Die Stimme der Mutter - Christopher Kubasik - E-Book

Die Stimme der Mutter E-Book

Christopher Kubasik

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Beschreibung

Nachdem die Völker der Welt vierhundert Jahre lang in ihren magischen Festungen dem Eindringen der Dämonen getrotzt haben, öffnen sich nun wieder die Pforten ihrer selbstgewählten Gefängnisse. Doch die Bewohner Barsaives müssen feststellen, dass ihre Welt vollständig verwüstet wurde und ihre alten Feinde immer noch gegenwärtig sind. Es liegt am Zwergenkönigreich von Throal, dem grausamen Theranischen Imperium und den verschlagenen Dämonen die Stirn zu bieten. Lange Zeit glaubt Releana, dass die größte Gefahr für ihre beiden Kinder von ihrem Mann J'role ausgeht - doch dann kehren die Theraner zurück, die ehemaligen Beherrscher des Landes. Nach der Entführung ihrer Kinder und ihrer eigenen Versklavung erkämpfen sich J'role und Releana die Freiheit von den Theranern, nur um in die Hände der Kristallpiraten zu fallen. Und diese Begegnung ist es auch, von der das Schicksal des Landes abhängt ...

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Christopher Kubasik

Die Stimme der Mutter

Zweiter Roman desEarthdawn™-Zyklus

Feder & SchwertBand 2

Übersetzung: Christian JentzschIllustrationen: Jeff LaubensteinRedaktion & Lektorat: Catherine Beck, Mirko BaderE-Book-Gestaltung: Mirko Bader

Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993–2017 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Feder & Schwert GmbH, Köln, gestattet.

E-Book-ISBN 9783867623803

Inhaltsverzeichnis
Widmung
Teil Eins
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
Teil Zwei
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
Teil Drei
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.

Widmung

Für Mom

Teil Eins

MEINE SÖHNE

Meine Söhne,

sonderbar, dass Ihr mich ausgerechnet jetzt nach eurem Vater fragt. Gerade vor einer Woche habe ich einen Brief von ihm erhalten, in dem er mich fragt, ob er mich besuchen darf. Wenn er an Euch die gleiche Bitte gerichtet hat, verstehe ich Euer Bedürfnis, weitere Einzelheiten zu erfahren. Jahrzehnte des Schweigens sind schon seltsam genug, aber ein plötzlicher Bruch dieses Schweigens ist noch seltsamer.

Seltsam ist das einzige Wort, mit dem sich das alles beschreiben lässt. Meine Liebe zu J'role. Unsere Geschichte als Familie. J'role als Person. An dem Tag, als Ihr auf die Welt kamt, leuchteten seine Augen vor Freude. Sie schwebten in seinem strahlenden Gesicht wie Wolken an einem blauen Himmel. Doch daneben haftete ihm auch etwas Zögerndes an, als nage eine geheime Furcht an ihm. Diese seine Sorgen offenbarte er mir ebensowenig wie den größten Teil seiner Vergangenheit. Vielleicht tut er es jetzt, wenn ich ihm erlaube, mich zu besuchen. Das ist schwer zu sagen. Ich bin jetzt schon so alt.

Liebe ich ihn? Das weiß ich nicht einmal mehr. Irgendwann kommt ein Punkt, da Leben so miteinander verflochten sind, dass Namen, Worte und Bezeichnungen ihre Macht verlieren. Wir haben uns seit der Schlacht um Throal im Theranischen Krieg nicht mehr gesehen. Und doch ist er in meinem Leben immer gegenwärtig gewesen.

Das gilt jedoch nicht für Euer Leben. Ich weiß, dass Eure Erinnerungen an ihn nebelhaft und ungewiss sein müssen. In eurem Brief hieß es, dass Euch jemand von unserem ersten gemeinsamen Abenteuer erzählt hat. Ich will Euch von unserem letzten erzählen.

Nach der Entdeckung Parlainths durchwanderten wir mehrere Jahre lang ganz Barsaive und erforschten alte Kaers und verlassene Zitadellen. Wir übernahmen den Schutz der Zwergenkarawanen zwischen Throal und dem Schlangenfluss. Wir begleiteten Schürfexpeditionen zum Todesmeer und kämpften gegen Elementarwesen, die sich aus der geschmolzenen Lava erhoben und unsere Auftraggeber angriffen. Wir sahen mit an, wie die Welt nach den Verwüstungen der Plage wieder grün wurde und die üppigen Dschungel mit Macht zurückkehrten. Wir waren sehr verliebt. Unterwegs retteten wir uns unzählige Male gegenseitig das Leben und wurden immer mehr zu legendären Gestalten.

J'role bewahrte seine Geheimnisse, aber ich spürte sie in ihm, und sehr oft ängstigte mich ihre Intensität. Gelegentlich enthüllten sich die Geheimnisse, wortlos, in den dunklen Augen Eures Vaters, wenn irgendwelche Erinnerungen vor ihnen vorbeizogen, die ich nicht sehen konnte. Aber er war auch sehr charmant und tapfer, und mit den Jahren legte er die Melancholie ab, die bei unserer ersten Begegnung so tief in ihm verwurzelt war.

Wisst ihr, ich glaubte ihn vor seiner persönlichen Dunkelheit retten zu können. Ich glaubte ihn retten zu müssen.

Ach, die Hybris! Sie kann einen zu Ruhm und Reichtum führen. Aber in persönlichen Dingen ist sie auf jeden Fall eine Belastung.

Als wir Mitte Zwanzig waren, beschlossen wir, ein Kind zu bekommen. Unsere Abenteuer hatten uns ein kleines Vermögen eingebracht, das es uns gestattete, uns irgendwo niederzulassen, falls wir den Wunsch dazu verspürten. Und genau das taten wir. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, ob J'role hinsichtlich seines Wunsches, das Vagabundenleben zu beenden, die Wahrheit gesagt hat, aber nach eurer Geburt hätten wir nicht glücklicher sein können. Wir betrachteten uns als von den Passionen doppelt gesegnet. Die Namen, die wir Euch gaben, Samael und Torran, waren die Namen von Freunden, die wir in unserer Abenteurerzeit gewonnen hatten. Ihr wart beide wunderschön.

Auch nach den vielen Jahren sehe ich Eure kleinen Hände und Finger noch ganz deutlich vor mir, wie sie ständig nach etwas griffen und sich darauf vorbereiteten, Werkzeuge ganz fest zu halten. Euer Bestreben, ein Schwert zu ergreifen, muss schon damals sehr stark gewesen sein.

Schreien in der Nacht. Schmutzige Windeln, die gewaschen werden mussten. Das ständige Füttern. (Ich musste Euch beide immer gleichzeitig füttern, vergesst das nicht!) All diese kleinen Ärgernisse waren nichts im Vergleich zu den geistigen Anforderungen zweier Kleinkinder, die sich in menschliche Wesen verwandelten und ohne Vorwarnung in eine erstaunliche Welt geworfen wurden, die ihre Neugier erregte. »Mami, warum ist der Himmel blau?« »Mami, warum ist das Todesmeer so heiß?« »Mami, warum hat man fünf Zehen?« Es gibt soviel zu erklären, und von den Erwachsenen, die von den Kindern für allwissend und allmächtig gehalten werden, wird erwartet, dass sie die Antworten auf alle Rätsel und Geheimnisse kennen.

