Die Stunde der Wut - Horst Eckert - E-Book

Die Stunde der Wut E-Book

Eckert Horst

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Den Reichtum der einen bezahlen die anderen. Manchmal mit dem Leben.

Mit Immobiliendeals wurde Hartmut Osterkamp reich. Kompromisslos baut er sein Imperium aus. Ihm ist jedes Mittel recht.

Kriminalrätin Melia Adan ist überzeugt, dass Neonazis auf einer Osterkamp-Baustelle die Leiche einer ehemaligen Kollegin verschwinden ließen. Noch hat sie keinen Beweis. Aber schon bald gefährliche Feinde.

Hauptkommissar Vincent Veih hat es mit dem Mord an der Tochter eines Psychiaters zu tun. Was zuerst wie eine Beziehungstat aussieht, führt Vincent auf ein Schlachtfeld von Gier, Korruption, politischen Intrigen – und blanker Wut.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 372

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Melia Adans steile Karriere beim Verfassungsschutz endete abrupt, als sie ein rechtsextremes Netzwerk aufdeckte, in das auch Kollegen verwickelt waren. Einige von ihnen konnten ihre Köpfe aus der Schlinge ziehen und wurden sogar befördert. Desillusioniert wechselte Melia in den Polizeidienst.

Dort lässt ihr eines keine Ruhe: Die Kollegin, die ihr damals entscheidende Hinweise zuspielte, ist spurlos verschwunden. Hat man sie aus dem Weg geräumt? Auf ihrer Suche wendet sich Melia an die Öffentlichkeit – mit schwerwiegenden Folgen. Eine junge Frau stirbt nach einer Messerattacke, ihr Freund taucht unter. Melias Mitarbeiter Vincent Veih leitet die Mordkommission. Seine Ermittlungen führen rasch in einen Sumpf aus Drogenhandel und Korruption.

Horst Eckert zeichnet das Panorama einer zerrissenen Gesellschaft. Hinter bürgerlichen Fassaden treibt Gier die Gewinner an. Die Wut der Verlierer entlädt sich in Gewalt. Moralische Maßstäbe verschwimmen. Und nicht immer schaffen es Melia und Vincent, an einem Strang zu ziehen.

Der Autor

Horst Eckert, 1959 in Weiden/Oberpfalz geboren, lebt seit vielen Jahren in Düsseldorf. Er arbeitete fünfzehn Jahre als Fernsehjournalist, u.a. für die »Tagesschau«. 1995 erschien sein Debüt »Annas Erbe«. Seine Romane gelten als »im besten Sinne komplexe Polizeithriller, die man nicht nur als spannenden Kriminalstoff lesen kann, sondern auch als einen Kommentar zur Zeit« (Deutschlandfunk). Sie wurden unter anderem mit dem Marlowe-Preis und dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet und ins Französische, Niederländische und Tschechische übersetzt.

THRILLER

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 04/2021

Copyright © 2021 by Horst Eckert

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann, Designomicon,

unter Verwendung von Motiven von © Michal Sanca/shutterstock (Frau),

Malivan_Iuliia (Mann) und Zone7/shutterstock (Gebäude)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-27733-8V002

www.heyne.de

Oh, a storm is threatening

My very life today

If I don’t get some shelter

Oh yeah, I’m gonna fade away

(The Rolling Stones, »Gimme Shelter«)

VOR EINEM JAHR

WAS DAMALS GESCHAH, WIEDERHOLT sich in jeder schlaflosen Nacht aufs Neue. Die Erinnerung wird sie für immer verfolgen, dessen ist sich Melia sicher.

An jenem Tag wollte die Stationsärztin Melia nicht gehen lassen. Ihr Zustand müsse weiterhin kontrolliert werden, behauptete sie. Die Schussverletzung am Bein könne zu Komplikationen führen.

Doch Melia blieb stur und zog sich an. Sie hasste es, wenn jemand sie bevormunden wollte. Zudem glaubte sie, etwas zu Ende bringen zu müssen. Sollte sich das Bein entzünden, würde sie eben wiederkommen, ganz einfach.

Reinhard Zacharias klopfte an die Tür, Melias Kollege, den sie gebeten hatte, sie abzuholen.

Er sagte: »Im Innenministerium ging schon das Gerücht um, du seist tot.«

Sie lachte. »Das hätten die wohl gern.«

Sie schnappte sich die Krücken und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr jede Bewegung schmerzte. Als sie vor der Klinik an die frische Luft trat, ging ihr zum ersten Mal der Gedanke an eine berufliche Veränderung durch den Kopf.

Scheiß auf den Inlandsgeheimdienst.

»Du musst mit dem Abteilungsleiter reden«, sagte ihr Kollege, als sie losfuhren.

»Mit ihm, mit dem Ministerpräsidenten und mit meinem Vater«, erwiderte Melia. »Aber zuerst mit Solveig. Weißt du, wo sie steckt? Ich erreiche sie nicht.«

Zacharias blickte sie an.

»Was?«, fragte Melia.

»Seit gestern hat keiner mehr etwas von ihr gehört. Sie ist spurlos verschwunden.«

Melia nahm ihr Telefon, tippte auf Wahlwiederholung und hörte erneut Solveigs Mailbox-Ansage. Solveig hatte ihr beigestanden. Sie brauchte sie immer noch.

In der Tiefgarage des Ministeriums wurde Melia vor Schmerzen fast ohnmächtig. Die geprellten Rippen, der zerschossene Oberschenkel. Sie biss die Zähne zusammen, humpelte zu den Aufzügen und fuhr in den vierten Stock.

Dort steuerte sie den Flur des Referats 623 an. Solveigs Büro befand sich ganz hinten. Melia klopfte und drückte die Klinke herunter. Zu ihrer Verwunderung war die Tür nicht abgeschlossen.

Ein kleines überheiztes Kabuff mit Blick auf die trostlose Rückseite des Nachbargebäudes. Melia setzte sich auf den Drehstuhl. Solveig Fischer, was hast du herausgefunden? Warum meldest du dich nicht?

Sie bewegte die Computermaus, der Monitor wurde hell. Die Kollegin war abgehauen, ohne den Rechner abzuschalten. Also hatte sie geplant, vor dem gestrigen Feierabend noch einmal zurückzukommen.

Melia gab das Passwort ein, das Solveig ihr genannt hatte. Eine Seite von Google Maps erschien. Melia blickte auf die Darstellung einer Route, die vom Zentrum Düsseldorfs rund fünfzehn Kilometer weit nach Nordwesten führte. Zu einer Adresse am Ortsrand von Osterath.

Die Chronik des Browsers zeigte an, dass Solveig vorher recherchiert hatte, was sich dort befand. Es handelte sich um zwei Vereine: Outdoor-Sport e. V. sowie Nation und Freiheit e. V. Melia war klar, was das bedeutete.

Sie klickte auf die Satellitenansicht.

Mehrere Gebäude, umringt von Feldern. Ein ehemaliger Bauernhof. Eine schmale Straße führte dorthin und endete in einer Sackgasse.

Melia fröstelte bei dem Gedanken, was Solveig an diesem Ort geschehen sein könnte.

ERSTER TAG

01

FUCK, DACHTE KLARA.

Schweiß trat ihr auf die Stirn, und zugleich wurde ihr kalt. Keinen Meter entfernt lag das Telefon. Eine ziemlich große Distanz, wenn man gerade ein Messer in den Bauch bekommen hatte.

Sie kroch mühsam auf das Telefon zu und streckte die Hand aus. Ein Schwall Blut ergoss sich dabei aus ihrer Wunde am Bauch. Dass es nicht wehtat, konnte nur am Adrenalin liegen. Einen Moment lang wurde ihr schwummrig, dann sah sie wieder halbwegs klar.

