektrischen Strom auf eine bisher unbekannte Art zu transportieren. Falls Sie es nicht wissen sollten, kein Leiter ist perfekt, ganz egal ob Kupfer oder Stahl, ein Teil der elektrischen Ladung geht bei der Durchleitung immer verloren. Bei dieser Substanz aber gibt es keinerlei Verlust. Keinen. Und … einige erst kürzlich erstellte Berichte legen nahe, dass das Material weitaus bedeutendere Eigenschaften als nur diese außerordentliche Leitfähigkeit besitzt …« Es folgt eine Pause. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Berichten vertrauen kann. Ich überlasse es Ihnen, das zu entscheiden, sobald Sie vor Ort eintreffen.«

Irgendetwas daran beunruhigt Mulaghesh. Es liegt etwas in Sharas Stimme, so als machte das laute Aussprechen dessen, was man ihr berichtet hat, die ganze Sache etwas realer und damit auch etwas beängstigender.

»Könnten wir das Potenzial dieser Substanz zur Gänze ausschöpfen, wäre das nicht weniger als eine Revolution für Saypur und den Kontinent, der Heizung und Energie bitter nötig hat. Einflussreiche Industriekreise brennen darauf, diese Schritte jetzt und sofort zu ermöglichen. Allerdings habe ich bisher nicht die Erlaubnis erteilt, die Substanz in größerem Ausmaß herzustellen. Mein Hauptproblem besteht darin, dass unsere Wissenschaftler und Techniker nicht verstehen können, wie das Material seine Wirkung genau entfaltet. Die Funktionsweise normaler Leiter können sie befriedigend erklären, die dieser Substanz jedoch nicht einmal im Ansatz. Und wie Sie sich bestimmt vorstellen können, hege ich ein tiefes Misstrauen gegenüber allem, was wir nicht erklären können.«

Mulaghesh schneidet eine Grimasse, denn das ist absolut richtig. Sollte diese Substanz erstaunliche Eigenschaften besitzen, die nicht wissenschaftlich erklärt werden können, dann wäre es möglich, dass sie mirakulöser Natur sind, das Produkt einer der alten kontinentalen Gottheiten. Nach allem, was Shara und ihr Urgroßvater, der hochverehrte Kaj von Saypur, getan hatten, sollten eigentlich fast alle der ursprünglichen kontinentalen Gottheiten tot sein und mit ihnen alle ihre wundersamen Gegenstände wirkungs- und funktionslos. Wenn dieses Zeugs also mirakulös ist, denkt Mulaghesh, ist vielleicht eine der Gottheiten doch nicht ganz so tot, wie es uns lieb wäre.

»Sie vermuten jetzt völlig zu Recht, dass ich mir Sorgen mache, diese Substanz könnte göttlicher Natur sein«, fährt Sharas Stimme fort. »Aus diesem Grund werden Sie sich wahrscheinlich fragen, warum ich ausgerechnet Sie statt irgendjemanden aus dem Außenministerium, dessen Fachgebiet alles Göttliche und Mirakulöse umfasst, mit dieser Aufgabe betraue.«

»Das ist richtig«, murmelt Mulaghesh.

»Die schlichte Antwort ist, dass wir genau das schon einmal versucht haben. Vor acht Monaten. Und nachdem unsere Mitarbeiterin die Substanz drei Monate lang untersucht hat, verschwand sie von einem Tag auf den anderen. Einfach so. Ohne eine Spur zu hinterlassen.«

Mulaghesh hebt eine Braue. »Hmm.«

»Ihr Name war Sumitra Choudhry. Ihre Akte ist in dem Dossier enthalten, das Pitry Ihnen ausgehändigt hat. Wie gesagt, sie hat diese Substanz drei Monate lang in der saypurischen Militäreinrichtung der Region untersucht. Ihre Rückmeldungen kamen zunehmend unregelmäßiger, und eines Tages war sie dann einfach nicht mehr da. Ganz plötzlich. Unsere Einheiten haben nach ihr gesucht und nichts gefunden. Sie haben nicht mit irgendwelchen … ungewöhnlichen schmutzigen Tricks gerechnet.« Man hört das Klirren von Glas, ein Ploppen, das Gluckern einer Flüssigkeit – schenkt sich Shara gerade ein Glas Wasser ein? – und ein Schluckgeräusch. »Und ich benutze den Ausdruck ›ungewöhnlich‹, weil diese Substanz in Voortyashtan entdeckt wurde. Und genau das ist Ihr Ziel.«

»Ah, Scheiße!«, ruft Mulaghesh aus. »Scheiße! Wollen Sie mich verarschen?«

Ein weiteres Schluckgeräusch.

