Die Sterne in uns - Jan Corvin Schneyder - E-Book

Die Sterne in uns E-Book

Jan Corvin Schneyder

0,0

Beschreibung

Die eigenwillige Offizierin Vanessa Woodman leitet eine kleine technische Station an der irischen Westküste, bis unerklärliche Morde und Sabotageakte den Frieden stören. Vom Geheimdienst genötigt, die Vorkommnisse aufzuklären, stellt sie ein Team aus langjährigen Vertrauten zusammen. Die Ermittlungen führen »Woodi« und ihre loyale, aber etwas chaotische Einheit in ein mysteriöses Schloss, während ihr Auftraggeber sich in Widersprüche verstrickt und sie selbst mit einer zur Unzeit neu entflammten Liebe klarzukommen versucht. Die Jagd auf den im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbaren Feind konfrontiert sie mit ihrer eigenen Familiengeschichte, und schließlich scheint die Spur in den Weltraum zu führen, in den »Woodi« nicht hatte zurückkehren wollen…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 539

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jan Corvin Schneyder

DIE STERNE IN UNS

ROMAN

PENDRA UNIVERSE TALES

Für M., J., J. und H.

Inhalt

PENDRA UNIVERSE TALES

LETZTE WARNUNG

I ABGESCHALTET

II GALWAY

III ALLEIN

IV EINGELOGGT

V FILMENDE

VI PANIKRAUM

VII NOONA

VIII FLINK

IX JILL

X TEAMARBEIT

XI LEGIA UNIA

XII MACAULAY UND TINA

XIII FLURPARTY

XIV KARLSTEIN

XV VAMPIRE

XVI FANTASY

XVII ABGRUENDE

XVIII MONDNACHT

XIX AUGENOEFFNER

XX LIEBESKRAM

XXI PARAPSYCHO

XXII MEGA STEALTH

XXIII STAN

XXIV MIRACULOUS

XXV SCHOCK

XXVI INION

XXVII UNDERDRESSED

XXVIII RETROSPEKTIVE

XXIX WALD

XXX ATEM

XXXI SPINNE

XXXII TRAPPED

XXXIII UNFAIR

XXXIV HALBSCHATTEN

XXXV CONSTRICTOR

XXXVI PARIS

XXXVII SPACE

XXXVIII DOOM

XXXIX KATAKLYSMUS

XXXX LEATHSCATH

XXXXI GEERDET

XXXXII SHEELIN

DIE STERNE IN UNS

DER AUTOR

DANKSAGUNG

LETZTE WARNUNG

Hallo, ich bin ein Mädchen.

Schwachsinn! Noch mal! Und was ist das eigentlich für eine dämliche Funktion, die da immer aufleuchtet? Dieses VoxCom spinnt!

Hallo, ich bin eine Frau. Ich bin eine Frau und …

Was ist das für ein naiver Blödsinn? Neu!

Stellachron 370 …

Halt! Wen interessiert die interstellare Calculator-Zeitangabe? Doch nur Männer. Technik-Nerds. Unsexy! Reiß dich mal zusammen, Mädchen! Da! Schon wieder dieses Wort. Aber dürfen Frauen nicht manchmal auch noch Mädchen sein? Doch! So, ich sortiere mich besser noch mal neu. Und irgendwie zeichnet das VoxCom unpräzise auf. Ob ich nicht doch tippen sollte?

Mein Name ist Vanessa Woodman. Ich bin in Sheffield aufgewachsen. Sheffield ist eine Stadt auf der größten, also auf der rechten der früher mal so genannten Britischen Inseln. Manche nennen die Gegend, in der es liegt, auch heute noch England, wenn es England natürlich auch nicht mehr als eigenen Staat gibt. Schließlich ist die ganze Erde ein namenloser Staat. Es ist eben ein besiedelter, geeinter Planet. Ende.

So, das war nun aber auch alles an Geschichte und Politik. Interessiert mich nämlich auch nur wenig.

Ich drück mich mit der Einleitung doch nur um die Erzählung herum. Ich kann mir oder ihr doch eh nicht entkommen. Puh, wo ist mein Kaffee eigentlich? Nicht da. Toll. Konzentrier dich mal!

Ich war, als es begann, nicht mal Ende Zwanzig und hatte schon ziemlich viel verrücktes Zeug erlebt.

Gott, das klingt schwer nach langweiligem Tagebuch-Eintrag, aber warum grinse ich dann so? Manche von diesen verrückten Sachen füllen mein Herz bis heute mit Feuer, Dunkelheit, Wärme und Sternen. Das schreib ich hier aber besser nicht hin.

Ich bin eigentlich keine nostalgische Geschichten-Oma, deswegen jetzt erst einmal nichts weiter zu den vielen Geschichten vorher. Es war auf jeden Fall ein bisschen mehr verrücktes Zeug, als ein durchschnittlicher Mittzwanziger gesehen haben sollte. So richtig aus der Bahn geworfen hatte mich das aber nicht, und da war ich fast ein bisschen stolz drauf. Da war ziemlich viel außerirdischer Scheiß – sorry, ich drücke mich nicht immer prinzessinnenhaft aus, aber das hier ist eh nichts für Kinder - und Krieg mit dabei gewesen, inklusive Todesangst und Verzweiflung.

Es hatte sogar Momente der Todesgewissheit gegeben.

Gewissheit ist viel mehr als Angst.

Und da fuhr kein kitschiger Lebensfilm am inneren Auge vorbei!

In diesen Momenten hatten mich ein letzter, klarer Gedanke oder ein eindringliches Gefühl erfüllt. Und dann, einen Wimpernschlag vor dem vermeintlichen Tod, hatte ich weder Trauer noch Furcht gespürt, sondern Zuversicht. Mir war so, als könne ich sicher sein, dass es danach gut für mich weiterginge.

Ich wollte trotzdem lieber weiterleben. Warum denn nicht steinalt werden? Die Lebenserwartung war hoch, wenn man mit dem Hintern auf der Erde blieb und nicht aus dem All gepustet oder von Photonen gebraten wurde.

Ich hatte nach den wilden, gefährlichen ersten Jahren meines Jobs eine neue Stelle angenommen. Die trug einen gehörigen Teil dazu bei, dass ein actiongeladener Tod nicht mehr ganz so wahrscheinlich war.

Ich blieb aber weiter Stalev in der ST, der Squadronica Terrensis. Stalev ist ein Offiziersrang mit ein bisschen Befehlsgewalt, die ST ist die interstellare Flotte der Menschheit, exekutives Organ der Unyon of Worlds.

Klingt kitschig, ich weiß.

Die Squadronica war das einzige militärische und diplomatische ausführende Organ, also der interstellare Werkzeugkasten der Menschheit. Den öffnete sie in jeder freien Minute für die Wissenschaft, aber man ließ sie leider nicht immer in Ruhe forschen. Fast jedes ihrer Raumschiffe trug Waffen, manche verdammt viele davon.

Da bin ich vielleicht nicht typisch weiblich, falls es sowas überhaupt noch gibt. Ich mag Waffen nämlich. Ich habe Waffen und Kampftechniken schon immer gemocht.

Einige Jahre lang hatte ich auf Schiffen programmiert, geschraubt und Leute weggekickt, aber dann, wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig, war ich im wahrsten Sinne des Wortes bodenständig geworden. Ich ließ meinen Hintern fortan unten, raus aus dem Weltall. Das war besser so für mich, und es funktionierte auch zwei Jahre lang richtig ordentlich, ganz ohne Fernweh.

Klar hatte ich als Teenager von Abenteuern und Forschungsreisen geträumt, auch davon, das Universum zu einem besseren Ort zu machen. Reisen waren aufregend, andere Völker und Kulturen interessierten mich sehr, aber ich hatte leider auch viele Existenzen kennengelernt, die nichts Gutes im Schilde führten. Ich hatte auch viele Menschen kennengelernt, die nichts Gutes im Sinn hatten.

Man wird dann leider schnell, sehr schnell, zu schnell so richtig erwachsen.

Irgendwas in mir verkrampft sich total, wenn ich nur daran denke, dass ich gleich richtig loslegen muss. Wie wird sich das anfühlen, wenn aus den Erinnerungen Worte werden? Aber ich muss das aufschreiben! Come on, Woodi!

Ich arbeitete nun im Cluster für Orbitalgeschütze.

Diese gigantischen Kanonen waren um den ganzen Erdball verteilt und sollten, vom Asteroiden bis zur feindlichen Invasionsflotte, alles aus der Umlaufbahn pusten, was uns ungebeten zu nahe kam. Da das gesamte System bei einer nur knapp gescheiterten feindlichen Invasion zwei Jahre zuvor in Grund und Boden geballert worden war, hatten wir seither eine Menge wiederaufzubauen. Natürlich sollte es nicht nur repariert, sondern auch verbessert werden. Es würde zahlreicher und mächtiger knallen als je zuvor. Wir machten aus der ganzen Erde ein Biest aus Stahl.

Im übertragenen Sinne.

Natürlich waren Orbitalgeschütze nicht mehr aus Stahl gefertigt, aber der Planet sollte wie ein antiker Kampfkreuzer der ersten Weltkriege ganze Salven von Sperrfeuer ungeheuren Kalibers in den Orbit feuern können.

Ich steigerte mich manchmal richtig in die Sache rein. Manche Simulationen vom fertigen System sahen einfach genial aus. Ich hörte gern Heavy Metal dazu, wenn ich sie mir reinzog. Ich weiß, dass Waffen böse sind und Leben beenden, aber ihre Faszination konnte ich mit Verstand, Logik oder Philosophie nicht kleinkriegen. Wenn sie nun leider schon mal in der Welt waren – nicht nur bei uns, sondern auch bei fast allen anderen Völkern, denen wir begegnet waren – dann sollten sie auch funktionieren und effektiv sein.

Irgendjemand musste sich darum kümmern.

Weiß Gott, warum ich mich um sie kümmern wollte, aber so war es nun mal.