Ich bin echt am Arsch.

Endlich hielt sie das Ding in den Fingern und schaffte es, die Eins-eins-zwo zu wählen.

»Notrufzentrale. Mit wem spreche ich?«

Klara hörte nebenan Geräusche. War das Monster etwa noch da?

»Fuck«, entfuhr es ihr.

»Geht das bitte etwas konkreter?«

»Ich glaube, ich …«

»Können Sie lauter sprechen?«

»… verblute.«

Sie fror, die Kälte schüttelte sie durch, dann hörte sie den Mann am anderen Ende fragen: »Ihr Name?«

Fuckfuckfuck, dachte sie. Ich will nicht sterben.

Nicht mit neunzehn und nicht auf diese Art.

02

VIERZIG MINUTEN ZEIT ZWISCHEN DER morgendlichen Inspektionsleiterrunde, die hinter ihr lag, und einem Gespräch mit einem Oberstaatsanwalt, das heikel werden würde. Melia fuhr in ihrem neuen Kleinwagen durch die Stadt und fühlte sich bereits am Vormittag gestresst.

Als Vorgesetzte einer Kriminalinspektion sind Sie Problemlöserin, so hatte Kripochef Engel ihre Aufgabe umschrieben, als sie vor zehn Monaten ihren neuen Posten übernommen hatte. Sie halten den Sachbearbeitern den Rücken frei, zugleich geben Sie die Richtung vor. Ein Netzwerk loyaler Kollegen wird Ihnen dabei helfen.

Doch das Knüpfen von Beziehungen war nie ihre Stärke gewesen. Sie zu pflegen, erst recht nicht. Noch immer gab man ihr das Gefühl, die Neue zu sein, die nicht richtig dazugehörte.

Melia hatte lernen müssen, dass auch die Netten nicht immer ehrlich waren. Es kam Melia so vor, als lauerten manche nur darauf, dass sie einen Fehler beging.

Sie, die Frau, die Person of Colour.

Die mit Mitte dreißig viel zu jung für die Position einer Kriminalrätin war.

Die größte Herausforderung für ihre Arbeit war der Personalmangel. Ausgerechnet beim KK11, der Dienststelle für Todesermittlungen, war es schwer, Leute zu finden. Früher war das anders gewesen, sagte man ihr. Die kriminalistische Aufgabe hatte die Besten angelockt, und sie blieben bis zur Pensionierung. Doch heute prägte die Sparpolitik den Dienst, der Stress nahm überhand. Wer Tötungsdelikte bearbeitete, hatte im Grunde nie wirklich frei. Es gab zu wenige Planstellen, und jemanden mit Erfahrung zu finden war praktisch unmöglich. Und jetzt grassierte auch noch eine Grippewelle.

Bloß kein Mord in dieser Woche, dachte Melia.

Sie fand die Straße, in der Solveig Fischer gewohnt hatte, parkte kurzerhand vor einer Einfahrt und ging auf den Gedenkbaum zu. Drei Leute hatten sich hier versammelt, darunter Solveigs jüngere Schwester Iris. Sie knüpfte ein Band um den Stamm, an dem einige Fotos hingen. Die anderen, ein Pärchen in zerknautschten Hippie-Klamotten, streuten Blütenblätter auf die Erde. Sie scherten sich weder um die vorbeifahrenden Autos noch um die Blicke der Passanten.

Melia grüßte und blickte auf die Uhr.

In fünf Minuten muss ich wieder los. Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein.

»Frau Adan«, stellte Iris sie vor. »Solveigs Kollegin.«

»Ex-Kollegin«, korrigierte Melia.

Sie hatten beide beim Geheimdienst gearbeitet, beim Landesamt für Verfassungsschutz. Im letzten Frühjahr hatten sie ein rechtes Netzwerk aufgedeckt, das Anschläge und die Übernahme der Regierung plante. Mehrere Kollegen waren daran beteiligt gewesen, ein paar von ihnen kamen straflos davon oder wurden dank ihrer guten Beziehungen sogar befördert. Desillusioniert hatte sich Melia zur Düsseldorfer Polizeibehörde versetzen lassen, wo ihre berufliche Laufbahn vor gut zwölf Jahren begonnen hatte. Hier hoffte sie, einigermaßen frei von Ranküne und politischen Machtspielchen arbeiten zu können.

Melia legte den Strauß ab, den sie mitgebracht hatte. Hinter welchen Fenstern des gelb getünchten Altbaus Solveig gewohnt hatte, wusste sie nicht. Weil ihre Leiche noch immer nicht aufgetaucht war und es deshalb keine Grabstelle gab, hatte Iris die Platane zum Ort des Erinnerns auserkoren.

Heute war der Jahrestag von Solveigs Verschwinden.

»Hab ich Sie nicht im Fernsehen gesehen?«, fragte die Hippie-Frau. »Ich kann mich an Ihr Gesicht erinnern.«

An meine Hautfarbe, dachte Melia. Ihren Auftritt in der Aktuellen Stunde des WDR, bei dem sie um Hinweise aus der Bevölkerung bat, hatten mehr Leute mitbekommen, als sie zunächst vermutet hatte.

»Hat es was gebracht?«, fragte der Hippie-Mann.

»Vielleicht kommt noch etwas.«

Das Pärchen brach auf. Melia wusste nicht, worüber sie mit Iris reden sollte. Sie hatte sie schon alles gefragt. Ich muss jetzt wirklich wieder zur Festung zurück, dachte sie.

Die Schwester deutete auf die Rosen. »Sie sind die Einzige aus Solveigs Behörde, die noch Anteil nimmt.«

Aus schlechtem Gewissen, dachte Melia.

»Waren Sie eng befreundet?«, fragte Iris.

»Nein, gar nicht.«

Iris blickte sie erstaunt an.

»Wie geht es Ihren Eltern?«, fragte Melia.

»Beschissen. Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Ihr Fernsehauftritt hat sie ziemlich aufgewühlt. Hoffnungen geweckt, verstehen Sie?«

Melia dachte an den ehemaligen Bauernhof in Osterath. Im vergangenen Jahr hatten sie das brach liegende Areal völlig auf den Kopf gestellt, an mehreren Stellen gegraben und Spürhunde eingesetzt.

Ohne Ergebnis.

Jetzt hatte ein Immobilienentwickler die Liegenschaft aufgekauft, und um weiterzusuchen brauchte sie die Mitwirkung des Staatsanwalts.

»Meine Schwester hat mir immer erzählt, sie arbeite im Landesamt für Statistik.«

»Lügen gehörten bei uns zum Job.«

»Das habe ich begriffen. Aber woran hat Solveig zuletzt gearbeitet? Hat sie vielleicht etwas Brisantes entdeckt und stand jemandem im Weg?«

Natürlich, dachte Melia. Was sonst.

Sie blickte wieder auf die Uhr.

»Bitte reden Sie!«

»Das ist mir nicht gestattet.«

»Aber Sie arbeiten doch nicht mehr beim Geheimdienst!«

»Ich muss jetzt wirklich aufbrechen.«

Iris hielt ihre Hand fest. »Wen schützen Sie, Frau Adan?«

»Ich? Niemanden. Glauben Sie mir.«

»Sie wissen, wer hinter Solveigs Verschwinden steckt. Darauf wette ich!«

»Lassen Sie mich los, Iris.«

»Auf wessen Seite stehen Sie?«

Melia riss sich los. Langsam wurde die Frau unverschämt.