Es schien alles viel zuviel zu sein. Doch wie man als Erwachsener den Sinn für das Staunen durch die Augen eines Kindes neu entdecken kann!

Entschuldigung. Ich wollte von eurem Vater erzählen.

Merkt Ihr, wie ich dem Thema ausweiche? Es ist seltsam. Je älter man wird, desto weniger kümmert man sich um Peinlichkeiten und Fehler, aber desto mehr häufen sich auch die Peinlichkeiten und Fehler. Schlussendlich gleicht sich wohl alles aus. In dieser Geschichte komme ich mir wie eine Närrin vor, weil alles so klar war. Ich hätte nur hinschauen müssen. Es kommt mir so vor, als hätte ich Euch im Stich gelassen, weil ich es besser hätte wissen müssen. Spät in der Nacht überkommt mich die Reue, und ich frage mich immer wieder, wie ich so dumm sein konnte.

Ich werde Euch Dinge erzählen, von denen Ihr vielleicht früher einmal gewusst, die Ihr mittlerweile aber gewiss wieder vergessen habt, und zwar aus gutem Grund. Doch bevor ihr euch dazu bereiterklärt, Euren Vater zu sehen, solltet ihr davon erfahren.

2.

Ein paar Monate nach Eurer Geburt sagte mir J'role, er müsse Samael begleiten, um ihm bei der Suche nach einem alten Schwert zu helfen. Die Plötzlichkeit seiner Abreise überraschte mich, aber ich versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Er war ein halbes Jahr unterwegs, dann kehrte er mit Juwelen zurück, die er aus einem alten Grab geplündert hatte. In der Zwischenzeit war Samael zurückgekommen und hatte mir erzählt, J'role habe die Suche nach dem Schwert nach drei Monaten ganz einfach aufgegeben.

Als ich J'role daraufhin zur Rede stellte, lachte er, zeigte mir die Beute und sagte: »Nun, wenigstens war es keine reine Zeitverschwendung!«

Er blieb für zwei Monate bei uns, dann verschwand er wieder, diesmal für drei Monate. Dann blieb er nur zwei Wochen lang, bevor er erneut aufbrach.

Jedesmal, wenn er zurückkam, glaubte ich, er müsse das Gespenst ausgetrieben haben, das ihn zum Gehen gezwungen hatte. Bei jeder Rückkehr hielt er mich, als wolle er mich nie wieder loslassen. Dann stand er nachts stundenlang vor Eurem Bett und beobachtete Euch im Schlaf. Und wie er den ganzen Tag lang mit Euch spielte, Euch in der Luft herumwirbelte und kitzelte, zuerst mit dem einen und dann mit dem anderen auf dem Rücken herumlief, so dass Ihr durchgeschüttelt wurdet wie auf einem bockigen Pferd! Ihr habt gelacht und gelacht. Er liebte es – musste –, Euch zum Lachen zu bringen, war ganz wild darauf.

Er hielt das Haus sauber, übte Jonglieren und akrobatische Kunststücke und machte einen vollkommen zufriedenen Eindruck.

Doch immer wieder folgte eine weitere plötzliche Abreise, und nach einiger Zeit verschwand er einfach, ohne noch etwas von seinen Absichten verlauten zu lassen. Wenn er dann Monate später zurückkam, pflegte er verlegen zu lächeln.

Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen und verwies ihn des Hauses. Er nickte traurig und sagte, ich habe wohl recht. Das war kaum die Reaktion, die ich mir erhofft hatte. Aber er ging.

Für eine Weile.

Jahrelang kehrte er immer wieder wie zuvor zurück und sagte mir immer, jetzt wolle er bleiben. Dann entschuldigte er sich überschwenglich und nahm mich in seine starken Arme, und in seinen Augen stand nichts anderes als ein unersättlicher Hunger nach meiner Liebe.

Doch er blieb nie. Ich brachte immer bessere Schlösser an der Tür an, da ich mich nicht mehr von ihm verwirren lassen wollte. Aber Euer Vater war einer der besten Diebe, die jemals gelebt haben, und es wurde zu einem schlechten Scherz.

Es wäre für den Rest unseres Lebens zu einem langweiligen schlechten Scherz geworden, der sich ständig wiederholt hätte, wäre nicht eines Nachts eine fliegende Burg über unser Haus geflogen. Die Theraner waren nach Barsaive zurückgekehrt. Ihr zwei wart erst sieben. Ich weiß nicht, woran Ihr Euch noch erinnern könnt. Also werde ich Euch so viel erzählen, wie nötig ist, damit Ihr Euren Vater kennenlernt.

3.

Stunden, bevor die Burg über unser Dorf flog, waren wir drei bei Horvak, dem Schmied. Sein neuer Glühofen musste eingerichtet werden, und ich hatte Euch beide mitgenommen. Es hatte gerade geregnet (wann regnet es in Barsaive nicht?), und der Boden war durchweicht und matschig. Torran, Du bist durch den Matsch vor Horvaks Haus gerannt, während Du Samael immer wieder auffordertest, Dir nachzueifern. Nach wenigen Minuten wart Ihr beide völlig schlammbedeckt – aber das ist nun einmal der Lauf der Dinge. Meine Aufmerksamkeit hatte Grenzen, und Ihr wusstet, dass ich damit beschäftigt war, magische Kräfte einzusetzen, um Horvaks Schmiedeofen fertigzustellen.

Ich glaube, damals trug ich noch jenes scharlachrote Magiergewand, das mit silbernen und weißen Vögeln geschmückt war. In jenen Zeiten musste ich mich auf diese Weise vor den Dämonen schützen, wenn ich einen Zauber wirkte. In den vergangenen Jahren ist uns gegen die Beschmutzung des Astralraums durch die Dämonen etwas Besseres eingefallen. Aber damals war das Gewand eines Magiers sein Band zur Magie.

Ich arbeitete geschäftig an Horvaks Esse und setzte mein Wissen und meine Macht ein, um zu erreichen, dass Flammen und Hitze länger erhalten blieben, als dies durch den Brennstoff normalerweise möglich war. Ich musste auf Dämonen achten, die mich auf der Astralebene aufzuspüren versuchten, während ich gleichzeitig Horvaks Finger und Euch Jungen im Auge behalten musste. Aus weiter Ferne hörte ich das Lachen von Kindern wie Metallglöckchen in einer leichten Brise. Ich dachte mir nichts dabei, bis das Johlen und Lachen immer lauter wurde und die Kinder schließlich an Horvaks Haus vorbeirannten. Doch selbst da dachte ich nicht mehr, als dass die Kinder eben ihren Spaß hatten.

Erst als ihr zwei in Horvaks Haus gelaufen kamt und Samael ganz aufgeregt von einem Bein auf das andere hüpfte und rief, »Mama, Mama, der Clown ist da!«, nahm ich tatsächlich Notiz.

Der Clown.

Mein Kopf war plötzlich leer. Ich löste die Verbindung mit der Astralebene und unterbrach das Ritual für einen Augenblick. Ich richtete mich auf, und Horvaks Mund verzog sich zu einem enttäuschten Schmollen.

Ihr standet ein paar Schritte entfernt und strecktet mir einen Arm entgegen, aber der Rest von Euch schien sich von mir zu entfernen, als wärt Ihr bereits unterwegs, um Euch den Clown anzusehen. Und in gewisser Weise wart Ihr das auch. In den letzten drei Jahren war der Clown zur Freude aller Kinder des Dorfes und zu meinem Missvergnügen alle paar Monate aufgetaucht.

