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Detective Danny Carmichael arbeitet am Fall eines Serienmörders, der es auf junge Frauen abgesehen hat. Im Zuge seiner Ermittlungen beginnt er unter Wahnvorstellungen und Albträumen zu leiden ... Aber es ist noch nicht zu Ende ...
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2019
Über den Autor
Personenliste
Kapitel 1 Ein trüber Tag
Kapitel 2 Viel Arbeit
Kapitel 3 Privatleben? Was ist das?
Kapitel 4 Albträume
Kapitel 5 Opfer Nummer 12?
Kapitel 6 Schwermütiger Besuch
Sandra Wimmer wurde 1992 in Wien geboren, wo sie heute mit ihren beiden Katern lebt. Nach der Matura war sie in verschiedenen Jobs tätig. 2014 erschien ihr erster Roman „Deep in my Heart“, ab Frühjahr 2018 folgten weitere Romane unterschiedlichen Genres.
Detective Danny CARMICHAEL
Mutter: Louise CARMICHAEL
Halbbruder: Dylan DECKER - Ehefrau Maggie
Kinder: Julie, Barry & Marie
Schwester: Andie WILLIAMS - Ehemann Norman
Ex-Frau: Catherine JAMES - Ehemann Mick
Kinder: Lauren & Millie
Captain Eric SANDERS - Ehefrau Rosie
Detective Roger BROWN - Ehefrau Rita
Kinder: Phil & Jade
Detective Stephen SHORE - Ehefrau Christine
Kinder: Lillian, Lindsay & Kevin
Detective Lee MASTERS - Ehefrau Lin
Kinder: Marcy, Kate, Cloe & Bernadette
Detective Aaron HELMS - Ehefrau Judy
Kinder: Nick, Robert & Jake
Detective Cynthia GREY
Schwester: Monica GREY-PARSONS
Detective Vince LARSON
Seargent Billy OSWALD
Pathologe Dr. Bobby PAXTON
Tochter: Kate
Polizeipsychologe Dr. John MILLER
Psychologin Dr. Jane RIVERA
Psychiater Dr. John PETERSEN
Oak Hill im Bundesstaat West Virginia mit seinen etwa 7730 Einwohnern: Es war eine Stadt mit reichlich Wäldern in der Umgebung und daher ideal für Wanderer. Außerdem war es eine ausgezeichnete Gegend für den Kohlebergbau.
Hier lebte auch Daniel Carmichael, der aus Einfachheit wegen überall nur Danny genannt wurde. Vor wenigen Monaten hatte er seinen 34. Geburtstag im Kreise der Familie gefeiert. Danny war etwa 1,75 m groß, schlank, mittelmäßig sportlich, blond und machte eher den Eindruck eines Durchschnittstypen, dem man jederzeit einfach auf der Straße über den Weg lief und dem man auch kaum Beachtung schenkte.
Irgendwie war es nicht Dannys Art, wie manche seiner Kollegen, im Dienst einen Anzug zu tragen. Er bevorzugte den lässigeren Stil. Er hatte aber überhaupt nichts gegen die Kollegen, die den klassischen „Detective-Stil“ auslebten. Ansonsten konnte man mit ihm über alles reden und auch gut mit ihm zusammenarbeiten.
Detective Danny Carmichael war gut in dem, was er tat. Er heftete sich an die Spuren von Mördern und brachte sie bestenfalls auch ins Gefängnis.
Für gewöhnlich war Danny ein eher lebensfroher Mensch, TROTZ oder vielleicht gerade WEGEN seiner Arbeit …
Aber an diesem Tag Ende September stand er völlig neben sich. Im schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte saß er zusammengesunken am Ende seines Bettes. Heute war die Beerdigung seines langjährigen Partners und Freundes Detective Roger Brown. Er war die gute Seele der Abteilung gewesen. Detective Brown sah in jedem Kollegen das Gute. Er motivierte sie und stand ihnen bei, wenn sie jemanden zum Reden brauchten. Roger hatte Danny gleich nach dessen abgeschlossenen Detective-Ausbildung unter seine Fittiche genommen. Er hatte ihm wirklich viel gelernt. Jedes Mal, wenn er mit Danny an einem Fall dran war, dann funktionierte es auch. Roger hatte ihn auf wichtige Kleinigkeiten hingewiesen. Er hatte ihm genau erklärt, worauf er WIRKLICH achten musste, wenn er Zeugen oder Verdächtige verhörte. Er hatte ihm klar gemacht, wie wichtig es war, seine Umgebung genau zu beobachten. Alles rundherum mitzubekommen … Jederzeit …
Und nun war Detective Roger Brown tot … Ein lebloser Körper, der in einem Sarg lag. Kalt und bald vermutlich von Maden zerfressen … Danny drehte es buchstäblich den Magen um, wenn er nur daran dachte. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Roger tot war … Dass er nie wieder seine Stimme hören würde, sein Lachen … Nie wieder diesen Freund an seiner Seite hatte, den er um Rat fragen konnte … Danny fühlte sich leer … Und irgendwie auch verlassen … Genau deshalb fiel ihm der heutige Tag so furchtbar schwer …
Seargent Billy Oswald war 28 Jahre alt und im Allgemeinen ein guter Cop. Danny hielt viel von ihm, denn er war fleißig und aufmerksam. Er war etwa so groß wie Danny und hatte braunes Haar. Ansonsten versuchte Billy immer, gute Laune zu verbreiten und zeigte sein freundliches Lächeln. Er war wirklich eine Stütze. Vielleicht war alles mit ein Grund, warum Billy Oswald an diesem schweren Tag einen Partner des getöteten Kollegen abholte.
Gerade eben klopfte es an Dannys Wohnungstür. Demotiviert stand der Ermittler auf und öffnete. Vor der Tür stand Billy Oswald …
„Hey“, sagte der junge Polizist.
„Komm rein“, meinte Danny bloß.
„Okay …“
Als Danny die Wohnungstür wieder geschlossen hatte, sank er erneut wie ein Häuflein Elend auf seiner Couch zusammen. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und driftete wieder in die vielen Gedanken in seinem Kopf ab.