Ich arbeitete gar nicht allzu weit weg von meiner Geburtsstadt Sheffield, nämlich auf der kleineren linken Insel.

Die nannte fast jeder immer noch Irland.

Von dort und von Island aus deckte meine Sektion den nordatlantischen Raum in westlicher Hemisphäre ab. Drüben auf dem amerikanischen Kontinent oder auf der anderen Seite in Skandinavien standen natürlich auch Geschütze. Dort gab es viele weitere Teams, und wir überlegten in wiederkehrenden Gesprächsrunden gemeinsam, ob wir nicht auch wassergestützte Systeme anlegen sollten, die zum Beispiel auf ehemaliger Atlantis-Lage zwischen Europa und Amerika mitballern könnten. War eigentlich nicht nötig, aber ich hätte es cool gefunden!

In Irland selbst standen vier Geschütze, jeweils eins an den Küsten der vier Haupthimmelsrichtungen.

Ich lebte in der Nähe des westlichen Geschützes. So übervölkert die Erde mal gewesen war, zu jener Zeit war sie es nicht mehr. Und dort war sie es eigentlich nie gewesen. Neben den anderen Offizieren und dem Hilfspersonal, das in Irland Dienst tat, lebten in der ganzen westlichen Region vielleicht fünfhundert Menschen.

Ich liebte es.

Das war eine andere Seite an mir.

Stille und Leere waren erholsam. Sie waren das Gegenteil von Technik und Waffengewalt. Andererseits mochte ich auch Action und Partys, aber das ließ mit zunehmendem Erfahrungsschatz doch ein wenig nach. Spaß und Lärm holte ich mir ab und zu immer noch, aber andernorts und nicht mehr so heftig wie früher.

Action passiert eh mehr im Kopf als vor der Nase.

»Woodi, was machst du da eigentlich für´n Scheiß? Schreibst du deine Memoiren, oder was? Wir wollten doch los und du hilfst absolut gar nicht beim Packen!«

Danke schön! Dein Gebrüll ist jetzt schön mit ins VoxCom gerattert!

»Ja, sorry, ich komm gleich!«

Das war … egal jetzt, wer das war. Wir wollten wirklich zum Strand und ich sollte helfen, den Picknickkorb und all das andere Zeug zusammenzusuchen und einzupacken.

Irgendwann musste ich ja anfangen, es aufzuschreiben. Alles, was geschehen ist.

Es war bislang nie der richtige Zeitpunkt dafür.

»Woodi!«

Alle, die mich ein bisschen besser kennen oder vielleicht sogar mögen, nennen mich Woodi.

Und ich muss jetzt diesen Text schreiben.

Ich soll es. Anweisung. Und ich will es ja auch.

Wenn ich vom Strand zurück bin, schreibe ich auf, wie es anfing. Der Rest läuft dann von allein.

Letzte Warnung.

Es wird heftig.

IABGESCHALTET

Es piepte und piepte und piepte. Es hörte gar nicht mehr auf.

Ich ging genervt an den Kontrollen vorbei und sah mir alles an, zumindest oberflächlich.

Was zur Hölle piepte da eigentlich?

Müsste ich das nicht wissen?

Ich fand es nicht heraus, neigte schmunzelnd den Kopf und ließ es einfach weiter piepen.

Wird schon nicht wichtig sein. Jaja, in Horror- und Katastrophenfilmen passiert in solchen Momenten immer etwas Schreckliches, aber in der Realität eben nicht. Mein Leben ist kein Klischee, wenn ich es nicht dazu werden lasse.

Ich massierte mir die Schläfen und trank einen Schluck Kaffee. Er war zu heiß. Ich fluchte still.

Zunge verbrannt, aber immerhin nicht vollgesabbert.

Es war einfach zu früh.

Und Montag.

Natürlich waren die Stationen auch am Wochenende besetzt, aber ich war Stalev. Ich war in dieser kleinen Untersektion befehlshabend. Klar muss ich zwischendurch auch mal solidarisch sein und mir Wochenendschichten auferlegen, aber meistens muss ich es eben nicht. Und ich wusste, dass die anderen das akzeptierten. Die wenigen anderen Squad-Offiziere waren jünger als ich. Mein Alter war gar nicht so leicht zu unterbieten, aber Kriege fordern Opfer und senken den Altersschnitt. Das zivile Hilfspersonal hingegen war überwiegend deutlich älter als ich, aber Zivilisten gaben sich hinsichtlich der Wachbereitschaft diensthabender Offiziere keinen Illusionen hin. Sie halfen ja auch gern. Niemand zwang sie dazu. Klassische Zahlungsmittel früherer Zeiten gab es zwar nicht in unserer Realität, aber ein paar Privilegien als Entlohnung, und im Dienst für die Regierungstruppen ließ sich da am ehesten ordentlich absahnen. War völlig in Ordnung. Ich war zwar nicht deswegen in dieser Position, aber jeder durfte sein, wo er wollte. Das war das Gute an unserer Zeit. Fleiß, Disziplin, Kreativität, Durchsetzungsfähigkeit und Cleverness, um etwas zu erreichen, musste man immer noch selbst aufbringen, aber wenn man einfach nichts tun wollte, dann zwang einen auch niemand dazu, etwas zu tun. Etwa fünfzig Prozent der erwachsenen Erdbevölkerung tat nichts, das als Beruf erkennbar gewesen wäre, aber niemand hätte sie als arbeitslos bezeichnet.

Ich wollte aber etwas tun.

Entweder hatte man Talente oder man lud sich Fähigkeiten durch Lernen und Trainieren drauf, das war bei jedem anders. Aber ohne Leistung gab es auch keine verantwortungsvollen Positionen. Nahrung, Wohnung, alle Arten von Unterhaltung, von Reisefreiheit und so weiter hatte wirklich jeder, aber Privilegien waren nicht angeboren und wurden auch nicht verschenkt. Einsatz war schon wichtig. Das fand ich gut so.

»Stalev Woodman?«

Ich drehte mich um und bekam schlechte Laune.

Jensen, auch das noch.

Jensen war Dewie, also einen Rang unter meinem Stalev-Dienstgrad. Er war ein dürrer, großer Typ, Anfang Zwanzig, dem Regelfanatismus und Selbstüberschätzung angeboren schienen. Der Typ war nie betrunken, nie krank und nie unsachlich. Leider war er kein robotischer Humanbot. Die menschlichen Reste in ihm machten die anderen Eigenschaften nur schwer genießbar. Ok, keine Reste, er war ein Mensch, zumindest laut Akte. Als Mann konnte ich ihn schon gar nicht wahrnehmen. Eher als ein pedantisches Kind.

»Was?«, lautete meine nicht gerade angemessene Antwort.

Ich war seine Vorgesetzte, aber er hatte ein Talent dafür, Respekt vor mir aus seinem Tonfall und Benehmen konsequent fernzuhalten. Jetzt zeigte er wieder dieses fiese Lächeln, das nichts als Arroganz und Besserwisserei ausdrückte. »Stalev Woodman, wir müssten die Wartungsroutine entweder durchführen oder wenigstens den Signalton abstellen.«

Die Wartungsroutine! Natürlich! Die piept nur einmal im Jahr so. Äh, glaube ich.

»Das weiß ich selbst«, log ich.

»Und wieso piept es dann noch?«

Er klemmte sich ein Notizdisplay unter und verschränkte die Arme wie ein ungeduldiger Vater vor dem bockigen Kind.

»Und? Wieso?«, besaß er die Frechheit, nachzuhaken.

»Was und?«

Ich massierte mir weiter die Schläfen und trank noch einen Schluck Kaffee.

Verflucht noch mal! Immer noch zu heiß!

»Werden wir sie durchführen oder verschieben?«

»Was?«

Jetzt lachte er süffisant.

Ach so, die dämliche Routine.

»Verschieben natürlich!«, warf ich schnell hinterher.

»Darf ich fragen, wieso?«

Dieses Tadeln ging mir gehörig gegen den Strich. War das mein persönliches Gefühl oder verhielt er sich wirklich unangemessen? Weil ich eine Frau war vielleicht?

Völlig egal. Nicht meine Aufgabe, mir darüber Gedanken zu machen. Nicht wichtig nehmen. Einfach nicht wichtig nehmen!

»Nein, dürfen Sie nicht, Dewie Jensen, tun es aber trotzdem. Lesen Sie es mir von den Lippen ab: Weil ich es sage!«

Er verharrte in seiner selbstherrlichen Körperhaltung, die nach Oberlehrer aussah.

»Schalten Sie den Ton ab, wenn es Sie glücklich macht, und gehen Sie auf Station!«, befahl ich, und zwar ganz bewusst in deutlichem Kommandoton.

Das reaktivierte seinen Regelfetisch. Er salutierte – das war völlig überflüssig in einem Mini-Team am Ende der Welt - und ging zum mittleren Kontrollpult. Drei Handbewegungen später verstummte das penetrante Piepen. Er verkniff sich einen weiteren nervtötenden Blick oder Kommentar und ging wieder hinaus.

Ich atmete auf. Dann merkte ich mir die Durchführung der Wartungsroutine für die kommende Woche vor – ohne Jensen daran zu beteiligen. Ich stand nicht weit genug oben in der Kommandostruktur, um tadellose Mitarbeiter ohne Grund zu versetzen, also musste ich alle legalen Möglichkeiten nutzen, um Jensen von mir fernzuhalten. Ihm gab ich besonders gern Wochenendschichten, aber ich wusste, dass ich es nicht übertreiben durfte und auch, dass dies eine kleinliche und unfaire Handlungsweise von mir war.

Andererseits war ich mir ziemlich sicher, dass er an Wochenenden eh nichts Besseres vorhatte.

Aber egal. Wer von uns ist schon perfekt? Ich sicher nicht. Wenigstens weiß ICH das.