Aber Ihr wusstet nichts von meinem Missvergnügen, und Ihr wusstet nicht, dass es Euer Vater war. Ihr hattet ihn seit mindestens vier Jahren nicht mehr als Euren Vater zu Gesicht bekommen. »Nein«, sagte ich, »ich bin jetzt hier und muss mich um Horvaks Esse kümmern.«

Torran fing an, im Matsch herumzustampfen, der ihm bis zur Brust hinaufspritzte.

»Hör auf!« schrie ich. Ich hatte ihre Sachen eben erst gewaschen. »Hör auf!« Aber Du hörtest nicht auf, Torran. Du tobtest einfach immer weiter im Matsch herum. Und Du, Samael, hast deinen Bruder sorgfältig beäugt, das Risiko abgewogen und beschlossen, ihm nachzueifern.

Ich versuchte, Euch beide zu erwischen, um Euch irgendwie zur Ruhe zu bringen. Aber Ihr wart flink wie zwei Stinkmarder – ein wenig schmeichelhafter Vergleich, und so ist er auch gemeint. Ihr tobtet mit lächerlicher Energie herum. »Ich will den Clown sehen!« verlangte Torran. Ihr ranntet im Kreis um mich herum, und es schien so, als würdet Ihr nie mehr aufhören. Auf ihrem Weg zum Clown kamen viele Dorfbewohner an uns vorbei und beobachteten unseren kleinen Zirkus. Ich schämte mich. Warum konnte ich meine beiden Jungen nicht bändigen?

Ich versuchte, vernünftig zu sein. Ich hörte auf, Euch hinterherzujagen, und senkte die Stimme, bis sie wieder ruhig klang. »Bitte. Wir gehen nicht. Ich muss das hier zu Ende bringen.«

Samael beruhigte sich, da er meinem Tonfall entnehmen konnte, dass ich mich schlecht fühlte. Doch Torran stemmte die Hände in die Hüften, eine Geste, die er mir abgeschaut hatte, und starrte trotzig zurück. »Ich will den Clown sehen.«

»Zu dumm.«

Ein Schrei drang aus Torrans Kehle. Er reckte die Arme in den Himmel und rannte herum, als sei eine Passion in ihn gefahren. Er schrie und brüllte und brüllte. Ein stechender Schmerz raste durch meine Schläfen. Ich konnte hart bleiben und Stunden vergeuden oder um der Ruhe und des Friedens willen nachgeben. Hätte ich mich doch nur manchmal ausruhen, die Bürde, Euch zwei großzuziehen, mit jemandem teilen können, wäre ich mit Sicherheit stärker gewesen. Aber so war es nicht. »Ja«, sagte ich schließlich, »wir können gehen.«

Ich erklärte Horvak, dass ich bald zurückkehren würde. Dann nahm ich Euch beide an die Hand, und wir machten uns zum Clown auf.

Wir gingen den schmalen Weg durch die Reisfelder der alten Jayara entlang und dann weiter zur Lichtung am Rande des Ortes. Die großen Blätter an den Bäumen glänzten hellgrün und funkelten im besonderen Glanz des Lebens, den Regen immer mit sich bringt. Der Himmel war strahlendblau und wolkenlos. In solchen Augenblicken fragte ich mich immer – und tue es noch warum unser Leben so schwierig und traurig geworden war. Ich hatte eine regelmäßige Arbeit als Dorfmagierin, ich hatte Euch beide (manchmal eine Qual, aber zugleich die Lichter meines Lebens), und ich hatte die Welt um mich, die in ihren Formen und Farben einfach wunderschön war. Das Universum hielt mich wie eine Mutter ihr Kind, wiegte mich in seiner Armbeuge und beglückte mich mit entzückenden, sanften Lauten und Anblicken.

Warum reicht es uns nicht, einfach nur zu leben?

Euer Vater war von mindestens zwei Dutzend Kindern umgeben. Sie saßen im feuchten Gras, wälzten sich vor Lachen hin und her, schlugen auf den Boden und sahen einander an, um sich gegenseitig zu bestätigen, dass dieser Clown wirklich und wahrhaftig sehr lustig war.

Er trug ein Kostüm aus schwarzen und weißen Flicken, die kreuzweise zusammengenäht waren. Um das rechte Auge hatte er ein dunkelblaues Karo gemalt und auf die linke Wange ein kleines rotes Herz. Winzige Glöckchen klimperten an seinen Stiefeln und bimmelten fast unhörbar, wenn er sich jemandem näherte, um etwas aus seinen Taschen zu stehlen, jedoch laut genug, um eine Herausforderung für ihn darzustellen. Herausforderungen trieben ihn an wie Peitschenhiebe.

Er jonglierte mit drei kleinen Holzbällen und einem Messer. Während das Messer durch die Luft flog, starrte er es voller Panik an und übersah vollständig die drei Holzbälle, die ebenfalls ständig in Bewegung waren. Ihr zwei wolltet näher gehen, doch ich blieb, wo ich war. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich näher an ihn heran wollte. Ihr lehntet Euch beide so weit wie möglich vor, während ich Euch festhielt.

Dann sah uns J'role. Sein Blick begegnete dem meinen. Einen kurzen Augenblick lang sprang etwas Unausgesprochenes und Undefinierbares zwischen uns hin und her. Dann, als würden wir einander nicht kennen, war J'role wieder in seine Arbeit vertieft und kreischte vor Entsetzen, wenn sich das Messer einer Hand näherte.

Ich wollte so gern eine ernste Miene bewahren und ihm zeigen, wie unzufrieden ich mit ihm war. Aber er war zu gut. Ich musste einfach lächeln.

Schließlich hörte er auf zu jonglieren, legte seine Requisiten beiseite und lächelte dann strahlend, als bemerke er jetzt erst die Kinder, die ihn umgaben. Er klatschte in die Hände und stieß einen übertriebenen Seufzer aus. Es war klar, dass er nichts so sehr liebte wie Kinder zu unterhalten. Ebenso klar war sein Bedürfnis, dafür zu sorgen, dass die Kinder dies auch wussten.

Und das taten sie.

Kinder liebten J'role.

Er war ein Clown. Das half natürlich. Er blieb nicht zu Hause, stellte keine Regeln auf und sagte ihnen nicht, was sie zu tun hatten, wenn sie überleben und erwachsen werden wollten, damit sie später selbst für sich sorgen konnten. Er tauchte lediglich hin und wieder auf und brachte sie zum Lachen.

Er streckte den Arm aus, um einem der Kinder, die ein paar Ellen vor ihm saßen, die Hand zu schütteln. Er machte zwei Schritte, und dann flogen seine Beine nach hinten, als sei er im nassen Gras ausgerutscht. Er ruderte mit den Armen und riss den Mund in einer übertriebenen Darstellung panikerfüllten Entsetzens weit auf. Einen Moment lang schien er in der Luft zu schweben, nicht von Magie gehalten, sondern von seiner Meisterschaft in derartigen Clownerien. Dann, wumm, krachte er zu Boden.

Johlendes Gelächter störte die Ruhe des friedlichen Nachmittags. Die Kinder konnten einfach nicht mehr an sich halten. Wenn sie jemals etwas Lustigeres gesehen haben sollten, überzeugte sie diese Darstellung ganz gewiss davon, dass dem nicht so war.