„Bist du dir sicher, dass du selber fahren kannst?“, fragte Billy besorgt.
„Klar“, antwortete Danny geistesabwesend.
Dann war es wieder still.
„Danny …“, sagte Billy jedoch. „Wir müssen los!“
„Ich bin gleich unten“, erwiderte der Mordermittler. „Lass mich noch einen Moment allein.“
Billy nickte und verließ die Wohnung. Detective Carmichael atmete tief durch, seufzte nochmals und stand dann auf. Er schlüpfte in seine schwarzen Schuhe, warf noch einen prüfenden Blick in sein Wohnzimmer und ging dann.
Seargent Oswald wartete vor der Tür. Natürlich ging auch ihm Roger Browns Tod nahe. Immerhin hatte er auch viel mit diesem Detective zu tun gehabt und ihn sehr geschätzt.
„Bringen wir’s hinter uns“, seufzte Danny und schloss dann seine Wohnungstür ab.
Billy nahm es mit einem Schweigen zur Kenntnis, und die beiden Männer gingen das Stiegenhaus hinunter.
Danny wäre der Beerdigung gern fern geblieben. Roger hätte das bestimmt verstanden. Aber die Gesellschaft würde dieses „egoistische“ Verhalten nicht verstehen und sich das Maul darüber zerfetzen. Wenn der engste Freund nicht bei der Beerdigung auftauchte … Also blieb Danny keine andere Wahl. Schon gar nicht als Rogers Partner …
Die beiden Männer machten sich in ihren Autos auf den Weg zum Friedhof.
Danny musste heute noch Rogers Ehefrau und den beiden erwachsenen Kindern gegenübertreten, die übliche „Mein-Beileid“-Nummer abziehen, die alles noch viel schlimmer machte. Danny war zwar erst zwölf gewesen, als sein Vater gestorben war, aber wenn man seinen Eltern nahestand, war es in jedem Alter fürchterlich, diese Menschen zu verlieren. Danny funktionierte seit dem Aufstehen nur roboterhaft. Er wusste, was er zu tun hatte, und tat das daraufhin auch …
Phil Brown war 24 Jahre alt, seine Schwester Jade 22. Aber trotzdem: Ihr Vater war nicht mehr da. Getötet in seinem Job. Es kam für alle so unerwartet.
Danny war an diesem Tag geistig nicht anwesend. Er wollte das Ganze einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er konnte kaum glauben, dass er es bis jetzt durchgehalten hatte. Es war beinahe unerträglich, den Worten des Pastors zuzuhören. Ihn über Roger Brown reden zu hören, ohne in Tränen auszubrechen.
Rogers Familie gelang das nicht. Weinende Schwestern und Schwager, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln, Neffen und Nichten …
Danny musste seinen Blick von dieser Szenerie abwenden, um sich nicht selbst mit den anderen in einen Schwall aus Tränen zu ergießen. Er sah auf den Boden, doch dann war ihm wieder schlagartig klar, dass dieses schöne, grüne, saftige Gras die Wiese des Friedhofs war.
Danny sah wieder auf. Seine Kollegen waren SO gefasst. Und er selbst musste sich SO SEHR zusammennehmen. Jedes Wort, das über den Verstorbenen gesprochen wurde, bohrte sich nur wie eine Klinge immer tiefer in Dannys Herz. Teilweise konnte er nicht einmal zuhören. Und schließlich wurde Rogers Sarg in das offene Grab hinuntergelassen.
Und wieder sprach einer von Rogers Angehörigen einige sehr bewegende Worte. Letztendlich begann die übliche Prozedur …
Danny warf die Rose in das offene Grab und ein Schäufelchen Erde hinterher. Das war also der letzte Weg seines Partners. Roger hatte immer gesagt, dass er diesen Weg zuerst beschreiten würde. Er hatte recht …
Die Schlange der Beileid-Sager schob sich unaufhörlich voran. Verwandte, Kollegen, Freunde. Es war schrecklich schwer für Rita und die Kinder …
Und Danny fürchtete den Moment, wenn er in der Schlange Rita gegenüberstand. Was sollte er sagen, was die Witwe nicht schon x-Mal gehört hatte, seit ihr Mann so unerwartet verschieden war …
Danny war einer der Letzten, die Rita Brown die Hand gaben und „Mein Beileid“ sagten. Danny war genau EINER zu viel. Weinend fiel Rita ihm in die Arme. Danny legte beruhigend eine Hand auf ihren Hinterkopf und streichelte mit der anderen ihren Rücken. Mrs. Brown weinte bittere Tränen um ihren ermordeten Ehemann. Aber sie kannte das Risiko, seit Roger zur Polizei gegangen war. Sie musste mit der ständigen Angst leben, dass irgendwann irgendetwas passieren könnte … Und dieser Fall war nun leider eingetreten …
Rita Brown versuchte sich zu fassen. Dann sah sie zum Partner ihres toten Mannes auf, der für sie irgendwie auch längst zur Familie gehörte.
„Roger hat SO VIEL von dir gehalten“, schluchzte sie. „Er war immer so von dir überzeugt … Er hat immer wieder so begeistert von dir gesprochen … Er weiß, dass du weiterhin … deinen Job gut machen wirst … Er hat immer gesagt, er habe dir alles beigebracht, was er weiß …“
Schweigend hielt Danny die weinende Witwe seines Partners erneut fest.
„Er hat immer an dich geglaubt“, brachte sie stockend heraus. „Immer … Und egal, wo er jetzt ist, er glaubt dort noch immer an dich.“
Danny nahm es wortlos zur Kenntnis. Schließlich schaffte Rita es aber, ihren Griff um den Partner ihres ermordeten Mannes zu lockern. Gleich wischte sie sich mit ihrem völlig durchweichten Taschentuch die weiteren Tränen aus dem Gesicht.
„Wenn ich irgendwas für dich tun kann, Rita …“, setzte Danny an, „… dann lass es mich wissen. Ich bin für dich da.“
„Danke …“, brachte Mrs. Brown gerade noch mit halb erstickter Stimme heraus.