Im Kontrollraum, den ich am liebsten allein besetzte, gab es drei Konsolen. Jeweils auf etwa eineinhalb Metern Höhe befand sich eine Reihe von Schaltflächen, die man mit den Händen bediente. Nur noch gerade so auf Augenhöhe, zeigten mir Monitore und Kontrolldisplays die Auswirkungen dessen, was man mit den darunterliegenden Schaltflächen steuern konnte. Heute standen weder Aufbauten noch Tests an. Das hieß für mich und mein kleines Team, das sich im Gebäude verteilte, dass wir lediglich die Einsatzbereitschaft der vier irischen, der drei isländischen, der zwei schottischen, des walisischen und der vier englischen Orbitalgeschütze sicherstellen mussten. Sie waren jeweils nach den früheren Ländernamen in Gruppen gefasst, die Einzelgeschütze dann nach ihrem genauen Standort benannt.

Wir waren die Mask Unit, weil unsere Station am Lough Mask im irischen County Mayo lag. Unser Geschütz stand nicht direkt vor der Tür, sondern im relativ nahen Städtchen Galway.

Wir waren die Leader-Unit dieses Konglomerats.

Darüber hinaus musste ständig überwacht werden, ob alle Geschütze sicher waren, das heißt, dass sich niemand ihnen näherte oder sich ins System einschleuste.

Zuletzt galt es, die Kommunikation der planetaren Verteidigungslogarithmen zu überwachen. Mein Netz musste mit allen anderen Netzen des Planeten harmonisch interagieren.

Unendliche Datenmengen rauschten jeden Tag durch diesen Raum.Er war die Zentrale und zugleich mein Büro, allerdings kam nicht selten jemand ohne Ankündigung hereinspaziert.

Ich betätigte mein Interkom auf der Frequenz von Dewie Bekker.

»Jill, pass auf. Lord Bügelfalte ist im Anmarsch.«

Jill Bekker seufzte.

»Ich kann zwar besser mit ihm als du, aber mein Kopf tut weh von gestern!«

Ich musste müde lächeln.

»Meiner auch, Jill. Meiner auch.«

Jetzt hörte ich sie leise lachen.

»Dieses Wiederholen von Satzteilen soll intellektuell klingen, hm?«

»Wer weiß, Jill. Wer weiß«, sagte ich.

Sie brachte mich zum Grinsen, und dafür war ich ihr dankbar. »Sag mal, wusstest du, dass die Routine wieder fällig ist?«, fragte ich beiläufig.

»Häh? Einmal pro Jahr ist die fällig. Hab ich doch vor vier, fünf Monaten durchgeführt, als du in Cardiff warst, weißt du nicht mehr?«

Ich brauchte einen Moment.

Das kam überraschend.

»Aber Jensen hat gesagt, sie wäre fällig, und dann hat er das Piepen abgestellt.«

»Was für ein Piepen? Die Routine sendet Text und Lichtsignale auf die Mittelkonsole. Die piept doch nicht!«, sagte Jill.

Irgendwie sollte ich mich intensiver mit den Dingen befassen, für die ich verantwortlich bin.

»Ah, ja. Äh, das wusste ich.«

Jill kicherte.

»Sicher wusstest du das. Ganz sicher. Jill Ende. Auftritt Darth Jensen.«

Ich ging zu der Konsole, an der Jensen das Piepen abgestellt hatte. Man konnte sich die Eingabeprotokolle anzeigen lassen, also würde ich herausfinden, was er getan hatte.a

Annäherungs-Detektor: Fehlfunktions-Warnung. Standort Galway. Deaktiviert.

»What the fuck?!«

Das Geschütz in der Nähe der westirischen Hafenstadt Galway war das uns am nächsten liegende Executive Hub, wie wir das nannten. Also der ausführende oder vollstreckende Knotenpunkt. In den zwei Jahren, die ich nun hier tätig war, hatte es noch nie eine Annäherungs-Detektor-Fehlfunktion gegeben, aber wenn es eine gab, musste man sie doch reparieren und nicht nur die Warnmeldung abschalten!

Kein Wunder, dass ich das Piepen nicht kannte. Bisher gab es diese Fehlfunktion ja auch noch nie!

Zwar hatte Jensen das Geräusch auf meinen Befehl hin abgestellt, aber er musste gewusst haben, worum es dabei wirklich ging. Das ließ nur einen unguten Schluss zu.

Mir schoss Adrenalin in den Schädel.

Ich aktivierte das Interkom.

»Dewie Jensen?«

Keine Antwort.

»Dewie Bekker?«

Keine Antwort!

»Jill, alles in Ordnung?«

Verfluchter Mist!

Mein Puls raffte alles zusammen, was er dem bisherigen Kaffee hatte entnehmen können, und gab Vollgas.

Ich nahm einen Searer, die Standard-Handfeuer-Waffe der ST, aus dem Wandschrank neben der Tür und eilte in den Korridor.

Niemand war zu sehen, alles lag totenstill da.

Sonst okay, jetzt schlechter Horrorfilm!

Jill arbeitete ein Stockwerk über mir. Ich hatte keine Ruhe, um auf den Lift zu warten, sondern rannte die Treppe hinauf.

»Dewie Torgan?«, schrie ich ins Interkom.

»Ja, Stalev?«, drang die tiefenentspannte Stimme des übergewichtigen, gutmütigen Lennox Torgan aus den Lautsprechern.

»Ich kann Jensen und Bekker nicht erreichen. Haben Sie sie gesehen?«

Seine Antwort klang, als frühstücke er gerade.

»Jensen war gerade hier, hat einen Searer und eine DriveCard abgeholt.«

»Wieso geben Sie ihm eine Waffe und einen Gleiter, ohne mich zu fragen?«, schrie ich.

Erst jetzt schien Lennox meine Aufregung zu bemerken.

»Was ist denn passiert?«

»Halten Sie ihn auf! Nehmen Sie einen Searer mit!«

»Alright, Stalev!«, bestätigte er regelrecht schockiert.

Ich rannte durch den Korridor der ersten Etage.

Die Tür von Jill Bekkers Labor-Werkstatt stand offen.

»Jill!«

Ich stürmte hinein.

Jill Bekker lag auf dem Boden.

Er hat den Searer nicht bei mir eingesteckt, weil ich gefragt hätte, wozu er ihn braucht. Und hier im Labor gibt es keine, nur im Bereich der Rampen bei Torgan. Gut, dass er ohne Searer bei Jill war!

Ich legte einen Finger an ihren Hals.

Der Puls fühlte sich normal an, doch die Platzwunde an ihrem Hinterkopf ließ Wut in mir aufsteigen. Jills goldblondes, wild verwuscheltes Haar hatte sich an dieser Stelle rot gefärbt.

Ich zwang mich, den Blick von ihr abzuwenden.

Konzentration! Was hat er mitgenommen?

Ich sah mich hektisch um, aber bei Jill sah es immer chaotisch aus. Ich hatte gar keine Chance, zu erkennen, ob etwas fehlte.

Ich schüttelte sie und rief ihren Namen, aber sie blieb bewusstlos.

Ich hab jetzt keine Zeit dafür!

»Torgan, wo sind Sie?«

»Er ist schon weg, Stalev«, meldete er außer Atem.

An den Hintergrundgeräuschen erkannte ich, dass er draußen war. »Soll ich hinterher…?«

»Nein, ich fahre selbst. Dewie Bekker liegt bewusstlos in ihrer Werkstatt. Holen Sie den Doc!«

»Verletzt? Jill ist verletzt?«

Er mochte sie sehr.

»Sie wird´s überleben, Lennox, wenn Sie sich darum kümmern!«

Ich rannte wieder die Treppe hinunter, vorbei am Kontrollraum und hin zum Empfang nebst Rampe für allerlei Fahrzeuge sowie Materiallager und Lieferbereich. Das war Torgans Revier. Ich sah ihn in die große Halle hecheln und winkte ihm knapp zu, dann sprang ich in einen Gleiter und beschleunigte.

Nicht mal richtig wach und schon so eine Scheiße!

IIGALWAY

Die menschenleere Landschaft der Westküste zog an mir vorbei.

Schroffe, weitgehend baumlose Halbklippen, an deren Wurzeln knorrige, windschiefe Baumgruppen trotzig ihr Grün in den Wind reckten, schoben ihre Krönchen in Nebelwolken.

Irland war beinahe überall wunderschön, aber die Westküste hatte eine ganz besondere, majestätische Rauheit zu bieten, der auch Jahrhunderte der Technologisierung nicht hatten zusetzen können. Technik war das unnatürliche Gegenteil von Irland.

Das durchsichtige Cockpit des Gleiters war schallisoliert und schluckte jedes Geräusch. Es fühlte sich klinisch und wie in einem Hochgeschwindigkeits-Skytrain an.

Dieser Spießer Jensen schlägt Jill nieder? Und vor meinen Augen schaltet er die Annäherung ab, damit keiner was mitbekommt? Ich Idiotin! Aber was hat er bitte vor? Warum ist er nicht einfach so weggefahren? Warum war er nicht schon längst in Galway? Amateur!

»Torgan?«

Keine Antwort.

Das war merkwürdig. Die Verbindung müsste problemlos funktionieren, auch wenn der Gleiter mit 250 km/h über den Country Way schoss. Nur wenige andere Fahrzeuge kamen ab und an in entgegengesetzter Richtung an mir vorbei. Es waren nur noch eine Handvoll Minuten bis Galway.

»Torgan? Jill?«

Aus beiden Kanälen kam nicht mal ein statisches Störsignal.

Ein Störsignal! Das ist es. Es muss eins geben. Aber wie macht Jensen das?

Ich funkte Galway an. Dort an der Geschützkuppel müsste doch wenigstens jemand beim Frühstück sitzen, aber es erfolgte wieder keine Rückmeldung.

»Geben Sie´s auf, Woodman!«, erklang dafür die gelangweilte Stimme von Jensen aus den Boxen des Gleiters.

