Die Stierin - Andrea Stift-Laube - E-Book

Die Stierin E-Book

Andrea Stift-Laube

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Beschreibung

Maeve arbeitet in einem Käseladen. In den Pausen schnitzt sie Figuren aus einer mythischen Vorzeit: ein Streitheer und zwei Stiere. Abends geht sie zu ihrem Mann Alli, der mit jedem Tag bestimmender wird. In einer anderen Zeit wird die Halbgöttin Maeve mit einem Messer am Hals von einem fremden König vergewaltigt. Aus Scham erzählt sie niemandem davon. Ihre Rache aber stürzt zwei Völker in einen blutigen Krieg, aus dem kein Sieger hervorgehen kann. Ein Chor – drei Frauen aus einer anderen Welt – trägt den Mythos in die Gegenwart. Der alte Konflikt bricht wieder auf. Andrea Stift-Laube webt den alten irischen Mythos zu einer makabren Geschichte um Macht und Gerechtigkeit. So düster ihre Figuren auch sein mögen, sie sind auf eigentümliche Weise vertraut und zutiefst sympathisch. "Es war alles voller Blut, der Fußboden, die Ladentheke, die Arbeitsplatte. Ich konnte nur einen Gedanken fassen: Etwas war mir aus der Hand genommen worden."

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Andrea Stift-Laube

Die Stierin

Andrea Stift-Laube

Die Stierin

Roman

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01071-9

Copyright © 2017 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG,WienAlle Rechte vorbehaltenSchutzumschlaggestaltung: Christine LinkUnter Verwendung einer Grafik von: shutterstock.com/Gorbash VarvaraLektorat: Tanja RaichSatz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf, www.typic.atUnter Verwendung einer Grafik von shutterstock.com/DeCeDruck und Bindung: Christian Theiss GmbH, St. Stefan i. Lavanttal

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die den Mut aufbringen, sich zu verändern.

Inhalt

Die Stierin

»Die Dichter wurden herbeigerufen und befragt, ob sie die Geschichte der Maeve in ihrer Gesamtheit erzählen konnten. Und alle gaben zu, dass sie nur Bruchstücke davon wussten.«

(Nach dem Book of Leinster, um 1160)

WIR BEHAUPTEN EINFACH, WIR SEIEN DER CHOR.

Wir sehen eine rothaarige Frau vor uns, sie ist groß, schlank und vielleicht um die fünfzig Jahre alt. Ihr Gesicht ist sehr hübsch, doch der Ausdruck darauf abwesend. Nicht von hier. Ihr schlanker Körper hat gefällige Ausbuchtungen. Vorne und hinten ist alles da, was man so braucht – zumindest glauben wir das, denn wir können es nicht so genau erkennen. Das liegt an ihrer Kleidung. Die Kleidung passt nicht ins gefällige Gesamtbild dieser Frau, wir sind damit ganz und gar unglücklich. Oben herum trägt sie eine viel zu weite, locker fallende Seidenbluse. Beige, mit altmodischem, braunem Muster. Unten herum eine Karottenhose, die ebenfalls braun und äußerst unvorteilhaft geschnitten ist. Die Fußknöchel der Frau lugen spitz daraus hervor. Ihre Füße stecken in klobigen, schwarzen Schuhen, es könnten Männerschuhe sein. Wir sehen und erkennen diese Frau das erste Mal in einem Käseladen im alten Teil unserer Stadt. Sie fuhrwerkt hinter der für sie viel zu hohen Theke und versucht, unsere Wünsche zu erfüllen. Graukäse, zehn Deka bitte, und Fonduekäse für drei Personen. Ja, die Hausmischung. Sie setzt ihre Hände vorsichtig, aber nicht unsicher ein. Wir gehen mit dem Käse nach Hause. Abends werden wir zusammen essen. Wir behaupten einfach, wir seien der Chor.