Dann vergrub sie ihr Gesicht wieder hinter dem Taschentuch. Es machte kaum Unterschied, ob dieses Stofftaschentuch mit Tränen oder Regentropfen getränkt war …
Und schon stand ein Verwandter der Browns vor der trauernden Witwe, schüttelte ihr die Hand und sprach mit trauriger Miene: „Mein Beileid.“
Wortlos gab Danny Rogers erwachsenen Kindern die Hand. Worte waren nicht nötig. Phil und Jade verstanden den besten Freund ihres toten Dads auch so. Diesen beiden gebührte wahrlich Respekt. Jade und Phil waren sehr gefasst. Die ganze Zeit über. Sie waren der Halt für ihre völlig aufgelöste Mutter, obwohl sie selbst trauerten …
Danny ging danach schnell zu seinem Wagen. Während der ganzen Trauerfeier hatte er sich zusammengerissen. Jede Träne, die sich angeschlichen hatte, hatte er hinuntergeschluckt. Danny hatte es vermieden, mit irgendjemandem zu lange zu sprechen. Er war heute einfach in einer schrecklichen Verfassung. Als er schließlich auf seinen Wagen zusteuerte, folgte ihm Billy Oswald, weil er eine wichtige Frage bezüglich eines Falls hatte.
„Hey, ich brauche ein bisschen Hilfe bei einer Aktengeschichte“, teilte Billy ihm mit. „Ich kenn mich da leider überhaupt nicht aus.“
„Können wir das bitte morgen bereden!“, bat Danny beinahe drängend.
Er kämpfte bereits gegen die Tränen.
„Du weißt, dass es wichtig ist“, erwiderte Seargent Oswald, während er weiter neben ihm her ging.
„Ja, das weiß ich!“, erwiderte Danny richtig forsch. „Aber bitte … Morgen! Morgen bin ich wieder am Revier!“
„Okay“, sah Billy nun zum Glück ein und blieb stehen.
Danny war heilfroh, dass er seinen jungen aufstrebenden Kollegen jetzt losgeworden war. Viel länger hätte er dieses Theater nicht durchziehen können. Es tat fürchterlich weh.
„Okay, bis dann“, meinte Billy noch von der Ferne.
„Bis dann!“, erwiderte Danny hastig und schloss seinen Wagen auf, sobald er ihn erreicht hatte.
Seufzend setzte Danny sich hinter das Steuer und zog die Tür zu. Er legte seine Stirn auf das Lenkrad und atmete tief durch. Die Beerdigung war überstanden und Danny lehnte sich zurück. Einen kurzen Moment saß er nur da. Und dann brach es aus ihm heraus. Er weinte. So lange hatte Danny durchgehalten, aber jetzt ging es nicht mehr.
Doch dann fing er sich wieder. Rasch wischte Danny sich die Tränen aus dem Gesicht. So brauchte ihn niemand sehen! So war er einfach nicht. Na ja, privat schon … Aber aus der Arbeit musste ihn niemand so sehen. Außerdem musste Danny jetzt los wie alle anderen, also startete er seinen Wagen …
Wenig später fanden sich einige Ermittler, Seargents und dergleichen in einem „Stammlokal“ zusammen, um dem familiären Leichenschmaus zu entgehen. Außerdem war das ihre Art, von einem verstorbenen Kollegen Abschied zu nehmen. Die Stimmung in diesem Lokal war schon lange nicht mehr so gedrückt wie heute. Selbst der Besitzer Eddie trug Schwarz. Auch er hatte Roger Brown über Jahrzehnte gekannt und sich gern mit ihm unterhalten. Für niemanden hier war es einfach, aber jeder ging anders damit um. Roger Brown war Kollege von allen hier gewesen, aber nur Dannys Partner und Mentor. Und wahrer Freund.
Danny saß eher etwas abseits und für sich allein bei einem Tisch und einem Bier. Er wollte mit niemandem reden. Es war für ihn sowieso schwer genug. Die Stille wurde aber schließlich unterbrochen.
„Wir trinken heute auf Detective Roger Brown“, begann Detective Vince Larson und hob dabei seine Bierflasche. „Einen der besten Detectives, den dieses Department JE gesehen hat. Er war nicht nur ein Kollege … Er war unser Freund, ein Mentor … Unsere Unterstützung ist bei seiner Familie … Auf Roger!“
„Auf Roger!“, stimmten seine Kollegen zu.
Auch Danny hob seine Bierflasche für seinen toten Kollegen, Partner und Freund. Roger war immer für ihn da gewesen. Und umgekehrt. Aber gelernt hatte ER alles von Roger.
Danach nahm Danny einen Schluck aus seiner Flasche und stellte sie wieder auf dem Tisch vor sich ab. Dann seufzte er tief und starrte nach wie vor wieder auf die hölzerne Tischplatte, auf der er lehnte.
Captain Eric Sanders kam zu ihm und setzte sich seufzend neben ihn.
„Jetzt haben wir das auch hinter uns …“, sagte er mit einem weiteren langen Seufzer.
Danny antwortete nicht darauf. Ihm fiel es im Augenblick einfach viel zu schwer, eine gefasste Antwort zu geben. Der Schmerz saß unglaublich tief. Roger war ein guter Freund gewesen. Und für Danny auch irgendwie ein Vaterersatz.
Aufgrund des Schweigens trat Captain Sanders mit einem gut gemeinten Rat an Danny heran. „Du solltest dir Urlaub nehmen … Ein, zwei Wochen weg von dem Ganzen hier.“
„Und was soll ich da tun?“, fragte er desinteressiert.
„Hör mal, Danny“, begann Sanders. „Du kannst nicht permanent arbeiten! Schon gar nicht jetzt!“
„Besonders jetzt!“, erwiderte er. „Ich will denjenigen finden, der Roger erschossen hat!“
„Wir finden den Täter“, versicherte er ihm. „Ich habe schon Chambers und Bates darauf angesetzt.“
„Dann finden wir ihn nie“, sagte Danny seufzend.