»Dewie Jensen, ich erteile Ihnen den direkten Befehl, sich sofort zu stellen, sonst ist Ihre Zeit in der Squadronica für immer beendet.«

Ich fand, darauf sollte man ihn wenigstens einmal hinweisen.

»Befehle von Menschen nehme ich nicht mehr entgegen.«

Er lachte und schaltete den Kanal ab.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass er lachen konnte, aber es klang widerlich nach einsamer Superschurke.

Er nimmt keine Befehle von Menschen mehr entgegen?

Die ersten Gebäude Galways kamen in Sichtweite, Jensens Gleiter nicht.

Unser Geschütz lag südlich der Stadt, also von meiner Position aus betrachtet hinter Galway. Ich konnte mich nicht mehr lange fragen, wann ich Jensen endlich einholen würde.

Kaboom!

All meine Gedanken endeten, als hinter Galway eine mehrere hundert Meter hohe Flammensäule in die Atmosphäre schoss. Der Knall ließ das Cockpit des Gleiters sanft vibrieren. Trotz der Isolierung hatte ich ihn hören können.

Ich wusste gleich, dass mein Geschütz Vergangenheit war.

Was hätte es sonst sein sollen?

Jensen hat mein Geschütz zerstört? Das nehm ich persönlich!

Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass gerade viele Menschen gestorben waren, da das Geschütz eine Seitenabschirmung hatte. Wie alle Geschütze. Bei Zerstörung oder Fehlfunktion entlüfteten sie sich ausschließlich nach oben, daher die immens hohe Feuersäule. Die Druckwellen zur Seite wurden durch die Art der umgebenden Konstruktion eingedämmt und die Energie wurde im Schadensfall umgeleitet.

Aber wenn jemand in der Kuppel gefrühstückt hatte – ich dachte an einen netten Kerl namens Sean – hatte es vielleicht doch Opfer gegeben.

Ich rief die Geschützkuppel erneut. Das war schwachsinnig, da mein Kom offensichtlich gehackt worden war, aber es war ein Reflex.

»Lesen Sie die Nachrichten, Woodman!«, sagte Jensen übers Kom des Gleiters. Er klang zufrieden und doch ein wenig angespannt.

»Wir sehen uns nicht wieder.«

»Das sollten Sie sich auch wünschen!«, schrie ich ins Mikro, dann schaltete er ab. Ich hatte überwältigende Lust, dem Typ in die nutzlosen Eier zu treten. Was für bescheuerte Nachrichten meinte der eigentlich?

Ich umfuhr Galway rasch – bei einer kleinen Stadt mit einem Squad-Gleiter ein Katzensprung - und gelangte kurz darauf zu dem Ort, an dem zuvor das Geschütz gestanden hatte.

Hölle! Das ist kein Loch, sondern ein Krater!

Die Trümmerteile waren nicht sehr zahlreich, also war das meiste pulverisiert worden. Das deutete auf eine Strahlenbombe oder ähnliches hin.

Einige lokale Sicherheitskräfte aus der Stadt waren schon vor Ort und löschten brennende Schrotthaufen, die am Rand der Anlage vor sich hin kokelten.

Ich stoppte den Gleiter nah am Abgrund an und stieg aus.

Mir kam trotz schwacher Knie so einiges in den Sinn, aber bei Motiv, Planung und Durchführung stand ich völlig auf dem Schlauch. Die gehackte Sperre musste Jensen schon eine Weile zuvor programmiert haben, nicht spontan.

Im Grunde war ich an diesem Tag bislang nur aufgestanden und hatte zu heißen Kaffee getrunken. Das war alles, was hätte hängen bleiben sollen bis zu dieser Uhrzeit. Jetzt aber stand ich vor den qualmenden Resten einer saumäßig teuren, großen, bedeutsamen militärischen Anlage innerhalb meines Verantwortungsbereiches.

Ratlosigkeit lähmte mich. Ich war perplex.

Außerdem musste ich dringend pinkeln.

Dämlicher Kaffee! Erst zu heiß und jetzt dieser Scheiß!

Ich blickte nach oben.

Ein InterTrafficer, ein kleines, weltraumfähiges Shuttle, näherte sich. Es hatte grüne Seitenmarkierungen, gehörte also nicht zur Squadronica, zumindest nicht zu der aus dem Weltraum, war nicht an ein Mutterschiff gebunden.

Es landete ganz in meiner Nähe.

Katastrophentourismus. Hohe Offiziere.

Ein Mann und zwei Frauen stiegen aus. Wichtige Funktionsträger, soweit ich das an Abzeichen und Uniformen auf die Entfernung erkennen konnte. Es waren mindestens Stalords, vielleicht auch Commodores. Die Entourage bestand aus dem Piloten, der sitzen blieb, und einer jungen Frau, die so etwas wie die Reiseleiterin zu sein schien. Sie war, der Kleidung nach, Zivilistin.

Ein Mitglied des Grüppchens zeigte auf mich, also ging ich schnell auf sie zu, statt abzuwarten oder wegzulaufen.

»Sind Sie hier verantwortlich?«, fragte einer der Funktionsträger, eine Frau um die Fünfzig.

Dass sie sich nicht mal vorstellte, fand ich unhöflich, obwohl ich auf Etikette nicht viel Wert legte. Jetzt erkannte ich an den Abzeichen am Uniformkragen, dass sie Commodore war, also von höchstem militärischen Rang.

Ich salutierte und machte Meldung.

»Alright, Patronus. Sabotage, vermutlich durch Dewie Dawid Jensen, bislang Angehöriger meines Teams. Flüchtig.«

»Wir haben beinahe alle Orbitalgeschütze verloren, Stalev. Innerhalb von fünf Minuten«, sagte der männliche Stalord neben ihr.

Was?!?!

Ganz kurz dachte ich an einen Cartoon, in dem jemand vor Entsetzen die Kinnlade bis zum Boden aufreißt.

»Es muss viele Verräter wie Ihren Jensen geben.«

Da kam ich nicht mit. Meinem Gesicht sah man es wohl an.

»Sie haben Ihren Job nicht gemacht, Stalev. Wie viele andere Stalevs und Stalev Stadux ebenfalls. Das wird entsprechende Konsequenzen haben. Melden Sie sich bei unserem Trafficer. Sie werden mitkommen«, sagte der weibliche Commodore, dann ging das Grüppchen weiter und ließ mich stehen.

Ich glaube, ich zog eine schiefe Grimasse und sah ihnen konsterniert nach. Das war so eine Situation, in der einem beinahe der Idiotensabber aus dem Mundwinkel tropft.

»Bitte was?«, fragte ich leise und ungläubig.

Weltweit hatte es geknallt? Weltweit waren die Geschütze ausgeschaltet worden?

Ein Durchschnitts-Idiot sowie jede zweite Amöbe denken sich doch völlig zurecht: Hallo, Vorbedingung für einen großen feindlichen Angriff?! Weltraum absuchen nach feindlicher Flotte!

Und die flogen durch die Gegend, um schludrige Abteilungsleiter festzunehmen?

Meinen Job nicht gemacht? Ok, nicht perfekt, aber das ist unfair! Ist es das? Ich habe echt gar nichts gecheckt.

Ich stand allein da und fühlte mich von Gott und der Welt verlassen. Vor mir ein Haufen glühender Müll, hinter mir mein Gleiter vor der niedrigen und nicht sehr beeindruckenden Skyline von Galway. Und in der Nähe natürlich noch dieses Trafficer, in das ich mich setzen sollte, um unter Schimpf und Schande abtransportiert zu werden. Abhauen war keine Option, auch wenn das Kind in mir rennen wollte. Wäre ich jetzt verschwunden, hätte man mich unehrenhaft aus der Flotte geworfen. Natürlich erst nach Fahndung, Verhaftung und langen Verhören.

Unsexy. Unwürdig. Keine Option.

Wieso ging das alles so schnell? Was bitte hatte ich falsch gemacht, außer dass dieses Piepen am Terminal …?

»Torgan an Woodman!«

Ah, die Blockade war ja nur im Gleiter aktiv, richtig!

»Überrasch mich, Lennox!«

»Jill ist wieder wach. Ihr geht´s gut soweit. Der Doc war auch schon da.«

»Gut.«

»Sag mal, was ist denn da los? Fast alle unsere Geschütze sind scheinbar platt. Muss ja wohl eine Übung sein.«

»Nein, leider nicht. Ich stehe gerade vor dem in Galway. Es ist platt. Plattfisch-platt.«

Einen Konversationspreis würde ich heute auch nicht gewinnen.

»Aber wie …?«

Das war Jills Stimme.

Ich brauchte Jill Bekker. Ich brauchte sie dringend!

Sie war meine beste Freundin, zumindest die beste Freundin der letzten zwei Jahre.

»Jill, bist du okay?«

»Alive and kicking.«

Sie klang fit. Ich war erleichtert. Wenigstens darüber.

»Hier ist eine Delegation der ST. Die waren blitzschnell da, haben sich nicht mal vorgestellt. Inklusive Commodore. Die sagen, das sei weltweit. Jensen hat Galway ausgeschaltet, irgendwelche anderen fast alles andere. Weltweit! Die wollen, dass ich mitkomme. Das sei meine Schuld. Und ich muss so pinkeln!«

Nur Gott weiß, warum ich das noch gesagt habe!

»Ruhig, Woodi. Du bist die absolute Veteranin hier. Warum die Panik?«

Jill hatte weitaus weniger Einsatz-Erfahrung als ich, das stimmte, aber sie schätzte mich menschlich gerade falsch ein.

»Ich hab keine Panik, Jill, auch keine Angst. Aber ich versteh es nicht. Und es pisst mich an! Das kann alles nicht hinhauen.«

Mir fiel ein, was Jensen gesagt hatte. Ich solle mir die Nachrichten anhören oder so ähnlich.

»Was geht durchs NewsCom?«, fragte ich und sah mich um.

Die Delegation um den Commodore sprach mit den zivilen Katastrophenkommandos.