J'role tat so, als wolle er aufstehen, doch wiederum glitten die Beine unter ihm weg. Immer wieder versuchte er sich aufzurappeln, nur um festzustellen, dass der Boden so nass war, dass er nur hinfallen konnte. Seine Beine flogen nach links. Nach rechts. Sie spreizten sich. Sie glitten nach hinten.

Wiederum biss ich die Zähne zusammen und versuchte nur Ärger und Missvergnügen zu zeigen. Doch als er einfach nicht auf die Beine kommen wollte, lachte ich schließlich ebenfalls los. Die anderen Erwachsenen lachten mit ihren Kindern. Und Ihr zwei lachtet, bis Euch die Tränen kamen.

Die Vorstellung ging mit weiteren Stürzen und Jonglierkunststücken weiter. Handstände, Überschläge und Radschlagen. Schließlich war sie zu Ende. Kinder und Erwachsene applaudierten. Ihr habt Euch schließlich von mir losgerissen und Euch den Beifallskundgebungen angeschlossen. Er verbeugte sich mehrmals sehr tief, glücklich über die Aufmerksamkeit. Dann richtete er sich auf, und unsere Blicke begegneten sich wieder. Doch diesmal hielt er meinem Blick stand.

Ich geriet in Panik, da ich Angst davor hatte, mich wieder mit ihm auseinandersetzen zu müssen, seine Wärme irgendwo in meiner Nähe zu spüren. Er konnte mich nämlich überlisten, wisst Ihr? Meinen Zorn in Trauer verwandeln, meine Wut in Lachen. Und noch mehr, ein Teil von ihm erschreckte mich einfach zu Tode. Ich sah niemals, woran das lag, sondern dachte immer, mit mir stimme etwas nicht. Erst später sollte ich die Wahrheit erfahren.

Ich nahm Eure Hände und stürmte von der Lichtung zu Horvak zurück, um seine Esse zu vollenden, und dann weiter nach Hause, um zu essen und zu schlafen.

Daheim angekommen, sperrte ich die Tür ab, schloss die Fensterläden und löschte alle Lampen.

Und wartete.

Er würde kommen.

Selbstverständlich.

4.

Ihr schlieft rasch ein, da Ihr nicht auf den Gedanken kamt, ein Clown könnte noch vorbeischauen. Ich blieb wach und starrte auf die dünnen Linien aus Mondlicht, die durch Ritzen in den Fensterläden fielen. Die Nacht war kalt, das Bett groß. Ich hielt mir eines von Mopas buntgefärbten Kopfkissen vor die Brust, während ich kaum zu atmen wagte und auf irgendein Geräusch wartete, das mir verriet, dass J'role eingetroffen war.

Eine sonderbare Verwirrung hatte von meinen Gedanken Besitz ergriffen, denn selbstverständlich würde er kein Geräusch verursachen.

Ich versuchte mich zu erinnern, woran ich erkannt hatte, dass er hereingekommen war, aber ich konnte es nicht. Würde er diesmal überhaupt hereinkommen? Ich hatte neue Schlösser eingebaut, Schlösser, die durch Magie verstärkt waren. Der Magier, der sie mir verkauft hatte, war sehr überzeugt von seinen Waren gewesen. Doch als ich ihn fragte, ob seine Magie auch den Fähigkeiten des schon beinahe legendären Diebs standhalten würde, der sich gerüchteweise wie ein Clown kleidete, war sein Lächeln wie weggewischt. Er übernähme keine Garantie, hatte er gesagt.

Ein Geräusch? Stand J'role vor der Tür? Ich strengte mich an, gab mir alle Mühe, vollkommen still zu sein, damit ich jeden Laut hören konnte. Die Insekten des Dschungels bildeten eine pulsierende Geräuschkulisse. Ich versuchte sie zu überhören, und stellte mich dem ungeheuren Summen der Stille. Je mehr ich mich konzentrierte, desto lauter wurde das Summen, bis ich die Anspannung nicht mehr aushielt.

Ich entspannte mich, nur um festzustellen, dass ich dringend atmen musste.

Ich wartete und wartete.

Befand er sich bereits im Haus?

Würde er kommen? Diese Frage ließ sich nicht mit Sicherheit beantworten. Bisher war er immer gekommen. Würde er es auch diesmal tun?

Ich sagte mir, dass ich nicht wollte, dass er kam. Tatsächlich flehte ich die Passionen an, und zwar alle, wobei mir egal war, welche mich hörte, um ihn fernzuhalten. Wenn er nicht kam, bedeutete das, dass ich wahrscheinlich für immer mit ihm fertig war.

Schließlich trieben mich Anspannung und Ungewissheit aus dem Bett.

So leise wie möglich, tastete ich mich über die Dielenbretter bis zum Perlenvorhang vor der Tür und lauschte. Nichts.

Ich teilte die Perlenschnüre und spähte in den angrenzenden Raum. In der Tür zu Eurem Schlafzimmer stand Euer Vater, und Perlenschnüre hingen ihm über die Schultern wie erstarrte Regentropfen.

Natürlich hatte er mich bereits gehört. So war er eben. Er hörte alles, aber niemand hörte ihn. Doch er reagierte nicht.

Ich nahm meinen ganzen Ärger zusammen, straffte mich und ging leise über den Flur, um Euch nicht zu wecken. Ich erreichte ihn, und immer noch drehte er sich nicht zu mir um. Ich sah an ihm vorbei. Samael, Deine kleine Hand rieb gerade Deine Nase, und Du, Torran, drehtest Dich um, während sich Deine Lippen langsam in der lautlosen Sprache der Träume bewegten.

»Warum tust du das immer wieder?« fragte ich ihn leise, aber schroff.

Sein Körper war so nahe. Ich brauchte ihm nur den Arm um die Hüfte zu legen. Er würde seinen Arm um meine Schultern legen. Versteht Ihr? Selbst jetzt spüre ich ihn noch – mit meinem Körper, nicht in meinen Gedanken. Wie unsere Hände ineinanderlagen, wie er sich an mich schmiegte, wenn wir zusammen im Bett lagen, die Berührung seiner Lippen an meinem Hals. Keine Bilder, nur der Nachhall Jahrzehnte zurückliegender Berührungen. In jener Nacht war der Nachhall noch stärker, und ich sehnte mich – ich gebe es zu – wieder nach der Ursache dieses Nachhalls.

»Ich wollte sie sehen.«

»Warum schleichst du dich herein?«

»Tue ich das?«

»Warum fragst du nicht vorher?«

»Würdest du mich einlassen?«

»Nein.«

»Ich liebe dich.«

Ich lachte. Nicht dass das, was er gesagt hatte, komisch gewesen wäre: Ich glaubte, dass er mich tatsächlich liebte. Ich wusste, dass er mich liebte. Aber indem ich ihn auslachte – ohne mich zuvor auf eine Diskussion mit ihm einzulassen –, drängte ich ihn in die Verteidigung. Ich wollte nicht, dass er mich noch mehr verwirrte. Ich ging zum Esstisch und setzte mich auf einen Stuhl.

Er drehte sich um und folgte mir. Dann sagte er schmerzerfüllt: »Aber ich liebe dich wirklich.« Die Leidensmiene war vorgetäuscht. Er schob sie nur vor, um seine Empörung zu schüren.