„Ach, Quatsch“, fand Captain Sanders überzeugt. „Stan und Larry machen das schon.“
„Wenn Sie meinen, Sir …“
„Ich bin davon überzeugt“, bekräftigte er. „Wirklich … Wir werden herausfinden, wer Roger ermordet hat.“
„Ich bezweifle es“, erwiderte Danny und nahm einen Schluck Bier.
Captain Eric Sanders seufzte. Er sah ein, dass dieses Gespräch heute überhaupt keinen Sinn hatte.
„Reden wir darüber, wenn die erste Trauerphase überstanden ist“, meinte er.
„In Ordnung, Sir“, antwortete Danny.
„Aber bitte, denk über einen Urlaub nach“, bat Captain Sanders besorgt. „Du kannst nicht immer nur arbeiten. Das macht einen Menschen nur krank.“
„Ich komme klar, Sir.“
„Wann warst du zuletzt in Urlaub?“, sagte er etwas erregt. „In deinen Flitterwochen?“
Captain Sanders war der Erste, der Danny nach dem Tod seines Partners ein Lächeln abringen konnte. Aber nur ein kurzes.
„Nein“, erwiderte er. „So lange ist das auch nicht her.“
„Okay … Dann war’s, als ihr versucht habt, ein Baby zu kriegen.“
„Ja … Da war ich aber noch nicht Detective … Da war ich noch nicht mal richtig ein Cop.“
Captain Sanders hatte eindeutig das falsche Thema angesprochen. Das wurde ihm auch schlagartig klar.
„Danny, es tut mir leid“, sagte Eric Sanders sofort.
„Schon in Ordnung …“, meinte er darauf und nahm noch einen Schluck aus seiner Bierflasche.
Das war jetzt der ideale Zeitpunkt, um wieder über die Vergangenheit nachzudenken. Dafür war er Captain Sanders wirklich nicht dankbar. Aber Danny war froh, als dieser wieder aufstand und sich zu einem anderen Mitarbeiter setzte, der gerade in Tränen ausgebrochen war. Danny wusste, warum. Roger Browns Tod im Dienst erinnerte Chapman viel zu sehr daran, wie vor drei Jahren sein eigener Partner Timothy Wiley in Ausübung seiner Pflicht umgebracht worden war …
Danny driftete wieder in die Vergangenheit ab. Irgendwie hatte er schon immer die Neigung zu älteren Frauen gehabt. Seine erste Freundin, mit 15, war schon 20 Jahre alt gewesen. Dann hatte sich herausgestellt, dass er für Ellen nur eine Affäre gewesen war. Ein Kücken zum Ausprobieren …
Und dann hatte er schließlich Catherine Jennings kennengelernt und wenig später auch lieben. Danny hatte sie schon mit 20 geheiratet. Die Ehe war gut, sie hatte diesen einen Schicksalsschlag nur nicht verkraftet.
Acht Jahre älter war seine Ex-Frau Catherine. 20 und 28 war DOCH ein ziemlicher Unterschied. Deshalb hatten sie so schnell geheiratet und versucht, Kinder zu bekommen. Irgendwann war Catherine auch schwanger und die beiden freuten sich wahnsinnig auf ihren ersten Nachwuchs. Aber es sollte nicht sein …
Melissa Carmichael war nur vier Tage alt geworden. Angeborener inoperabler Herzfehler und die Lunge war auch nicht in Ordnung gewesen. Dazu hatte die Kleine auch noch irgendeine aggressive Infektion, über die die Eltern bis heute nichts Genaues wussten. Es war einfach viel zu viel für den kleinen Körper gewesen. Melissas Tod war auch das Ende der Ehe ihrer Eltern. Catherine und Danny konnten einfach nicht mehr miteinander. Aber nach wie vor waren sie auch davon überzeugt, dass der Altersunterschied ein Problem darstellte.
Danny hatte das Foto seiner drei Tage alten Tochter noch immer in der Brieftasche. Dort würde es auch für immer bleiben. Er hatte sein kleines Mädchen immer bei sich …
Catherine war der einzige Mensch, mit dem er auch über seine Arbeit reden konnte, obwohl das verboten war. Sie waren heute noch sehr gute Freunde.
Schließlich hatte Catherine einen etwa gleichaltrigen Mann kennengelernt, Mick James. Ein kräftig gebauter Typ, der einen weichen Kern hatte. Er hatte Catherine davon überzeugt, ein zweites Mal zu heiraten und auch eine eigene Familie zu gründen. Es hatte nicht lange gedauert, obwohl Catherine die ganze Zeit Angst davor hatte, dass dasselbe passieren könnte wie bei Melissa. Danny hatte ihr während dieser Zeit sehr oft gut zugesprochen, um ihre Zweifel zu zerstreuen. Dann hatte Catherine endlich ein gesundes Kind zur Welt gebracht. Lauren war heute neun Jahre alt. Drei Jahre später machte Millie Familie James komplett.
Selbst mit Catherines Ehemann Mick kam Danny gut zurecht. Er war wirklich ein netter Kerl. Er sorgte gut für Catherine und die gemeinsamen Töchter. Lauren und Millie waren zwei höfliche und hilfsbereite Mädchen. Catherine und Mick hatten sie WIRKLICH gut erzogen. Danny fand, dass die Eltern darauf durchaus stolz sein durften. Sie hatten es bisher gut gemacht. Kindererziehung war kein leichtes Unterfangen.
Danny besuchte seine Ex-Frau und deren Familie regelmäßig. Viele Leute würden das komisch finden, für Danny war es aber ganz normal. Für ihn war Catherines Familie auch irgendwie ein Teil seiner eigenen Familie. Und keines der Familienmitglieder störte es, wenn Danny immer wieder zu Besuch war. Er gehörte einfach dazu. Und dass Danny ein wichtiger Bestandteil eines Lebensabschnitts seiner Frau war, akzeptierte auch Mick. Ab und zu kam aber doch ein Funken Eifersucht auf. Danny konnte das verstehen. Und jedes Mal, wenn es so weit war, verzog er sich lieber nach Hause und hielt ein wenig mehr Abstand zu Catherine …
Manchmal hielt er auch UNGEWOLLT mehr Abstand zu nahe stehenden Personen. Meistens passierte das dann, wenn Danny von seiner Arbeit komplett in Beschlag genommen wurde.