Iris folgte ihr und redete mit weit ausholenden Gesten weiter auf sie ein. »Sie haben uns den Floh ins Ohr gesetzt, dass Solveig für eine gute Sache unterwegs war. Und dass Sie kurz davor sind, sie zu finden. Zumindest ihre Leiche. Geben Sie mir endlich eine Antwort, Frau Adan. Bitte!«

Melia blieb stehen. »Ich tue alles, was in meiner Macht steht. Das können Sie mir glauben.«

»Wirklich?«

Ihr schossen die Ereignisse von damals durch den Kopf. Der Sprengsatz, die Schüsse. Sie hatte überlebt, und seitdem quälte sie die Frage: Warum soll ausgerechnet ich es verdient haben, am Leben zu sein?

»Frau Adan …«

Melia wandte sich Solveigs Schwester zu. Die Frau konnte nicht älter als Mitte zwanzig sein. Melia erinnerte sich daran, wie sie selbst in diesem Alter gewesen war. Idealistisch und voller Tatendrang. Ich habe geglaubt, der Verfassungsschutz schütze die Verfassung.

»Ich verspreche es Ihnen«, sagte Melia. »Ich bin auf Ihrer Seite.«

03

WEIL DER NOTRUF ÜBER EIN Festnetztelefon abgesetzt wurde, konnte der Disponent in der Leitstelle die Adresse von seinem Monitor ablesen. Zugleich zeigte ihm der Rechner an, welche Rettungswache am nächsten lag. Es war die der Malteser am Fürstenwall.

»Ihr Name?«, fragte er noch einmal und begann, auf seiner Tastatur zu tippen.

»Klara.« Ihr Atem ging sehr schnell, und sie ergänzte hastig: »Dorau.«

Er drückte die Enter-Taste. Dadurch erhielten die diensthabenden Sanitäter über ihren Piepser Bescheid. In höchstens sechzig Sekunden würden sie ausrücken. Egal ob sie gerade noch einen Döner gegessen oder im Schlafraum süß geträumt hatten.

»Welches Stockwerk?«, fragte er.

Keine Antwort.

»Klara, hören Sie mich?«

»Drittes.«

»Welcher Art ist Ihre Verletzung?«

Ein leises, lang gezogenes Stöhnen drang durch die Leitung.

»Gibt es weitere Verletzte?«

»Nein, aber … uhh …«

»Halten Sie durch, ein Rettungswagen wird in drei Minuten bei Ihnen sein!«

Der Notarzt würde länger brauchen. Der aus der Hauptwache befand sich bereits im Einsatz. Ich muss ein Team der Universitätsklinik losschicken.

Wieder die Enter-Taste, dann war auch dieser Auftrag raus.

Die junge Frau murmelte etwas.

»Klara?« Er presste mit beiden Händen die Muscheln des Kopfhörers gegen seine Ohren. »Sie müssen lauter sprechen!«

»Messerstiche …«

Er hielt den Atem an. »Ist der Täter noch vor Ort?«

Ein kurzes Poltern, als sei der Anruferin das Telefon aus der Hand gefallen.

Mist, dachte der Disponent. Kein gutes Zeichen.

Er verständigte mit wenigen Mausklicks die Polizei.

In der Leitung des Notrufs herrschte jetzt Stille.

Gib mir ein Zeichen, dass du lebst, Klara. Wenigstens ein Atemgeräusch.

Ein Schrei, falls du Schmerzen hast.

Irgendetwas, bitte!

Wieder drückte er gegen den Kopfhörer, um mehr hören zu können als nur das Grundrauschen des Äthers.

Halte durch, Klara. Für die Menschen, die dich lieben.

04

GUT ZWANZIG KILOMETER ENTFERNT fiel Timo Czerny der Spruch ein, den man in Klappentexten von Thrillern oder Ankündigungen von Fernsehkrimis oft las: Nichts ist, wie es scheint.

Er und seine Kollegen vom Spezialeinsatzkommando hatten die Villa des Clans am Ortsrand von Solingen umstellt.

Tara Heldt, die leitende Kripokommissarin, redete unterdessen auf den unglücklichen Kollegen ein, der undercover gegen die Schwester des libanesischen Clanchefs ermittelt hatte und so blöd gewesen war, sich in die Frau zu verlieben. Er trug das gemeinsame Baby in einem Tuch vor seiner Brust und weigerte sich beharrlich, über die kriminellen Geschäfte seiner Freundin und ihrer weitläufigen Familie auszupacken.

Timo fragte sich, wie er selbst sich in einer solchen Situation verhalten würde.

»Verraten Sie mir wenigstens, wo die Leiche versteckt ist«, forderte Tara Heldt den verdeckten Ermittler auf, der nicht wahrhaben wollte, dass es besser wäre einzulenken.

Stattdessen riss er der Kommissarin die Pistole aus dem Holster und drückte ihr die Mündung gegen den Hals.

Dumm gelaufen, dachte Timo.

Er und ein halbes Dutzend weiterer Beamter richteten ihre Waffen auf den Kollegen. Aus dem verliebten Idioten war mit einem Mal ein Krimineller geworden. Und der Mann hatte nicht die geringste Chance. Das sollte er eigentlich wissen.

Zu allem Überfluss kam die Schwester des Clanchefs jetzt aus dem Haus gelaufen. Sie heulte und ruderte hilflos mit den Armen. »Roger, bitte!«

»Geben Sie ihr das Baby«, beschwor ihn Tara Heldt.

Stattdessen zog Roger die Kommissarin rückwärts gehend mit der Hand am Kragen weg und nutzte sie als Deckung.

»Ich verlange ein Auto und freies Geleit für meine Familie!«, rief er.

Sie bewegten sich auf die Straße zu. Blaulicht flackerte ihnen entgegen, Streifenwagen waren dort postiert. Ein zweiter Kripobeamter kam auf den Undercover-Mann zu. Es war Hasslinger, der langjährige Partner von Tara Heldt.

»Roger, gib das Baby her!«, rief er. »Wenn sich ein Schuss löst und dein Kind tötet – damit willst du nicht leben!«

Der Angesprochene blieb stehen und blickte Hasslinger verzweifelt an.

Tara Heldt fasste sich ein Herz. Obwohl er sie noch immer mit der Pistole bedrohte, nahm sie ihm den Säugling ab und übergab ihn der Mutter. Timo eilte dazu und brachte Mutter und Kind in Sicherheit.

Tara ist einfach großartig, dachte er.

Hasslinger legte seine Waffe auf den Boden und streckte die geöffneten Hände in die Luft, um seine gute Absicht zu demonstrieren.

»Roger, ich weiß, wie du dich fühlst«, beteuerte er. »Ich war auch mal undercover und hab mich auf die Scheiße eingelassen. Hey, Roger, mach nicht denselben Fehler wie ich!«

Dem Angesprochenen war anzumerken, dass er bald aufgeben würde.

Da knallte ein Schuss von der Straße her.

Hasslinger brach zusammen.

Überraschung, dachte Timo.

»Cut!«, brüllte der Regisseur.

05

DIRK LORENZ ZOG DIE ROTE Dienstjacke über, schnappte sich das Alarmfax aus dem Ausgabefach des Druckers und rannte hinaus auf den Hof, wo Alex Schlösser gerade die Fahrertür des Rettungswagens aufriss. Ein Mercedes Sprinter 519, wegen seiner Ausstattung teurer als jeder Ferrari. Dirk lief zur anderen Seite und nahm Platz, während sein junger Kollege bereits losfuhr.

Blaulicht und dröhnendes Martinshorn. Wer Lärm nicht verträgt, ist hier fehl am Platz – alte Sani-Weisheit.

Sie bogen auf den Fürstenwall ein. Die anderen Verkehrsteilnehmer zeigten Respekt.

Dirk drückte die Taste drei am Funkgerät: Einsatz übernommen.

Dann hielt er sich das Alarmfax vor die weitsichtigen Augen, kniff sie zusammen und las vor: »Klara Dorau, Burghofstraße 14, dritter Stock. Stichwunde, starker Blutverlust.«

»Klara Dorau?«

»Sagt dir der Name was?«

Alex beschleunigte weiter.

Eine Stimme tönte aus dem Äther: »Leitstelle für RTW Malteser.«

Dirk führte das Handgerät an seinen Mund und drückte die Sprechtaste. »Sind unterwegs. Was gibt’s?«

»Der Täter ist vielleicht noch vor Ort.«

»Kam das über den Notruf?«

»Nicht explizit, aber es klang, als sei die Person Opfer einer Messerstecherei geworden. Wartet zur Sicherheit auf die Polizei.«

»Verstanden«, bestätigte Dirk.

»Bullshit!«, entfuhr es Alex.

Die Straße wurde von einer Baustelle verengt.

Alex musste abrupt bremsen, denn der SUV vor ihnen wich nur zögerlich aus. Im Schneckentempo rollte er über den Bordstein zur Seite. Alex schlug auf das Lenkrad.

»Dem sind mal wieder die Felgen wichtiger als ein Menschenleben!«

»Beruhige dich, Alex.«

Sie schoben sich durch die Lücke. Kurz darauf ging es gar nicht mehr voran. Der Verkehr hatte sich vor einer roten Ampel gestaut. Einige Pkw machten Platz, doch der vorderste Wagen blieb einfach stehen.

Dirk griff nach dem Mikro und ließ die Außenlautsprecher dröhnen: »DER BLAUE OPEL – BITTE IN DIE KREUZUNG FAHREN!«

Endlich ging es weiter. Dirk schätzte, dass sie mindestens eine Minute verloren hatten. Er warf einen Blick auf seinen Kollegen. Alex umklammerte mit weißen Knöcheln das Lenkrad und kaute stumm auf seiner Unterlippe.

»Was ist los mit dir?«, fragte Dirk.

»Die Adresse kenn ich. In dem Haus wohnt Miran, mein bester Kumpel. Und seine Freundin heißt …« Alex schluckte trocken.

Endlich waren sie da und sprangen aus dem Wagen, öffneten die Heckklappe, entluden ihren Kram: Notfallrucksack, EKG-Einheit, Sauerstofftasche, Absaugpumpe.

Alex hängte sich zwei Taschen um und wollte sofort nach oben eilen, doch Dirk hielt ihn zurück.

»Du hast gehört, was die Leitstelle gesagt hat. Die Polizei ist gleich da.«

»Scheiß drauf! Wir haben schon zu viel Zeit verloren!«

»Hey, da oben kann sich noch ein Messerstecher aufhalten!«

Alex wurde laut. »Hör zu, Miran hat mir das Leben gerettet. Fußball-EM in Frankreich. Englische Hooligans. Die hatten ebenfalls Messer. Miran hat das nicht gestört. Also ich geh jetzt rein. Wenn du Schiss hast, bleibst du eben hier.«

Er riss sich los. Dirk griff sich den Rest und folgte dem Kollegen ins Haus. Ihm war nicht wohl dabei, aber er konnte ihn nicht im Stich lassen.

06

MANCHMAL GLAUBTE ROLAND KRACHT, die Welt verberge sich hinter einer verschlossenen Tür, und er vergeude sein Leben damit, den Schlüssel zu suchen.

Er zog sein kleines Olympus-Gerät aus der Tasche seines olivfarbenen Parkas und drückte die Taste. Im Display blinkte das Aufnahmesymbol, hektische Ziffern begannen, die Sekunden zu addieren. Ein schwarzer Balken schlug aus, als plötzlich hinter ihnen ein durchgeknallter Vespa-Fahrer mit brüllendem Motor durch den Park jagte.

Der Schreck ließ Rolands rechte Hand zittern. Er nahm das Gerät in die Linke, umklammerte die Armlehne der Parkbank und hoffte, dass sein Gesprächspartner nichts davon mitbekam.

Der Junge mit dem türkischen Namen saß breitbeinig und selbstbewusst neben ihm. Schlitze in seinen Hosenbeinen stellten dünne Knie zur Schau. Der Bengel trug ein Shirt, dessen Ärmel abgeschnitten waren, lange Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn.

Eine abstoßende Gestalt.

Roland konzentrierte sich wieder auf das Display des Rekorders.

»Wie lief die Begegnung ab?«, fragte er.

»Na ja, ich hab ein Auge dafür, ob ein Kerl schwul ist und ob er auf Minderjährige steht.«

Geschwätz, dachte Roland. »Und dann?«

»Wie immer.« Ein Schulterzucken. »Blickkontakt, alles klar. Der Typ folgt mir aus dem Bierzelt. Hinten bei den Dixie-Klos stehen Büsche. Im Dunkeln ist gut Munkeln, wenn du verstehst, was ich meine. Doch schon beim Schießstand holt er mich ein. Fragt mich nach meinem Namen. Echt nette Stimme. Sympathisch, der Mann, zumindest im ersten Moment. Dass er ein hohes Tier in der Regierung ist, wusste ich da noch nicht.«

Der Gedanke an die Kirmes ließ Roland schaudern. Zu viel Trubel, zu viel Lärm. Und dann auch noch ein Schießstand.

»Und dann?«, fragte er.

»Ist das die Art, wie du Leute zum Quatschen bringst? Und dann und dann und dann?«

»Rede weiter!«

»Bist du wirklich ein Privatdetektiv? Hast du ’ne Lizenz, Großer? Kannst du dich ausweisen oder so?«

Roland zog einen Fünfzig-Euro-Schein aus der Hosentasche und gab ihn dem Jungen. Es war bereits der dritte.

Der Türkenbengel quittierte mit einem Grinsen. »Alles klar.«

»Also?«

»Der Kerl will wissen, wie alt ich bin, und ich sag ihm, ich bin volljährig, wie es die meisten Typen hören wollen. Doch aus irgendeinem Grund glaubt er mir nicht und kneift. Das war’s dann. Sorry, Großer.«

»Wie bitte?«

»Ich hab ihn mit meinen Kulleraugen angeblinzelt, doch er wollte nicht mehr. Lässt mich einfach stehen, der feine Herr Politiker. Hab mich gefühlt, als hätte er mir ’nen Bierkrug vor den Kopf gestoßen.«

Roland drückte die Stopp-Taste. »Gestern am Bahnhof hast du mir noch was anderes …«

»Ich hab nur gesagt, dass …«

»MIST!«

Der Junge zuckte zusammen. Roland blickte sich um, doch zum Glück war kein Passant in der Nähe. Er überlegte, wie er seinen Auftrag noch retten könnte.

Er fuhr die Aufnahme zurück, hörte sie ab und stoppte bei der Stelle mit dem Gebüsch hinter den Dixie-Toiletten, exakt am Ende des Satzes.

Die kleine Schwuchtel hob beschwichtigend die Hände. »Ich lüg echt nicht, wenn ich sag, dass der Kerl auf dem Babystrich Frischfleisch aufgabelt. Ein Kumpel von mir ist erst vierzehn und hat ihm neulich …«

»Dann besorg mir diesen Kumpel!«

»Geht nicht. Nein, echt nicht.«

»Dann erzähl mir die Geschichte so, als hätte der Kerl dich aufgegabelt, an dem Abend auf der Kirmes. Hinter den Büschen im Dunkeln. Den ganzen schwulen Pädo-Scheiß. Komm, mach endlich, sonst …« Er blickte so finster, wie er nur konnte.