Lennox Torgan antwortete: »Globale Anschlagsserie, aber der Orbit sei frei. Keine Feinde im Anflug. Angeblich terrestrischer Konflikt.«

Ich zögerte eine Sekunde.

»Was meinen die mit einem terrestrischen Konflikt? Bürgerkrieg? Jetzt, wo endlich alles ruhig und friedlich war? Wer gegen wen?«

Er musste wohl genickt haben, denn Jill ermahnte ihn, ich könne nicht sehen, was er mache, wenn wir nur übers Kom sprächen. Das war ja fast lustig.

»Also was machst du jetzt?«, fragte Jill.

»Dich fragen, warum Jensen dich geschlagen hat!«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Es fehlt nichts. Er hätte einfach an meinem Labor vorbeigehen können.«

Das macht keinen Sinn!

»Jill, du belügst mich doch nicht, um mich zu beruhigen, oder?«, fragte ich streng.

Ich hatte schon Erfahrungen dieser Art gemacht und musste nun schnell eine Entscheidung treffen. Ich hatte leider längst gelernt, dass fast jeder ein Verräter sein konnte. Selbst eine Jill Bekker. Es war traurig, das glauben zu können. Die zwei, drei Personen im Universum, denen ich Verrat nicht zutraute, waren gerade nicht verfügbar.

Es blieb mir zu lange still in der Leitung.

Es dauerte zwar nur drei Sekunden, bis Jill es abstritt, aber es hatte eine Verzögerung gegeben, die mich skeptisch werden ließ. Skeptisch genug, um allerlei in Frage zu stellen.

Es tat weh, alles in Frage zu stellen!

»Dewie Torgan, vielleicht fehlt ja doch etwas im Labor. Nehmen Sie Dewie Bekker vorsorglich fest!«

Sofort brach die Leitung ab.

Wieso brach die Leitung ab?

Ich versuchte abzuwägen, ob der übergewichtige, gutmütige Lennox … nein! Jill würde ihm eins über die Rübe gegeben haben. Hoffentlich nicht mehr als das.

Aber warum? Warum Jill Bekker? Und warum Jensen, der Regeln und Ordnung so liebte? Jill und Jensen verband vordergründig absolut nichts. Oder war die Leitung wieder gehackt worden?

Die Delegation von Funktionsträgern kam zu meiner Position zurück.

Ich sah auf meine eigene Uniform. Vor etwa einem Jahr waren neue Uniformen eingeführt worden, um den Beginn einer neuen Zeit nach einigen politischen Wirren auf der Erde zu verdeutlichen.

Der Krieg mit dem außerirdischen Vielvölkerbund des Prismoniums war zu Ende gegangen. Auch waren keine neuen Konflikte ausgebrochen, von denen ich wüsste. Die Erde galt seitdem als politisch stabil, friedlich und fortschrittlich.

Keine Putschversuche mehr.

Passend dazu hatte man der Squadronica einen neuen Style verpasst, den ich ziemlich schick fand. Alle Uniformen waren seither schwarz mit silbernen Applikationen, je nach Rang und Abteilung – nicht nur silbergrau eingefärbt, sondern metallisch glänzendes Silber in meist geschwungenen Streifen individualisierte die jeweiligen Teile.

Die meisten Kleidungsstücke waren ziemlich enganliegend.

Das hätte man als Frau sexistisch finden können, aber es war einfach praktisch. Das Zeug lag gut auf der Haut und es gab keine dekorativen Stofffetzen, die in Geräte geraten oder beim Kampf oder der Arbeit im Weg sein konnten. Außerdem hatten die Männer das gleiche Zeug an, was ihre Hintern und Oberkörper-Muskulatur – sofern vorhanden - betonte. Völlige Gleichberechtigung. Dazu gab es coole Lederjacken für Außeneinsätze und schwarze Stiefel statt Halbschuhe. Die Jacken und die Stiefel waren Power Metal pur.

Trotzdem fragte ich mich in diesem Moment, warum wir alle so seltsam aussahen und was hier gerade eigentlich abging.

Lief eine Art politische Säuberung unter einem selbstverursachten Vorwand ab? Musste die neue Squadronica noch ihre alten Leute loswerden?

Ich war zwar nicht alt, aber mit meiner Fronterfahrung und den seltsamen Missionen, bei denen ich dabei gewesen war, sicher Teil eines irgendwie alten Systems, verbunden mit traditionellen Werten. Aber die alten Werte hatten doch gerade erst gegen die neuen Extreme gewonnen. Was war denn jetzt schon wieder los?

Wahrscheinlich denke ich zu viel. Das ist alles gar nicht sowas Kompliziertes, nur kriminell.

Mein, nennen wir ihn mal bester Kumpel, Stan Pendra, wäre vermutlich geflohen und hätte eine rebellisch-aggressive Ermittlung im Untergrund eingeleitet. Und er wäre damit auf die Schnauze gefallen, wie so oft, und trotzdem davongekommen.

Das war bei mir alles anders.

Es würde nichts Gutes mit sich bringen, jetzt in den Untergrund zu gehen. Von dort aus würde ich nichts erfahren. Dazu war ich nicht der Typ Mensch. Ich agierte lieber von innen heraus. Bei allem. Aus mir selbst, aus meiner Einheit, aus meinem System heraus – vielleicht weil ich nicht von außen gegen etwas anrennen wollte.

Keine Küchenpsychologie jetzt.

»Commodore …?«, fragte ich deutlich betont nach dem Namen, der mir noch nicht genannt worden war.

»Dangler«, sagte die Frau knapp.

»Commodore Dangler, in unserem irischen Hauptquartier scheint ein Putsch im Gange zu sein. Ich befürchte, es gibt weitere Kollaborateure von Dewie Jensen, die systemtreue Offiziere ausschalten. Sie können mir zu lasche Kontrollen vorwerfen, aber nicht, auf der falschen Seite zu stehen. Sollen wir diese Vorgänge nicht besser aufhalten, anstatt loyale …«

Sie hob eine Hand.

Ich salutierte und schwieg.

Böse oder dumm, im Sinne schlechter Filme, schienen mir die Leute vor mir eigentlich nicht zu sein.

»Sie sind Vanessa Woodman, richtig? Gedient unter Dakker und Woyer auf Psygon und Atlantis, richtig?«

Ich nickte.

Dangler sah die anderen an. Ich konnte nicht sehen, mit welchem Gesichtsausdruck sie das tat.

»Warum sind Sie nicht auf einem Schiff, Stalev Woodman?«

»Zu viel Bewegung, Patronus«, antwortete ich.

Das war sicher eine arg verkürzte Argumentation, aber warum fragten die auch ausgerechnet jetzt danach?

Überlegt ihr, ob ihr mir vertrauen könnt? Worum geht’s? Seid ihr doch nicht die Bösen hier?

Commodore Dangler schickte den für mich noch immer namenlosen Stalord und die Reiseleiterin, oder was auch immer sie war, weg.

Dangler sah den beiden nach und lächelte mich dann erstmals dezent an.

»Schlecht verkleideter Geheimdienst«, sagte sie. »Nicht direkt Teil der Squadronica. Politisches Instrument.«

Ich nickte, fand es aber bedenklich, dass politische Geheimdienste Menschen in Stalord-Uniformen steckten. Ach was bedenklich! Es war zum Kotzen!

»Verstehe. Finde ich nicht gut, wenn jemand Abzeichen trägt, die ihm nicht zustehen.«

Sie nickte.

»Gehen wir ein paar Schritte, und zwar weg von diesem Schrotthaufen, bitte? Schade um die Ressourcen.«

Ich war sehr einverstanden.

Sie hatte diese blonde Haarfarbe älterer Frauen, die mich immer unsicher zurückließ, ob es die Reste von naturblonder oder bereits künstlicher Farbe waren. Sagen wir, die Haarfarbe heißt altblond. Nicht despektierlich gemeint.

»Wir vermuten ein Hacker-Netzwerk von Pazifisten dahinter«, sagte Dangler. »Und wir wollen es von Anfang an entsprechend gründlich wieder entfernt wissen. Deswegen nehmen wir weltweit alle, die direkt oder indirekt beteiligt waren, erst einmal fest. Ebenso bekommen all diejenigen Probleme, die diese Anschlagsserie eventuell gedeckt haben oder aus Sorglosigkeit oder Sympathie nicht verhindern konnten oder wollten.«

Ich verzog vorsorglich keine Miene. So ganz sicher, dass sie mich nicht doch noch einsperren wollte, war ich nicht. Also guckte ich schlau und nickte vor mich hin.

»Sie sind doch loyal und systemtreu, Woodman. Das haben sie selbst angedeutet.«

Ich nickte, auch wenn ich das Wort systemtreu seltsam fand. Es klang, als klammere man sich an etwas, das nicht gut war.

»Solange das System unserer Verfassung entspricht, ja. Wenn das System faschistisch wird, trete ich dagegen ein. Kann ich aktuell aber nicht erkennen«, sagte ich. »Wieso eigentlich Pazifisten? Gerade jetzt.«

Dangler zuckte mit den Achseln. Es sah nach vielfach einstudierter Geste aus.

»Was falsch daran sein soll, die Erde durch die Aufrüstung von Orbitalgeschützsystemen wehrhafter zu machen, erschließt sich uns nach den Ereignissen der vergangenen Jahre nicht. Aber sie kennen ja diese Pazifisten und Kommunisten.«

»Nein«, sagte ich, vielleicht etwas zu forsch. »Also ich kenne schon welche, ich werfe die aber nicht alle in einen Topf. Pazifismus oder Kommunismus sind nur schlecht, wenn man sie rücksichtslos gegen den Willen der Mehrheit umzusetzen gedenkt.«

Das missfiel ihr, wie ich ihren Mundwinkeln ansah, aber das war mir egal. Wenn sie schon offen mit mir sprach, sollte sie dabei nicht billig nach Zustimmung fischen. Ich war politisch nicht klar in irgendeinem Lager, aber ideologische Gruppen pauschal abzuwerten, klang nicht gut, nur nach Schublade. Wobei ich mir bewusst war, dass ich das mit Faschisten ebenso handhabte.