In diesem Job war es wirklich etwas Lebensnotwendiges: Die strikte Trennung von Beruf und Privatleben. Psychisch und emotional. Danny kannte einige Ermittler, die das mit den vielen Jahren nicht mehr schafften und letztendlich entweder unter dem Burnout-Syndrom litten oder einfach rechtzeitig den Dienst quittierten. Danny wollte auf keinen Fall so enden. Dafür würde er schon irgendwie sorgen. Er wollte nicht so ein nervliches Wrack werden wie manche seiner Kollegen, die einfach zu lange gewartet hatten, um die Notbremse zu ziehen …
Auch wegen seines mangelnden Privatlebens bedeuteten Danny die Besuche bei Catherine wirklich viel. Es war ja wirklich der Altersunterschied gewesen, dass ihre Ehe damals nicht funktionierte. Catherine war eine erwachsene Frau, stand mitten im Leben und hatte alles fest im Griff. Danny war noch so jung, unerfahren, Polizeischüler und wusste eigentlich noch gar nicht so richtig, was er vom Leben wollte. Na ja, das wusste Danny heute nicht einmal so wirklich. Aber damals war es eben noch schlimmer gewesen. Heute fand er, dass er viel zu jung gewesen war, um zu heiraten und eine Familie zu gründen …
Am nächsten Mittwochabend stellte Catherine ihrem Ex-Mann gut gelaunt die Kaffeetasse auf den Küchentisch und setzte sich ihm gegenüber.
„Hast du deinen Älteren-Frauen-Tick schon abgelegt?“, fragte Catherine scherzhaft.
Danny musste lachen und meinte: „Großteils, ja … Aber wenn ich den Tick noch hätte, wäre das auch nicht so schlimm.“
„Meinst du?“
„Das ist wirklich nicht mehr so“, stellte Danny klar. „Aber im Grunde sehe ich mich momentan nicht mal nach einer eventuellen Freundin um.“
„Pass auf, dass du nicht als ewiger Junggeselle endest“, scherzte Catherine. „Sonst bist du irgendwann wie mein Onkel Earl.“
Bei dem Gedanken an ihn musste Catherine herzlich lachen und Danny grinste nur etwas verlegen. Ja, ja, Catherines Onkel Earl. Der Mann war ein eigenes Kapitel.
„Ich habe noch Zeit“, meinte Danny. „Ich bin doch erst 34.“
„Na ja …“, erwiderte sie. „Du solltest dich trotzdem ein wenig ranhalten … Du hast mir zum Beispiel schon EWIG von keiner Frau mehr erzählt.“
„Weil’s keine gibt“, antwortete Danny lachend.
„Dann ändere das“, entgegnete Catherine schmunzelnd. „Wird doch nicht so schwer sein.“
„Na ja …“, musste er zugeben. „Du kennst meinen Job … Da spielen nicht viele Frauen mit, das zu akzeptieren, wenn plötzlich mitten in der Nacht das Handy klingelt oder gerade dann, wenn man in den gemeinsamen Kurzurlaub aufbrechen will.“
„Du wirst schon eine finden.“ Davon war Catherine durchaus überzeugt. „Ein cleverer, gut aussehender Mann, der sich um das Wohlergehen einer Frau kümmert, wird es nicht so schwer haben.“
Vor Verlegenheit wurde Danny rot und schmunzelte vor sich hin. Das passierte ihm jedes Mal, wenn seine Ex-Frau so über ihn sprach. Er fühlte sich zur Abwechslung mal richtig geschmeichelt.
Dann war es aber auf einmal still. ZU still …
„Denkst du manchmal noch an sie?“, fragte Catherine plötzlich.
„Jeden Tag“, bestätigte Danny. „Sie wäre jetzt zwölf.“
„Ja … Fast ein Teenager.“
„Ja“, stimmte Danny ihr zu. „Aber du hast deine beiden Mädchen … Und wir konnten nichts für Melissa tun. Selbst die Ärzte waren ratlos.“
„Das weiß ich doch“, erwiderte Catherine traurig. „Aber vielleicht hätte sie doch noch eine Chance gehabt.“
„Bitte, fang nicht wieder damit an“, bat er, während er auf seine Tasse starrte. „Wir haben schon so oft darüber gesprochen. Und wie hat es immer geendet?“
„Schon gut“, sagte Catherine gefasst.
Natürlich wusste sie, wie dieses Gespräch Mal für Mal geendet hatte. Sie hatte geweint und Danny hatte sie beruhigen müssen. Das war leider jedes Mal so.
„Reden wir über was anderes“, meinte Danny. „Wie läuft’s in Micks Firma?“
Danny wusste, dass dieser drastische Themenwechsel für Catherine einfach nur gut war. Es war NIE leicht gewesen, über ihre verstorbene Tochter zu sprechen. Aber kaum wurde Micks Arbeit erwähnt, fing sie an, ihm das Neueste darüber zu erzählen. Und Danny hörte aufmerksam zu …
Gegen acht Uhr abends kam Danny zu Hause an. Manchmal fand er, dass diese Wohnung für einen allein eigentlich zu groß war. Aber das Positive daran war, dass Danny sich ausbreiten konnte. Außerdem hatte er in seiner aktuellen Bleibe einen schönen Balkon, der zwar mickrig und auf die befahrene Straße hinausführte, aber immerhin WAR es ein Balkon. Aus diesem Grund rauchte Danny auch nur draußen. Er hatte einfach keine Lust, jedes halbe Jahr neu ausmalen zu müssen, nur weil er drinnen qualmte …
Dannys Wohnung war phasenweise eine richtige Baustelle. Das kam daher, dass einfach die Zeit fehlte. Und irgendwie auch der Wille. Herumstehendes Geschirr, Schmutzwäsche, Fenster, die seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt worden waren, … Mit der Zeit summierten sich die Aufgaben, die im Haushalt zu erledigen wären, die im Idealfall auch erledigt WURDEN. Aber Danny fehlte seit geraumer Zeit wirklich eine ordentliche Frau, oder überhaupt eine Frau im Haus, die sich darum kümmerte. Er bekam es derzeit nicht so auf die Reihe, einfach rauszugehen und Frauen kennenzulernen.
Ansprechpartner in Frauenthemen war sein älterer Halbbruder Dylan Decker. Der konnte einfach gute Tipps geben. Aber selbst die besten Tipps nutzten nichts, wenn die meisten Frauen, die Danny irgendwann mal angequatscht hatte und mit denen er eventuell eine Zukunft hätte haben können, abgesprungen waren, wenn sie von seinem zeitfressenden Job erfahren hatten …
Offiziell hatten sie ein Zwölf-Stunden-Rad. Je nachdem, wann eine Leiche gefunden wurde, gab’s auch Überstunden. Und Überstunden gab es derzeit nicht zu knapp … Privatleben: Fehlanzeige. Jedenfalls bei Danny. Die einzigen Menschen, mit denen er regelmäßig sprach, waren seine Kollegen, Catherines Familie und Dylans Familie. Seine Mutter Louise lebte in Seattle, und seine jüngere Schwester Andie hatte einen Engländer geheiratet und war mit ihm nach London gezogen. Freundin gab es ohnehin seit einer Weile keine mehr, weil bisher jeder, die Danny gehabt hatte, seine Arbeit bei der Mordkommission im Weg war. Deshalb versuchte er es derzeit auch gar nicht.
An diesem Donnerstag war Danny aber bei der Familie seines Halbbruders zum Abendessen eingeladen. Diese Entscheidung hatte dessen Ehefrau Maggie getroffen, die sich Sorgen machte, dass Danny sich zu schlecht ernährte. Im Grunde hatte Maggie Decker vollkommen recht. Danny war Junggeselle, lebte allein und war auch noch ein Detective, der für seine Arbeit lebte. Schlechte und/oder einseitige Ernährung war nicht auszuschließen. Dazu noch jede Menge Kaffee, und in Dannys Fall auch noch Zigaretten.
Pünktlich um 18 Uhr stand Danny vor dem Haus seines Halbbruders.
Dylan Decker war ein stattlicher Mann von 46 Jahren. Im Gegensatz zu Danny hatte er wirklich alles fest im Griff. Seinen Job, seine Ehe, seine Kinder … Dylan wusste, wo er hingehörte. Das war etwas, das sich Danny irgendwie doch noch für sich selbst wünschte. Der ewige Junggeselle wollte er schließlich auch nicht bleiben. Das würde im Alter und in der Rente dann bestimmt überaus langweilig werden …
Maggie Decker war eine gutmütige Seele, aber wusste ganz genau, wo die Grenzen waren. Und ihre beiden Kinder hielten sich vorbildlich daran. Na ja, nicht immer. Aber wo war das denn anders?
Barry war zwölf und seine Schwester Marie neun Jahre alt. Danny war immer überrascht, woher Barry die dunkelblonden Haare hatte. Ganz bestimmt nicht von ihm selbst.
Danny konnte sich noch genau daran erinnern, als Dylan der Familie Maggie Stanson vorstellte. Obwohl Danny geschlagene zwölf Jahre jünger war als Dylan: Er war sich damals schon sicher gewesen, dass Dylan DIESE Frau heiraten würde. In diesem Fall hatte Danny ein ausgezeichnetes Gespür bewiesen. Maggie war einfach die Eine für Dylan. Dieser hätte sich gar nicht mehr vorstellen können, eine andere zu heiraten.
Danny erinnerte sich noch daran, wie schüchtern diese hübsche junge Frau damals gewesen war. Und auch Dylan war zum Zeitpunkt des Vorstellens ziemlich nervös gewesen. Immerhin wollte er, dass Maggie mit seinen Geschwistern auskam und dass seine Geschwister Maggie akzeptierten. Diese Befürchtungen stellten sich in den ersten paar Minuten als nichtig heraus. Die drei verstanden sich ausgezeichnet trotz des Altersunterschieds.
Letztendlich heirateten Dylan und Maggie und bekamen miteinander drei Kinder: Julie, Barry und Marie.
Familie Decker hatte leider einen schweren Schicksalsschlag zu verkraften, den sie sich eigentlich kaum bis nie anmerken ließ. Vor zwei Jahren wurde ihre älteste Tochter Julie ermordet. Bis heute lief der Täter frei herum. Danny wurde damals diesem Fall zugeteilt und hatte seine persönliche Beziehung zu dem jungen Opfer geheim gehalten. Er wollte unter keinen Umständen von diesem Fall abgezogen werden. Aber im Grunde hatten sie nie genug Beweise … Eigentlich hatten sie gar nichts. Wer auch immer Julies Mörder war: Er hatte es verdammt geschickt angestellt. Keine DNA-Spuren, keine Personenbeschreibungen. Überhaupt NICHTS.
Danny fühlte sich immer noch mitverantwortlich, dass Julies Mörder bisher nicht gefasst worden war. Vielleicht würde man ihn auch NIE kriegen …
Danny erinnerte sich noch so genau an diesen einen Tag, als Dylan ihn am Nachmittag völlig aufgelöst am Revier angerufen hatte. Julie, diese total verlässliche und reife 17-Jährige, war nicht nach Hause gekommen. Am Telefon hatte Danny versucht, seinen Halbbruder zu beruhigen und ihm versprochen, dass er alles in seiner Macht Stehende tun würde. Aber trotzdem dachte Danny, dass er nicht alles getan hatte, was er hätte tun können.
Tage, Wochen vergingen ohne ein geringstes Lebenszeichen seiner Nichte. Und dann fand man Julies Leiche …
Für Dylan und Maggie war diese Zeit fürchterlich. Einfach unvorstellbar fürchterlich. Aber die beiden hatten sich wieder raufgekämpft, um für ihre beiden anderen Kinder da sein zu können. Das Ehepaar durfte damals nicht aufgeben, denn Barry und Marie brauchten ihre Eltern nach wie vor. Und die verbliebene Familie Decker hatte sich zusammengerauft. Die vier hielten zusammen. Und Danny hatte alles Mögliche versucht, um Julies Mörder zu finden …
Roger war ihm in dieser Zeit beigestanden … Er war immer da gewesen, hatte ihn in seinen Ermittlungen unterstützt. Manchmal hatte Roger ihn auch einfach nach Hause geschickt, was Danny letztendlich sowieso nicht getan hatte. An vielen Morgen fand Roger seinen jüngeren Partner schlafend unter seinem Schreibtisch vor.
Roger war auch der Einzige am Revier, der gewusst hatte, dass Julie Decker die Tochter von Dannys Halbbruder war. Danny wollte eben damals nicht von diesem Fall abgezogen werden. Aber Julies Mörder blieb immer noch wie vom Erdboden verschluckt.
Am Anfang war es sehr schwer gewesen, bei den familiären Einladungen NICHT über Julie zu sprechen. Aber irgendwann hatte sich jeder daran „gewöhnt“, dass das Mädchen nicht mehr hier war …
Es gab ähnliche Mordfälle wie den von Julie Decker. Mädchen und junge Frauen, die vergewaltigt, verstümmelt und ermordet wurden. Aber auf keiner von ihnen war jemals auch nur ein Fitzelchen DNA des Täters gefunden worden. Die Leichen waren sauber, abgesehen von ihrem eigenen Blut …
Von Maggies tollen Gerichten war Danny sogar am nächsten Mittag bei der Arbeit noch satt. So brauchte er sich wenigstens keine Gedanken darüber zu machen, was er sich heute Abend kochen sollte …
Jedenfalls beschäftigte sich Danny noch immer mit dem Mord an seiner Nichte, denn es gab deutliche Ähnlichkeiten bei Fällen, die sich etwa im selben Zeitraum ereignet hatten.
Zwei Leichen von vor vier Jahren waren bis heute nicht aufgetaucht und es gab auch nicht die geringste Spur. Man vermutete jedenfalls, dass es sich längst um Leichen handelte. May Anderson und Tracy Whitney. Ihre Familien hofften noch immer auf ein Lebenszeichen, aber seit dem Verschwinden hatte niemand mehr die zwei jungen Frauen gesehen.
Danny wollte noch einmal ALLE Akten durchsehen, denn Julie Decker war eben nicht das einzige Opfer dieses perversen Drecksschweins.
„Hey, Billy“, sagte er. „Bringst du mir bitte die Fallakten von Denise Sherman, May Anderson, Jessica Wold, Julie Decker und Tracy Whitney?“
„Natürlich“, entgegnete Billy. „Sonst noch was?“
„Nein, danke“, antwortete Detective Carmichael. „Den Kaffee hole ich mir schon selbst.“
„In Ordnung“, sagte er. „Dann bringe ich dir die Akten.“
„Danke.“
„Wird aber ein bisschen dauern“, ließ Billy ihn bereits im Weggehen wissen.
„Kein Problem“, antwortete Danny und stand auf.
Er ging zum Kaffeeautomaten. Diese Durcharbeiterei, die er sich vorgenommen hatte, würde er ohne Koffein nicht durchstehen.
Der Kaffee vom Automaten war jedenfalls besser als der, der den ganzen Tag in der Kanne der Maschine stand. Außerdem gab es da noch diesen ungewissen Faktor, WER der Mitarbeiter diese Kanne Kaffee gekocht hatte. Wenn es Jeffrey aus der Waffenkammer war, konnte man den Kaffee nicht trinken – Herzrasen garantiert. Machte ihn allerdings die freundliche Streifenpolizistin Samantha, konnte man dieses Gesöff, das die Bezeichnung Kaffee nicht einmal verdient hatte, mit einem Zug noch irgendwie trinken. Deshalb wurde der Automatenkaffee von den meisten Beamten bevorzugt.
Als Danny zu seinem Schreibtisch zurückkam, lagen selbstverständlich noch nicht die verlangten Akten dort. Aber das machte auch nichts. Danny ging eben mit seinem Kaffeebecher beim „Notausgang“ hinaus und stellte sich auf die Feuerleiter. Dort konnte er sich unbemerkt und ungestört eine Zigarette anrauchen und seinen Kaffee trinken. Und vor allem nachdenken. Es war nahezu ein Wunder, dass diese ähnlichen Mordfälle noch nicht endgültig als ungelöst zu den Akten gewandert waren. Das dachte sich auch Danny in dem Augenblick, als er einen Zug von seiner Zigarette machte.
Danny stellte sich immer auf die Feuerleiter, weil im Präsidium überall Rauchverbot herrschte. Der Ermittler war nicht der Einzige, der sich für eine schnelle Zigarette davonstahl. Abgesehen von der Feuerleiter gab es wenige Orte, an denen hier geraucht werden konnte oder es einfach niemanden interessierte, ob dort geraucht wurde. Die anderen Orte am Revier waren die mikrige Raucherkammer, die Leute vom Fuhrpark und Henry im Archiv …
Nach ein paar Minuten hatte Danny seine „Grübel“-Zigarette ausgeraucht und ging wieder zu seinem Schreibtisch zurück. Dort nahm er sich also gleich die Fallakten von vor ein paar Jahren vor. Es konnten sich vielleicht Parallelen zu den etwas späteren Morden finden lassen.
Denise Sherman war chronologisch das erste Opfer. Sieben Wochen nach ihrem Verschwinden wurde ihre Leiche entdeckt. Im selben Jahr verschwand die ebenfalls 21-jährige May Anderson. DER oder DIE Täter hatten sich nicht die geringste Mühe gemacht, die Leichen zu verstecken. Denise Shermans Körper wurde auf dem Parkplatz der Oak Hill Highschool gefunden. Die von Jessica Wold in der Nähe des Rotlichtviertels. Julie Deckers hingegen an einem Flussbett, an dem ein häufig benutzter Wanderweg entlang führte.