Der Junge wich zurück.

In Rolands Gesicht zuckte ein Muskel, und er fürchtete, dass sich das Flimmern am Rand seines Blickfeldes zum Migräneanfall auswachsen würde.

»Stehst du etwa auf die abgefahrene Tour, Großer?« Der Türken-Bubi blinzelte. »Bist du der richtig harte Typ?« Der Junge machte Kulleraugen und blinzelte.

Am liebsten hätte Roland ihm eine Ohrfeige verpasst. Widerlicher Abschaum. Er griff in seine Hosentasche und warf dem Jungen weitere Geldscheine in den Schoß.

Drei oder vier – egal.

Der Pisser faltete sie, dann sprach er seine Aussage ins Aufnahmegerät. Als Lügner ein Naturtalent, erkannte Roland. Flüssig und überzeugend bis in die letzten widerlichen Homo-Details.

»Wie alt warst du zum Zeitpunkt der letzten Kirmes?«, fragte Roland, als der Junge fertig war.

»Fünfzehn.«

»Dein Name?«

Das Bürschchen nannte ihn nach kurzem Zögern.

»Hier aus Düsseldorf?«

»Mhm.«

»Bist du bereit, die Geschichte gegebenenfalls der Polizei zu erzählen?«

»Wenn’s unbedingt sein muss.«

Roland drückte auf Stopp und steckte den kleinen Digitalrekorder ein.

»Noch einen Fuffi, und ich blas dir einen.«

»Halt’s Maul!«

»Ich weiß doch, dass du darauf stehst, Großer.«

Roland sprang auf und rieb sich den Kopf. Migräne im Anmarsch.

Der Türken-Bubi lästerte: »Was bist du denn für ein Clown?«

Auf dem Weg zu seinem Auto griff Roland nach seinem Handy. In der Kontaktliste suchte er die Nummer seines Auftraggebers.

Nach nur einem Klingeln nahm dieser ab. »Was gibt’s?«

»Staatssekretär Meinertshagen ist erledigt«, gab Roland durch.

07

DORAU/ALVER STAND AUF EINEM KLINGELSCHILD im dritten Stock. Alex drückte mehrfach die Taste. Drinnen schrillte es. Sonst gab es keine Reaktion.

»Zur Seite!«, sagte Dirk und trat gegen die Tür.

Krachend flog sie auf. Ein Flur, der zu einer Wohnküche führte. Teller standen herum, eine Matratze lehnte an der Wand.

Auf den Dielenbrettern lag eine junge Frau.

»Klara!«, stieß Alex hervor.

Unter ihr hatte sich eine Blutlache ausgebreitet. Daneben ein Telefon, Scherben einer Keramikschale, Weintrauben, Mandarinen. Spuren eines Kampfes, dachte Dirk.

Er öffnete den Mund der Frau und hielt sein Ohr an ihre Lippen. Sie atmete, wenn auch flach und schnell. So weit er in den Hals sehen konnte, schienen die Atemwege frei zu sein. Die Gesichtshaut war blass, die Lippen bläulich.

Alex zerschnitt ihr das Sweatshirt. Aus einer Verletzung am Oberbauch sickerte Blut, er drückte mit einer Kompresse dagegen. Währenddessen bildeten sich Bläschen auf einer zweiten Wunde oberhalb des BHs. Dirk war klar, was das bedeutete.

Momentan das dringlichere Problem.

Er hörte die Lunge mit dem Stethoskop ab. Rechtsseitig kein Atemgeräusch, also war der Lungenflügel kollabiert, weil durch den Stich Luft zwischen Brustkorb und Lungenfell geraten war.

Dirk nahm ein Thoraxpflaster aus der Tasche und klebte es auf die Wunde.

Wieder hielt er das Ohr an die Lippen der Frau.

Weil er nun gar nichts mehr hörte, entschloss er sich zu einer Entlastungspunktion. Er riss eine Air-Release-Nadel aus der Verpackung und stach sie zwischen zwei Rippen.

Das Ventil am Ende der Kanüle zischte – die Luft, die auf die Lunge drückte, entwich.

Kaum merklich hob und senkte sich jetzt die Brust der Verletzten. Die Atmung setzte wieder ein, wenn auch schwach.

»Kommt sie durch?«, fragte Alex.

Ein Rumpeln im Nachbarzimmer.

Alex sprang auf.

Dirks Puls ging schneller. Als hätte er nicht schon genug Adrenalin im Kreislauf.

»Bleib hier«, flüsterte er.

Alex ignorierte ihn. Er riss eine Schublade auf, fand ein Brotmesser und rannte damit nach nebenan.

Dirk wandte sich wieder der Patientin zu. Er griff nach ihrer Hand und quetschte einen Fingernagel. Es dauerte Sekunden, bis er wieder Farbe annahm. Ein schlechtes Zeichen.

Der Blutverlust war massiver, als es die Lache auf dem Boden vermuten ließ. Er rief mit seinem Handy die Leitstelle an.

Erneut Geräusche aus dem Nebenraum.

Eine Katze huschte auf den Flur.

Dummes Vieh, dachte Dirk. Wie kannst du uns nur so erschrecken?

»Alex!«, rief er zur halb offenen Tür hin. »Load and go!«

Im Handy meldete sich der Disponent.

Dirk informierte ihn: »Wir haben ein Polytrauma und brauchen sofort OP-Kapazität!«

Im nächsten Moment traf ihn etwas Hartes am Kopf.

Die Antwort des Disponenten nahm Dirk nicht mehr wahr.

08

NORMALERWEISE FÜHRTE MELIA TELEFONATE mit der Staatsanwaltschaft lieber von ihrem Schreibtisch aus. Dort hatte sie die Tastatur ihres Rechners in Griffweite, Akten, ihre Stichpunkte auf losen Zetteln. Aber sie hatte mit Martin Kilian eine feste Uhrzeit vereinbart, die Rückfahrt zum Präsidium würde mindestens eine Viertelstunde dauern, und sie wollte das Gespräch hinter sich bringen – jetzt erst recht.

Also setzte sie sich hinter das Steuer ihres Autos, blickte Iris hinterher und tippte die Nummer des Oberstaatsanwalts in ihr Handy.

»Frau Adan!«, meldete sich Kilian, und sofort tauchte sein Bild vor ihrem geistigen Auge auf. Älteres Semester, faltiges Gesicht und graues Haar, das sich über Ohren und Kragen wellte. Eine Krawatte mit kleinen aufgedruckten Elefanten. Als sie sich das letzte Mal begegnet waren, hatte er eine Strickjacke dazu getragen. Oder war es ein Cordsakko gewesen?

»Erinnern Sie sich an Solveig Fischer?«, fragte Melia und warf unwillkürlich einen Blick zum Gedenkbaum hinüber.

»War das nicht die Vermisstensache, die wir im letzten Herbst eingestellt haben?«

Die Sie eingestellt haben, dachte Melia.