»Du willst es. Aber du schaffst es nicht.« Grausam, aber ich wollte ihm weh tun. Ich öffnete die Hand, und eine goldene Flamme brannte auf meiner Handfläche. Das Licht fing sich in seinen dunklen Augen, und sie leuchteten wie zwei Sterne. Er sah hübsch aus. »Du siehst gut aus. Die glatten Züge der Jugend und des Irrsinns.«

»Ich bemühe mich um ein angenehmes Äußeres.«

»Samael wäre vor zwei Monaten fast am Fieber gestorben. Hast du das gewusst? Hat dir das irgendeiner deiner nächtlichen Besuche enthüllt?«

Er schwieg. Er hatte es nicht gewusst. Dann: »Jetzt geht es ihm wieder gut?«

Meine Stimme hob sich. »Natürlich geht es ihm jetzt wieder gut, du Narr. Wäre er krank, würde ich herumlaufen und mir Sorgen machen!« Ich fing mich, als ich an Euch zwei dachte, und senkte die Stimme zu einem rauen Flüstern. »Eltern tun das normalerweise!«

»Ich kann ihnen kein Vater sein. Das weißt du.«

»Ich weiß nichts dergleichen. Tatsächlich weiß ich überhaupt nichts. Mit jedem Tag, den ich lebe, weiß ich weniger und weniger. Wissen, wissen, wissen. Das ist es, was du willst, nicht wahr? Du musst wissen, dass alles gut wird, bevor du den ersten Schritt tust. Feigling.« Ich schloss die Hand. Im Zimmer wurde es dunkel. »Du solltest nicht mehr herkommen.«

»Ein Stück von mir ist immer hier.«

»Stücke von dir sind überall! Wenn du hier sein willst, dann bleib auch hier. Aber lass nicht jedesmal, wenn du durch jene Tür gehst, einen Rest von dir hier zurück. Geh vollständig oder bleib.«

Er schluckte. »Du ließest zu, dass ich hierbleibe?«

Ich zögerte, versuchte die Worte zurückzuhalten. »Ja, ich ließe zu, dass du bleibst. Und sei es auch nur, damit du herausfinden könntest, ob du wirklich bleiben willst. Meiner Meinung würdest du nach kurzer Zeit feststellen, dass du es nicht willst... Aber dafür hätten wir es hinter uns!«

»Du weißt nicht...«, begann er, wieder einmal auf seine dunkle Vergangenheit anspielend.

»Nein. NEIN! Ich weiß nicht. Dieses Vorrecht ist mir nie zuteil geworden. Ich habe keine Ahnung, was du durchgemacht hast. Und ich bezweifle, dass ich je eine Ahnung haben werde. Und jetzt geh, und lass dich hier nicht mehr sehen.«

Er schwieg.

»Ich meine es ernst. Geh. Ich mache das nicht mehr länger mit. Dies ist nicht mehr dein Zuhause. Du bist gegangen. Du bist draußen. Sonst werde ich dafür sorgen, dass du getötet wirst.«

Er erstarrte, wie vom Blitz getroffen.

Mein Gesicht gefror zu einer Maske. Ab und zu überfällt uns die Wahrheit und schüttelt uns durch wie ein gemeiner Dieb. »Ich kann das alles wirklich nicht mehr ertragen, J'role. Du musst ganz aus meinem Leben verschwinden. Bitte. Komm nie wieder hierher zurück. Ich glaube, ich meine es ernst.«

In diesem Augenblick verschwand das Mondlicht, das durch die Ritzen fiel, und unser Haus lag in völliger Dunkelheit. Laute Stimmen, Rufe kamen von irgendwoher. Wir blieben reglos, rechneten damit, dass etwas Furchtbares geschehen würde, hatten jedoch keine Ahnung, was dieses Furchtbare sein sollte. Dann eilten wir nach draußen.

J'role sah die Burg zuerst. Sie schwebte mehrere hundert Ellen hoch in der Luft und flog nach Norden. Stimmen drangen durch die Nacht von ihr herunter, dazu das Geräusch von Trommeln. Lange Ruder ragten aus dem Fundament der Burg und bewegten sich hin und her. Er machte mich darauf aufmerksam.

»Was ist das?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe so etwas noch nie...« Seine Stimme verklang und wich jungenhaftem Staunen.

Die Burg flog weiter.

»Es sieht aus wie ein Luftschiff, wie eines der Schiffe der Kristallpiraten.«

»Aber es besteht aus Stein. Und es ist überhaupt nicht wie ein Schiff geformt.«

»Die Magie muss gewaltig sein.«

»Theraner?«

Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, als wir einander ansahen. Ich glaube, er war bei diesem Gedanken ebenso überrascht wie ich. Doch es schien kaum ein Zweifel möglich zu sein. Wenn jemand so etwas schaffte, dann die Theraner.

Erregung erfasste mich. Meine Hände fingen an zu zittern, als hätte ich an diesem Tag einen Zauber zuviel gewirkt.

Ich glaube nicht, dass Ihr verstehen könnt, was das für uns, für jedermann in Barsaive bedeutete. Ihr seid den Theranern natürlich sehr früh in Eurer Kindheit begegnet, und Eure Eindrücke wurden durch die nachfolgenden Ereignisse geprägt. Doch für jene von uns aus der ersten Generation nach den Kaers, mit Geschichten über die Theraner auf gewachsen, war der Gedanke, dass sie tatsächlich zurückkehrten, überwältigend und aufregend. Sie waren die Retter der Welt, hingen aber auch einigen sonderbaren Sitten an, darunter der Sklaverei. Sie waren die Meistermagier und -adepten, aber auch diejenigen, die Geschäfte mit der Verzweiflung machten.

»Ich muss es herausfinden«, sagte J'role. Sein Mund verzog sich zu einem aufgeregten, jungenhaften Lächeln – einem Lächeln, das mich vor Jahren entzückt hatte, mich im Augenblick jedoch nur mit Trauer und Enttäuschung erfüllte.

»J'role«, sagte ich, »ich bin auch neugierig. Aber wir können nicht jedesmal in der Welt herumziehen, wenn uns irgend etwas interessiert. Die Kinder...«

Er starrte mich an. Die Hitze war aus seinen Augen gewichen und durch ein kaltes, neugieriges Starren ersetzt worden, als habe ich in einer seltsamen Sprache geredet, die er nicht verstand, aber faszinierend fand. Sein Blick ließ mich frösteln.

»Aber wir müssen es wissen.«

»Andere werden es herausfinden.«

»Aber ich werde nicht dabei sein, um es ebenfalls zu erfahren. Und ich werde nicht da sein, um es zu erleben.«

»Was ist mit dem Leben hier?«

Er wandte den Blick von mir ab und betrachtete das Haus. Seine Stimme verhärtete sich. »Das kenne ich bereits. Ich will nicht ...«Er sah weg.

Ich berührte seine Schulter. Plötzlich war er wieder der traurige, stumme Junge, den ich im unterirdischen Gefängnis der Elfenkönigin getroffen hatte. »Woher willst du das wissen...?«

Er wandte sich von mir und dem Haus ab. »Releana, ich muss gehen«, sagte er entschlossen. Mannhaft.