Dangler sah mich eine Zeit lang forschend an. Das sollte dieser Blick sein, der einen innerlich aufhorchen lässt und gedanklich mitnimmt. Ich blieb skeptisch, kannte beeindruckendere Anführer und Blicke als diese. Mein Gesicht hingegen sah, so hoffte ich, nur nicht so dumm abwartend aus wie das vieler Männer. Sorry, Jungs! Meine Skepsis ließ ich darin zumindest nicht aufleuchten.

»Woodman, egal wie viele Leute wir einsperren und wie sehr sich der Geheimdienst da reinhängt, ich befürchte, wir werden nicht herausfinden, was wirklich dahintersteckt, wenn wir es nicht von innen angehen. Also wirklich von innen. Ohne künstliche Einschleusung und ohne Geheimdienst.«

Ich vermutete, dass sich da gerade eine Chance für mich ergeben könnte, daher schwieg ich nicht länger.

»Gut, gern, ich werde sehen, was ich rausfinden kann, aber ich möchte zuerst meine Basis wieder übernehmen. Irgendetwas stimmt dort nicht und aktuell dürfte Jill Bekker …«

Dangler hob die Hand, was mich schweigen ließ. Sie drehte sich um und tippte etwas in ihr CommandCom. Vermutlich den Namen Jill Bekker.

Dann drehte sie sich mit undeutbarer Miene wieder zu mir um.

»Jill Bekker befindet sich bereits in unserem Gewahrsam. Sie hat einen gewissen Torgan ermordet.«

Mir wurde heiß und kalt. Mit Verrat und Lügen rechnete ich ja schon, aber damit?

Ich glaube es nicht. Also im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht mal aus Versehen. Ich glaube es nicht. Ich kenne Jill zumindest gut genug, um ihr einen Mord nicht zuzutrauen.

Commodore Dangler wartete auf meine Zustimmung, auf meine Bereitschaft, in ihrem Plan ein Rädchen zu sein. Es war meine Chance, frei zu bleiben und dem auf den Grund zu gehen, was in meiner Basis vorgefallen war. So irrsinnig heikel das auch alles war.

»Gut!«, hörte ich mich sagen.

Weder Lennox´ Tod noch Jills Gefangennahme waren in irgendeiner Weise gut. Jensens Verrat auch nicht.

»Haben Sie Jensen?«

»Nein«, sagte sie, und zwar ohne den Namen eingeben zu müssen. Er war vermutlich gleich mit überprüft worden.

»Sie sollten ihn aber kriegen. Er hat mich kurz vor der Explosion noch kontaktiert. Im Gleiter. Über abgeriegelten Kanal. Den finden Sie schon noch.«

Sie nickte es, beinahe gelangweilt, weg.

»Wir haben bislang vermutlich kaum bedeutsame Täter erwischt. Gehen Sie in ihre Basis zurück, Woodman. Die ersten schnellen Aktionen des Geheimdienstes und des Squadronica Commands werden in etwa vierundzwanzig Stunden abgeschlossen sein und relativ geringe, spürbare Nachwirkungen verursachen. Die meisten Geschütze sind übrigens nicht explodiert, sondern nur offline. Die Nachrichten übertreiben. Komponenten wurden beschädigt, Leitungen sind geschmolzen, Software wurde zerstört. Die Aufräumarbeiten beginnen unverzüglich. Auch ihre Geschütze sind nicht alle ein glühendes Loch im Boden. Galway und Belfast hat es am heftigsten getroffen, aber Cork und Dublin, ebenso wie Cardiff sind noch ganz okay. England und Island müssen Sie sich im Detail ansehen, da bin ich nicht auf dem neuesten Stand.«

Ich nahm alles hin und nickte, nickte und nickte. Das war viel Information auf einmal. Einige dieser Geschütze waren erst in den letzten Monaten fertiggestellt geworden, und jetzt waren sie schon wieder im Eimer. Das versprach sehr viel frustrierende Arbeit.

»Sie werden also ein wenig Ihren Job machen, Woodman, aber Sie werden vor allem mir und anderen aus dem Command berichten, was sie darüber hinaus herausfinden können. Nur uns und nur Commodores! Sie werden keinem Stalord oder Geheimdienstler etwas sagen. Um Geheimdienstler zu entlarven, müssen Sie nur …«

Ich winkte so höflich wie möglich ab. Ich war kein Crewie-Beginner auf der Training Fortress mehr. Ich hatte Stalev-Autorisation und konnte die Rechtmäßigkeit von Rängen abfragen, bevor ich Befehle befolgte. Ein Stalord, der sich als Stalord bezeichnete, musste auch vor dem System Bestand haben, bevor ich wirklich wichtige Dinge für ihn ausführte, mich nackt auszog oder was auch immer. Wobei das mit dem Ausziehen kein üblicher Befehl war. Den hätte ich bis vors Kriegsgericht verweigert.

Ich nickte wieder.

»Gut, Commodore Dangler. Ich werde aber nicht nur bei mir ermitteln, damit das klar ist. In meinem engen Bereich werde ich vermutlich nicht die Keimzelle finden. Ich werde auch in andere Bereiche oder Teams hinein ermitteln müssen. Und falls die Geheimdienste doch etwas Hilfreiches herausfinden, würde ich die Infos gern gesteckt bekommen.«

Sie nickte.

»Bekommen Sie. Leite ich Ihnen weiter. Ich sitze im Kontrollgremium der Geheimdienste. Und eine Reiseerlaubnis brauchen Sie ja nicht, höchstens Freistellung, damit Sie ihren Posten verlassen können. Ich stelle Ihnen ein Universal-Traineeship-Zertifikat aus. Damit können Sie ständig und überall hineinschnüffeln. Also außer in Kommandounternehmen und Geheimprojekte natürlich.«

»Schön und gut«, sagte ich. »Einarbeiten und integrieren kann ich mich eigentlich überall ganz gut. Ich bin kein Newbie mehr. Aber ich brauche neue Leute, Commodore! Jensen, Torgan und Bekker sind … weg. Ich brauche mindestens zwei neue Leute.«

»Wünsche?«, fragte sie nickend und nahm ihren Noticer, um sich Namen aufzuschreiben.

»Erst mal Bekker«, sagte ich.

Ich habe ihr Verrat zugetraut. Schlimm genug. Aber der Mordvorwurf ändert alles. Sie hat nichts damit zu tun. Ich will es glauben! Ich glaube es.

Dangler schüttelte entrüstet den Kopf.

»Eine Mordangeklagte! Was Besseres fällt ihnen nicht ein?«

»Sie war´s nicht, Commodore! Sie ist Teil des Rätsels. Wir sind Freunde, und sie ist ein ausgezeichneter Offizier. Wenn Sie mir Jill Bekker entziehen, kann ich keine großen Sprünge garantieren.«

Dangler überlegte einen Moment. Dann nickte sie zaghaft.

»Sie bekommen Jill Bekker, aber nur als Gefangene.«

Das würde merkwürdig werden, aber ich stimmte zu.

»Wen noch? Jetzt aber wirklich Leute, die arbeiten dürfen, Woodman.«

Alle Freunde und Freundinnen, die mir in den Sinn kamen, waren sehr weit weg, tot, schwer geisteskrank oder anderweitig verhindert.

Naja, bis auf … nein, besser nicht!

»Ich vermute, das ist zu viel verlangt, aber könnten sie Noona Striker reaktivieren?«

Dangler schaute mich überrascht an.

»Die Tochter des Ex-Commodores, der in die Politik gegangen ist?«

Ich nickte.

»Naja, sie ist aber nicht nur Tochter, sondern auch Stalev.«

»Außer Dienst!«, sagte Dangler mit abfälliger Betonung. »Außerdem ist sie selbst so eine Art Politikerin. Ganz davon abgesehen finde ich ihre öffentlichen Auftritte geradezu obszön.«

Oh ja, das sind sie. Ich habe mich nie großartig mit ihr verstanden, aber sie ist unterhaltsam, und für Intrigen und Ermittlungen ist sie geradezu optimal. Ich brauche diese verfluchte Hexe! Vielleicht finde ich nebenbei Dinge über sie heraus, die mir helfen bei … anderen Angelegenheiten.

»Trotzdem!«, sagte ich. »Ich habe eine Zeit lang mit ihr gedient und denke, sie hat für diese Sache genau die richtigen Fähigkeiten.«

»Denken Sie denn, sie würde überhaupt Interesse haben?«, fragte Dangler skeptisch.

Hinter ihr sah ich Müllkolonnen anrücken, mein schönes Geschütz zu recyceln.

»Was bietet ihr die Squadronica?«, fragte ich zurück.

Für mich selbst bat ich um nichts.

»Kein Kommando!«, sagte Dangler bestimmt.

Volltreffer! Genau das hätte Noona interessiert.

Anscheinend grinste ich, ohne es zu bemerken. Dangler fragte zumindest, warum ich grinse. Ich grinste weiter, weil ich mich schämte, gegrinst zu haben, ohne es zu wissen. Also falls es denn stimmte.

Ach, verflucht noch mal!

»Äh, also können Sie ihr wirklich kein Kommando anbieten? Ich weiß, sie ist Stalev, noch ganze drei Ränge vom Stalord entfernt und darf kein Schiff haben, aber geben Sie ihr doch irgendwas anderes. Eine Abteilung an der Fortress oder sowas.«

»Das kann ihr Vater ihr selbst geben! Titel und politische Ämter sind nicht unser Geschäft. Eine militärische Position vergibt allein die Squadronica – und Lady Striker hat sich kein Kommando verdient.«

Dangler beeindruckte mich erstmals ein wenig. Sie schien nicht ohne Weiteres korrumpierbar zu sein.