»Ich werde Ihnen jetzt einen Moment Zeit geben, sich zu sammeln«, sagt Sharas Stimme.

*

In der Folge hat Mulaghesh dem kleinen Kasten so einiges zu sagen. In erster Linie erläutert sie ihm, was sie Shara alles antun wird, sobald sie nach Ghaladesh zurückkehrt, falls sie jemals nach Ghaladesh zurückkehrt, denn stehen die Chancen dafür, dass sie in dem beschissenen Voortyashtan, dem Arschloch des Universums, der stinkenden Achselhöhle der Welt, entweder ermordet wird oder ersäuft oder an der Pest stirbt, nicht drei zu eins gegen sie?

Und genau das ist es, wohin Shara sie schicken will: In den denkbar schlimmsten und entlegensten Winkel des Globus, den militärischen Außenposten, in den man nur abgeschoben wird, wenn man die falsche Person umgebracht oder mit ihr geschlafen hat.

»… mir völlig egal, ob ich dafür im Bau lande!«, brüllt Mulaghesh das Kästchen an. »Es ist mir auch egal, ob man mich häutet oder vierteilt! Ich werde es dir in aller Öffentlichkeit heimzahlen, und zu allen Höllen mit deinen hochtrabenden Titeln!«

Aus dem Kästchen ertönt ein weiteres kontemplatives Schluckgeräusch.

»Du reißt mich aus Javrat heraus und verfrachtest mich auf ein Boot nach Voortyashtan, ohne mich vorher darüber zu informieren? Das ist schlechter Stil, das sind schlechte Manieren, das Allerletzte! Schäbiger geht es gar nicht!«

Noch ein Schluckgeräusch.

Mulaghesh vergräbt das Gesicht in ihrer intakten Hand. »Verdammt noch mal … Was soll ich nur tun?«

»Ich hoffe, Sie beruhigen sich langsam wieder«, sagt Sharas Stimme geziert.

»Leck mich!«, faucht Mulaghesh.

»Und ich denke, dass es Sie vielleicht ein wenig erleichtern dürfte zu erfahren, dass der fragliche Militärstützpunkt auch der Sitz unseres Regionalgouverneurs ist, Fort Thinadeshi. Sie werden sich also in einer, wie ich hoffe, streng kontrollierten Region befinden. Wie Sie wissen, liegt die Festung knapp außerhalb von Voortyashtans eigentlichem Stadtgebiet, weshalb es dort etwas … zivilisierter zugeht als im Rest der Region.«

»Was nicht viel zu bedeuten …«

»Das mag nicht viel bedeuten«, sagt Sharas Stimme. »Wir werden Ihnen außerdem eine Kontaktperson zur Verfügung stellen, jemanden, der Sie auf die Situation in Voortyashtan vorbereiten kann. Pitry hat weitere Details dazu.«

Mulaghesh seufzt.

»Ich brauche jemanden vor Ort, dem ich vertrauen kann, Turyin. Jemand muss für mich herausfinden, ob es Grund zu der Vermutung gibt, dass diese neue Substanz irgendwie göttlichen Ursprungs sein könnte. Und was Choudhry widerfahren ist.«

»Und was könnte ich sonst noch für Sie tun? Vielleicht den Himmel in einem verdammten Bierglas einfangen?«

»Möglicherweise eignen gerade Sie sich auf einzigartige Weise besonders gut für diese Mission«, erklärt Sharas Stimme. »Denn der neue Regionalgouverneur des Stadtstaates Voortyashtan ist General Lalith Biswal.«

Die bloße Erwähnung des Namens trifft Mulaghesh wie ein Hammerschlag auf den Schädel. Sie starrt das Kästchen fassungslos an. »Nein«, flüstert sie.