Dann lächelte er wieder. »Eine Burg, die fliegen kann!« Er sah mich noch einen Augenblick an, dann rannte er in die Nacht davon und warf sich in die Umarmung des nachtschwarzen Dschungels. Ein paar Augenblicke später hörte ich Spaßvogel wiehern und dann das Trommeln sich rasch entfernender Hufschläge.

5.

Ich blieb noch einen Augenblick in der Tür stehen, wobei ich mich fragte, welch schreckliche Dinge ich in der Vergangenheit getan hatte, um einem derart lächerlichen Mann so starke Gefühle entgegenzubringen. Ich wäre so gern in der Lage gewesen, alle Gedanken an ihn aus meiner Seele herauszuzupfen wie einen Splitter aus dem Finger. Aber unsere Leidenschaften sind nun einmal keine Gegenstände, die in uns hineingerammt werden. Sie gehören ebenso zu uns wie Herz und Lunge und sind ebenso lebendig und blutvoll.

Eine ganze Weile starrte ich so in die Nacht, während die Hütten des Dorfes von grausilbernem Sternenlicht beschienen wurden und der Dschungel tief und finster vor mir lag.

Schließlich kehrten meine Gedanken wieder zu dem erstaunlichen Anblick der fliegenden Burg zurück. Waren die Theraner wirklich zurückgekehrt? Eine Mischung aus Furcht und Erregung wallte durch meinen Körper. Die Unsicherheit, was solch ein Ereignis für Euch zwei bedeuten mochte, regte mich auf, und schließlich wandte ich mich von der Tür, von meinen Gedanken und von der Nacht ab und kehrte in mein Bett zurück. Allein oder nicht, ich war müde und schlief rasch ein.

Im Ort war man natürlich in heller Aufregung, als ich erzählte, was ich gesehen hatte. In den letzten vier Monaten, seit die Ork-Brenner das Dorf überfallen hatten, war es ziemlich ruhig gewesen. Theorien gab es im Überfluss. Die Theraner waren tatsächlich zurückgekehrt. Sie würden ein neues Zeitalter des Friedens und des Wohlstands bringen. Die Theraner waren während der Plage von den Dämonen ausgerottet worden. Die Burg war ein theranisches Schiff, das von den Geistern der getöteten Theraner gesteuert wurde. Die Theraner hatten sich in Ungeheuer verwandelt und kamen jetzt, um das Werk der Dämonen zu vollenden. Die Theraner waren von den Dämonen vernichtet worden. Bei diesem Schiff handelte es sich um den Abgesandten eines anderen starken magischen Reichs, das gekommen war, um das Land für sich einzufordern, wie es zwangsläufig immer wieder Vorkommen wird.

Torvan der Narbige, Elasia Rabenhaar und ein paar andere ritten in die Richtung davon, in die ich die Burg hatte fliegen sehen, kamen jedoch ein paar Tage später zurück, da sie einfach nicht in der Lage waren, die Spur der Burg aufzunehmen. Ich hatte unbedingt mit ihnen gehen wollen. Als Dorfmagierin stand mir das sogar an, und es hätten durchaus Vorkehrungen für Eure Obhut getroffen werden können, wie bei anderen Gelegenheiten auch. Doch ich tat es nicht, und schon da wusste ich, dass dies nur dem heimlichen Bedürfnis entsprang, Eurem Vater eins auszuwischen. Indem ich nicht ging, glaubte ich irgendwie zu beweisen, dass er in jener Nacht nicht hätte verschwinden dürfen.

Doch mit jedem Tag, der verstrich, wuchs meine Neugier, und ich wusste ganz genau, warum er gegangen war. Ich musste immer wieder daran denken, wie schön es gewesen wäre, sich mit ihm zusammen auf die Verfolgung der Burg zu machen, während die Nacht an uns vorbeirauschte und wir ins Unbekannte ritten.

Wochen vergingen, und das seltsame Vorkommnis trat langsam in den Hintergrund. Theorien und Klatsch waren uns ausgegangen. Ohne neue Informationen gab es nichts mehr zu sagen, und um die zu bekommen, bedurfte es eines Reisenden, der durch das Dorf kam. Natürlich war die Welt in jenen Tagen viel weniger bereist als heute, und Fremde tauchten nur ganz selten auf.

Einen Monat, nachdem sich Euer Vater an die Verfolgung der Burg gemacht hatte, kam tatsächlich eine Fremde durch unser Dorf: eine Schwertmeister-Adeptin, deren Name mir mittlerweile entfallen ist. Hals und Arme zierten frische Narben, die offenbar von Schwertklingen verursacht worden waren. Sie erzählte, sie sei von einem Ort angeworben worden, um es gegen Banditen aus dem Norden zu verteidigen.

»Brenner?« fragte ich. Wir hatten uns in Tellars Haus versammelt. Ihr und ein paar andere Kinder des Dorfs schlieft auf dem dicken Teppich vor Tellars Herd, und die roten Flammen warfen flackernde Schatten auf Eure zarten Wangen. Außerdem wurde der Raum von mehreren brennenden Kerzen erhellt. Etwa ein Dutzend Dorfbewohner war gekommen, um der Adeptin zuzuhören.

»Nein«, antwortete sie. »Sie kamen aus einem Ort namens Mebok oder so ähnlich. Jedenfalls meinten das die Dorfbewohner, die mich angeworben haben. Menschen und ein paar Elfen...«

»Verdorbene Elfen?« fragte jemand.

»Die Elfen stammten nicht aus dem Blutwald, wenn du das meinst«, sagte die Schwertmeisterin mit einem traurigen Lächeln. »Und es gab auch sonst keine sichtbaren Anzeichen von Verdorbenheit. Andererseits brennen die Dämonen ihre Male nicht immer sichtbar auf die Haut.« Sie zuckte die Achseln.

»Und sie wollten Gefangene machen?« fragte ich.

»Damit kein falscher Eindruck entsteht: Sie haben getötet! Ich habe schon lange nicht mehr so heftige und verbissene Kämpfe gesehen – nicht von Leuten, die im Kampf ungeübt waren. Jedenfalls war ihr Anführer ein ganz zäher Brocken. Wohl auch ein Schwertmeister-Adept, so wie er gefochten hat. Er hat seinen Leuten ganz schön Dampf gemacht. Das Dorf, das ich schützen sollte... Tja, sie hatten nicht viel Geld, und so kämpften auf unserer Seite außer mir nur noch drei andere Krieger, alle drei keine Magier, und der Dorfschmied. Sie haben uns förmlich überrollt. Wir sind von hundert oder noch mehr Leuten angegriffen worden.«

Mehrere der Versammelten schnappten daraufhin nach Luft.

»Und sie wollten Gefangene machen?« wiederholte ich.

»Ja, sie haben ein paar Sachen gestohlen. Aber in erster Linie waren sie bemüht, alle zu entwaffnen und zusammenzutreiben. Das ist ihnen auch ganz gut gelungen.«

»Du bist entkommen?« fragte jemand.

»Das bin ich. Als ich so viele Wunden erlitten hatte, dass ich mein Schwert nicht mehr heben konnte, habe ich mich zurückgezogen.« Sie sah beschämt zu Boden.