»Gibt es denn etwas Neues?«

»Sie erinnern sich, dass Solveig und ich hinter einem Naziverein her waren, der am Ortsrand von Osterath ein Schulungszentrum betrieben hat. Die hatten vor, eine Sporthalle zu errichten. Ich habe inzwischen herausbekommen, wann dafür das Fundament gegossen wurde.«

»Und?«

»Raten Sie mal.«

»Wir sprechen von dem alten Bauernhof?«

»Richtig. Sie erinnern sich auch, dass ich den Rechner in Solveig Fischers Büro gecheckt habe.«

»War das der Rechner, der verschwunden ist?«

»Verschwunden ist das falsche Wort. Das Landesamt für Verfassungsschutz hält ihn unter Verschluss. Jedenfalls wurde das Fundament exakt am Tag nach Solveigs Verschwinden betoniert.«

»Und jetzt wollen Sie von mir den richterlichen Beschluss, darunter nach der Leiche …?«

»Erraten.«

»Gibt es irgendeine Zeugenaussage, die Frau Fischer mit dem Bauernhof in Verbindung bringt?« Seine Stimme wurde etwas lauter. »Ihr Auto wurde in Holland gefunden, wenn ich das noch richtig im Kopf habe. Falls die Gesuchte einem Verbrechen zum Opfer fiel, wofür wir keinerlei Anhaltspunkte haben, dann dort, nicht wahr?«

Melia startete einen zweiten Versuch. »Ich bin im Gespräch mit der Redaktion von Aktenzeichen XY. Bitte geben Sie mir grünes Licht für diese Form der Öffentlichkeitsfahndung. Das würde die Chance erhöhen, dass sich Zeugen bei uns melden.«

»Sie waren doch erst vor ein paar Tagen im Fernsehen.«

»Ja, aber …«

»Ohne sich das Okay der Staatsanwaltschaft zu besorgen!«

»Das war eine ganz andere Situation, Herr Kilian. Ein Reporter hat mich interviewt. Er war durch seine Recherchen auf das Thema gekommen, das ging nicht von mir aus.«

»Das soll ich Ihnen abkaufen?«

Müssen Sie, dachte Melia. Der WDR-Mann, dem ich die Story eingeflüstert habe, wird Ihnen das Gleiche erzählen.

»Es gibt kein grünes Licht, Frau Adan. Nicht für noch größeren Medienrummel und auch nicht dafür, den Fußboden einer Sporthalle aufzubrechen, nur weil Sie sich einen Mordfall einbilden. Sie sind noch nicht lange auf Ihrem Posten, und ich weiß, dass Ihnen die frühere Kollegin sehr am Herzen liegt, aber trotzdem hätte ich Ihnen mehr Urteilsvermögen zugetraut.«

Sie mich auch, dachte Melia verärgert.

Und zwar kreuzweise.

»Wird etwa Druck auf Sie ausgeübt?«, entgegnete sie.

»Wie meinen Sie das?«

Melia dachte voller Grimm an hohe Tiere in der Justizverwaltung. An Minister oder andere Parteifreunde des Oberstaatsanwalts, falls Kilian der Regierungspartei angehörte. Oder an Leute, die glaubten, über der Politik zu stehen. Weil sie sich jeder Kontrolle entzogen.

Solche Typen gab es zur Genüge in ihrer früheren Behörde.

Eine Behörde, die Solveigs Rechner nicht herausrückte und die Verbindungsdaten ihres Handys unter Verschluss hielt.

Es war eine übliche Praxis des Inlandsgeheimdienstes, der Polizei Steine in den Weg zu legen. Aber hier ging es nicht um irgendeinen kriminellen Neonazi, den man deckte, weil er als Spitzel diente. Oder um einen Cannabis-Verkäufer, den man bei Islamisten einschleusen wollte.

Sondern um eine Beamtin aus dem eigenen Haus.

Kilians Stimme hatte jeden Rest an Freundlichkeit verloren. »Wenn uns etwas unter Druck setzt, Frau Adan, dann ist es die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit, die Sie durch Ihr mediales Vorpreschen geweckt haben. Ein großer Fehler, dieses ganze Tamtam. Ich rate Ihnen dringend, ab sofort die Hufe still zu halten!«

Melia steckte das Handy weg und startete den Motor ihres Wagens.

Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.

09

»DIRK!« JEMAND RÜTTELTE AN IHM.

Er schlug die Augen auf. Sein Schädel schmerzte, als er sich aufsetzte. Im Treppenhaus polterten Schritte. Die Katze blickte dem Geräusch hinterher und schien zu überlegen, ob sie ebenfalls abhauen sollte.

»Wach auf, Alter!«

Endlich konnte Dirk wieder klar denken und kam auf die Beine. Fast wäre er über einen Baseballschläger gestolpert, der vorher noch nicht dort gelegen hatte.

Alex stand ganz krumm da. Er rieb sich die Seite und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Das Arschloch war die ganze Zeit hier!«

Wovor ich dich gewarnt habe, dachte Dirk.

»Was ist mit Klara?«, fragte sein junger Kollege.

Dirk wandte sich der Patientin zu, die immer noch ohne Bewusstsein war. Die Air-Release-Nadel war aus dem Thorax gerissen worden, und sie atmete nur schwach. Er drückte die Nadel zurück zwischen die Rippen.

»Kannst du mit anpacken, Alex?«

Sie schnallten die Schwerverwundete auf die Trage, trugen sie mühsam die drei Stockwerke hinunter und schoben sie dann in den Transporter. Unterdessen traf ein erster Streifenwagen ein. Dirk beschloss, sich nicht mit Erklärungen aufzuhalten und auch nicht auf den Notarzt zu warten.

Mit Vollgas und Martinshorn fuhren sie los.

Während Alex den Wagen steuerte, setzte Dirk der jungen Frau die Sauerstoffmaske aufs Gesicht und legte zwei Zugänge, die sie brauchen würde, falls sie die nächsten Minuten überlebte. Sein Kopf dröhnte nach wie vor.

Sie erreichten die Klinik, zogen die Trage aus dem Wagen, klappten die Rollen aus und rannten damit los. Dreißig Sekunden bis in den Schockraum, wo sie ein Team aus Ärzten und Pflegekräften empfing. Jetzt konnten Dirk und Alex nur noch zusehen.

Wie Klara ans EKG angeschlossen wurde.

Wie der Monitor die Null-Linie zeigte – kein Puls.

Wie ein Blaukittel der Verletzten Adrenalin spritzte.

Es blieb beim Strich auf dem Bildschirm.

Dirk ballte die Fäuste. Hektisch klemmte ein Arzt in der Bauchwunde zerstörte Arterien ab. Andere öffneten mit surrenden Maschinen den Brustkorb. Es stank nach verbranntem Fleisch.

Dirk registrierte, wie eine Ärztin nach Klaras Herz griff, um sie per Hand wiederzubeleben.

Die Null-Linie zuckte kein einziges Mal.

Nach einigen Minuten stellte das Team die Rettungsversuche ein.

Ein Pfleger zog ein Laken über die junge Frau.

»Verdammte Scheiße«, entfuhr es Dirk.

Neben ihm ließ Alex seinen Tränen freien Lauf.

Dirk spürte wieder, wie sehr sein Kopf dröhnte. Ich brauche selbst einen Arzt, dachte er.

Aber im Moment war ihm das völlig egal.

10

DREISSIG MINUTEN DREHPAUSE. Timo Czerny holte einen Kaffee vom Cateringwagen, suchte sich ein ruhiges Plätzchen und zündete sich eine Zigarette an. Plötzlich vernahm er die Frauenstimme, die jeder im Land kannte, der in den letzten elf oder zwölf Jahren auch nur ab und zu seinen Fernseher eingeschaltet hatte – dunkel, rau, einzigartig.

»Haben Sie noch eine für mich?«

Jennifer Arnold stand vor ihm, der mit Abstand prominenteste Star am Set. Sie spielte Tara Heldt, die Kommissarin der gleichnamigen Krimireihe des ZDF. Selbst in ihrem sportlichen Outfit wirkte sie mondän. Timo hoffte, dass der Star ihm seine Nervosität nicht ansah.