»Dann mache ich auch nicht mit. Sie finden bestimmt viele andere wie mich. Es war ohnehin nur ein dummer Zufall, dass Sie ausgerechnet auf mich gekommen sind«, sagte ich kurzentschlossen, drehte mich um und ging.

Oder? Muss ich bei Ablehnung dieser Anfrage eigentlich in Untersuchungshaft?

Ganz davon abgesehen ließ man als Stalev keinen Commodore einfach so stehen, fiel mir glühend ein.

»Warten Sie gefälligst, Woodman!«

Dangler seufzte.

»Frauen sind wirklich schlimmer als Männer. Ich muss es ja wissen«, sagte sie bittersüß.

Ich grinste.

»Schlimmer nicht, nur klüger.«

»Striker kann eine Forschungsabteilung oder ein Waffenlager haben«, bot sie zähneknirschend an.

»Sie wird eine Waffenfabrik haben wollen, also Forschungsabteilung plus Produktion plus Tests plus Lager«, sagte ich.

»Ich kann einem so jungen Stalev keine Waffenfabrik geben!«

»Gut, dann gehe ich«, sagte ich wieder.

Ok, das war vielleicht wirklich ein bisschen zu bockig. Dangler pfiff mich zurück und appellierte an meine Vernunft.

Ich sicherte zu, alles zu versuchen, Noona auch ohne Groß-Kommando zu bekommen. Ich hielt es aber wirklich für schwierig. Noona hielt nicht so wahnsinnig viel von mir.

»Bieten Sie ihr doch einfach den ganzen Strauß von Stalev Stadux-Privilegien an, ohne dass sie Stalev Stadux ist, Comodore! Das brächte diese Position doch weitestgehend mit sich. Das reicht vielleicht.«

Ich sah Dangler mit großen, fragenden Augen an und schwieg. Manchmal funktionierte der Einsatz dieses Kampfmittels sogar bei Frauen.

Sie seufzte.

»Eine Forschungsabteilung in einer Waffenfabrik ist möglich. Auch Test- und Produktionskapazitäten, nur nicht die ganze Fabrik … Sie wissen schon.«

Ich nickte. Ich würde es kurz und knapp schriftlich an Noona weiterleiten, gleich während der Rückfahrt.

Ein Gespräch mit ihr würde zu weit führen, möglicherweise eher kontraproduktiv sein.

»Wen wollen Sie noch? Sie sagten, sie brauchen zwei Crewies. Bekker zählt als Gefangene nicht dazu.«

Dangler machte den Eindruck, als müsse sie los. Sie sah sich immer wieder nach den anderen um, mit denen sie gekommen war. Die begaben sich auf den Rückweg zu ihrem InterTrafficer.

Ich nickte.

»Ja. Bekker plus zwei.«

»Aber nicht Pendra!«, sagte sie sehr bestimmt.

Ich lachte.

Schön wär´s, aber nein. Stan wäre zum jetzigen Zeitpunkt eine Katastrophe, vor allem in Kombination mit Noona. Vor allem für mich! Ich wusste nicht mal sicher, ob die beiden noch zusammen waren, aber gepasst hatte mir diese Beziehung nie.

»Das nicht, aber ich hätte gern Garrett.«

Auch wenn er dann vielleicht wieder denkt, ich verliebe mich doch noch in ihn, was ich nicht tun werde.

»Flink P. Garrett?«

Ich nickte.

Sie hatte es mit einem beinahe verzweifelten Unterton gefragt.

»Kennen Sie ihn?«, fragte ich.

Sie nickte und wurde blass.

»Ich habe ihn an der Fortress unterrichtet.«

So wie sie das sagte, musste es eine schreckliche Erfahrung gewesen sein. Ich konnte es mir vorstellen, aber er war mitunter auch genial und mutig. Ein lebhafter Spinner, ein bisschen zu emotional, aber das glich mich ganz gut aus. Ich war eher ein bisschen zu kühl für manche Dinge.

Er und Noona hatten nie Interesse aneinander gehabt. Ich wusste nicht genau, wieso das so war. Vielleicht waren sie sich zu ähnlich, wobei ich das gar nicht fand. Aber da würde nicht viel passieren zwischen den beiden. Party vielleicht, aber kein Streit und auch kein Sex. Die Kombination müsste passen und der Sache dienen.

»Ich werde diese beiden schwierigen Personalien für Ihre Anfrage freischaufeln, Woodman. Im Hintergrund. Die offizielle Anfrage dürfen Sie bitte selbst schriftlich formulieren. Eine Zusage der Squadronica ist dann so gut wie sicher, aber wir können die beiden nicht zwingen, mitzumachen. Braucht Garrett auch eine zusätzliche Motivation?«

Sie sah sich erneut ungeduldig um.

»Nein, ich denke nicht. Ich bin sicher, dass er mir helfen möchte.«

Das ist einer der wichtigsten Unterschiede zu Noona. Er ist eben mein Freund, sie aber nicht meine Freundin.

Dangler nickte und schloss ihre Notizen ab.

»Und jetzt kehren Sie zurück zu ihrer Basis!«

»Bringen Sie Bekker heute noch dorthin zurück?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

Ich nickte und verabschiedete mich.

An meinem Gleiter angekommen, drehte ich mich noch einmal zu der Stelle des Anschlags um.

Das Meer konnte ich von hier aus nicht sehen, aber ich hörte es. Galway war schließlich eine Hafenstadt. Der Duft von Salz und Austern – oder Algen – wehte herüber, mischte sich aber auf unangenehme Weise mit den Hydraulikölen, die der Recycling-Trupp ausdünstete.

Das kleine Schiff mit den grünen Streifen erhob sich und flog nach Südosten davon. Ich lehnte am Cockpit des Gleiters und massierte mir die Stirn. Ein pochender Kopfschmerz bahnte sich seinen Weg durch abebbendes Adrenalin, wurde aber durch eine andere, lange unterdrückte Empfindung dringlich abgelöst.

Vielleicht zweihundert Meter rechts des Geschützkraters erspähten meine dankbaren Augen ein Café mit Ausschank.

Ich rannte los, als wäre eine feindliche Invasionsarmee hinter mir her.

Die müssen doch eine Toilette haben! Ein Wunder, dass ich mich noch nicht vollgepinkelt habe!

IIIALLEIN

Von Galway fuhr ich erst sehr viel später wieder fort. Ich hatte meinen Magen beruhigt und in dem Café, das zum Glück eine Toilette zu bieten hatte, noch etwas zu Mittag gegessen. Danach hatte ich wieder am Cockpit des Gleiters gelehnt und den Krater angestarrt. Mich rief aber auch dann noch nichts heim, also hatte ich einen Spaziergang am Meer unternommen, um den Kopf frei zu bekommen. Wenigstens ein bisschen. Es hatte gegen die Kopfschmerzen geholfen.

Dangler wollte, dass ich sofort zurückkehrte, ermittelte und reparierte? Schön, dass sie das wollte. Dazu konnte sie mich aber nicht zwingen.

Ich gönnte mir ein paar Stunden, um das Ganze zu verarbeiten. Aktuell wartete eh niemand am Lough Mask auf mich.

Der Tag ging in den Abend über, als ich mit der gemächlichen Rückfahrt begann. Jill war festgenommen worden, Jensen abgehauen, Lennox Torgan … abtransportiert. Ich freute mich nicht auf die Rückkehr, aber ich musste zurück.

Die Dunkelheit kroch über die Hänge der Westküste, wurde aber von sanft grünlich illuminierendem Straßenbelag durchbrochen. Es war angenehm für die Augen und ließ beinahe alle Fahrrisiken des Dunkels verschwinden, aber es war auch unnatürlich und verdrängte die angenehme Ummantelung schwarzer Nacht. Immerhin passte das Grün zu Irland.

Wenn man volltrunken war, konnte man auf Autopilot umstellen. Musste, nicht konnte. Sorry. Er orientierte sich dann unter anderem am pulsierenden Licht der Straße. Meiner Erfahrung nach brachte er einen nicht immer ans gewünschte Ziel, aber er überfuhr zumindest auch niemanden.

Vielleicht hätte ich in Galway einfach was trinken sollen. Da gibt´s guten Whisky. Nein. Ich hab Angst. Wenigstens ein bisschen. Was, wenn der wahre Täter noch dort ist?

Ich war nicht schreckhaft oder ängstlich veranlagt, aber eine verlassene Station, in der am gleichen Tag jemand ermordet worden war, war einfach kein guter Ort.

Ich hätte früher zurückfahren sollen!

Im Hellen!

Mist!

Alles Mögliche ließ sich regeln, ändern, ausdiskutieren, aber ein toter Lennox war ein toter Lennox. Ich wusste nicht, warum Jensen scheinbar überflüssigerweise Jill ausgeknockt hatte. Vielleicht log sie doch an irgendeiner Stelle ihrer Geschichte. Aber dann sollte sie Torgan aufgrund meines Befehls, sie festzunehmen, ermordet haben?

JILL? Niemals! Sie hätte sich grinsend und kopfschüttelnd festnehmen lassen, anstatt so etwas zu tun.

Sie war eine verrückte, lesbische Wissenschaftlerin, die auf Popmusik und Fast Food stand – und die zudem absolut genial war. Ihre Verrücktheit war aber keine Verantwortungslosigkeit anderem Leben gegenüber. Manchmal dem eigenen, aber nicht dem anderer Wesen, egal ob Alien oder Maus. Jill würde, selbst für einen politischen Verrat oder eine Intrige, keinen harmlosen, unschuldigen Menschen ermorden. In was sollte sie sich verwickeln lassen, wofür sie Lennox töten würde?

I don´t fucking believe it! Nicht Jill!

Ich diktierte dem KomSystem des Gleiters meine Nachrichten an Noona Striker und Flink Garrett.

Ohne weiteres Korrekturlesen schickte ich sie direkt ab. Ich wollte es aus den Füßen haben, dieses Kommunikations-Zeug. Sprach- und Textnachrichten nervten mich meistens ziemlich an.