May Andersons und Tracy Whitneys Leichen waren auch während dieser laufenden Ermittlung bis heute nicht aufgetaucht. Die jungen Frauen wurden seit vier und zwei Jahren vermisst, seither kein einziges Lebenszeichen. Mit jedem Monat schwand mehr an Hoffnung. Auch bei den Ermittlern. Irgendwann würden die Fallakten von Anderson und Whitney mit dem Aufdruck „UNGELÖST“ in einer Kartonkiste in einem elendslangen und hohen Regal im Archiv landen … Und niemand würde jemals erfahren, ob die beiden Frauen noch am Leben waren, einem Unfall oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen waren …
Aber Denise Sherman, Jessica Wold und Julie Decker waren gefunden worden … Ihre Akten standen aber auch knapp davor, mit dem Ungelöst-Aufdruck versehen zu werden.
Danny schlug die Akte von Sherman auf und betrachtete die Fotos, die am Fundort der Leiche gemacht worden waren. Danny erinnerte diese Tote sehr an Julie, als man sie damals gefunden hatte. Vergewaltigt, knapp bekleidet, Schnittwunden an den Armen und Beinen, Einstiche in den Armbeugen, Schnitt durch die Kehle. Der Tatort und Fundort musste bei Denise Sherman der gleiche sein, denn hier war viel Blut. Fundort und Tatort waren nicht bei all den ähnlichen Fällen der Gleiche. Aber die Gemeinsamkeit war der fehlende Mörder …
Freunde außerhalb des Departments hatte Danny eigentlich kaum. Gerade mal Chris Ronalds, mit dem er damals die Polizeiakademie besucht hatte. Der lebte aber in New York. Alle heiligen Zeiten sprach Chris ihm mal auf die Mailbox oder umgekehrt. Ansonsten hörten die beiden Detectives kaum voneinander – zu viel Arbeit auf beiden Seiten.
Ansonsten fand Danny es ziemlich praktisch, dass er in der Stadt kaum Leute gab (abgesehen von seiner Familie), mit denen er immer zu tun hatte. Er würde diese Personen ohnehin nur vernachlässigen. Besonders jetzt, wo er in diesem Fall drinsteckte. Hin und wieder führte er kurze Gespräche mit der alten Mrs. Flick, die ihm gegenüber wohnte, oder auch mit dem jungen Ehepaar Mr. und Mrs. Hanson nebenan. Aber das war’s dann auch schon, wenn man nicht die Kommunikation mit Diner-Bedienungen, Kassadamen im Supermarkt oder Tabakwarenangestellten dazuzählte …
Sergant Billy Oswald hatte schon ganz am Anfang, also an seinem ersten Tag auf dem neuen Revier, eine zum Teil freundschaftliche Beziehung zu Detective Carmichael aufgebaut. Natürlich war er auch eine große Hilfe, besonders wenn es um eher leidliche Aufgaben ging. Billy Oswald nahm das in Angriff und bekam es auch auf die Reihe. Für die sechs Ermittler, die an dieser vermuteten Mordserie dran waren, war Billy jedenfalls ein Segen. Er kümmerte sich um die Aktenbeschaffung, um die Korrespondenz zwischen den Angehörigen und Bekannten der Opfer, er hielt mit dem Presseverantwortlichen Harvey Breskin Absprache und kümmerte sich nebenbei auch noch oft um die Ernährung „seines“ Teams.
Zu Stephen Shore herrschte auch seit Beginn an eine freundschaftliche Beziehung. Detective Shore war nämlich ein wirklich angenehmer Zeitgenosse. Man konnte sich auf ihn verlassen und er war eine ehrliche Seele. Danny konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann er je ein böses Wort aus Stephens Mund gehört haben sollte. In den Jahren, seit er hier Detective war, jedenfalls nicht. Stephen war etwa 1,80 m groß, schlank und in seinen jüngeren Jahren hatte er extrem viel trainiert. Davon war heute nicht mehr viel übrig. Stephen hatte einen braunen Kurzhaarschnitt und trug meistens einen Anzug wie seine Kollegen Larson, Masters und Helms auch.
Stephen Shore war seit Ewigkeiten mit seiner Jugendliebe Christine verheiratet und hatte mit ihr zwei Töchter, Lillian und Lindsay, und einen Sohn namens Kevin.
Lee Masters war eher der kühle Typ. Man konnte auch sagen, er war ein Mann weniger Worte. Er war gebürtiger Chinese, lebte aber seit seinem dritten Lebensjahr in den USA. Das hatte ihn nicht daran gehindert, die Chinesin Lin zu heiraten. Detective Masters erledigte seine Arbeit gewissenhaft und ohne jegliche Fehler. Wenn alle anderen schon verzweifelten, behielt er meistens als Einziger einen kühlen Kopf. Aber abgesehen davon war er wirklich ein liebender Vater von vier Töchtern – Marcy, Kate, Cloe und Bernadette. Vielleicht lag es auch an dieser Tatsache, dass Detective Masters in brenzligen Situationen einfach die Nerven behielt.
Aaron Helms gehörte auch seit mehreren Jahren zu dieser Ermittlergruppe. Auch er war verheiratet und hatte Kinder. Seine Frau Judy hatte ein eigenes Nagelstudio, das sie aber nur in Teilzeit betrieb, weil sie genug Zeit für ihre Söhne Nick, Robert und Jake haben wollte. Ihrem Mann war das nur recht. Aaron war schließlich Cop mit Leib und Seele.
Cynthia Grey war die einzige Frau in ihrem Team, aber sie hatte sich ganz gut eingelebt. Abgesehen davon war sie auch der jüngste Ermittler in ihrem Grüppchen. Trotz allem hatte sie gelernt, sich unter diesen fünf Männern durchzusetzen, wenn es sein musste.