»Aber nur, wenn es nicht Ihre letzte ist«, ergänzte sie.

Er schüttelte einen Glimmstängel aus der Schachtel und gab der Schauspielerin Feuer. Sie war fünfunddreißig, also sechs Jahre älter als er, und kleiner, als sie auf dem Bildschirm wirkte, was in Timo sofort den Beschützerinstinkt weckte. Er musste an die Schlagzeilen im vergangenen Herbst denken. Ein Autounfall, Spekulationen über das Ende ihrer Karriere. Doch Jennifer Arnold war zurückgekommen.

Erst gestern war wieder eine Folge Tara Heldt gesendet worden – mit einer Spitzen-Einschaltquote. Timo erinnerte sich, dass darin ein syrischer Flüchtling unter Mordverdacht geraten war und um ein Haar von Wutbürgern gelyncht worden wäre. Wegen des Themas hatte der Film schon im Vorfeld für Aufmerksamkeit gesorgt. Der Syrer entpuppte sich dann als unschuldig.

»Sie sind ein echter Polizist. Ich sehe Ihnen das an.«

»Tatsächlich?«

»Nein, der Aufnahmeleiter hat so etwas erwähnt.« Sie lachte. »Sieht aus, als seien wir die einzigen Raucher weit und breit.«

Ihm fiel keine schlagfertige Antwort ein.

»Ein Schnaps wäre mir jetzt recht«, sagte sie. »Irgendwas, um den Scheiß zu ertragen.«

»Ich finde es großartig.«

»Ach, kommen Sie. Eine typische deutsche Fernsehproduktion. An der gesamten Geschichte stimmt rein gar nichts. Alles nur Kitsch und Effekthascherei, ohne Rücksicht auf die Logik. Man sollte Sie als Berater einsetzen, nicht als Komparsen. Und das Schlimmste sind mal wieder die Dialoge.«

»Die Zuschauer wird das nicht stören. Sie überstrahlen alle Schwächen, Frau Arnold. Ihnen sieht man immer gerne zu.«

Ihr Lächeln wirkte spöttisch. Doch ihre großen braunen Augen leuchteten sanft.

Die aufregendste Schauspielerin Deutschlands.

Timo stand da wie gelähmt. Bereit, verspeist zu werden.

»Schmeichler«, antwortete sie, wobei ihre Stimme noch tiefer klang, und pustete den Rauch zur Seite.

Die Maskenbildnerin kam herbeigeeilt. Jennifer Arnold warf die Zigarette ins Gras und ließ sich die Wangen nachpudern. Dann stellte eine Frau vom ZDF der Schauspielerin einen Radioreporter vor, der sie um ein Interview bat, in dem es um die gestrige Folge gehen sollte.

Timos Blick folgte Jennifer, während sie mit dem Reporter zur Villa schlenderte. Er bemerkte, wie ihr Bein bei einem der ersten Schritte fast unmerklich einknickte. Danach war der Schauspielerin nichts Ungewöhnliches mehr anzumerken.

Eine Zeit lang hatte sie sogar in Hollywood gelebt, wie Timo wusste. Mit Johnny Depp gedreht. Mit George Clooney geflirtet. Jetzt ging sie es ruhiger an, hieß es. Sie wohnte in Düsseldorf mit Blick auf den Rhein. Im sündteuren Andreas-Quartier. So schrieben es die Illustrierten.

Kurz darauf rief der Aufnahmeleiter die Komparsen zusammen. Die Darsteller des Spezialeinsatzkommandos nahmen ihre Position ein. Auch der Rest war bereit.

»Und bitte!«, rief der Regisseur.

Die Hauptdarstellerin ging sofort in ihrer Rolle auf. Kommissarin Tara Heldt. Geisel eines Undercover-Polizisten auf Abwegen. Eine kleine, zierliche Frau, die ein großer Star war.

Timo wusste, dass sie ihn morgen bereits vergessen haben würde.

Ach was, schon jetzt.

11

ES KLOPFTE AN MELIAS TÜR, und bevor sie darauf reagieren konnte, stand Vincent im Raum. Vincent Che Veih, ihr erfahrenster Kommissariatsleiter. Er wirkte ernst und angespannt, seine Kiefermuskulatur arbeitete.

»Wir haben eine Leichensache«, sagte er.

»Erzähl mir mehr.«

Dass sie sich duzten, war unüblich zwischen Beamten des höheren und des gehobenen Dienstes. Aber Melia hatte Vincent schon gekannt, bevor sie seine Chefin geworden war.

Der Hauptkommissar nahm auf der Vorderkante des Besucherstuhls Platz, als wollte er gleich wieder aufbrechen. »Eine Schülerin wurde in ihrer Wohnung in Bilk tödlich mit einem Messer verletzt«, erklärte der Hauptkommissar. »Mehr weiß ich selbst noch nicht. Die Kriminaltechnik ist am Tatort, ich bin auf dem Sprung dorthin.«

»Täter bekannt?«

»Bislang nicht. Die junge Frau hat mit ihrem Freund zusammengewohnt, einem Studenten mit türkischen oder kurdischen Wurzeln, den wir noch nicht erreicht haben.«

»Jedenfalls keine große Lage, oder?«

»Nein.«

»Wie viele Leute brauchst du zur Verstärkung? Sechs? Acht?«

»Vier wären schon toll, Hauptsache möglichst rasch.«

Melia nickte. »Wer leitet die Mordkommission?«

»Ich selbst. Anna hat Urlaub, Bruno ist krank. Warum guckst du so, passt dir das nicht?«

»Nein, mir ging etwas anderes durch den Kopf.«

»Was denn?«

Ein Messer als Tatwaffe. Messermann – Rassisten pflegten mit dieser Vokabel Migranten aus Nordafrika und dem Nahen Osten zu verunglimpfen. Aber warum musste sie gleich daran denken, dass die Rechten die Tat politisch ausschlachten würden?

Melia winkte ab und fragte: »Hast du schon eine Uhrzeit, wann ihr euch zusammensetzt?«

»Willst du dabei sein?«

»Sollte der Fall Wellen schlagen, muss ich euch sowieso gegenüber der Behördenleitung vertreten.«

»Falls es dazu kommt, haben wir die große Lage, und du fungierst als Polizeiführer.«

»Polizeiführerin. Aber wahrscheinlich läuft es auf eine Beziehungstat raus, oder?«

»Meistens ist es so.« Vincent stand auf und hatte schon die Klinke in der Hand. »Fünfzehn Uhr. Passt das?«

Melia nickte und griff zum Telefon.

12

ROLAND KRACHT STIEG AUS seinem alten Wagen und stutzte, als er das Häuflein Demonstranten bemerkte. Gut dreißig Personen standen mit Schildern und Transparenten vor der Konzernzentrale der Osterkamp Group im Medienhafen und schienen auf Verstärkung zu warten. Oder darauf, dass der Chef sich blicken ließ und sie ihm ihren linksgrünen Hass entgegenbrüllen konnten.

Unter misstrauischen Blicken eilte Roland auf den Eingang zu. Am liebsten hätte er die Nichtsnutze zur Rede gestellt. Rasch betrat er das Bürogebäude.

Ein großes Werbebanner schmückte das Foyer. Es zeigte gläserne Hochhäuser, einen tiefblauen Himmel sowie den Slogan der Osterkamp-Entwicklungsgesellschaft.

The Future Is Now.

Daneben ragte ein mannshoher Marmorsockel auf. Darauf saß ein ausgestopfter Hund, der eine Zeitschrift zwischen den Zähnen hielt. Mit seinen funkelnden Glasaugen wirkte er, als könne er jeden Augenblick vom Sockel springen, wäre da nicht der gläserne Kasten, der den Kadaver vor Staub schützte. Roland las die Inschrift, die in den Marmor graviert war.

Hardy 2015.

Was auch immer das bedeutete.

Er nahm den Aufzug nach oben und klingelte an der Glastür, die zur Chefetage führte. Ein junger Mann mit kahl geschorenem Schädel öffnete ihm. Trotz des warmen Wetters trug er einen blauen Anzug. Seine breiten Schultern und das hautfarbene Spiralkabel, das zu einem Knopf in seinem Ohr führte, wiesen ihn als Bodyguard aus. Auf der Brust trug er das Wappen mit den Buchstaben OF&S – Osterkamp Firm & Secure.

»Ich habe etwas abzugeben«, sagte Roland und nahm eine Haltung an, die seine Körpergröße von 1,92 Meter zur Geltung brachte.

Der Typ streckte seine Hand aus.

»Nein, persönlich«, ergänzte Roland.

»Hier kommen Sie jetzt nicht rein.«

Eine zierliche Frau um die vierzig trat neben den Glatzkopf. Es war Nelli, Osterkamps Chefsekretärin. Mit einem Lächeln blickte sie zu Roland auf. Schon bei ihrer letzten Begegnung war ihm ihre Freundlichkeit aufgefallen. Als fühle sie sich von ihm angezogen.

Er nahm seine Kappe ab. Man hatte ihm beigebracht, höflich zu Frauen zu sein.

»Tag, Nelli. Was ist da unten los?«, fragte er und war froh, sich ihren Namen eingeprägt zu haben.

»Das Übliche. Ein paar Spinner protestieren immer gegen den Fortschritt. Dabei macht jede Kaufhausschließung auch Platz für etwas Neues. Ist es nicht so?«

»Ihren Ausweis bitte«, verlangte der Glatzkopf.

»Herr Kracht ist in Ordnung«, sagte Nelli in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Sie führte Roland in Osterkamps Büro, wo gerade der Fernseher lief. Zwei Mitarbeiter in Anzügen verfolgten gemeinsam mit dem Chef eine Nachrichtensendung. Osterkamp thronte in einem schweren, ledernen Drehsessel. Er hatte seine Füße, die in feinen Budapestern steckten, auf dem Schreibtisch abgelegt und die Hemdsärmel aufgerollt.

»Schwachsinn«, knurrte er, während er den Blick weiter auf den riesigen Bildschirm inmitten der Monitorwand gerichtet hielt. Seine Wangen waren tiefrot angelaufen. Er keuchte, als strenge ihn bereits das Sitzen und Zusehen an.

Wie Roland wusste, hatte der bullige Mittsechziger sein Vermögen mit Immobilien gemacht. Er kaufte in Großstädten überall in Deutschland Wohnungsgenossenschaften auf und brachte die Häuser auf Vordermann. Er baute Einkaufszentren in ganz Europa. Er übernahm Kaufhausketten, fusionierte sie und schlachtete sie aus. Was er anpackte, wurde zu einer Erfolgsgeschichte.

Vor Jahren hatte er zur Bewachung seiner Großimmobilien mit OF&S ein Security-Unternehmen gegründet, das zum größten seiner Art angewachsen war. Um damit in neue Dimensionen zu expandieren, plante Osterkamp den Bau und Betrieb privater Gefängnisse nach amerikanischem Vorbild – eine Branche mit glänzenden Zukunftsaussichten.

Für die sechzehn Landesregierungen war so etwas hingegen völliges Neuland. Osterkamp arbeitete hart daran, die Entscheider zu überzeugen. Alle schielten mittlerweile auf Nordrhein-Westfalen. Doch ausgerechnet hier blockierten Bedenkenträger wie Staatssekretär Meinertshagen das Projekt.

Roland hatte Hochachtung vor Visionären wie Osterkamp. Die Säulen unseres Landes. Ihr Kapital hält die Wirtschaft in Gang. Wir sollten stolz auf sie sein.

Stattdessen rotten sich linke Zecken vor ihren Firmensitzen zusammen.

Im Fernsehen lief eine Liveübertragung aus dem Landtag. Hinter dem Rednerpult stand Meinertshagen. Jung, schlank, gut gekleidet. Er wirkte smart, auch in seinen Formulierungen. Definitiv ein Hoffnungsträger seiner Partei.

Unaufgeregt und in freier Rede begründete er, warum die Regierung es ablehnte, den Strafvollzug in private Hände zu geben. Keine Zwischenrufe der Opposition. Roland vernahm Begriffe wie Hoheitsaufgaben und private Gewinnerzielung, die sich gegenseitig ausschlössen.

Roland musste unentwegt an den jugendlichen Stricher denken. Die schwulen Kulleraugen.

Osterkamp warf einen Briefbeschwerer in Richtung des Bildschirms, ohne ihn zu treffen. »Dieser Scheißstaatssekretär spricht wie ein Scheißkommunist!«

Vom Parkplatz drangen Parolen herauf, offenbar waren es mehr Demonstranten geworden.

Mietenterror macht uns krank – enteignet Hartmut Osterkamp!

Nelli schloss die Fenster.

Roland bückte sich nach dem Briefbeschwerer, einem Stein in Form eines Herzens, und legte ihn zurück auf den Tisch. Der Milliardär hob verwirrt seinen Blick.

»Das ist Herr Kracht«, erklärte Nelli. »Der Detektiv.«

»Verstehe.«

Roland legte die Speicherkarte aus seinem kleinen Olympus-Gerät auf die Tischplatte. »Damit ist Meinertshagen erledigt.«

»Sicher?«, fragte der Milliardär.

»Der Mann fickt minderjährige Jungs.«

Osterkamps Miene hellte sich schlagartig auf. »Und das ist da drauf?«

»Ein Zeuge hat es mir bestätigt. Aus erster Hand.«

Osterkamp nahm erstaunlich schwungvoll die Füße vom Tisch und richtete sich auf. Er legte seine Hände auf Rolands Schultern. Die Schweißflecke unter seinen Achseln waren tellergroß. »Gute Arbeit, Herr …«

»Kracht«, ergänzte Nelli.

»Unser gemeinsamer Bekannter hat mir gesagt, dass Sie früher Elitesoldat waren.«

Roland stand stramm. »Kommando Spezialkräfte.«

Osterkamps Finger gruben sich fester in Rolands Schultern. »Ein Jammer ist das, mein lieber Kracht, wie man in diesem Land mit Männern wie Ihnen umgeht. Höchste Zeit, dass der Wind sich dreht!«

13

RASCH ERHIELT MELIA VON DEN Dienststellen, die ihr außer Vincents KK11 unterstanden – also den Kommissariaten für Sexualdelikte, Raub und Einbruch – die Zusicherung, jeweils einen Sachbearbeiter an die Mordkommission zu delegieren. Allerdings erst am nächsten Morgen, was Melia nicht behagte.

Sie erinnerte sich an Kim Brandstätter aus der Wache Benrath, eine junge, aber sehr aufgeweckte Beamtin, die schon einmal an Vincents Seite ermittelt hatte. Erst holte sie sich das Okay des Wachleiters, dann ließ sie sich mit Kim verbinden.

»Können Sie sich jetzt gleich im Präsidium einfinden?«, fragte Melia. »Herr Veih braucht Sie für die Tatortarbeit.«

»Habe ich noch Zeit, mir Zivilklamotten anzuziehen?«

»Natürlich.«

»Ich meinte das ironisch. Als es letztes Jahr im KK