»Da Sie beide gemeinsam im Sommer der Schwarzen Flüsse gekämpft haben«, fährt Sharas Stimme ruhig und unberührt von Mulagheshs inneren Qualen fort, »hoffe ich, dass Sie im Gegensatz zu den meisten anderen Mitarbeitern einen Draht zu ihm finden werden.«

Vor Mulagheshs innerem Auge blitzt sein Gesicht auf: jung, dunkeläugig, schmutzverkrustet, wie er sie aus dem Schatten eines Schützengrabens heraus beobachtete, während ihnen der Himmel auf die Köpfe pisste. Obwohl sie weiß, dass er mittlerweile fast fünfundsechzig sein muss, wird sie sich immer so an ihn erinnern.

»Nein, nein, nein«, stöhnt sie leise.

»Und da Biswal ähnlich aufbrausend ist wie Sie, denke ich, dass er Ihnen Ihre Alibigeschichte abkaufen könnte. Er hat selbst Erfahrung mit der Engstirnigkeit der militärischen Bürokratie gesammelt und schon viele Kameraden gesehen, die auf die Ochsentour gegangen sind.«

Mulaghesh starrt den kleinen Kasten auf dem Schreibtisch reglos an. Was für ein schändliches Verbrechen habe ich begangen, fragt sie sich, dass ich zu einem derartigen Schicksal verdammt bin?

»Außerdem ist da noch die Sache mit dem Hafen. Wie Ihnen bekannt ist, arbeiten Saypur, Voortyashtan und die Vereinigten Staaten von Dreyling bei dem Versuch zusammen, einen zweiten funktionierenden Überseehafen auf dem Kontinent zu errichten. Das sollte, so hoffe ich, Ihre Mission nicht sonderlich beeinflussen, andererseits aber ist es kein einfaches Projekt, und es herrscht eine angespannte Atmosphäre in der Region.«

»Na großartig«, kommentiert Mulaghesh.

Shara listet einige Kommunikationskanäle auf, die Mulaghesh zur Berichterstattung nutzen kann, sowie Verschlüsselungssysteme und Spionagemittel, die ihr in Voortyashtan zur Verfügung stehen werden. »Allerdings sollten diese Mittel nur in extremen Situationen genutzt werden«, mahnt sie. »Wegen der … politischen Spannungen in letzter Zeit könnte es sich als äußerst ungünstig erweisen, sollte die wahre Natur Ihrer Mission der Öffentlichkeit bekannt werden. Deshalb sehe ich mich auch gezwungen, Ihnen sehr viel weniger direkte Unterstützung zukommen lassen zu können, als es uns wahrscheinlich beiden lieb ist. Aber ich setze großes Vertrauen darauf, dass Sie alle Hindernisse sicher umschiffen werden.«

»Ah, Scheiße.«

»Ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie diese Operation übernehmen, Turyin«, sagt Shara. »Mir fällt niemand ein, den ich lieber in Voortyashtan sehen würde. Und ich danke Ihnen dafür, dass Sie in meinen Dienst zurückkehren, wenn auch nur für diese eine Operation. Ich gebe nicht vor, gänzlich zu verstehen, warum Sie überhaupt den Dienst quittiert haben, aber manchmal bilde ich mir ein, es doch zu tun.«

Offensichtlich tust du es, denkt Mulaghesh, sonst hättest du mir nicht diese Botschaft zukommen lassen.

»Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung und Ihre Freundschaft, Turyin Mulaghesh. Ihr Land weiß den Dienst zu schätzen, den Sie ihm erwiesen haben und weiter erweisen – in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Viel Glück.«

Ein Zischen, ein Klicken, und die Stimme verstummt.

*

Die Tür zur Tohmay-Rezeption öffnet sich. Pitry, der über den Balkon auf die im Mondlicht schimmernde See hinausgestarrt hat, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wirft einen Blick hinter sich und muss ein zweites Mal hinschauen, als er Mulaghesh mit einem Kristallschwenker in der Hand eintreten sieht, der ein offenbar sehr teures alkoholisches Getränk enthält. »W-wo haben Sie das her?«

»Hab’ mich selbst an der Bar bedient.«

»Aber … aber wir werden dafür bezahlen müssen.«

»Wussten Sie das?«

»Wusste ich was?«

»Dass Shara vorhat, mich in das verfluchte Voortyashtan zu schicken.«

Pitry zögert. »Nun, ich … mir war irgendwie bewusst, dass Sie …«