Ich tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Wussten die Leute in dem Dorf, warum sie angegriffen wurden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ein paar Bauern hatten das Nachbardorf besucht und es verlassen vorgefunden. Alle Bewohner waren entweder verschwunden oder lagen als Leichen am Boden. Sie bekamen Angst und warben mich an, als ich durch ihr Dorf kam.«

Im Raum wurde es still. In die Stille hinein fragte ich: »Und du hast auf deiner Reise nichts von solchen Überfällen gehört?«

»Nein, aber ich bin auch fremd in dieser Gegend.«

»Hast du unterwegs irgend etwas von...« Ich hielt inne, als mir klar wurde, wie absonderlich sich die Frage für jemanden anhören musste, der nicht wusste, dass hier seit einem Monat über nichts anderes mehr geredet wurde, »...von einer fliegenden Burg gehört?«

Sie musterte mich überrascht, dann stahl sich so etwas wie die Andeutung eines neugierigen Lächelns auf ihre Lippen. »Ja, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Wie sollte jemand eine Burg zum Fliegen bringen?« Sie sah mir jetzt direkt in die Augen, das Lächeln war verschwunden. »Gibt es tatsächlich so ein Ding?«

»O ja.« Meine Brust krampfte sich vor Aufregung zusammen. »Was hast du gehört?«

»Manche Leute sagten, jemand, den sie kannten, kenne jemand, der wiederum jemand kenne, der einen oder zwei Tage zuvor eine Burg durch die Luft habe fliegen sehen. Andere Leute erzählten, jemand den sie kannten, kenne jemand, der mit jemand verwandt sei, der sich tatsächlich aufgemacht habe, der Burg zu folgen. Und keiner dieser Leute sei bislang zurückgekehrt.«

6.

In jener Nacht traf ich meine Vorbereitungen, um Euren Vater zu suchen.

Ich ließ Euch in Tellars Obhut, da Ihr zwei immer noch bei Ihr auf dem Boden schlieft. Ich hatte vor, am nächsten Morgen aufzubrechen und mich dann von Euch zu verabschieden. Wieder daheim, packte ich meine Reisekleidung und meine magischen Hilfsmittel zusammen und verstaute sie in kleinen Beuteln. Es war spät, ich war müde, und alle fünfzehn Minuten hielt ich inne, seufzte laut und fragte mich, warum ich Euren Vater suchen wollte. Wenn er sich unbedingt in Gefahr begeben wollte, war das seine Sache. Warum musste ich mich überhaupt einmischen?

Der Grund war folgender: Er hätte umgekehrt dasselbe für mich getan, wenngleich aus anderen Beweggründen. Es war unmöglich, ihm den Rücken zu kehren.

Als ich die Kleidung und die Beutel in Wünschers Satteltaschen verstaute, erschollen die ersten Schreie.

Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich dachte, ein Drache oder vielleicht sogar ein Dämon sei in das Dorf eingedrungen. Ich war schon unterwegs zu Eurem Schlafzimmer, um mich davon zu überzeugen, dass es Euch gutging, als mir plötzlich einfiel, dass Ihr ja bei Tellar wart.

Ich blieb stehen, unschlüssig, wohin ich mich jetzt wenden sollte, und lauschte. Ich hörte weitere Schreie und Leute laut um Hilfe rufen. Dann andere Schreie, rau und voller Kampfeslust. Ich schnappte mir meine Magierrobe und warf sie über. Barfuß eilte ich zur Tür hinaus und über den feuchten Boden.

Am anderen Ende des Dorfes sah ich Dutzende von Fackeln. Manche wogten in der Finsternis, da sie von Reitern getragen wurden, andere lagen auf dem Boden – offensichtlich von den Reitern dort hingeworfen – und beleuchteten die Osthälfte des Dorfes. Schwerter blitzten grellrot auf. Ich hörte Schreie. Jemand in einem weißen Gewand wurde von zwei Angreifern weggetragen. Jene Dorfbewohner, die durch die Felder rannten, wurden von Angreifern zu Pferd verfolgt.

Zwei Angreifer, ein dickleibiger Mann und eine Frau, ritten über die schmale Straße, die durch das Dorf führte, auf mich zu. Sie lachten, aber nur, bis sie meine Magierrobe erkannten. Daraufhin rissen sie an den Zügeln und versuchten, die Pferde herumzuwerfen.

Zu spät.

Ich zog zwei kleine Kieselsteine aus der Tasche und warf sie auf den Mann. Im Flug verwandelten sie sich in eine Bola aus Eis. Die Augen des Mannes weiteten sich, als ihn die Waffe am Hals traf. Die Kugeln der Bola drehten sich umeinander, so dass sich die Schnüre aus Eis fest um seinen Hals wickelten.

Als die Frau sah, dass ihr Begleiter in Lebensgefahr schwebte, riss sie ihr Pferd wieder herum und ritt auf mich zu. Sie hob ihr Schwert, offenbar nicht mehr darauf bedacht, mich gefangenzunehmen. Während sie auf mich losstürmte, überfiel mich wie in jedem Kampf wieder die Panik. Ich dachte an jeden Zauber, den ich kannte, suchte verzweifelt nach dem besten Weg, meine Magie einzusetzen, unternahm jedoch in der Zwischenzeit überhaupt nichts.

Ich hörte auf nachzudenken, als die Frau nur noch ein paar Schritte entfernt war. Ich sank auf die Knie und berührte die Wasserpfütze, durch die das Pferd gerade galoppierte. Ich konzentrierte mich, öffnete meinen Geist der Astralebene, wo unsere Wirklichkeit von Magie durchströmt wird. Wie ich die Kiesel in eine Eisbola verwandelt hatte, so verwandelte ich jetzt den Boden und das Wasser vor mir. Beides beugte sich meinem Willen, und die Pfütze wurde tiefer und tiefer, bis das Pferd plötzlich völlig überrascht den Boden unter den Füßen verlor.

Wiehernd und bis zur Brust im Matsch, bockte das Pferd und schleuderte die Frau nach vom. Das Schwert flog ihr aus der Hand, und sie selbst landete neben mir im Matsch. Ich entschied mich für eine einfachere Methode, um den Kampf zu beenden, und zog einen Dolch. Während sie sich aufzurichten versuchte, trieb ich die Dolchspitze am Kragen ihrer steifen Lederrüstung vorbei und ein Stück in ihren Hals hinein. Blut spritzte, und sie flehte um Gnade. Ich zog den Dolch heraus, so dass noch mehr Blut aus der Wunde in ihrem Hals strömte.

Wisst Ihr, ich hatte in diesem Augenblick nur Euch beide im Kopf. Und jeder, der Euch bedrohte oder mich daran hindern wollte, zu Euch zu gelangen, würde sterben.

Der Mann hatte die Eisbola mittlerweile von seinem Hals entfernt und wollte jetzt zur Ostseite des Dorfs zurückreiten, auf die sich die volle Wucht des Angriffs konzentrierte. Wiederum richtete ich meine Gedanken auf die Astralebene, und wiederum benutzte ich meine Fähigkeiten, um das Wesen der Welt zu verändern. Ich holte mit dem rechten Arm aus, und in meiner Hand bildete sich Eis. Ich warf, und der Eisspeer, der sich gebildet hatte, zischte durch die Luft, wobei er eine Fahne von Schneeflocken hinter sich zurückließ.