ICH NEHME DEN KÄSE und lege ihn auf eine der breiten, marmornen Arbeitsflächen. Ich werfe der Kundin einen fragenden Blick zu, ich forme um ihr Einverständnis heischende Gesten und lächle dazu. Ich schneide den Käse mit dem Käsemesser. Ich verpacke ihn und lasse ihn mir bezahlen. Ich fertige den Käse ab. So geht es immer von vorne. Der befriedigendste Moment während dieses Vorgangs ist der, in dem mein Käsemesser durch den Käse gleitet.

Vor wenigen Wochen sah ich aus dem Fenster meiner Wohnung auf den Berg gegenüber. Ich wohne in der Stadt, und wenn ich aus dem Küchenfenster blicke, sehe ich hauptsächlich Häuser. Der Berg überragt diese Häuser und schenkt mir eine kahle, menschenlose Aussicht. Dafür bin ich dem Berg grundsätzlich sehr dankbar, aber als ich vor wenigen Wochen aus dem Fenster blickte, da bemerkte ich, dass sich der Berg bewegte. Nur ein Stück weit. Als würde er einen kleinen Sprung in eine Richtung machen. Wenn man das laut ausspricht, klingt es nur halb so verrückt. Der Berg hat sich ein Stück verrückt. Und zwar auf mich zu. Seitdem ist das Verhältnis zwischen mir und der Aussicht aus dem Fenster meiner Wohnung etwas gestört.

Meine Wohnung ist klein, aber ausreichend. Trotzdem versteckt sich in meinem Bewusstsein irgendwo das Bedürfnis nach etwas Größerem. In Tagträumen sehe ich mich oft durch riesige Säle wandeln.

Meine Wohnung liegt im ersten Stock eines alten Mehrparteienhauses. Angeblich hat es vor über hundert Jahren zwei alten Damen gehört, die mehr Dienstpersonal hatten als sie jemals benötigten, weswegen ihre Tage ihnen mit zunehmendem Alter langweilig wurden. Als sie vor Langeweile endlich starben, richtete man in dem Haus mehrere voneinander getrennte Wohnungen ein, um den Bedürfnissen der neuen Zeit gerecht zu werden. Das hat mir zumindest die Nachbarin erzählt. Meine Wohnung ist die ehemalige Kammer einer Dienstbotin. Man betritt sie durch den Vorraum, in dem jetzt meine Schuhe stehen und meine Mäntel hängen. Ich halte nichts von Jacken, sie machen meinen Leib unförmig. Die Garderobe ist, wie alle meine Möbel, aus dunklem Holz. Im Wohnraum steht auch mein Bett. Ich esse und schlafe hier, sehe auf den Berg, der sich bis jetzt noch nie bewegt hat. Er ist kahl und baumlos. Ich weiß nicht, was er in der Stadt verloren hat. Wahrscheinlich hat man die Stadt um ihn herum erbaut. Der Berg stört nicht, aber an manchen herbstlichen Tagen, wenn der Nebel ihn gänzlich verdeckt, bilde ich mir gerne ein, dass da gar kein Berg ist, stattdessen offene Weite. Bis die Sonne irgendwann wieder hervortritt und mit ihr das graue Felsmassiv.

Vor wenigen Wochen also hat der Berg begonnen, sich in meine Richtung zu bewegen. Er hat sich auf mich zubewegt und mich verunsichert. Ich habe Kleidung aus dem Schrank genommen, mich angezogen, ohne ganz bei mir zu sein. Erst im Käseladen habe ich bemerkt, dass die Kleidungsstücke nicht zusammenpassten. Ich blieb den ganzen Tag über unkonzentriert und musste mich anstrengen, die Bestellungen der Kunden fehlerlos auszuführen.

Mein Käseladen liegt in einer engen kleinen Gasse im Zentrum der Stadt. Rund um die Gasse lärmt das Leben, Menschen laufen von einem Geschäft zum nächsten, Fahrräder und Mopeds bahnen sich ihren Weg und eine Straßenbahn fährt in regelmäßigem Takt vorüber. Die Gasse ist, obwohl mitten im Trubel gelegen, leicht zu übersehen. Es ist eine sehr alte, enge und eher dunkle Gasse. Wenn man nicht weiß, dass man durch sie hindurch gehen kann, könnte man glauben, es sei gar keine richtige Gasse, sondern nur ein etwas breiterer Schlurf zwischen zwei Häusern. Trotzdem habe ich ausreichend Kundschaft. Wer einmal bei mir war, kommt gerne wieder. Ich habe den besten Käse der Stadt, berate meine Kunden gut und bin freundlich. Seit einigen Monaten bin ich auch nicht mehr allein in der Gasse. Ich habe Nachbarn bekommen. Ein orthopädisches Spezialgeschäft für Menschen, die an Haltungsschäden oder Fußfehlstellung leiden, hat sich ein paar Schritte weiter eingemietet. Damit einhergehend habe auch ich neue Kunden bekommen. Ich kann jedenfalls ganz gut von meinem Käse leben.

WIR BEHAUPTEN ALSO, WIR SEIEN DER CHOR. Etwas ist schiefgegangen, vor langer Zeit schon. Bald werden wir zum letzten Mal ausfliegen, dann unsere Federn verstauen, uns anpassen, uns fügen. Wir haben uns umsonst so lange dagegen gewehrt, wir haben keine Kraft mehr. In unseren Träumen begegnen wir den wundersamsten Dingen. Jede Nacht sterben wir, jeden Morgen werden wir neu geboren. Die Frau aus dem Käseladen, die geht uns nicht mehr aus dem Kopf. Doch es scheint, der Funke in ihr ist erloschen. Wir rupfen uns die Federn vom Leibe und tragen sie in den Garten. Sollen andere Vögel damit ihre Nester bauen.

ZU HAUSE ANGEKOMMEN, ziehe ich mich als Erstes um. Ich frage mich, wo ich bloß diese Kleidung herhabe. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals eine Karottenhose gekauft zu haben. Und diese Bluse. Ich ziehe beides aus und eines meiner bequemen, wallenden Kleider an. Es reicht mir bis zu den Knien.

Meine Oberschenkel sind meine Freude, ich betrachte sie gern. Sie sind fest und nicht so unscheinbar wie der Rest meines Körpers. Bis auf meine Oberschenkel erscheint mir alles an mir irgendwie fremd. Mein Bauch ist eine weiße, fremde Fläche, die ich ungern berühre. Meine Brüste schmerzen regelmäßig. Meine roten Haare verhöhnen mich an manchen Tagen, sie schimmern arglos und froh, als gehörten sie nicht zu mir und schon gar nicht auf meinen Kopf.

Meine Oberschenkel hingegen sind standhaft und zuverlässig. Wenn ich sie betrachte, dann beruhigt mich das.

Bald werde ich mich mit einem Mann treffen, der vor einigen Tagen bei mir im Geschäft war. Er hat um viel Geld eingekauft und mein Messer glitt widerstandslos durch den von ihm bestellten Käse. Er würde mich gerne ausführen, sagte er, mit mir in eines der stadtbekannten Restaurants gehen und den Abend in meiner Gesellschaft verbringen. Er war groß und muskulös. Nur an seinem üppigen Bauch war zu erkennen, dass er gerne aß. Ich reichte ihm den Epoisses, er bezahlte und ging. Ich hatte nicht geantwortet, ihn bloß verabschiedet, aber am nächsten Tag war er wieder da. Ich wünschte, ich könnte die Menschen nach dem Käse beurteilen, den sie bei mir kaufen.

– Haben Sie es sich überlegt, fragte er mich.

Ich wollte ihm das Käsepaket geben, aber er nahm es nicht. Dieses Mal hatte er sich für italienischen Hartkäse entschieden.

– Na gut, sagte ich, und nein, ich habe es mir nicht überlegt.

– Ich werde morgen wiederkommen.

Er nahm das Paket schließlich doch noch an sich und bezahlte. Als er hinausging, bewunderte ich seinen mehrfach gefalteten Stiernacken. Er ging mir den ganzen restlichen Tag nicht mehr aus dem Kopf.

Am nächsten Tag begrüßte ich ihn bereits mit einem Lächeln. Es war gerade kein anderer Kunde da, wir waren allein.

– Sie haben keine Ahnung, worauf Sie sich einlassen, sagte ich.

– Und Sie schon?

Wir sprachen ein wenig miteinander, langsam gefiel mir sein massiger Körper, den er in feine Anzüge hüllte. Bevor er ging, vereinbarten wir ein Treffen in einem Restaurant.

Sein Haus liegt auf der anderen Seite des Flusses. Er sieht den Berg nur von seiner Küche aus. Ansonsten hat er freie Sicht auf die Welt. Zwischen ihm und mir liegt eine ganze Stadt. Wir treffen uns ungefähr in der Mitte.

Was wir gegessen haben, weiß ich nicht mehr, auch an die Ausstattung des Restaurants kann ich mich kaum erinnern oder an den, wie Alli behauptet, schlechten Service. Seine blauen Augen, seine harmlose Stirn übertönten alles. Die Erde unter mir sang. Meine Schenkel waren schon nass, als ich mich an den Tisch setzte. Das war, was mir in den letzten Jahren so gefehlt hatte. Es war auch, wovor ich mich in den letzten Jahren so gefürchtet hatte.

– Willst du mich heiraten, fragte er und ich lachte ihn aus.

– Nein, ich kenne dich doch gar nicht.

Er zog mich an seinen Körper. Kleine schwarze Härchen bedeckten seine Arme, von den Fingerkuppen weg bis zu den Schulterblättchen. Wie kleine Fischschuppen.

– Kannst du unter Wasser atmen, wollte ich wissen.

Er verneinte mit einem Kuss. Seine Zunge fuhr als schlanker Aal bis in meine Luftröhre hinein, ich bekam keine Luft mehr und der Sauerstoffentzug machte mich mutig. Ich weiß nicht mehr, wie und wann wir das Restaurant verlassen haben, in der Früh jedenfalls wachten wir in seinem Bett auf. Er besitzt ein Haus mit Garten, den er mir aber noch nicht gezeigt hat. Heute Abend werden wir uns wieder begegnen. Ich habe diese Ahnung einer Wiederholung. Ich spüre eine Spannung zwischen meinen Schläfen. Ein Frühstück wäre nicht schlecht, doch ich muss jetzt in den Laden. Der Käse wartet, wie auch all die Menschen, die sich nach Käse sehnen.

Es ist schon einige Jahre her, dass ich mit einem Mann zusammen war. Ich habe mein Leben mit ihm geteilt, oder das, was er mir davon übrig gelassen hat. Als diese Beziehung vorbei war, fühlte ich mich unglaublich erleichtert. Damals schwor ich mir, in Zukunft meine Tage lieber allein zu bestreiten. Ich dachte, ich hätte meine Schwächen überwunden, diese Angst davor, in der Nacht aufzuschrecken, diese Furcht vor kühler Einsamkeit. Trotzdem werde ich eines altbekannten Gefühls gewahr. Es legt sich wie ein weicher, gerade noch durchlässiger Wattebausch über meine Realität. Macht mich träge und gleichzeitig voller Erwartung.

WIR SIND DER CHOR, wir haben dich beobachtet. Wenn die richtigen Worte fehlen, sind wir gern zur Stelle. Wir haben das alles schon zu oft gesehen. Wir sind nicht begeistert. Wir sollten wohl einschreiten, zumindest dich warnen. Aber unsere Mahnungen wurden schon so oft überhört. Wir sind bloß ein Chor.

NACH DER ARBEIT WANDERE ICH zu Fuß in meine Wohnung. Es ist nicht weit und ich gehe diesen Weg gerne. Er führt mich am Berg vorbei. Ich gehe im Halbkreis um den Berg herum, umrande ihn mit meinen Schritten. Vielleicht gelingt es mir, einen freundschaftlichen Kontakt zu ihm herzustellen. Zu Hause verbringe ich ungefähr eine Stunde damit, mich auszuruhen und schön zu machen. Ich lege meine Beine hoch und trinke ein Glas Rotwein. Das macht die Schamlippen weich, behauptet zumindest Alli. Manchmal lasse ich mir auch ein Ölbad ein und liege dann viel zu lange darin. Ich darf Alli nicht warten lassen, sonst wird er ungehalten. Vor einigen Tagen zwang er mich auf die Knie und ich musste so verharren. Das war alles. Es war, als wartete er auf irgendetwas, eine Reaktion von mir, eine Gegenwehr. Aber mich störte es nicht, vor ihm zu knien. Ich blieb und sah ihn an, bis er mich wieder hochzog.

– Das wird schon noch, murmelte er und schüttelte den Kopf.

Nach dem Essen, nach dem Akt, bringt er mich wieder heim. Meist gehen wir zu Fuß, und er, ganz fürsorglich, geht in meinem Tempo neben mir her. Wir halten uns jedoch nie an den Händen. Andere Paare tun das, das habe ich oft beobachtet. Wenn es regnet, bringt er mich mit seinem Auto heim. Ich bleibe nur sehr selten bei ihm im Haus. Wieso er das nicht mag, hat er noch nicht gesagt. Nur wenn er guter Laune und nachgiebig ist, darf ich übernachten. Er sieht dann die ganze Nacht lang fern, sodass ich unruhig schlafe. Seinen Garten hat er mir noch nie gezeigt. Ich darf ihn auch nicht allein betreten.

– Es ist noch nicht die Zeit dafür, sagt Alli.

Ganz selten kommt es vor, dass er mich in meiner kleinen Wohnung besuchen möchte. Ich streichle mich dann bereits, wenn ich allein bin, damit ich feucht bin, wenn er eintritt, er führt das natürlich sofort auf seine Anwesenheit zurück. Ich berühre mich auch, wenn er es sehen kann, weil ihn das heiß macht, aber niemals dort, wo mein Geruch konzentriert ist. Dort hat nur er Zugriffsrecht, er soll mein Aroma an den Fingern haben und mit sich herumtragen. Er sagt Rosenblüte dazu oder feuchte Blume im Morgentau. Es berührt mich unangenehm, wenn er so geschwollen spricht. Meine Scham ist ein verstohlener Garten. Ich reiße ihm wöchentlich das Moos aus, ich bin eine penible Gärtnerin, damit Alli schnell hindurchwaten kann. Ich komme ihm entgegen und begleite ihn dann auf seinem Weg zum Ziel. Mein Körper hört auf seine Musik. Ich erahne anhand seines Atmens meinen eigenen Rhythmus. Wenn er schneller wird, dann richte ich all mein Sehnen auf seine empfindlichen Körperstellen. Ich bin nur dazu da, damit er sich in mir spiegeln kann. Wenn er kommt, sind wir beide glücklich. Erst wenn er eingeschlafen ist, bringe ich meinen Rosengarten mit schnellen Handgriffen selbst zum Erblühen.

ICH BIN IN EINER ORTSCHAFT aufgewachsen, die ich damals schon in Gedanken immer nur »das Kaff« nannte. Zur Schule fuhr ich mit dem Regionalbus. Die Bushaltestelle befand sich auf dem Hauptplatz, und dieser Hauptplatz war so leer und unnötig, wie es die gesamte Ortschaft war. Hier gab es nichts Einladendes.

Ein Heimatgefühl hatte ich an diesem Ort nie. Er war mir von meinen frühesten Kindheitstagen an immer unheimlich gewesen. Hier gab es nichts bis auf ein Freibad und zu viele Fliegen. Die Fliegen stammten vom Schweinebauern, dessen Schweine man nie sah, bloß roch und hörte. Ihre leibliche Manifestation waren die Fliegen.