Noona und Flink waren noch irreal, noch weit weg für mich. Der Sinn stand mir nur ganz dringend nach Jill Bekker. Ich empfand manchmal etwas für sie, das ein wenig über Freundschaft hinausging. Jetzt fühlte ich nichts Romantisches, aber ein starkes Bedürfnis, sie in Sicherheit zu wissen und sie bei mir zu haben, damit auch ich mich sicherer fühlen konnte.

Als ich an der Rampe der Basis ankam, war es vollständig dunkel. Die gesamte Anlage war schwarz wie der Himmel darüber.

Von der vierköpfigen Stammbesatzung war nur ich übrig, dazu gab es drei sehr junge Dewies, die ich üblicherweise nur zu Wach- und Aushilfsdienten aus Donegal an der Nordküste kommen ließ. Keiner von ihnen war heute angefordert worden. Laut Plan hätten Jill und Lennox Nachtdienst gehabt, also jeder von ihnen je fünf Stunden. Die Zivilisten, die tagsüber ab und an um uns herumschwirrten, durfte ich nicht in die Kommandozentrale setzen. Sie belieferten uns, führten Reparaturen aus, die Zivilisten besser durchführen konnten als wir, und so weiter. An der Überwachung militärischer Anlagen waren sie aber nicht zu beteiligen, deswegen war auch nachts nie einer von ihnen da. In der unmittelbaren Nähe der Anlage wohnte ohnehin niemand.

Die übliche äußere Sicherheitsprozedur der Anlage funktionierte. Mein Gleiter wurde tendriert - das heißt gescannt - und ich wäre ohne Codes nicht bis zur Rampe gekommen. Einen Menschen hatte ich jedoch nicht gesehen oder gesprochen, während diese Dinge abliefen. Das machte alles das System.

Bei einer Nachtwache stand auch nie ein Mensch mit Waffe an irgendeinem Tor. Das lief von der Kommandozentrale her, alles technisch.

Dabei mussten die Leute von Commodore Dangler oder vom Geheimdienst heute hier gewesen sein, um Jill zu verhaften. Oder etwa nicht? Diese Info fehlte mir, wie ich feststellte.

Sie haben Lennox´ Leiche doch wohl abtransportiert, oder? Wo war denn der Tatort? Verflucht! Ich hätte fragen sollen!

Jetzt gefiel mir die nächtliche Basis noch weniger.

An seinem üblichen Arbeitsplatz? Spuren? Blut?

Leer, leblos und dunkelgrau wurde ich erwartet.

Die Sonne über dem Ozean vor Galway schien endlos weit entfernt, dabei war sie nur zwei Stunden zuvor über mein nachdenkliches Gesicht gewandert.

Etwas in mir schrie laut, ich solle nicht hineingehen.

Musste ich aber.

Irgendwie.

Außerdem war es albern, sich vor der Dunkelheit zu fürchten, wenn man mehr oder weniger aus dem Weltraum kam.

Wenn ich jemals ein Stern war, dann war ich niedergegangen. Aber ein Stern fürchtet doch die Weite nicht, die Kälte oder die Stille.

Ich würde nun einfach selbst die Nachtschicht übernehmen, als wäre ich ohnehin damit dran. Ich würde mich endlich detailliert darüber informieren, was von allen Geschützen in meinem Zuständigkeitsbereich übriggeblieben war. Dazu waren keine Meldungen in meinen Account im Gleiter angekommen.

Merkwürdig.

Der konnte doch nicht schon wieder gehackt worden sein. In Galway hatte ich ihn neu codiert, außerdem war Jensen sicher weit weg und hatte wohl kaum noch Interesse an der Anlage hier.

Oder daran meinen Zorn zu spüren!

Eigentlich hätten mir allerhand Leute schreiben sollen.

Die Kommunikation muss zwischenzeitlich abgeriegelt worden sein. Durch das Command oder den Geheimdienst. Hoffentlich sind die Nachrichten an Flink und Noona rausgegangen.

Ich passierte die Rampe und ließ mich von meiner Pflicht verschlucken.

Den Gleiter in der Halle abzustellen, fühlte sich okay an. Die Lampen an der Decke schalteten sich, Reihe für Reihe mit leichter Verzögerung, klackend ein. Ihr Licht fiel auf Container, Kanister, Räder und Fahrzeuge.

Eigentlich wie immer.

Nicht eigentlich.

Wie immer.

Alles ist wie immer!

Ich ging über den lieblosen Betonboden, der mich bis heute nie gestört hatte. An diesem Abend jedoch sah ich jeden Ölspritzer, jedes Quantum verschmierten Hydraulikgels, jeden Krümel und jeden Fussel.

Es roch nach Öl und Desinfektionsmitteln.

Ich hörte nur meine Schritte, besser gesagt: ein knautschiges Quietschen.

Lederstiefel ohne Absätze sind ziemlich leise.

Es erklang weder ein Piepen noch ein Summen irgendwelcher Relais oder Displays.

Nur die Schritte und ihr Quietschen.

Ich blieb mitten in der Halle stehen und ging nicht weiter. Zu meiner Linken lag der Aufgang zum Korridor. Davor war der Glaskasten im Weg, der Lennox Torgans Büro gewesen war.

Ich drehte mich drei Mal komplett um die eigene Achse, doch jede Ecke blieb still und es war auch alles recht gut ausgeleuchtet.

Wer konnte noch hier herein? Jensens Codes mussten längst gelöscht worden sein, oder? Durch wen?

Die drei Dewies aus Donegal fielen mir wieder ein.

Sie hatten Codes.

Ich ging noch nicht in den Korridor. Mir machten die beiden Etagen mit ihren langen Fluren aktuell ein wenig Sorge.

Ich hatte auf Raumschiffen furchtbare Dinge in schrecklichen Korridoren erlebt, aber hier in diesem verschissenen Gebäude war ich der Chef und verdammt einsam. Mit Fünfundsiebzig wäre ich vielleicht abgezockter gewesen, aber in meinem Alter trotz allem eben noch nicht.

Angst gehört zum Menschsein dazu.

Solange sie nicht bestimmt, was für ein Mensch wir sind, ist das okay.

IVEINGELOGGT

Ich nutzte erst einmal das Terminal in Lennox´ Glaskasten-Büro. Es gab darin zum Glück keine Spuren von Gewalt.

Aber er hat doch hier gesessen, als ich ihn angerufen habe. Naja, vielleicht nicht mehr bei der Tat. Jill und der Doc könnten wissen, wo … Mensch, der Doc!

Der Arzt, der die wenigen übers Jahr verteilten medizinischen Fälle in der Station betreute, hatte ebenfalls Zugangs-Codes und wohnte in der Nähe. Er war zwar inzwischen Zivilist, aber früher im aktiven Squadronica-Dienst gewesen. Ein ziemlich erfahrener Veteran, inzwischen über Sechzig. Gut, das war kein Alter mehr, aber er hatte rechtzeitig auf eigenen Wunsch den Hut genommen.

Ich rief ihn mit dem stationären Kom an. Ich wollte mein mobiles Kom im Moment lieber nicht mehr benutzen. Dass es unsicher war, war nur eine Empfindung, das war mir klar, und man konnte auch stationäre Koms hacken, aber Empfindungen darf man nachgeben. Manchmal.

Mach das öfter! Nicht immer alles unterdrücken, Woodi!

Ich erreichte den Doc.

Er lehnte dankend ab, noch vorbeizukommen, teilte aber meine Einschätzung, dass Jill Lennox wohl kaum erschlagen hatte. Immerhin war der Doc noch kurz zuvor bei ihnen gewesen, um Jill nach Jensens Niederschlag zu untersuchen.

Sie habe sich mehrfach bei Torgan bedankt, dass er sich um sie gekümmert hatte, sagte der Doc.

Er war allerdings auch gebeten worden, Torgans Leiche rasch zu untersuchen.

»Jill Bekker würde nicht auf diese Weise töten!«, sagte er.

Ich fragte, welche offizielle Info man ihm hinterher hatte zukommen lassen. Er war als Arzt zuständig für diese Einheit. Er musste doch eine Info erhalten haben.

Ich ging von Totschlag oder einem Searerschuss aus.

Die Information, die der Doc dann preisgab, kam unerwartet.

Sie veranlasste mich dazu, erneut rasche, prüfende Blicke in alle Winkel der Halle zu werfen.

Ich sitze in einem Glaskasten! Das Ding ist überhaupt nicht sicher! Eine denkbar schwache Position!

Lennox Torgan war mit einer Axt getötet worden.

Welcher der insgesamt acht Volltreffer zum Tod geführt hatte, konnte der Bericht nicht klären, aber achtmal einen großen, schweren Mann mit einer Axt zu schlagen, passte noch weniger zu meiner Jill mit den wirren blonden Haaren und den meistens zu kurzen Hosenbeinen. Sie war nicht klein oder schwach, aber sie tötete ganz sicher anders, wenn sie töten musste. Doch nicht mit einer Axt! Achtmal!

»Wer immer das war … das ist eine ganz kranke Sau«, sagte der Doc trocken und beendete das Gespräch.

Ich wusste genau, was er meinte.

Allein im Angesicht dieser großen, massiven Halle starrte ich in halbwegs ausgeleuchtete Ecken.

Ich hatte vergessen, den Doc zu fragen, wo der Mord stattgefunden hatte. Das Wie hatte zu sehr dominiert.

Ich rief ihn erneut an, aber er aktivierte die Leitung nicht. Entweder wollte er mir heute keine Fragen mehr zu Todgehackten beantworten oder war schlafen gegangen.

Oder man zensiert oder überwacht ihn, blockiert die Leitung oder … Ich muss damit aufhören, das ständig bei allem und jedem zu denken!

Ich würde es einfach später herausfinden müssen.

Als nächstes checkte ich die drei Dewies aus Donegal.