Der Speer bohrte sich tief in den Rücken des Mannes und brach dann, so dass ihm nur noch ein Teil des Schaftes aus dem Rücken ragte. Er lebte noch, war jedoch völlig verwirrt. Ich rannte zu ihm, warf ihn vom Pferd und sprang dann selber auf, um gleich zu Tellars Haus zu stürmen, da ich nur noch darauf bedacht war, Euch zwei zu beschützen. In weniger als einer Minute war ich dort. Die Schwertmeisterin, die uns von den Überfällen erzählt hatte, kämpfte vor der Tür von Tellars Haus gegen vier Angreifer, sowohl Elfen als Menschen, die sie mit einem Hagel wilder Schwerthiebe eindeckten. Sie wehrte die Angriffe ab, aber es gelang ihr nicht, ihrerseits einen Treffer zu landen.

Als sie mich kommen sah, lächelte sie erleichtert. Ich ließ die Zügel des Pferdes fallen, legte die Hände zusammen, und erzeugte eine Flamme, die ich auf ihr Schwert warf. Ihre Gegner unterbrachen für einen Augenblick verblüfft ihre Angriffsbemühungen. Diesen Moment nutzte sie aus und landete zwei Volltreffer mit ihrem verzauberten Schwert, so dass ebenso viele Gegner heftig blutend zu Boden gingen.

Dann hörte ich Dich nach mir rufen, Samael. Ich sah auf zu einem Fenster im ersten Stock von Tellars Haus, und dort standet Ihr beide und saht zu mir herab. Hinter Euch leckten Flammen, und aus dem Fenster quoll Rauch.

In diesem Augenblick vergaß ich alles außer meiner Sorge um Euch. Ein Fehler. Ein von einem Magier der Angreifer geworfener Feuerball explodierte zu meiner Linken, blendete mich mit seinem feurigen Licht und betäubte mich mit seiner unglaublichen Hitze.

Ich schrie – der Lärm Tausender kreischender Vögel erfüllte meine Ohren. Aber da war ich bereits vom Pferd gefallen. Die linke Seite meines Körpers fühlte sich vom Gesicht bis zur Hüfte schrecklich kalt an, und gleichzeitig glaubte ich zu verbrennen. Mein linker Arm zitterte unkontrolliert.

Ich sah zu Eurem Fenster hinauf, sah Eure entsetzten, erschütterten Mienen. Tränen traten mir in die Augen. Ich wollte nicht, dass Ihr mich so saht. Ich empfand eine Mischung aus Scham und Furcht.

Meine Finger gruben sich in den weichen Boden, und ich versuchte, mich mit Hilfe meines rechten Arms zu erheben. Ein jäher Schmerz durchzuckte mich, als ich mich bewegte. Aber ich versuchte dennoch aufzustehen.

Dann stand ein Paar brauner Lederstiefel vor mir und erfüllte mein Blickfeld. Ich fühlte mich plötzlich wie ein Kind, das von einem zornigen Erwachsenen angegriffen wird. Einer der Stiefel holte aus, um mir ins Gesicht zu treten. Ich warf mich nach rechts, doch nicht schnell genug. Der Stiefel schnellte vorwärts.

Mir wurde schwarz vor Augen, und für einen Moment wusste ich nicht mehr, was überhaupt vor sich ging. Dann krachte der Boden gegen mein Gesicht. Ich versuchte wieder, mich zu erheben, konzentrierte mich auf einen Zauber – einen Feuerball, glaube ich. Ich versuchte, meine Gedanken auf die Astralebene zu konzentrieren, doch vergeblich. Ich konnte nicht mehr klar denken.

Der Stiefel trat wieder nach mir, und ich bemühte mich, ihn mit der rechten Hand abzuwehren.

Ein müßiges Unterfangen. Er traf mich noch einmal ins Gesicht.

Ich wälzte mich auf den Rücken. Ein großer Mann starrte mit finsterer, zorniger Miene auf mich herab, obwohl er seine schmutzig verfärbten Zähne zu einem Grinsen gebleckt hatte. Ich wandte den Kopf zur Schwertmeisteradeptin, die jetzt von Feinden umzingelt war. Im flackernden roten Fackellicht sah ich, wie ihr einer ihrer Gegner plötzlich sein Schwert in den Bauch jagte. Sie keuchte auf, ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen, dann traf ein weiterer Schwerthieb ihre Schulter.

Etwas, eine neuerliche Bewegung links von mir, erregte meine Aufmerksamkeit. In dem Augenblick, als ich den Kopf nach links wandte, sah ich den Stiefel hoch über meinem Kopf. Danach nichts mehr.

7.

Ich erwachte mit Schmerzen. Ringsherum war Dunkelheit. Der Boden unter mir schien aus Stein zu sein, wenngleich ich mir dessen nicht sicher war. Die Verbrennungen an meinem Körper verwirrten meinen Tastsinn. Mir kamen Erinnerungen an Fortbewegung – das Fahren in einem Karren und sogar Marschieren doch es waren keine Bilder damit verbunden.

Mit rauer und kaum vernehmlicher Stimme sagte ich: »Hallo?«

Ich bekam keine Antwort. Doch als ich angestrengt lauschte, hörte ich Atemgeräusche, ein paar geflüsterte Worte, leises Weinen und ein gurgelndes Lachen, nicht lauter als Wasser, das langsam über einen Felsen rinnt.

Behutsam tastete ich mit der rechten Hand meine linke Körperhälfte ab. Die Verbrennungen waren dick verkrustet – wie Narben. Jemand hatte sich der Mühe unterzogen, mich mit Magie zu heilen. Einen Moment lang versuchte ich aufzustehen, doch die Schmerzen waren zu stark. Eine Woge des Schwindels erfasste mich. Ich ließ den Kopf auf den Steinboden sinken und schlief augenblicklich wieder ein.

Als sich die Tür öffnete, wurde der Raum von trübem roten Fackellicht überflutet. Das Geräusch der sich öffnenden Tür weckte mich. Die Flammen, obschon nicht besonders hell, taten meinen Augen weh, und mein Blickfeld verschwamm. Ich sah Gestalten in der Tür. Um mich herum erhoben sich Angehörige zahlreicher Rassen – Zwerge, Elfen, Menschen, Orks, Trolle und andere – und gingen zur Tür. Irgend jemand schrie uns in einer Sprache an, die ich nicht verstand. Ich versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht.

Eine Peitsche knallte neben mir auf den Boden, und ich zuckte überrascht zurück. Wieder hörte ich Worte, die ich nicht verstand. Schatten eilten durch den Raum. Plötzlich wurde ich gepackt und auf die Beine gezogen. Durch die raue Behandlung rissen ein paar Krusten auf, und frische Schmerzen überfielen mich. In diesem Augenblick konnte ich nur den einen Gedanken fassen: »Was habe ich getan? Was habe ich getan?«

Ich stand jetzt und erhielt gleich darauf einen Stoß, der mich zwang, mich in Richtung Tür in Bewegung zu setzen. Zu meiner Rechten sah ich einen alten Mann weinend auf dem Boden sitzen. Der Mann mit der Peitsche ließ sie immer wieder auf den Sitzenden herabsausen. Blutstropfen spritzten mir jedesmal ins Gesicht, wenn die Peitsche wieder zurückschnappte. Der Anblick brachte mich in Wut, wenn auch in eine stille. Ich konnte kaum laufen, geschweige denn den alten Mann retten. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, ich müsse etwas tun – den Sklaventreiber angreifen, ihm befehlen aufzuhören. Doch mir fehlte die Energie, um überhaupt irgend etwas zu tun. Der Anblick stachelte mich lediglich an, mich zu beeilen, um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen.